Читать книгу Bahnhofsdienst - Hans-Reinhard Meißner - Страница 7
D R I T T E S K A P I T E L
ОглавлениеDer siebente September 1939 war ein Donnerstag. Und es war Krieg. Genau seit einer Woche.
Während 500 Kilometer fernab von der kleinen Stadt vorm Gebirge die Wehrmacht Panzerkeile in die polnischen Gruppierungen trieb, saß Gustav Brennicke in seinem neuen Dienstzimmer.
Er studierte den „Anzeiger“, das heimische Lokalblatt:
„Auch in unserer Stadt steht die innere Front! Wir sehen das täglich. Überall spüren wir den Einsatz aller... Da ist der Bahnhofsdienst der Partei...Junge Mädchen stellen sich dem Roten Kreuz zur Verfügung...Abends versinkt die Stadt in tiefes Dunkel. Aber damit ruht die Geschäftigkeit nicht! Durch das Dunkel klingen Fanfaren der HJ, dröhnt der Marschschritt, eilt man zu Sitzungen und Beratungen. Jeder tut seine Pflicht!“
Unwillkürlich wanderte sein Blick zum Hitlerbild an der Wand. Er senkte seinen Kopf. Das hieß: Ja, so ist es. Das ist die lautere Wahrheit. Führer befiehl, wir folgen dir!
Dennoch: seit jenen Septembertagen ist der Gustav nicht mehr recht froh geworden. Ein ungutes, mulmiges Gefühl in der Magengegend drückte häufig auf die Gedärme und die Seelenruhe. Es belastete ihn nicht, dass Hildegard, seine Frau, kränkelte. Er hatte sich an den Wechsel zwischen andauerndem Unwohlsein, Schüben gefährlichen Trübsinns und hartnäckiger Erkrankung, die sie wochenlang ans Bett fesselte, gewöhnt. Er akzeptierte, dass es eben nicht mehr so wie früher war, als er noch als ein forscher Unteroffizier daherkam, Hildegard jung gewesen war und den widrigen Zeiten zum Trotz vor purer Lebenslust gesprüht hatte.
Schweren Kummer bereitete ihm die Abwesenheit der Söhne. Sein Herzblut hing an beiden.
Nie hatte er es ihnen deutlich gesagt oder gezeigt, aus Angst, die zwei würden ihn auslachen. Das hätten sie in ihrem jugendlichen Übermut sicherlich auch getan. Denn in ihnen glühte die Überzeugung, dass sie einen gerechten Kampf ausfochten, weswegen sie sich nicht schonten und ihr junges Leben in die Bresche schlugen.
Aus dem polnischen Feldzug kehrten beide Kinder gesund mit Orden und Beförderungen zurück.
Der kleine Mann platzte vor Stolz. Jeden Tag während des Heimaturlaubs mussten Hermann und Ernst mit dem Vater ausgedehnte Spaziergänge auf der Herrenbreite und den anliegenden Straßenzügen unternehmen. Gustav hatte das zwanghafte Bedürfnis, seine Diamanten zu zeigen.
Angenehme Gespräche, zackiges Grüßen, freundliche Erkundigungen. „Jawohl, Heil Hitler, beide Jungen haben EK Zwo erhalten, werden Offizierslaufbahn einschlagen. Der Frau geht es gut. Danke der Nachfrage. Also, nochmals Heil Hitler und angenehmen Tag auch.“
Alles war eitel Freude. Ganz im Stillen aber hoffte der kleine Mann, es möge bald vorbei sein.
Noch einmal ging es gut. Aus dem betörend schönen Paris, dem kulturellen Nabel der Welt, sendeten Ernst und Hermann Grüße. So standen eines Tages im Juli 40 zwei mit der Feldpost verschickte Flaschen Hennessy auf dem heimischen Küchenbüffet.
Da sich seine Frau mit Einbruch der Dunkelheit zu Bett begeben hatte, öffnete Gustav eine Flasche und das dumpfe Gefühl im Magen schwand alsbald, ja verwandelte sich gar in euphorische Stimmung. Bis zum nächsten Morgen.
Die Brüder kehrten aus Frankreich mit der silbernen Kordel an der Mütze und den glatten, blinkenden Leutnantsschulterstücken heim. Oh, welch süße Lust, die Seinen so im Glück zu sehen!
Der Sieg über den Erbfeind nicht weit hinter dem linken Rheinufer berührte unseren Gustav bis ins Mark.
Er gönnte es den „Junken“, wie er es in seiner landsmannschaftlich gefärbten Tonart heraus posaunte. D i e hatten es besser gemacht.
E r war mit dem Odium der Niederlage, die wie Katzendreck an den Schuhen geklebt hatte, von den Schlachtfeldern in Belgien und Frankreich heimgekehrt.
Kein Jubel, kein Siegesrausch. Nur Umsturz, Revolution und die schale Bitterkeit verlorener Jahre.
Da Gustav ein alter Frontkämpfer des Großen Krieges gewesen war, er wie der Führer selbst, in den Gräben unter Granatgewittern und Trommelfeuer ausgeharrt hatte, nahm er es als gewiss an, dass ein solcher Mann das gesunde Maß dessen, was möglich ist, wohl einschätzen könne.
Und er wurde ruhiger. Bis zum Frühsommer des nächsten Jahres.
Als nun an dem schicksalsschweren Sonntag im Juni 41 aus dem Volksempfänger Fanfaren schmetterten, Gustav die Sondermeldung hörte, dass jetzt ein tödlicher Schlag gegen den letzten Festlandsdegen des britischen Empire, nämlich gegen das bolschewistische Russland geführt werde, da rangen ganz plötzlich wieder diese beiden widerstreitenden Gefühle in ihm:
Vertrauen zum Führer, der wegen seines Überblicks über die großen Zusammenhänge der Politik zweifellos das Richtige entscheiden werde. Dann aber der nagende Zweifel, ob das denn wohl auch gut ausginge. Er wagte in jenen Tagen wegen verdächtiger Analogien den Namen Napoleon gar nicht in den Mund zu nehmen. Und nicht zuletzt plagte ihn stärker als je zuvor die nackte Angst um das Leben seiner Kinder, die derweil munter und unbekümmert in der Ukraine Kesselschlachten schlugen.
Auf ein Cannae folgte auf ein Neues.
Schlachten in Dimensionen, wie sie die Kriegsgeschichte bis dahin noch nicht zu vermelden gewusst hatte, wurden gewonnen, aber von Sieg konnte weit und breit nicht die Rede sein.
Das Feld, das Gustav Brennicke als Amtswalter, der er nach der Diktion der Partei nun einmal war, zu beackern hatte, wurde merklich breiter. War das Leben vor dem Krieg, ja auch in den ersten Jahren desselben, als es noch steil bergauf ging, angenehm gewesen, so änderte sich das.
Begleitete er früher die ihm unterstellten Zellenleiter und Blockwarte, wenn sie durch die Siedlung und die angrenzenden Straßen streiften, so war das in aller Regel eine Abfolge von freundlichen Diskursen und wohlmeinenden Erörterungen. Ja, man sei dem Führer dankbar, dass sich alles so sehr zum Guten gewendet habe. Man stehe in Lohn und Brot, habe ein Dach über dem Kopf, was wolle man denn mehr. Und der Geist der Volksgemeinschaft, der durchwehe alle Beziehungen. Er ergreife selbst die Herren Kommerzienräte und Direktoren. Diese Leute seien heutzutage viel entgegenkommender als in der Systemzeit. Von den Verhältnissen davor wolle man gar nicht reden. Da hätten sie für den Arbeiter reinweg gar nichts übriggehabt.
Besonders eilfertig mit hochtönenden Treuebekundungen erwies sich ein Ehepaar aus dem Haus von gegenüber. Ältere Herrschaften zwar, aber in ihrer ruhmredigen Begeisterung, im sich Berauschen an Macht und Größe nicht zu bremsen. Hartmann haben sie geheißen.
Die ersten Siege ließen Stolz aufkommen, fürwahr. Nach dem Frankreichfeldzug war alles förmlich aus dem Häuschen.
Der Krieg in Russland tobte indes heftiger als erwartet. Deshalb vermochten auch noch so aufgeblähte Gefangenenzahlen aus den Kämpfen im Osten die allgemein gedrückte Stimmung nicht zu heben. Die Mieter in den Häusern von Neu-York wurden grüblerischer und schweigsamer. Zweifel wagte keiner geradeheraus zu äußern. Man tarnte sich mit sorgfältig gewählten Worten und vagen Andeutungen hinter historischen Querverweisen, die aber selbstverständlich wegen des Genies des Führers wohl nicht zuträfen. Weite des Raumes? Also bitte schön, wir haben heute motorisierte Truppen! Zweifrontenkrieg? Na hören Sie mal, das im Westen kann man doch nun wirklich nicht mehr Krieg nennen! Niemand rang sich - aus sehr wohl erwogenen Gründen - zu einem klaren Wort durch.
Aber der kleine Mann fühlte, ja er konnte es förmlich mit Händen greifen, dass von flammender Begeisterung da nicht mehr viel zu spüren war. Kühle, intellektuell verbrämte Skepsis allenthalben.
Gerade deshalb sei der Kampf gegen die Miesmacher, die Kritikaster, die zersetzenden Zweifler, die heimtückisch ihr Gift ins Mark der Volksgemeinschaft spritzten, die mit ihren sogenannten Vernunftgründen letztlich der kämpfenden Front in den Rücken fielen, wie Gustav vom Minister Goebbels über Ätherwellen erfuhr, das Gebot der Stunde.
Der kleine Mann war nicht von Stein. Was er wollte und wünschte, das wusste er. Was werden würde, das ahnte er nicht einmal, als er an jenem bereits bezeichnetem Sonntagmorgen im Juni 1941 am Volksempfänger lauschte und plötzlich ganz aufgeregt von seinem Korbstuhl hochsprang:
„Mutti, Mutti, so hör doch mal. Ich glaube, da ist was Gewaltiges im Gange!“
Seine Frau, durch körperliche Leiden vorgealtert, kam bekleidet mit einem schäbigen weinroten Morgenmantel, der an vielen Stellen bis auf die blanke Faser abgewetzt war und aufgelöstem, schütterem grauen Haar aus dem Schlafzimmer in die winzige Wohnstube geschlurft. Gustav schaute. Sie war immer noch schön. Auf ihre Art. Die Jahre, die Sorgen und andauernde Krankheit hatten sie allmählich verfallen und abgehärmt aussehen lassen. Aber sie war eine schöne Ruine, wirkte noch immer irgendwie romantisch und geheimnisvoll. Wie die Trümmer einer Burg, um die sich Efeu und Immergrün ranken und aus deren Fugen Buschwindröschen sprießen. Die Züge im Gesicht verrieten noch, was ihn einst für sie gewonnen hatte. Der Glanz in ihren Augen war noch da.
Nachdem die Frau die Botschaft vom Einmarsch in Russland vernommen hatte, verfiel sie in einen hemmungslosen Weinkrampf.
Sie wankte wie betäubt zurück in die Schlafstube und warf sich aufs Bett. Gustav wagte nicht hineinzugehen. Nach einer Stunde erstarb das letzte Schluchzen. Sie war fest eingeschlafen.
Der kleine Mann mochte sie wegen ihres scheinbar mangelnden Vertrauens in die Zukunft nicht tadeln.
Ihm war ja, wie wir wissen, auch nicht wohl.
Da nun der Führer in seinem weisen Ratschluss dem deutschen Volk im Osten einen neuen Kriegsschauplatz eröffnet hatte, erweiterte sich der Kreis der Aufgaben der Partei. Deren Funktionären war aufgetragen, die erste Nachricht vom „Heldentod“ eines Angehörigen den im Bereich der Ortsgruppe wohnenden Familien zu überbringen. Der kleine Mann hasste das und tat es aus Pflichtgefühl trotzdem. Erschütternde Szenen musste er erleben. Manchen Fluch überhörte er. Er sei, so dachte er, Nationalsozialist und kein kleinlicher, schäbiger Anscheißer. Und ihm war nur zu bewusst, dass er im Glashaus saß. S e i n e Kinder waren auch da draußen. Vielleicht war das der Umstand, weswegen man ihn überhaupt noch akzeptierte und ihm seine Rolle abnahm.
Die Sorgen um die eigenen Kinder begannen schon, Gustav bisweilen müde zu machen.
Als man ihm hinterbrachte, dass die Volksgenossen dem abgesandten Amtswalter der Partei, also dem Überbringer der Hiobsbotschaft, flüsternd hinter vorgehaltener Hand das schauerliche Stigma des „Totenvogels“ anhefteten, lächelte er nur apathisch, winkte ab und vergaß es wieder.
Die Zeit ging derweil darüber hin.
In den ersten Septembertagen des Jahres 39 hatten die unsicheren Zeitläufte Gustav auf dem Bahnhof der Stadt eine neue Heimat geschenkt. Seine Söhne standen an den Fronten des Krieges. Nach Hause zog ihn wenig. Zwar kümmerte er sich hingebungsvoll um Hildegard, aber sie kränkelte nachhaltig, das heißt, sie wurde eigentlich nie wieder gesund. Allenfalls ging es der Guten zeitweise besser. Was Gustav an Lebensmitteln oder anderen Dingen nebenbei „organisieren“ konnte, gab er seiner Frau. Das ermunterte sie, hellte ihre trübe Grundstimmung bisweilen auf. Manchmal konnte er auch mit ihr noch reden, scherzen und blöde Witze reißen, ganz so wie in alten Zeiten. Jedoch, sie ermüdete schnell und tippelte dann ins Schlafzimmer, um zu ruhen.
Das Einvernehmen zwischen den Gatten bestand, war auch irgendwie tief, grundehrlich und vertraut, obwohl nichts mehr so wie früher war.
Aber dennoch schien Gustav froh, wenn er in seine ockerfarbene Parteiuniform schlüpfen, der im Bett liegenden Hildegard die Stirn küssen und leise sprechen konnte:
„Ich will Dich nicht stören, Mutti, aber ich muss zum Dienst.“
Ganz behutsam legte er dann immer die Tür ins Schloss, nur um ja keine Geräusche zu verursachen.
Jedes Mal, wenn er dann vor die Haustür trat, atmete er befreit durch, obwohl er dieses unwillkürlich aufkommende Wohlgefühl tief im Innern als verwerflich verurteilte.
Von der Katharinenstraße führte sein Weg zu dem bewussten Bahnübergang, an dem heute keine Sozis mehr rumlümmelten – die hatte man nämlich alle schon weggesperrt oder durch nachhaltige Erziehung geläutert. Ein überlegenes Lächeln huschte an diesem Ort über das Gesicht des kleinen Mannes. Sodann stürmte er den Fürstenweg entlang und erreichte schnurstracks und schnellen Schrittes sein Ziel. Die genagelten Eisen seiner Stiefel knallten hart auf`s Kopfsteinpflaster. Bei Trockenheit zündete ab und an ein Funke deswegen. Zu gewöhnlichen Zeiten fühlte er sich dann gut, wichtig, bestätigt, zufrieden.
Nach einer guten Viertelstunde Weg, den er bei klirrendem Frost, in der Zeit der Frühlingsblüte, bei brütender Hitze oder auch sturmgepeitschten Regengüssen zurücklegte, gelangte er auf s e i n e m Bahnhof an.
Mit verbundenen Augen hätte Gustav zu seinem Bestimmungsort finden können. Wie die Sterne den Seefahrer leiten, so führten die dröhnenden Rangiergeräusche, der penetrante Gestank von Schmierfetten und erstickenden Kohlegasen sowie die plärrenden Lautsprecheransagen, deren Töne der Wind zerhackte, den kleinen Mann mit schlafwandlerischer Sicherheit zu seinem Ziel.
Seit Kriegsbeginn schritt Gustav Brennicke diesen Weg mindestens vier -, fünf,- oder gar sechsmal in der Woche ab. In den ersten Jahren noch mit einer gewissen zeremoniellen Steifheit, die auf dem vermeintlichen Gefühl außerordentlicher Wichtigkeit beruhte, später voller Sorgen und Kummer.