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Vorwort: die Geschichte mit den „Was-wäre-wenn“-Geschichten

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Es war fast wie in der „Feuerzangenbowle“: Nach erfolgtem Rigorosum saßen in Erlangen beim Griechen der Kandidat, zwei Assistenten und ein gestandener Professor der Geschichtswissenschaft – allerdings nicht vor einem Glühwein, sondern vor Weizenbier und Pils. Sie saßen dort zusammen und veränderten die Geschichte.

„Hätte anno 1870 ein aktiverer Ludwig II. nicht Bismarck trotzen und Bayern aus dem Krieg heraushalten können?“ – „Nein, konnte er nicht, er hatte doch einen Bündnisvertrag unterschrieben, da konnte er nicht aussteigen!“ – „Konnte er doch, immerhin war einen Tag vor der Mobilisierung noch eine Mehrheit des Kabinetts der Meinung, der Konflikt mit Frankreich sei kein Bündnisfall!“ – „Das hätte doch Bayerns Ende bedeutet, irgendwann hätten sich Preußens Zündnadelgewehre nach Süden gerichtet!“ – „Aber Ludwig II. hätte Verbündete finden können, die auf Berlin diplomatischen Druck ausgeübt hätten!“ Es endete damit, dass wir anstelle von Bismarcks Deutschem Reich eine friedliche Alpenrepublik gegründet hatten …

Selbstverständlich wussten wir, dass solche „Was-wäre-wenn“-Spekulationen mit seriöser Geschichtswissenschaft nichts zu tun haben. Schon im Grundkurs hatte ich erfahren, dass die Geschichtswissenschaft sich im Rankeschen Sinne darauf zu konzentrieren hätte, zu beschreiben, „wie es eigentlich gewesen“. In Pro- und Hauptseminaren hatten wir diskutiert, dass zudem Standpunkt und Interesse des Historikers einzubeziehen seien und Objektivität anzustreben, wenn auch nie zu erreichen sei. Und uns dabei die Köpfe über das Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit heißgeredet, wobei wir – 68er, die wir waren – natürlich auf der Seite der „historischen Notwendigkeit“ standen.

Und trotzdem verlockte nicht nur mich dieses vermaledeite „Was-wäre-wenn“. So wurden mir – seit früher Jugend auch bekennender Science-Fiction-Leser – kontrafaktische Geschichten zu einem Hobby, ich begann entsprechende Bücher, wissenschaftliche wie auch belletristische, zu sammeln. Und ich stellte fest, dass die Lust am mehr oder weniger ernsten Nachdenken über alternative Geschichtsszenarien nicht nur an Biertischen beliebt war. So habe ich für die Wissenschaftsredaktion des Bayerischen Rundfunks das Hörspiel „Verhindern Sie den Ersten Weltkrieg!“ verfasst und produziert, in dem eine Reihe ehrenwerter Historiker mit einer Zeitmaschine den Weltkrieg zu vermeiden versucht, aber immer wieder scheitert, weil Strukturen und Megatrends dies unmöglich machen. Es war ein dramatisches Exempel zum Thema Zufall und Notwendigkeit in der Geschichte. Und an einem Hörtag im Schweizer Radio DRS2 zum Thema Geschichte habe ich einige kontrafaktische Erzählungen mit einer Diskussion über virtuelle Geschichte verbunden. Immer war die Resonanz groß, neben dem doch irgendwie vorhandenen Erkenntniswert hatten die Hörer einfach Spaß an diesem Genre.

Irgendwann wurde so das Hobby zu einem Buchprojekt: eine Geschichte der alternativen Geschichte, allerdings mit einem immer wieder spielerischen Zugang in Form einer Reihe selbstverfasster Kurzgeschichten. Freilich war – nach ernsthafterem Nachdenken – die Umsetzung und Verwirklichung nicht leicht. Einerseits sollte das Ganze amüsant, spannend und vor allem verblüffend sein, andererseits auch zu kniffligen Gedankenspielen anregen, eine historic science fiction, die durchaus das Wort „science“ ernst nimmt. Vor allem bei moderneren Varianten der „Was-wäre-wenn“-Geschichten konnte ja nicht locker dahinfabuliert werden, man denke an: „Was wäre, wenn Hitler im Sommer 1940 gestorben wäre …“, oder die durchaus denkbare Variante eines erfolgreichen Putsches der Hardliner im ZK gegen Gorbatschow. Insofern sollte auch die durchaus ernsthafte Diskussion über virtuelle Geschichtsschreibung ihren Platz haben.

Eine der Schwierigkeiten ist, dass wir es hier mit einem literarischen Genre zu tun haben, das zahlreiche Facetten und unscharfe Definitionen aufweist. Die weitaus größere Zahl der alternativgeschichtlichen Werke gehört der Unterhaltungsliteratur an. Sie figurieren als para- oder allohistorische Romane, werden als ungeschehene, imaginäre, virtuelle, potenzielle und natürlich „alternative Geschichte(n)“1 bezeichnet oder auch – nach dem ersten bedeutenden Werk des Genres – als „Uchronie“.

Solche belletristischen Erzählungen schildern eine Welt und Gesellschaft, wie sie sich entwickelt haben könnte, wenn an einem bestimmten Punkt die Geschichte anders verlaufen wäre. Dies ist eine sehr weite Definition, wesentlich enger ist der Spielraum für mehr oder weniger wissenschaftliche kontrafaktische Geschichten. Hier wird „kontrolliert spekuliert“, der Autor sollte sich in den Quellen und den Details der Zeit gut auskennen und die Veränderung sollte „plausibel“ sein. Ausgehend vom Entwicklungspotenzial einer realen historischen Situation verfasst der Uchronist eine „narrativ kohärente Alternative“ zum tatsächlichen Geschichtsverlauf. Das angestrebte Ergebnis soll dann in einem Erkenntnisgewinn über Handlungsspielräume Einzelner und Staaten, Brüche und Kontinuitäten bis hin zu einem Lernen aus der Geschichte resultieren.

Dieser hohe Anspruch ist allerdings mehr als umstritten. Denn die moderne Geschichtsschreibung, obwohl ein immer unvollständiges und vom Blickwinkel des Schreibenden wie des Betrachters abhängiges Konstrukt, strebt nach möglichst großer Objektivität durch gewissenhafte Auswertung der Fakten. Eine kontrafaktische Geschichte ist aber gerade darauf aufgebaut, ein unzweifelhaftes Faktum zu negieren, und damit zumindest für die traditionelle Historiografie eine höchst zweifelhafte Methode. Ob alternativgeschichtliche Ansätze für die Wissenschaft einen Erkenntniswert haben können und wenn ja, welchen, soll im Schlusskapitel ausführlich behandelt werden.

Dies steht freilich nicht im Mittelpunkt dieses Buches. Hier soll die Geschichte der alternativen Geschichte umrahmt von zahlreichen kontrafaktischen Kurzgeschichten erzählt werden. In einem diskursiven Spaziergang durch die Weltgeschichte soll gezeigt werden, an welchen Kreuzwegen Wissenschaftler und Literaten ihre „Was-wäre-wenn“-Fantasien ansetzten und auslebten. Je näher wir der Gegenwart kommen, umso dichter scheinen diese zu werden. Das hat natürlich mit unserem Blickwinkel zu tun. Das 20. und das beginnende 21. Jahrhundert sind uns näher und vertrauter, wir können uns die Knoten- und Wendepunkte besser vorstellen und natürlich interessieren sie uns auch mehr. Für Livius war die Vorstellung eines auf Rom marschierenden Alexander aufregend, für die Philosophen der Aufklärung ein Abendland ohne Christentum und für uns Heutige eine Welt ohne Drittes Reich oder die Wende von 1989.

Wichtig ist dabei auch die Frage, warum sich Menschen für welche Wendepunkte interessiert haben. Denn fast alle dieser Versuche haben auch mit der jeweiligen Gegenwart und den spezifischen Interessen der Autoren zu tun. In der Mitte der Kapitel findet sich eine Tabelle solch wichtiger und auch plausibler Kreuzwege der Geschichte. Dabei werden die zu den jeweiligen Epochen gehörenden Alternativweltszenarios und -romane kurz referiert und bewertet. Dies geschieht nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und vor allem mit einem Fokus auf die Versuche im deutschsprachigen Raum, aber doch einigermaßen umfassend und repräsentativ. Das Buch soll einen Überblick über die virtuelle Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart bieten, einen Überblick über eine Gedankenspielerei, die die Menschen seit jeher fasziniert hat. Die Kurzgeschichten sollen einen Anstoß geben, sich mit den Darstellungen der großen Themen der alternativen Geschichte auseinanderzusetzen, entsprechende literarische Hinweisen regen zum Weiterlesen an. Bei den Beispielen stütze ich mich vor allem auf die deutschsprachige Literatur, wohl wissend, dass das alternativgeschichtliche Genre vor allem im angelsächsischen Bereich in Hochblüte steht. Deshalb wird auch auf alle anderen wichtigen Werke verwiesen und, soweit vorhanden, deren deutsche Übersetzung in den Anmerkungen angegeben.

Es ist eine Gratwanderung, in der immer die Gefahr besteht, die literarische und die wissenschaftliche Diskussion miteinander zu vermischen. Historiker, wenn sie sich denn auf die Rutschbahn der Alternativgeschichte einlassen, versuchen möglichst sachlich zu bleiben und bei ihren Szenarien ein möglichst hohes Maß an Wahrscheinlichkeit zu generieren. Und sie weisen oft jeden Bezug zur Gegenwart von sich. Beim Literaten, beim Romancier – auch wenn er nicht weniger gut recherchiert als der Geschichtswissenschaftler – stehen Gegenwartsbezug und Gedankenexperiment im Vordergrund und nicht zu vergessen die Lust an der Fantasie. Die spürt man – wenngleich oft unterdrückt – auch beim Historiker: Er will eine Diskussion anregen und durchaus auch unterhalten. So verbindet denn selbst bei den so unterschiedlichen Ausgangspunkten und Herangehensweisen Literaten und Wissenschaftler die Freude am „Was-wäre-wenn“-Experiment.

Die Fülle, aber auch die Spanne von hochwertigen bis trivialen „Was-wäre-wenn“-Geschichten ist inzwischen gewaltig und sie reicht von wenigen antiken Autoren wie Livius über einige Philosophen der Renaissance bis hin zu unzähligen Science-Fiction- und Thriller-Autoren, aber auch bedeutenden Literaten wie Philip Roth oder Carlos Fuentes. Die Erzählungen der zweiten Hälfte des vergangenen und des jetzigen Jahrhunderts wollen vor allem unterhalten, das What-if-Szenario dient als zusätzlicher anregender Hintergrund, vor dem sich Kriminalgeschichten, Machtkämpfe oder Familiendramen abspielen. Es sind Erzählungen, die sich am Genre des historischen Romans orientieren und dessen Gedankenexperiment nur etwas weiterführen. Denn natürlich ist jede Personalisierung einer historischen Figur, jeder Satz, den wir ihr in den Mund legen, eine Fiktion. Und der „gute“ historische wie auch der parahistorische Roman zeichnen sich durch sorgfältige Recherche und Quellenstudium aus. Der interessierte Leser will nicht nur eine spannende Geschichte lesen, sondern freut sich an der detaillierten Schilderung der jeweiligen Zeit und Gesellschaft. Vice versa gilt das auch für alternativhistorische Erzählungen: In ihnen finden wir uns umso mehr wieder, je mehr wir in der Pararealität unsere wirkliche Welt, also vertraute historische Personen oder Zeiten, entdecken. Das Szenario wirkt umso verblüffender und faszinierender, wenn es sich eng an der eigenen Zeitlinie bewegt und die Abweichung nicht einer an den Haaren herbeigezogenen fantastischen Idee entspringt, sondern dem historisch interessierten Leser als eine durchaus plausible Möglichkeit erscheint. Christoph Rodiek2 definiert diese Art „Uchronie“ so: „Unter ‚Uchronie‘ ist nicht eine willkürlich erzeugte ‚imaginäre‘ Geschichte zu verstehen, sondern eine möglichst plausible ‚hypothetische‘ Vergangenheit.“ So ist es durchaus plausibel und denkbar, dass Caesar dem Rat Calpurnias folgt, an den Iden des März nicht in den Senat geht, dann die Verschwörung auffliegt und sich in der Folge seine grandiosen Asienfeldzugpläne verwirklichen. Ebenso plausibel aber ist, dass Gutenberg – aus welchen Gründen auch immer – zwar selbst auf die Weiterarbeit am Buchdruck verzichtet, aber nur zwei Jahre später in einem anderen Betrieb von einem Kollegen eine funktionierende Druckerpresse entdeckt wird, diese Erfindung sozusagen in der Luft liegt. Hier ändert sich also am Geschichtsverlauf nichts, eine andere Entwicklung erscheint wenig plausibel.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich denn auch die Vorgaben für die Kurzgeschichten in diesem Buch:

1. Ein einziger historischer Faktor wird verändert.

2. Dieser veränderte Faktor besaß eine reale Wahrscheinlichkeit, muss also plausibel sein.

3. Strukturelle Bedingungen, also politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche, werden nicht verändert; sie können sich höchstens langfristig anders als in der realen Geschichte entwickeln.

4. Historische Figuren treten zur besseren Verständlichkeit auch in den kontrafaktischen Geschichten auf, aber ihre Veränderung in Charakter und Denkweise ist (wenn überhaupt) nur tendenziell möglich.

5. Kontrafaktische Geschichten sollen den Stand der Geschichtswissenschaft wiederspiegeln, also bis auf das einzige veränderte Ereignis keine zusätzlichen Spekulationen enthalten.

6. Die Geschichten sollen unterhaltsam sein, die Fantasie darf aber nicht übersprudeln, es sind keine Fantasy- oder Science-Fiction-Geschichten.

7. Im Wissen, dass Objektivität – vor allem bei solchen Spekulationen – nicht möglich ist, muss sich der Autor um Zurückhaltung und Fairness bemühen und dabei seine Einstellungen und Wünsche selbstkritisch hinterfragen.

Bei solchen Erzählungen, die nicht wahr, aber doch wahrscheinlich sein sollen, gibt es verschiedene Varianten. Das bereits erwähnte Hörspiel „Verhindern Sie den Ersten Weltkrieg!“ soll bei allen spielerischen Elementen zeigen, dass der große europäische Krieg strukturell bedingt war und eben nicht aufzuhalten. Die Kurzgeschichte „Schande von Bern“ ist ein Gedankenexperiment über die Rolle der Mentalität in der Geschichte und spinnt einen einzigen Aspekt, der sich verändert hat, weiter. Eine weitere Möglichkeit sind auch die beiden fiktiven Nachrufe auf einen Kennedy, der das Attentat von Dallas überlebt hat und die Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch die unterschiedlichen Bewertungen von historischen Persönlichkeiten aufzeigen sollen. Für mich sind es aber in erster Linie spielerische Erzählungen, die (auch wenn möglichst große Plausibilität bei ihrer Konstruktion sehr wichtig war) vor allem einen Aha-Effekt und Staunen auslösen sollen und Spaß machen, bei denen man aber auch weiterdenken und weiter diskutieren kann. Bei der Konstruktion dieser Geschichten kommt außerdem eine Spielerei hinzu, der mir als Schreibendem viel Vergnügen bereitet hat: Wo immer möglich, verwende ich originäre Quellen aus Zitaten, Briefen und anderen Dokumenten. Ob es Stellen aus Briefen Friedrichs II. an Voltaire sind, eingestreute Gedanken Wilhelm von Humboldts oder Stellen aus den Werken des Dr. Eck, der sich natürlich an historischer Stelle mit dem Fürstbischof von Freising trifft, vor der „Bestiensäule“ in der Krypta des Doms.

Beim Spaziergang zu den Wendepunkten der Geschichte und der Geschichte der alternative history werden wir immer wieder auf verwandte Genres der historischen oder utopischen Literatur stoßen. Sie sollen in Abgrenzung zu kontrafaktischen Werken in den jeweiligen Kapiteln kurz gestreift werden. Insgesamt erhebt mein Buch nicht den Anspruch einer umfassenden wissenschaftlichen Arbeit, auch wenn zahlreiche Veröffentlichungen verschiedenster Richtungen ausgewertet werden. Mir ging es darum, möglichst alle Aspekte eines faszinierenden Themas anzusprechen, mich an gut konstruierten Gedankenexperimenten zu freuen und mich mit Vergnügen weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

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