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1. Hunger im Überfluss

Jeder neunte Mensch geht abends hungrig ins Bett. Laut dem Rapport der Ernährungs– und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO zur Nahrungsmittelsicherheit aus dem Jahr 2015 sind weltweit 795 Millionen Menschen – knapp 11% der Erdbevölkerung – unterernährt. Das sind zwar 216 Millionen weniger als zu Beginn der 1990er–Jahre,2 doch das Ziel des Welternährungsgipfels von 1996, die absolute Zahl der Hungernden von 1990 bis 2015 zu halbieren, das heißt, um gut eine halbe Milliarde zu senken, wurde damit deutlich verfehlt.

Jedes siebte Kind unter fünf Jahren ist untergewichtig. Unterernährung ist mit ursächlich für den Tod von 3,1 Millionen Kindern unter fünf Jahren pro Jahr – mehr als 45% aller Sterbefälle in dieser Altersklasse.3 Am stärksten vom Hunger betroffen ist Afrika südlich der Sahara, wo derzeit rund 23% der Bevölkerung unterernährt sind; in der Karibik sind es knapp 20%.4

Zwei Milliarden Menschen nehmen im Essen zwar genug Energie und Proteine auf, sind aber nicht ausreichend mit Vitaminen und essenziellen Mineralstoffen wie Jod und Eisen versorgt. Eine Ursache dafür ist die verminderte Ernährungsvielfalt, weil Grundnahrungsmittel in Monokulturen angebaut werden und manche nährstoffreiche Pflanzen im lokalen Ernährungssystem fehlen. In den reichen Ländern sind die Menschen oft ebenfalls fehlernährt, weil sie verarbeitete Nahrungsmittel verzehren, die viele Kalorien und viel Fett, aber wenig Mikronährstoffe enthalten.

Hunger ist das größte Gesundheitsrisiko weltweit. Doch auch das Gegenteil ist ungesund: Weltweit sind 1,4 Milliarden erwachsene Menschen übergewichtig, davon gar 500 Millionen fettleibig.5 Übergewicht ist eine der Hauptursachen für Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfälle und etliche Krebsarten. 1980 war ein Viertel aller erwachsenen Menschen davon betroffen, 2008 waren es bereits mehr als ein Drittel – zunehmend auch in Entwicklungsländern. Insgesamt isst heute etwa jeder zweite Mensch zu wenig, zu viel oder das Falsche.6

Für manche Länder des Südens ist Hunger ein schwer zu überwindendes Entwicklungshindernis: Wo die Menschen nicht ausreichend ernährt sind, bleibt die Arbeitsproduktivität gering, und hungrige Kinder verpassen einen Großteil der schulischen Ausbildung, zudem fallen erhebliche Krankheitskosten an. Eine in mehreren afrikanischen Ländern durchgeführte Studie bezifferte die Kosten des Hungers auf zwischen 2 und 16% des Bruttosozialprodukts der betreffenden Länder.7

Ein Nahrungssystem, das einerseits zu viel und andererseits zu wenig gesunde und zugängliche Nahrung auf den Tisch bringt, kann kein Modell für die Zukunft sein. Ein vertiefter Blick auf die nachstehenden Problemstellungen zeigt, was das angestrebte Ziel des Welternährungsgipfels – den Hunger auszurotten – bisher verunmöglicht.

Verschwendung

Derzeit produzieren die Bäuerinnen und Bauern dieser Welt genug, um mehr als 14 Milliarden Menschen zu ernähren – das heißt, doppelt so viel, wie gegenwärtig benötigt wird. Doch davon landet nur ein Teil in den Mägen der Konsumenten. Gemäß einer Anfang 2013 publizierten Studie der britischen Institution of Mechanical Engineers gehen 30 bis 50% der für den menschlichen Verzehr bestimmten Nahrungsmittel verloren.8

In den Entwicklungsländern sind ungenügende Lagerungs-, Verarbeitungs- und Transportkapazitäten die Hauptgründe für die Nahrungsmittelverluste.

Anders in den Industrieländern: In der Schweiz fallen 45% der Verluste in den Haushalten an.9 Sonderangebote verleiten dazu, mehr zu kaufen, als verzehrt werden kann. Und die Verfallsdaten sind so festgelegt, dass in der Küche oft noch einwandfreie Nahrungsmittel ausgemustert werden.

Derzeit wird weltweit ein Drittel der Lebensmittel nicht verzehrt, was hohe wirtschaftliche Verluste verursacht (jährlich etwa 940 Milliarden US-Dollar) und 8% aller Treibhausgasemissionen ausmacht. Eine Studie von Porter, Reay, Higgins und Bomberg der Universität Edinburgh bestätigt, dass Nahrungsmittelverluste und -verschwendung jährlich 2,2 Gigatonnen CO2-Äquivalente verursachen. Das sind 323 kg CO2 pro Person, und dreimal mehr als noch vor 50 Jahren.

Champions 12.3, eine Koalition aus über 36 Unternehmens- und Regierungsvertretern sowie Personen aus der Zivilgesellschaft, zieht mit einem Bericht Bilanz zu den Fortschritten im Kampf gegen »Food Waste and Loss« als Teil der im Herbst 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele (SDGs). Zwar würde die Staatengemeinschaft bereits viele Anstrengungen unternehmen, Ziel 12.3. zu erreichen. Diese genügen laut dem Bericht jedoch nicht, die derzeitigen Missstände in der Produktions- und Lieferkette bis hin zum Endverbraucher zu beheben.

Die Behebung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung, betont der Bericht, würde sich dreifach auszahlen: durch eine verbesserte Ernährungssicherheit, Kosteneinsparungen in der gesamten Wertschöpfungskette sowie durch Ressourcen- und Klimaschonung. Alle Beteiligten müssten nun zügig aktiv werden, sich auf konkrete Reduktionsziele einigen, Fortschritte regelmäßig messen und ohne Wenn und Aber handeln. Teilweise gibt es schon gute Vorbilder: Italien und Frankreich haben dieses Jahr ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung verabschiedet: Anstatt essbare Lebensmittel zu entsorgen, können Supermärkte diese nun spenden. Auch die USA kündigte an, Lebensmittelverluste bis 2030 halbieren zu wollen.

Bedenklich sei derzeit, dass lediglich einige Regionen und größere Konzerne Bemühungen zur Erreichung des Ziels 12.3 unternehmen würden. Auch bei der Fortschrittsmessung bedarf es vielerorts noch der Verbesserung. Es fehle an professionellen Systemen und Methoden, Bestandsdaten ordentlich zu erfassen und so Problembereiche zu identifizieren, zeigt der Bericht. Fazit: Um das SDG-Unterziel 12.3 bis 2030 zu erreichen, müsse jedes Land, jede Stadt, jedes Unternehmen und vor allem jeder Erdenbürger verstärkten Einsatz im Kampf gegen Nahrungsmittelverschwendung und -verluste zeigen.10

Zu viel Fleisch

Eine andere Form der Nahrungsmittelverschwendung ist der hohe Fleischkonsum. Eine Kalorie aus tierischer Produktion erfordert zwei bis sieben pflanzliche Kalorien für Futtermittel.

Der Fleischverbrauch hat sich in den letzten 50 Jahren weltweit vervierfacht.11 Derzeit liegt er bei jährlich 32 kg pro Kopf der Erdbevölkerung.12 In der Schweiz sind es 51,13 in Deutschland 6014 und in Frankreich 86 kg.115 Während der Konsum in den Industrieländern stagniert oder gar leicht zurückgeht, nimmt er in Schwellenländern teils rasant zu.

Die Fleischproduktion erfolgt mehr und mehr industriell in Massentierhaltungssystemen. Die Haltungsform erfordert den Einsatz großer Mengen von Antibiotika. Weltweit gehen 70% des Antibiotikaverbrauchs auf das Konto der landwirtschaftlichen Tierhaltung.16 Der exzessive Antibiotikaeinsatz begünstigt die Entwicklung von Resistenzen. In Europa sterben schätzungsweise 25 000 Menschen pro Jahr an Infektionen durch antibiotikaresistente Erreger.17

Hinsichtlich der Ressourceneffizienz ist ein gewisser Anteil an tierischen Produkten an der menschlichen Ernährung durchaus sinnvoll. Etwa zwei Drittel der globalen Agrarfläche sind nur als Gras- und Weideland18 nutzbar. Wiederkäuer, die Gras fressen, sind keine Nahrungsmittelkonkurrenten für Menschen, sie liefern zudem Dünger. Und Hühner und Schweine können Nahrungsmittelabfälle und Nebenprodukte verwerten – eine gute Sau frisst alles.

Doch viele Nutztiere werden vorwiegend mit Getreide und anderen Ackerfrüchten gefüttert: Ein Drittel der Weltgetreideproduktion geht heute in die Ställe.19 Ein Großteil der Futtermittel für die Fleischproduktion in den Industrieländern wird zudem importiert. Die so »ausgelagerte« Ackerfläche der EU umfasst 35 Millionen Hektar.20 Das entspricht mehr als einem Drittel der gesamten Ackerfläche der EU,21 die den Entwicklungsländern für den Anbau von Nahrungsmitteln für die eigene Bevölkerung verloren geht.

Die treibende Kraft für die Fehlentwicklungen in der Tierhaltung ist der ökonomische Druck, möglichst viel und möglichst rationell Fleisch zu produzieren. Für uns in den reichen Industrieländern wird Fleisch damit spottbillig, für eine wachsende Mittelschicht in den Entwicklungsländern erschwinglich, die Armen hingegen gehen leer aus. Sie können sich weiterhin kein Fleisch leisten, und die Nutztiere fressen ihnen die pflanzliche Nahrung weg. Nach einer Berechnung des UN-Umweltprogramms UNEP könnten die Kalorien, die bei der Umwandlung von pflanzlichen in tierische Nahrungsmittel verloren gehen, 3,5 Milliarden Menschen satt machen.22

Zu arm für eine ausreichende Ernährung

Mehr als eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut: Sie müssen mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen.23 Arme Familien in Entwicklungsländern geben 50 bis 80% ihres Einkommens fürs Essen aus;24 schon eine geringfügige Erhöhung der Nahrungsmittelpreise kann für sie existenzielle Not bedeuten.

Das war zum Beispiel in den Jahren 2007 und 2008 der Fall. Damals führten wetterbedingte Ernteausfälle, die gesteigerte Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen und Fleisch sowie Spekulationsfieber zu einem Preissprung bei den Grundnahrungsmitteln. Allein von Juli 2007 bis Juli 2008 erhöhte sich der von der FAO berechnete Preisindex um 52%.25 Die unmittelbare Folge: Die Zahl der unterernährten Menschen stieg um 70 bis 100 Millionen an. In manchen betroffenen Ländern kam es zu Hungerrevolten, in Haiti führten diese gar zum Sturz der Regierung.

Das scheinbare Paradox: Nahrung

Dennoch sind nicht zu hohe Nahrungsmittelpreise das eigentliche Problem, im Gegenteil: Nahrung ist zu billig. Um dieses scheinbare Paradox zu erklären, muss man ein wenig ausholen.

Möglichst viel, möglichst billig und mit möglichst geringem Arbeitseinsatz zu produzieren, lautet die Devise der industriellen Landwirtschaft. Dieser reduktionistische, auf Maximalerträge fixierte Ansatz bedingt die maschinelle Produktion in Monokulturen, auf denen Hochertragssorten mit exzessivem Einsatz von Mineraldünger, Pestiziden und Wasser gepusht werden. Dies wiederum bedeutet die Ausbeutung von nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen.


Rein quantitativ war dieser Ansatz in der Vergangenheit durchaus erfolgreich. Obschon sich die Weltbevölkerung in dieser Zeitspanne mehr als verdoppelte, wurde 2011 pro Kopf annähernd 30% mehr Getreide produziert als 1961;26 im Gegenzug zu den steigenden Erträgen sanken die Preise. Gemäß Bundesamt für Statistik gibt ein Durchschnittshaushalt in der Schweiz heute bloß noch 6,4% des Bruttoeinkommens für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aus,27 in Deutschland sind es 10,5%.28

Doch von den neuen Agrartechniken profitierte nur eine Minderheit der Bäuerinnen und Bauern, die sich die landwirtschaftlichen Hilfsmittel leisten konnten. Für weitaus die meisten Kleinbetriebe der Entwicklungsländer ist eine Produktion, die einen hohen Input teurer Hochertragssorten und Agrochemikalien erfordert, kein anwendbares Modell, um die Produktion zu steigern und der Armut zu entfliehen.

Derweilen verhökern Länder des reichen Nordens ihre Überschüsse im Süden mithilfe milliardenschwerer Exportsubventionen. Dort konkurrenzieren die Importgüter die lokale Landwirtschaft. Die Folge ist, dass heute über 70% aller Hungernden auf dem Land leben.29 Als Kleinbäuerinnen und -bauern, Landarbeiter und Landlose sind sie direkt von der Landwirtschaft abhängig. Sorgt günstige Witterung für gute Ernten, werden sie zwar satt, doch mit den über den Eigenbedarf hinaus produzierten Nahrungsmitteln verdienen sie wenig bis nichts. In schlechten Jahren ernten sie zu wenig, um sich ausreichend ernähren zu können. Und für den Kauf von Nahrungsmitteln fehlt ihnen das Geld. Als letzten Ausweg wählen sie die Abwanderung in die Städte, landen meist in den Elendsvierteln, wo sie auf Gedeih und Verderb auf Esswaren angewiesen sind, die aus billigen, subventionierten Importen aus dem reichen Norden verfügbar sind und die zugleich den einheimischen Bäuerinnen und Bauern kein Auskommen ermöglichen.

Verschärft wird das Problem durch die einseitig auf eine exportorientierte Landwirtschaft ausgerichtete Agrarpolitik mancher Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Die Produktion für den Inlandbedarf wird vernachlässigt, und für eine gesunde Ernährung wichtige traditionelle Kulturpflanzen werden nicht mehr angebaut. Lateinamerika produziert heute dreimal mehr Nahrung, als konsumiert wird;30 dennoch sind 34 Millionen Menschen dieses Kontinents unterernährt.31

Inzwischen sind rund zwei Drittel der Entwicklungsländer Nettoimporteure von Nahrungsmitteln32 oder sind gar von der Nahrungshilfe aus dem Norden abhängig. So trägt das fehlentwickelte globale Ernährungssystem dazu bei, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auftut – auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene. Was wiederum das Hungerproblem perpetuiert – ein Teufelskreis. Um ihm zu entkommen, sind reduktionistische Lösungen, wie sie die industrielle Landwirtschaft anbietet, untauglich, ja kontraproduktiv. Es braucht ganzheitliche Ansätze zur Bekämpfung der Armut, durch eine auf dieses Ziel ausgerichtete Entwicklungs-, Handels-, Sozial- und Steuerpolitik, und dies sowohl auf internationaler Ebene wie in den einzelnen Ländern. Ein nachhaltiges Ernährungssystem, wie es mir vorschwebt, kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.

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