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3.1 Die Regulae ad directionem ingenii
ОглавлениеDescartes’ methodologische Schrift der Regulae ad directionem ingenii, an der er 1623 und noch einmal 1628 arbeitete, weist hinsichtlich ihrer Deutung in der Literatur in zwei gänzlich verschiedene Richtungen. Während ein größerer Teil der Interpreten in ihr die Vorbereitung jener knappen [28]vier methodischen Regeln erblickt, die Descartes im Discours de la Méthode formulieren sollte, sehen andere einen derart radikalen Umbruch zwischen beiden Schriften, dass Descartes »frühestens im Winter 1628/29 zum Cartesianer wird«, denn die Regulae beruhten »auf Prinzipien, die mit der Philosophie Descartes’ nach 1629 im Widerspruch stehen«.6 Beide Auffassungen haben gute Gründe für sich; da aber Descartes selbst nicht von einem radikalen Bruch spricht, sondern mehr die Kontinuität seines Denkens betont, soll hier der Versuch unternommen werden, eher das Verbindende zu sehen, ohne allerdings die Differenzen beiseiteschieben oder leugnen zu wollen.
Worum geht es in den Regulae? In ihnen zielt Descartes darauf ab, die so erfolgreiche mathematische (oder geometrische) Methode der Analyse und Synthese auf alle Wissenschaften überhaupt auszudehnen, um damit zu einer völlig neuartigen Einheit aller Erkenntnis in Gestalt einer Mathesis universalis7 zu gelangen. Das ist zunächst nichts Neues, bedeutet es doch nur, dass man, vor ein (geometrisches) Problem gestellt, dieses so lange zerlegt, bis man bei schon Bekanntem und Bewiesenem ankommt. In der nachfolgenden Synthese werden die ursprünglichen Analyseschritte, nun ausgehend vom Bewiesenen, zum Ausgangsproblem zurückverfolgt, und zwar dergestalt, dass diese Synthese ein Beweis ist: An die Stelle der ursprünglichen Frage tritt eine begründete Aussage. Diese Vorgehensweise der Geometrie findet sich in der Scholastik, aufgeteilt in [29]zwei Methoden, die Scientia quia, die ausgehend vom Gegebenen nach den jeweiligen Gründen oder Ursachen fragt, und die auf diese folgende Scientia propter quid, die diese Gründe zu einer Begründung umkehrt. Auch die frühe Neuzeit betont die Bedeutung dieses Vorgehens – so beispielsweise Hobbes. Dennoch setzt Descartes einen neuen Akzent, indem er beide Verfahren zu einer einheitlichen Methode zusammenfügt und sie – stärker als die Scholastik oder Hobbes es taten – in die Nähe ihres Ausgangspunktes, in die Nähe der Mathematik rückt.
Die Schrift sollte aus drei Teilen zu je zwölf »Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft« bestehen. Sie beabsichtigte, die geometrische Algebra zu einer Universalwissenschaft dergestalt zu erweitern, dass unsere Erkenntniskraft (ingenium) »über alles, was es gibt, zuverlässige und wahre Urteile«8 zustande bringt. Denn »Alles Wissen ist sichere und evidente Erkenntnis«9. Das, wodurch die Erkenntniskraft geleitet werden soll, ist die Methode; Regel IV sagt lapidar: »Zum Untersuchen der Wahrheit der Dinge ist eine Methode notwendig«10.
Diese soll nicht disziplinspezifisch, sondern universell sein; eben darum begründet sie als ihr Resultat eine Einheit der Erkenntnis. Das aber bildet den entscheidenden neuen Gesichtspunkt, der Descartes von der Scholastik unterscheidet, die er immer wieder zurückweist:11 Richtete sich die scholastische Methode nach dem jeweiligen Gegenstand (wie wir dies heute durchaus wieder für die [30]Einzelwissenschaften in Anspruch nehmen würden), so verlangt Descartes ganz im Gegenteil ein durchgängiges Verfahren, das allen Wissenschaftsdisziplinen gemeinsam sein soll. Instinktiv, meint er, hätten große Talente diese Denkweise früher schon »durchschaut«12; nun aber gelte es, sie solle »die ersten Bestandteile der menschlichen Vernunft enthalten und sich auf Wahrheiten ausdehnen lassen, die aus jedem beliebigen Gegenstand entwickelt werden können«13.
Hierbei definiert Descartes Methode als
sichere und einfache Regeln, die jeden, der sie genau befolgt, niemals Falsches als wahr voraussetzen lassen, und ihn, weil er die Anstrengung des Geistes nicht unnütz aufwendet, sondern sein Wissen schrittweise vergrößert, zur wahren Erkenntnis alles dessen gelangen lassen, wozu er fähig sein wird.14
Erläuternd fügt er hinzu:
Wenn aber die Methode richtig erklärt, wie die Intuition des Geistes verwendet werden muß […] und wie Deduktionen herausgefunden werden können, damit wir zur Erkenntnis von allem gelangen, dann scheint mir alles vorhanden zu sein, was die Methode vollständig macht.15
[31]Die neue Methode stützt sich also insgesamt auf Regeln. Diese haben nichts mit logischen Schlussregeln zu tun; von Logik ist gar nicht die Rede (oder doch allenfalls implizit, wenn von Deduktionen, also von Ableitungen gesprochen wird), ja, über die traditionelle scholastische Logik spottet Descartes: Einem schon vorhandenen Wissen wird mit ihr ein Schein von Ordnung aufgezwängt. Hingegen ist er der Überzeugung, dass wir in der Geometrie oder in der Mathematik, anders als in der Syllogistik, neue Erkenntnisse zu gewinnen vermögen.
Der Syllogismus
Alle A sind B
Einige B sind C
Einige A sind C
bietet uns keinerlei neue Erkenntnisse. Doch wenn wir begriffen haben, dass die Quadratwurzel von 2 geometrisch gewonnen werden kann, nämlich als Diagonale eines Quadrates, dann führt uns der Satz des Pythagoras auch zu einer Konstruktion der Quadratwurzel aus 3, wenn wir im Endpunkt der Diagonalen des Quadrates der Seitenlänge 1 das Lot errichten und auf ihm eine Einheitslänge abtragen: Die Hypotenuse des so konstruierten Dreiecks hat die Länge der Quadratwurzel aus 3. Dieses Verfahren lässt sich nun beliebig fortführen und erlaubt uns, geometrisch alle Quadratwurzeln zu konstruieren: Wir gewinnen stets etwas Neues durch Anwendung der (Konstruktions-)Methode! Nun ist dies weder ein cartesisches Beispiel (schon Platon bediente sich seiner) noch eines aus der Arithmetik; dennoch zeigt es, wieso Descartes glaubte, Geometrie und [32]Mathematik führten zu Neuem, wenn man deren Verfahren methodisch einsetzt.
Es geht also um ganz andere Regeln als jene der Logik, um solche nämlich, die man befolgen muss, um zu gesicherter Erkenntnis gelangen zu können. Doch was sind eigentlich Regeln? Sie sind selbst nicht wahr oder falsch, denn sie beschreiben nichts; sie schreiben vielmehr vor, sie sagen, wie ich etwas anzufassen und was ich zu tun habe; sie sind mithin präskriptiv (vorschreibend) oder normativ (gesetzgebend). Regeln sind überdies etwas ganz Methodisches: Man wird weder von der Natur allgemein noch von einem Tier sagen können, sie folgten einer Regel im Sinne einer Vorschrift. Regeln – das macht ihr Wesen aus – sind hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit nicht zu beweisen, sondern nur zu rechtfertigen. Das gilt insbesondere für die Regeln methodischer Erkenntnis, die ja gerade bestimmen, wie man zu Erkenntnissen gelangt; und deshalb können sie nicht ihrerseits den Status einer solchen Erkenntnis haben. Die Rechtfertigung der Regeln besteht denn auch nur partiell in ihrem Erfolg; in erster Linie ergibt sie sich – auch wenn Descartes das alles nicht explizit sagt – aus dem Ziel, dem erkennenden Subjekt eine Methode zur Erkenntnissicherung an die Hand zu geben. Regeln sind die Artikulation einer Methode, die die Vernunft mich angesichts dieses Zieles anzunehmen zwingt.
Was die neue Methode im Einzelnen ausmacht, wird in Regel V gesagt:
Die gesamte Methode besteht in der Ordnung und Gliederung dessen, worauf die Schärfe des Geistes zu richten ist, um eine Wahrheit herauszufinden. Diese Methode [33]befolgen wir dann exakt, wenn wir verwickelte und dunkle Propositionen stufenweise auf einfachere zurückführen und danach versuchen, von der Intuition der allereinfachsten über dieselben Stufen zur Erkenntnis aller anderen aufzusteigen.16
Es handelt sich also um nichts anderes als das aus der Geometrie über Jahrhunderte vertraute Verfahren der (Problem-)Analyse mit anschließender Synthese mit Beweischarakter.
Der Weg zur unerschütterlichen evidenten Erkenntnis, die nach Regel II gesucht wird, soll nun durch eine Unterteilung der Fragen in »einfache Propositionen« und »verwickelte und dunkle Propositionen« bewältigt werden. Der Begriff propositio taucht erst in Regel XI auf, vorher ist von res oder quaestio die Rede; gemeint ist also ganz allgemein der zu erforschende Gegenstand, der der Methode unterworfen wird. Verwickelte und dunkle Propositionen werden wiederum in ein Problem, das »vollkommen verstanden« sei und »unvollkommen verstandene Probleme« zerlegt.17
Hieraus ergibt sich die Einteilung des Werkes: Die Regeln I bis XII gelten den einfachen Propositionen, die Regeln XIII bis XXIV sollten die vollkommen verstandenen Probleme behandeln (fertiggestellt wurde der Text nur bis Regel XVIII, gefolgt von einer Formulierung der bloßen Regeln ohne Erläuterung bis zu Regel XXI). Der wohl nie in Angriff genommene dritte Teil hätte den unvollkommen [34]verstandenen Problemen gelten sollen, mithin Fragen, die sich aufgrund von Daten und Experimenten nie vollkommen beantworten lassen, also empirischen Fragen: Deren Beantwortung muss immer hypothetisch bleiben. Durch den Kunstgriff, solche Aussagen als Hypothesen in einer Wenn-dann-Form auszudrücken und damit von Bedingungen abhängig zu machen, bezieht sich die Zuverlässigkeit der Antwort nur auf den Fall des Erfülltseins der vorausgesetzten Hypothesen. Auf diese Weise sollen die unvollkommen verstandenen Probleme auf vollkommen verstandene zurückgeführt werden.18 Wenn aber die vollständig verstandenen Probleme die der Mathematik sind, so ist mit diesem Ansatz ein Reduktionsprogramm empirischer Aussagen auf konditionale mathematische Aussagen zum Ausdruck gebracht: Gerade darin zeigt sich das Programm einer Mathesis universalis.
Ein ähnlicher Rückführungsgedanke beherrscht den zweiten Teil. Es geht dort um die Übertragung des damals noch recht neuen Verfahrens der Mathematik, in einer Gleichung das Unbekannte mit x zu bezeichnen und formal wie die schon bekannten Werte zu behandeln, um, vereinfacht gesagt, die Gleichung nach x aufzulösen. Direkt lösbare Fragen oder Propositionen sind nun solche, die allein mit den arithmetischen Grundoperationen gelöst werden können.19 Sie verlangen an Erkenntniskraft nur das, was uns von Natur mitgegeben ist. Die Hauptaufgabe besteht also darin, die Gleichungsauflösung so weit zu treiben, dass wir eine vollkommen verstandene Frage in eine direkt lösbare [35]überführt haben. Zugleich mit dem Rückführungsprogramm wird der Anspruch Descartes’ deutlich, alle überhaupt absicherbare Erkenntnis auf diese Weise erfasst zu haben, denn wo nachweislich eine Rückführung der skizzierten Art nicht möglich ist, sind wir an unüberschreitbare Grenzen der menschlichen Erkenntniskraft gestoßen.20 Genau hier, in der Grenzziehung zwischen Erkennbarem und Unerkennbarem, wird allerdings die Differenz zum späteren Werk liegen, denn für den Descartes der Regulae sind Erkenntnisse über die Existenz des Ich oder Gottesbeweise nicht vorstellbar. Wo wir hingegen erfolgreich sind, gelangen wir zu notwendiger und evidenter Erkenntnis. Da die Methode universell ist, konstituiert sie zugleich eine Einheit des Wissbaren, eben eine Universalwissenschaft.
Das bisher Gesagte mag den Eindruck erwecken, wir hätten es in den Regulae mit einem Mathematikbuch zu tun. Doch weit gefehlt, denn es handelt nicht von mathematischen Gleichungen, sondern von der Methode, solche Gleichungen zu lösen. Eben diese Methode soll auf alle Gegenstände der Erkenntnis Anwendung finden, und darum sind die cartesischen Regeln gerade nicht die eines Mathematiklehrbuchs, sondern die einer universellen Methode. Allerdings hat Descartes jene von ihm intendierte Verallgemeinerung nicht vorgenommen, sie blieb trotz aller Beispiele, Hinweise und allgemeiner Formulierungen nur Programm.
Werfen wir einen kurzen Blick auf einige der Regeln. Die erste Regel verlangt die Ausrichtung der Erkenntniskraft (ingenium) auf das Ziel, unerschütterliche und wahre Urteile hervorzubringen. In der Erläuterung wird gesagt, [36]dies solle gleichermaßen für alle Wissenschaften gelten, weil die »menschliche Weisheit« unabhängig von ihrem Gegenstand »stets ein und dieselbe bleibt«.21 Das ist eine höchst ungewöhnliche Begründung für die Einheit der Wissenschaft, denn nicht die Sache – die Einheit des Kosmos oder die Einheit Gottes als letzte Ursache der Welt –, sondern das menschliche ingenium sichert die Einheit. Zwar ist diese Argumentation im Ramismus vorgeformt;22 dennoch bleibt die Wende zum Erkenntnissubjekt bemerkenswert, sind wir doch meist geneigt, eine solche Wende erst Kant zuzubilligen.
Erkenntnis, die nicht täuscht, beruht für den Descartes der Regulae nur auf Intuition und Deduktion.23 Dabei definiert Descartes folgendermaßen:
Unter Intuition verstehe ich nicht das Vertrauen in die unbeständigen Sinne oder das trügerische Urteil einer schlecht zusammensetzenden Anschauung [imaginatio], sondern einen so einfachen und deutlichen Begriff des reinen und aufmerksamen Geistes, daß über das, was wir einsehen, schlichtweg kein Zweifel mehr übrigbleibt. Oder, was dasselbe ist: einen zweifelsfreien Begriff des reinen und aufmerksamen Geistes, der allein im Licht der Vernunft seine Wurzeln hat und deshalb sogar gewisser ist als die Deduktion selbst, weil er einfacher ist [37]als sie, die ihrerseits freilich vom Menschen auch nicht verkehrt durchgeführt werden kann […].24
Hiernach gibt es eine einzige Geisteskraft als letzte Quelle aller zuverlässigen Erkenntnis – die Intuition. Ganz beiläufig gibt Descartes in der Erläuterung der Regel ein Beispiel für diese Art zuverlässiger Erkenntnis, etwas, das später für ihn zentral werden soll, hier aber neben anderem eher unterläuft: Jeder, schreibt er, kann » intuitiv erkennen, daß er existiert, daß er denkt« (»unusquisque animo potest intueri, se existere, se cogitare«).25
Fragen wir uns nun, was die Regulae insgesamt vermitteln. Müssen wir, da Descartes sie nie vollendet hat, schließen, sie seien ein Irrweg gewesen? Dem widersprechen die Methodenregeln des Discours de la Méthode, die in zentralen Punkten dem nämlichen Anliegen folgen. Warum aber gibt Descartes dann das skizzierte Regelwerk auf? Die Antwort scheint dreifacher Art zu sein:
Erstens lassen sich die Wissenschaften faktisch nicht nach dem Prinzip der Auflösung von Gleichungen aufbauen, so dass die Differenzierung in 36 Regeln ihren Zweck nicht hätte erfüllen können.
Zweitens sieht Descartes, dass das Denken an einer anderen Stelle als ursprünglich gedacht seinen zweifelsfreien Fixpunkt findet, weshalb sich der Ausgangspunkt von der Mathematik zum Ich verschiebt.
Drittens glaubt Descartes – anders als in den Regulae – feststellen zu können, dass das menschliche Denken nicht [38]nur bis zu denjenigen unvollkommen verstandenen Problemen gelangen kann, die sich in hypothetische Aussagen verwandeln lassen, sondern dass es ungleich weiter vorzustoßen vermag, nämlich bis hin zu Beweisen der Existenz Gottes.
Die skizzierte Ausweitung wird schon in den methodischen Regeln des Discours deutlich, die nun behandelt werden sollen. Zugleich gibt es eine klare Linie, die von den Regulae zum Discours und darüber hinaus durch das ganze Werk führt, denn zeitlebens wird die Gewissheit der Mathematik für Descartes das Musterbild begründeten Denkens sein.