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[7]1 Empirismus und Rationalismus
ОглавлениеRené Descartes (1596–1650) wird als Begründer der Philosophie der Neuzeit und eines tiefgreifend veränderten Verständnisses der Wissenschaften gesehen, kurz: als Beginn der Moderne. Um das zu verdeutlichen, gilt es, etwas früher einzusetzen und ein entsprechend breites Feld abzustecken. Mit der Renaissance tritt in der Sicht auf die Welt ein Umbruch ein: Der geschlossene mittelalterliche Kosmos wird gesprengt – und dies nicht nur durch einen Rückgriff auf die Antike und deren Wiedergeburt, wie die Bezeichnung Renaissance verheißt, sondern durch Öffnung ganz neuer Horizonte. Hierzu gehört an erster Stelle das ungeheure Selbstbewusstsein, mit dem der Mensch der Renaissance auftritt, und zwar im Doppelsinn des Wortes, nämlich sowohl im Bewusstsein des eigenen Wertes als auch im Bewusstsein der Reflexion auf sich selbst. Dieses Selbstbewusstsein findet seinen Niederschlag in all jenen künstlerischen und literarischen Leistungen, die, ausgehend vor allem von Florenz, Europa erobern sollten. Zum ersten Mal in der Geschichte wird die Einzigartigkeit und Singularität des Individuums, seine Individualität, seine Unverwechselbarkeit, Selbständigkeit und Selbsttätigkeit zu einer zentralen Denkfigur.
Daneben ist eine andere, gänzlich neuartige Entwicklung zu nennen, wie sie uns in den sich entfaltenden Wissenschaften begegnet. Sie bezieht sich anfangs nur bedingt, dann aber zunehmend stärker auf die Erfahrungswissenschaften, allen voran auf die Medizin. Zunächst vorsichtig, stellen die erwachenden Wissenschaften ihre Einsichten im Sinne der Lehre von der doppelten Wahrheit als ein [8]gegenüber den Glaubenswahrheiten weniger wertvolles, bloß menschliches Wissen dar, das in solcher Gestalt nicht mit der Theologie in Konflikt gerät. In wachsendem Selbstbewusstsein schleudern sie schließlich der Inquisition mit Giordano Bruno (1548–1600) im Jahre 1600 ein »Und sie bewegt sich doch!« entgegen in der Überzeugung, dass die Autorität der alten Autoritäten endgültig zerbrochen sei. Jene Aussage bedeutete nicht bloß, für eine andere Auffassung der Relativbewegung von Erde und Sonne einzutreten, sondern der Erde die Bedeutung zu nehmen, das Zentrum des gottgeschaffenen Kosmos zu sein, um das sich alles dreht – nicht nur im kinematischen Sinne.
Dieser Umbruch, den der Humanismus, den die Philosophie der Renaissance einleitete, mag heute meist nicht mehr so schroff gezeichnet werden, wie dies eben geschah; entscheidend bleibt jedoch, dass der Umbruch an der Schwelle zum 17. Jahrhundert vollzogen ist. Es fehlte hingegen eine Perspektive, eine Sichtweise, welche die neuen Elemente zu einem neuen Weltbild zusammenzuführen vermochte. Dieses hatte der Subjektivität des Individuums ebenso Rechnung zu tragen wie den Wissenschaften einen zentralen Platz einzuräumen. Es konnte sich nicht mehr auf die auctoritas von Lehrmeinungen stützen; es bedurfte einer veränderten Berufungsinstanz und damit auch einer anderen Methode zur Entwicklung des gesuchten Weltbildes.
Worin aber sollte das Fundament bestehen? So stehen Zweifel und Skepsis am Anfang, und – da man sich ja auf andere, also auf Autoritäten gerade nicht stützen wollte – zugleich die Notwendigkeit, diesen Neuaufbau beim Individuum, beim erkennenden Subjekt einsetzen zu lassen [9](das damit dem Erkenntnisobjekt als etwas grundsätzlich anderes gegenübertritt). Da dies im Übrigen zugleich mit der kopernikanischen Theorie, die die Sonne in das Zentrum des Universums steckt und die Erde an den Rand drängt, zum drängenden Problem wird, ergibt sich eine große Spannung: Während das anthropomorphe Weltbild des Mittelalters (der Mensch ist das Maß aller Dinge) zerbricht und die Erde als einer von vielen Planeten an einen peripheren Platz des Universums rückt, soll das erkennende Individuum so sehr im Zentrum stehen, dass alle Erkenntnis in ihm wurzelt.
Wie lässt sich diese Aufgabe lösen, was vermag diese einander zuwiderlaufenden Grundforderungen nach allgemeinsten, von allem Individuellen unabhängigen Naturgesetzen auf der einen Seite und der Betonung des Individuums und seiner Erkenntnisleistung auf der anderen Seite zusammenzubringen? Zwei Ansätze sind es, die sich mit Nachdruck anbieten, das Problem zu bewältigen, der des Empirismus und der des Rationalismus. Diese Bezeichnungen selbst sind viel jüngeren Datums, wenngleich sich beide Positionen in der Geistesgeschichte zurückverfolgen lassen, die eine bis zu Aristoteles (384–322 v. Chr.) und seiner Hinwendung zum Erfahrungswissen, die andere bis zu Platon (um 428–347 v. Chr.), der auf das Allgemeine abzielte; doch mit einer solchen Rückwendung zur Antike würde man das Anliegen verfehlen, das Empirismus und Rationalismus eint: Beide suchen in skeptischer Absicht eine vom Individuum ausgehende Sicherung und Begründung aller Erkenntnisse – aller, nicht nur der Erfahrungswissenschaften und der Mathematik, sondern auch der Ethik als Begründung der Regeln menschlichen Handelns.
[10]Von ›Rationalismus‹ und ›Empirismus‹ schematisierend zu sprechen, wie dies hier geschieht, mag in gewisser Hinsicht leichtfertig erscheinen – handelt es sich doch um Begriffsbildungen des 19. Jahrhunderts, die einer Systematisierung der Philosophiegeschichte dienen sollten und die doch die Vielschichtigkeit der Wechselbeziehungen zwischen beiden Seiten übergeht. Zur groben Orientierung bleibt die Unterscheidung dennoch hilfreich, weil sie wichtige Grundzüge gut zu verdeutlichen vermag. So verstanden, sind beide Ansätze gegeneinander abzugrenzen. In der Philosophiegeschichte pflegt man auf Namen zurückzugreifen; danach zählen als Empiristen vor allem Francis Bacon (1561–1621), Thomas Hobbes (1588–1679), John Locke (1632–1704), George Berkeley (1685–1753) und David Hume (1711–1776). Ihnen stehen die Rationalisten René Descartes, Nicolas Malebranche (1638–1715), Arnold Geulincx (1624–1669), Baruch de Spinoza (1632–1677), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Christian Wolff (1679–1754) gegenüber, um nur die wichtigsten zu nennen.
Doch Namen sagen nicht viel. Hilfreicher ist eine allgemeine Kennzeichnung und Gegenüberstellung. Gemeinsam ist beiden Strömungen das Bemühen um eine Fundierung der Erkenntnis, beide wollen deshalb in skeptischer Absicht alle Inhalte unseres Denkens durchmustern und auf eine neue, solide Grundlage stellen. In Bezug auf die Sicherheit und Unverbrüchlichkeit eben dieser Grundlage trennen sich aber deren Wege.
Die Empiristen sehen die Grundlage im Erfahrungsgegebenen, während die Rationalisten sie in der Vernunft erblicken. Wir müssen dies richtig verstehen: Kein Empirist [11]meint, auf Vernunft verzichten zu können; aber er sieht in ihr nur ein Werkzeug, nicht jedoch die Grundlage, von der aus der neue, sichere Aufbau der Erkenntnis zu erfolgen habe, denn, so argumentiert Locke, nichts kann im Verstand sein, was nicht zuvor in den Sinnen war.
Der Rationalist hingegen wird die Notwendigkeit, Erfahrungen zu machen, nicht leugnen; aber, so wird er argumentieren: Ohne den Filter des Verstandes, ohne dessen Vermögen, dieses Material kritisch zu prüfen und aufeinander zu beziehen, wäre Erfahrungserkenntnis gar nicht möglich. Das Primäre ist für ihn also die Vernunft – und die besteht nicht nur in einem logisch-kombinatorischen Verstand, sondern aus Inhalten, die zumindest dispositionell, also als Veranlagung, angelegt sein müssen, um Erkenntnis gewinnen und begründen zu können. Die Sicherheit und die sicheren Grundaussagen stammen allein aus der Vernunft!
Nun mag es scheinen, als suchten zwar beide Richtungen, der kontinentale Rationalismus und der englische Empirismus, die Begründung an verschiedener Stelle, doch seien sie deshalb methodisch – zumindest zunächst – nicht wesentlich voneinander verschieden: Denn beide sind gezwungen, all das, was wir in unserem Denken an Vorstellungen, Begriffen, Ideen und Theorien vorfinden, zu analysieren, um die Rückführung auf die jeweilige Basis vornehmen zu können. Das trifft in gewisser Weise zu; doch setzen beide schon bei etwas gänzlich Verschiedenem ein: Der Empirist analysiert die Sprache, fragt im Anschluss nach den zusammengesetzten Begriffen und sucht schließlich diejenigen Begriffe auf, die einfach sind. ›Einfach‹ heißt dabei für ihn ein Begriff, der unmittelbar einem [12]Wahrnehmungsgegebenen auf solche Weise zugeordnet ist, dass eine Auflösung begrifflich nicht möglich ist, weil sie in der Wahrnehmung nicht möglich ist. Beispiele hierfür wären ›rot‹, ›hart‹, ›Erdbeergeschmack‹. Sinnvoll, wird dort argumentiert, ist ein Begriff nur dann, wenn er entweder einfach in diesem Sinne oder aber nach bestimmten Assoziationsregeln aus diesen einfachen Begriffen zusammengesetzt ist.
Ganz anders dagegen der Rationalist: Auch er sucht einfache, nämlich unzerlegbare Begriffe; aber sein Kriterium lautet, dass diese in ihrem Inhalt durch sich selbst erkannt werden müssen. Solche einfachsten Begriffe sind deshalb gerade nicht auf Wahrnehmungen bezogen; vielmehr bleibt das Denken gewissermaßen bei sich, es muss sein eigener Garant sein. Diese Begriffe beziehen sich also nur auf das Denken und sind insofern das Allgemeinste, das überhaupt gedacht werden kann; es handelt sich mithin um das, was seit Aristoteles als »Kategorien«, als Grundbegriffe unseres Denkens bezeichnet wird, wie beispielsweise »Substanz«, »Essenz«, »Existenz«, »Möglichkeit«, »Notwendigkeit«. Eine bloße Möglichkeit beispielsweise ist in der Wirklichkeit nirgends empirisch auffindbar, denn dort ist alles wirklich und nicht (bloß) möglich; wir müssen den Begriff der Möglichkeit also aus unserem Denken selbst schöpfen!
An diesen Ansätzen wird deutlich, wo die Wurzeln beider Denkrichtungen liegen. Während der Empirist die Grundbegriffe des Rationalismus nur als Abstrakta zulassen möchte, die durch Verallgemeinerung gewonnen und deshalb nur nomina – Namen – sind, wird der Rationalist in seinen Grundbegriffen etwas sehen, dem eine [13]eigenständige Seinsweise als Begriff, als Idee zukommt: Sie sind in diesem Sinne real, eine res. So schließen sich die Empiristen einer nominalistischen Tradition an (und das bis heute), während die Rationalisten in der Nachfolge des platonischen Begriffsrealismus stehen.
Aus diesen verschiedenen Ansatzpunkten ergeben sich zwangsläufig zwei unterschiedliche Methoden für den Aufbau der Erkenntnis:
Wenn der Empirist vom Erfahrungsgegebenen ausgeht, also von der individuellen, singulären Wahrnehmung, dann muss er zu allgemeinen Aussagen induktiv fortschreiten. Seine Methode wird deshalb vor allem in der Induktion bestehen, wie Bacon sie beschrieben hat und wie Hume den methodischen Weg der Erkenntnis als Weg vom Besonderen zum Allgemeinen kennzeichnete.
Ganz anders dagegen der Rationalist: Er geht gerade nicht vom Singulären und Individuellen aus, sondern von dem, was jedem Vernünftigen kraft seines Verstandes unmittelbar und zweifelsfrei einleuchtet. Dies kann nur etwas Allgemeines sein, aus dem alles andere vermöge der Ableitung, der Deduktion, sei es in Gestalt der Logik, sei es in mathematischen Ableitungen, gewonnen werden muss. So nehmen mathematische und logische Untersuchungen bei den Rationalisten einen ungleich größeren Raum ein als bei den Empiristen. Und wenn Immanuel Kant (1724–1804) später sagen wird, etwas sei nur so weit eine Wissenschaft, als Mathematik darin enthalten sei, so steht er damit in dieser Tradition des Rationalismus.
Schließlich gilt es, einen weiteren Punkt festzuhalten, der sich nicht so unmittelbar methodisch umsetzt, der aber dennoch auf Schritt und Tritt spürbar wird: Die [14]Empiristen halten an ihrer skeptischen Grundhaltung auch nach dem Rückgang auf die Wahrnehmungsgegebenheiten fest und setzen in dieser Einstellung an zu einer Kritik am Seele-Begriff und der Unsterblichkeit der Seele, am Substanzbegriff und damit an Gott als oberster Substanz, an der Sprache und damit an der Vorurteilsbeladenheit allen Denkens. Demgegenüber bedeutet der methodische Zweifel der Rationalisten nur ein Bemühen um eine sichere Grundlegung, von der aus der Neuaufbau erfolgen soll, und dies nicht mit dem Ziel einer Kritik, sondern in der Absicht, die Welt bis hin zu Gott als begreifbar nachzuweisen: Menschliches Denken, menschliche Erkenntnis ist nicht in enge Grenzen eingeschlossen, denn die Welt in ihrer Gesetzmäßigkeit, die Ethik in ihrer Vernünftigkeit, die Existenz Gottes schließlich sind erfassbar, Kausalität und Finalität der Welt erscheinen durchschaubar.
Der Erfolg der Naturwissenschaften ist auf dem Hintergrund dieses rationalistischen Paradigmas zu sehen. Sie stellen den vernünftigen Zugriff auf die Welt dar, den der Rationalismus als grundsätzlich möglich nachzuweisen trachtet. Der Vernunftoptimismus – der im Übrigen zusammen mit der skeptisch-ideologiekritischen Komponente des Empirismus im 18. Jahrhundert die Aufklärung hervorbringen sollte –, dieser Optimismus findet seine systematische Eingrenzung erst in Kants Kritik der reinen Vernunft als Kritik der Vernunft an sich selbst. Das ist der Grund, weshalb man wohl noch die Wolff’sche Schule, also die Philosophie des Aufklärers Christian Wolff und seiner Schüler, nicht aber Kant dem Rationalismus zurechnet. Dennoch – bewundernswert bleibt die denkerische Kraft, [15]die, auf sich selbst gestellt, jene philosophischen Systeme hervorbrachte, in denen die Philosophie nicht mehr die Magd der Theologie ist, sondern in denen der Mensch, durch die kopernikanische Theorie zu einem Zufallsprodukt am Rande des Universums erniedrigt, sich selbst zum erkennenden Zentrum dieser Welt erhebt und sie erkennend als einen Kosmos erweist. So kann Hegel (1770–1831) Descartes als den »wahrhaften Anfänger der modernen Philosophie«1 preisen, der – nach mehr als einem Jahrtausend der Abhängigkeit – die Philosophie zu ihrem ureigensten Gegenstand zurückführe, nämlich zum Prinzip des Denkens und zur Reflexion auf eine Welt, in der alles reguliert ist durch das Denken.
Fassen wir kurz die Bestimmungsstücke zusammen, die soeben für den Rationalismus herausgearbeitet wurden: Sein Ziel ist die begründete Erkenntnis durch Ratio und der Erweis der Erkennbarkeit der Welt. Seine Methode besteht im Zweifel an Autoritäten, Überlieferungen und Wahrnehmungen, in einer Analyse der Denkinhalte, ausgerichtet auf eine Freilegung der einfachsten Begriffe und allgemeinsten Prinzipien, um hierauf gesichertes Wissen bauen zu können: Die Axiomatik in Gestalt der Regeln für die Art des Vorgehens wird so nach dem Vorbild der Geometrie Euklids (um 300 v. Chr.) zum einenden Methodenideal. Mit der großen Bedeutung, die im Rationalismus dieser Methode zukommt, wird nicht nur die theoretische Grundlage für Galileo Galileis (1564–1642) These nachgetragen, das Buch der Natur sei in mathematischen Zeichen [16]geschrieben, sondern auch das Fundament für jenen Optimismus gelegt, der in der Vernunft das menschliche Mittel der Naturbeherrschung und späterhin auch der Geschichtssteuerung sehen wird.
Diese Kennzeichnung macht deutlich, dass der Rationalismus eine erkenntnistheoretische, nicht eine ontologische Position bezieht, fragt er doch primär nach der Erkenntnisbegründung unter dem Vorrang, dem Primat der Vernunft, während die Frage nach der Seinsweise der Erkenntnisgegenstände zurücktritt und höchst unterschiedlich beantwortet wird. So ist die vielfach zu findende Behauptung unzutreffend, der Rationalismus müsse dem Idealismus, der Empirismus dem Realismus zugerechnet werden. Für den Empiristen gilt zwar, dass Hobbes etwa Materialist, nämlich Atomist war (es gibt kleinste Teilchen, die als solche nicht mehr teilbar sind); doch nach einer Übergangsphase bei Locke sind Berkeley und Hume Sensualisten, also subjektive Idealisten. Dagegen ist Descartes Dualist – es gibt für ihn sowohl das Denken als auch die Materie –, ebenso Malebranche, während Spinoza Monist ist und Denken und Materie als zwei Aspekte ein und desselben ansieht. Erst Leibniz ist Idealist in einer spezifischen Vereinigung von Elementen des objektiven und des subjektiven Idealismus; Christian Wolff hingegen kehrt zum dualistischen Standpunkt Descartes’ zurück, wie später auch Kant – wenngleich auf andere Weise.
Gerade dieser Wechsel der Positionen bezeichnet aber bereits Probleme, die sich dem Rationalismus stellen und die sich angesichts der genannten Ziele zum Leitfaden wählen lassen. Dazu zählen
[17]das Verhältnis von Erfahrung und Vernunft,
das damit zusammenhängende Verhältnis von Körper und Geist (Leib und Seele),
das Problem des Verhältnisses von Vernunft und Leidenschaft (Affekt) sowie
das Problem der Freiheit und der Begründung der Ethik.
Ein weiteres Problem tritt hinzu: Wenn diese Welt erkennbar ist, wenn auch die Grundaussagen der Ethik aus der Vernunft gewonnen werden können, so stellt sich dem Rationalismus die brennende Frage, wie das erkennbar Schlechte in der Welt mit der Güte Gottes vereinbar ist – das sogenannte Theodizeeproblem. Man wird das Problem deshalb zu denjenigen Fragen zählen müssen, die für den Rationalismus zentral sind oder sich zwangsläufig ergeben, auch wenn es bei Descartes allenfalls angelegt, bei Spinoza zurückgedrängt und erst bei Leibniz in seiner ganzen Breite behandelt wird.
Warum, so ist am Ende dieser Einleitung zu fragen, gilt der Rationalismus, gilt Descartes’ Denken nun aber als Beginn der neuzeitlichen Philosophie? Was ist daran so neu, so anders? Warum auch wird dies erst in zweiter Linie von Bacon, dem Begründer des Empirismus, gesagt? Schließlich ist doch alles so neu nicht: Der Ausgang vom Einzelnen findet sich bei Aristoteles; und das berühmte cartesische cogito ergo sum – »Ich denke, also bin ich« – hat schon Kirchenvater Augustinus gesagt. Die Forderung nach methodischem Vorgehen kennzeichnete Platon in seiner dihairetisch-dialektischen Methode, die Begriffe systematisch ordnet und in ihrem inneren Bezug erfasst, ebenso wie Aristoteles, der gerade aus solchen Gründen die Logik [18]entwickelte. Das ideale Modell eines axiomatischen Systems schließlich stammt von Euklid. Hatten die Mathematiker in bewundernswerten Gedankengebäuden der Geometrie nicht längst schon jene Systematik entwickelt und angewandt, welche die Rationalisten suchen? Hatten nicht die Jesuiten Tycho Brahes (1546–1601) Konzept akzeptiert und sich bemüht, moderne Astronomie – durchaus im Sinne von Kopernikus (1473–1543) – zu treiben? Von den vorgenommenen Kennzeichnungen bliebe also nur die eine, die Kritik an Autoritäten!
All dies mag zutreffen, und doch wäre es eine bloß äußerliche Beschreibung. Denn während sich etwa der empiristische Ansatz mühelos mit Hilfe der Lehre von der doppelten Wahrheit (also einer Trennung von christlicher Glaubenswahrheit und weltlichem Wissen) in eine nominalistische Scholastik integrieren ließ, wurden alle solchen Versuche vom Rationalismus zurückgewiesen. Damit aber war eine der zentralen Lehren des Tridentinum (Trienter Konzil, 1545–63) als Auftakt zur Gegenreformation zurückgewiesen, wonach nämlich die Tradition echter Bestandteil der Auslegung der Heiligen Schrift und damit Bestandteil der Heilslehre sei. Ein Ansatz wie der des Rationalismus, der nicht bereit ist, eine Tradition zum Wahrheitsbeweis heranzuziehen, greift die Basis der katholischen Lehre ebenso wie die Grundlage der sich entwickelnden protestantischen Orthodoxie an. Dieser Angriff erfolgte überdies mit dem Anspruch, allein die Vernunft sei beim Geschäft der Erkenntnis am Werk, eine menschliche Vernunft, die eine Offenbarung gar nicht als Inhalt einer wissenschaftlichen Aussage würde gelten lassen können. Dies alles schließt eine Vernunftreligion, Gottesbeweise oder [19]Unsterblichkeitsbeweise der Seele nicht aus – ganz im Gegenteil, zeigen sie doch die Leistungsfähigkeit solcher Vernunft. Wenn Descartes also der Neubegründer der Philosophie genannt wird, so liegt es wesentlich an dieser Sichtweise, die dem erkennenden Einzelnen und dessen Vernunft den Vorrang vor der Tradition einräumte.