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II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten Widersprüche.
ОглавлениеWir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt das Wort apriori im Sinne Kants gebrauchen, also dasjenige apriori nennen, was die Formen der Anschauung oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die Geltung der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori nicht vorweggenommen sein[4].
In der speziellen Relativitätstheorie — wir dürfen diese Theorie auch heute noch als für homogene Gravitationsfelder gültig ansehen — behauptet Einstein, daß das Newton-Galileische Relativitätsprinzip der Mechanik mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt. Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen: Auf welche Voraussetzungen stützen sich Einsteins Prinzipien?
Das Galileische Trägheitsprinzip ist gewiß ein Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber daß die Kraft nur bei Geschwindigkeitsänderungen auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung kennen, an das Auftreten einer Beschleunigung geknüpft sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren Einsicht. In dieser Auffassung ist also das Galileische Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.
Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig bewegten, für die Beschreibung des mechanischen Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form. Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten, wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten, wie im alten, daß also der Funktionalzusammenhang ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller als die Galileische. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen an, bei welchen die Erhaltung des Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung der Kraftgrößen herbeigeführt wird. Daß es solche Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische Gesetz, und nicht nur die Kraft, invariant gegen Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist durch die Verteilung und die Natur der Dinge, und die Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang haben kann. Für den Kantischen Standpunkt, auf dem Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden, daß gegen die Galilei-Newtonschen Gesetze und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen, liegt für den Philosophen kein Grund vor; wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung der Geschehnisse äquivalent sein. Mach scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand hat Einstein bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal genug sei. Erst Einstein selbst hat seiner Theorie diesen Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die Kantische Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend schon immer die Relativität der Koordinaten fordern; daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren, liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern lag, um von ihr erkannt werden zu können.
Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als Einstein sie in seiner berühmten ersten Abhandlung[5] zur Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte, konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange zeigen.
Einstein ging davon aus, daß man, um in einem gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen mit den Konsequenzen der Hypothese führen, also eine negative Auswahl treffen. In jeder „Koordinatenzeit“ ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme ansetzt.
Es ist keineswegs gesagt, daß diese einfachste Annahme auch physikalisch zulässig ist. Sie führt z. B., wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität), in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d. h. ob nicht die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als Entscheidung darüber konnte der Michelsonsche Versuch betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.
Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung der speziellen Relativitätstheorie die empirische Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials erhebt sich der tiefe Gedanke Einsteins: daß eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten unmöglich ist. Auch die alte Definition einer absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung: sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung gibt.
Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist Einstein eingewandt worden, daß seine Überlegungen nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln niemals zu einer genauen „absoluten“ Zeit kommen kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend approximativen Messung müßte festgehalten werden. Dieser Einwand ist falsch. Die „absolute“ Zeit fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu, so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen, wie etwa Kant die Unzerstörbarkeit der Substanz apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten. Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten eine obere Grenze nicht geben. Darüber läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist eine rein physikalische Frage. Wenn etwa — und gerade das haben alle experimentellen Untersuchungen zur Relativitätstheorie gelehrt — schon für die Erzeugung einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen, in denen z. B. die kinetische Energie eines Massenpunktes mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist, die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren, oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere Grenze der Temperatur zu unterschreiten[A], kann auch die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das andere, aber es handelt sich hier gerade um das physikalisch Erreichbare. Wenn ein physikalisches Gesetz existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die „absolute“ Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von einer „idealen Zeit“ auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten[6].
[A] Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird, und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung. Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.
Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme), und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes, mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten ist aber eine empirische Angelegenheit der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken vollzieht dabei Einsteins Entdeckung, daß die Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden kann.
Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung. Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten. Allerdings wird sich der experimentelle Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze ist, z. B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen; es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch der Michelsonsche Versuch ist ein Beweis nur, wenn man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist. Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste Extrapolation verwendet, das Prinzip der normalen Induktion nennen. Allerdings verbirgt sich hinter dem Begriff „wahrscheinlichste Extrapolation“ noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht. Denken wir uns z. B. die Werte der kinetischen Energie des Elektrons für Geschwindigkeiten von 0–99% der Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die sich bei 100% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt. Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve zwischen 99% und 100% noch einen Knick macht, so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten, den Michelsonschen Versuch eingerechnet, nicht auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion, um seinen aprioren Charakter im Sinne des Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im Abschnitt VI auf die erkenntnistheoretische Stellung dieses Prinzips näher eingehen.
Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie, daß die Prinzipien:
Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten
Prinzip der irreversiblen Kausalität
Prinzip der Nahewirkung
Prinzip des approximierbaren Ideals
Prinzip der normalen Induktion
Prinzip der absoluten Zeit
mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar sind. Man kann alle diese Prinzipien mit gleichem Recht apriore Prinzipien nennen. Zwar sind sie nicht alle von Kant selbst als apriori genannt. Aber sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar, die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit der behauptete Widerspruch von einem physikalischen zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige dieser Prinzipien, z. B. das der Nahewirkung, bestritten werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung besonders aufführten, in ihnen nochmals implizit enthalten.
Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen Relativitätstheorie ein Widerspruch zum Kausalprinzip nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten Charakter hat.
Minkowski hat den Einsteinschen Gedanken eine Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer Form auszudrücken. Er definiert eine x4-Koordinate durch x4 = ict und leitet die Lorentztransformation aus der Forderung ab, daß das Linienelement der 4-dimensionalen Mannigfaltigkeit
4
ds2 =
Σ
dxν2
1
invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen in die eine der Relativität aller orthogonalen Transformationen in der Minkowski-Welt. Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für die einzelnen Systeme verschieden wäre.
Man muß jedoch beachten, daß das Minkowskische Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare Formulierung der Einsteinschen Gedanken. An deren physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung, denn die Einführung der vierten Koordinate ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind raumartige und zeitartige Vektoren in der Minkowski-Welt grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch mögliche Transformation ineinander überführen.
Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt. Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das in unseren Überlegungen eine so wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben worden.
Nach Einsteins zweiter Theorie gilt die spezielle Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z. B. die Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten. Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem, in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen, die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten als c = 3·1010 cm p. sec. zuläßt, so entsteht die Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit als einer oberen Grenze aufgegeben ist.
Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze, wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht. Für jedes Volumelement des Raumes hat c einen bestimmten Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten c = 3·1010, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert, so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer oberen Grenze. Für jedes Volumelement — und nur für ein solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen — gilt also unsere vorher angewandte Betrachtung und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.
Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht von einer allmählichen Annäherung an eine absolute Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl c > 3·1010 zuzuordnen, so daß die Annäherung an die absolute Zeit beliebig genau wird?
Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl c für das gewählte Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern, wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen, daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der größeren Konstanten c als eine Genauigkeitssteigerung gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die Konstante c einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig erschiene es allein, den Wert von c festzuhalten, etwa (wie es vielfach geschieht) c = 1 zu setzen für alle Inertialsysteme, und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.
Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit steigern, indem man die Pulverladung vergrößert; diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des Raumes. Die Größe c ist aber nicht eine Funktion bestimmter Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines universalen Zustands, und alle Meßmethoden sind nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit, daß innerhalb jedes Universalzustands eine obere Grenze c für jedes Volumelement existiert, bleibt aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die allgemeine einordnet.
Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die Geltung der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.