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I. Einleitung.

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Inhaltsverzeichnis

Die Einsteinsche Relativitätstheorie hat die philosophischen Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie nur Behauptungen über physikalische Meßbarkeitsverhältnisse und physikalische Größenbeziehungen auf, aber es muß durchaus zugegeben werden, daß diese speziellen Behauptungen den allgemeinen philosophischen Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen; und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer physikalischen Annahmen gemacht.

Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen. Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung, auch zu dem Zeitbegriff Kants. Man hat diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem man die „physikalische Zeit“ von der „phänomenologischen Zeit“ unterschied und sich darauf bezog, daß die Zeit als subjektives Erlebnis immer die irreversible Folge blieb. Aber in Kants Sinne ist diese Trennung sicherlich nicht. Denn für Kant ist es gerade das Wesentliche einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine Bedingung der Naturerkenntnis bildet, und nicht bloß eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung „affizieren“, spricht, so meint er doch immer, daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte, als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.

Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde nichts Geringeres behauptet, als daß die euklidische Geometrie für die Physik nicht verwandt werden dürfte. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich evidenten Axiomen Euklids widersprechen. Riemann hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in analytischer Form begründet, in der der „ebene“ Raum als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen, daß man sie als anschaulich evident von den anderen Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen Vorzug allein — übrigens ganz im Sinne Kants — die Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie auf einen Einwand gegen ihre rein begriffliche Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches Schema ersetzt werden könnte[1]. Gegenüber diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt falsch wären. Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist, daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren. Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein Zweifel, daß Kants transzendentale Ästhetik von der unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht; und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so bleibt es doch ganz sicher, daß mit der Ungültigkeit dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.

Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist die Relativitätstheorie falsch, oder die Kantische Philosophie bedarf in ihren Einstein widersprechenden Teilen einer Änderung[2]. Der Untersuchung dieser Frage ist die vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie, ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung von vornherein unwahrscheinlich. Aber es soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunächst festgestellt werden, welches die Widersprüche sind, die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie für ihre Behauptungen anführt[3]. Danach untersuchen wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend, welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie Kants einschließt, und indem wir diese den Resultaten unserer Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden wir, in welchem Sinne die Theorie Kants durch die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann eine solche Änderung des Begriffs „apriori“ durchführen, daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß. Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische Methode.

Relativitätstheorie und Erkenntnis Apriori

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