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Einleitung: Warum Dilthey?

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Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) zählt – neben Friedrich Nietzsche und Edmund Husserl – zu den wichtigsten deutschsprachigen Philosophen der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sein Name ist eng mit den Geisteswissenschaften, der Hermeneutik und der Entwicklung einer nicht-naturalistischen, „verstehenden“ Psychologie verbunden. Seine entsprechenden Thesen und Theorien werden in den einschlägigen Debatten noch immer diskutiert, und sein Werk, das in einer umfangreichen Ausgabe vorliegt, hat mittlerweile eine kaum mehr zu überblickende Anzahl von Forschungsarbeiten veranlasst. Auf zahlreichen Kongressen und Kolloquien hat man sich mit seinen Gedanken auseinandergesetzt. Seine Texte wurden in fast alle Weltsprachen übersetzt; so gibt es inzwischen amerikanische, französische, russische, japanische und portugiesische Ausgaben seiner Werke sowie eine Fülle von Übersetzungen ins Italienische. Dilthey ist also – obwohl ein Autor, der im 19. Jahrhundert verwurzelt ist – ein Philosoph, dessen Werk noch lebendig ist, immer noch zu denken gibt und zu Interpretation, Auseinandersetzung und Fortführung herausfordert.

Dilthey vertritt eine historisch-hermeneutische Philosophie des Lebens, und die Grundbegriffe seiner Philosophie sind neben „Leben“, „Erleben“ und „Erlebnis“ vor allem „Verstehen“, „Struktur“, „Zusammenhang“; hinzukommen im Spätwerk die Begriffe „Ausdruck“, „Lebensbezug“, „Wirkungszusammenhang“ und „objektiver Geist“. Sein reiches Lebenswerk umfasst Bücher und Schriften zu fast allen Disziplinen der Philosophie, insbesondere zur Erkenntnistheorie und Logik, zur Ethik, Ästhetik, Psychologie, Pädagogik und Poetik sowie darüber hinaus zur Philosophie- und Geistesgeschichte und zur Literaturgeschichte.

Aus seinem Werk ragen drei Lebensprojekte heraus, die ihn über weite Strecken seiner wissenschaftlichen Biographie in Atem gehalten haben,

[9] Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe

ein biographisches, ein systematisch-philosophisches und ein geistesgeschichtliches.

Am Beginn von Diltheys Laufbahn steht, nach kirchen- und philosophiegeschichtlichen Forschungen, die Beschäftigung mit Leben und Werk des protestantischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, die in der großen Schleiermacher-Biographie Leben Schleiermachers kulminiert, deren erster (und einziger) Band 1870 erschien. Diese Lebensgeschichte, die zugleich eine sehr fundierte und fulminante Geistes- und Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland bietet, war angeregt durch die Beteiligung an der Edition des Schleiermacher-Briefwechsels, die Dilthey nach dem Tod des Herausgebers allein weiterführte. Aus der Einleitung zum ersten vom ihm edierten Band der Briefe, die Dilthey wegen des Einspruchs der Schleiermacher-Familie nicht publizieren durfte, erwuchs der Plan zu einer umfangreichen Biographie, die ihn – auch nach der Publikation des ersten Bandes – mit Unterbrechungen jahrzehntelang beschäftigte, ohne dass es ihm gelungen wäre, den immer wieder angekündigten zweiten Band fertigzustellen. Die umfangreichen Materialien zu diesem Band wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod aus dem Nachlass herausgegeben.

Das nächste große Projekt, das Dilthey fast sein ganzes wissenschaftliches Leben beschäftigen sollte – ebenfalls ohne zum Abschluss zu kommen –, war eine „Kritik der historischen Vernunft“, wie Dilthey in (kritischem) Bezug auf Kant sein Großprojekt einer umfassenden philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften gelegentlich auch nannte. Verwirklicht werden sollte dieses Unternehmen mit seinem auf zwei Bände angelegten philosophischen Hauptwerk, der Einleitung in die Geisteswissenschaften, dem – wie der Untertitel lautet – „Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte“. Der erste, vorbereitende Band der Einleitung wurde 1883 veröffentlicht. Obwohl Dilthey in den folgenden Jahren für den geplanten zweiten Band, der die eigentliche Grundlegung enthalten sollte, schon größere Partien in Aufsatzform publiziert und umfangreiche Manuskripte verfasst hatte, konnte der Band von ihm ebenso wenig abgeschlossen werden, wie der zweite Band der Schleiermacher-Biographie. Auch in diesem Fall wurden

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erst aus dem Nachlass wichtige systematische Teile der Grundlegung im Rahmen der Gesammelten Schriften (= GS) veröffentlicht.

Das dritte Großprojekt Diltheys sind seine Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Diesem Unternehmen, das auf einen frühen, nicht realisierten Buchplan zurückgeht, zu dem schon ein Verlagsvertrag abgeschlossen war, wandte sich Dilthey nach 1900 zu. Unmittelbarer Auslöser war wohl das zweihundertjährige Jubiläum der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, aus dessen Anlass Dilthey zwei große wissenschafts- bzw. akademiegeschichtliche Aufsätze publizierte. Diese Beschäftigung mit der Geschichte der Berliner Akademie wuchs sich in der Folge zu einem umfangreichen Projekt einer Geschichte des deutschen Geistes aus, die neben der wissenschaftlichen, philosophischen auch die literarische und musikalische Entwicklung in Deutschland umfassen sollte und für die in Diltheys zahlreichen literarhistorischen Abhandlungen schon viele Vorarbeiten bereitlagen. Doch trotz seiner immensen Produktivität – der entsprechende Nachlassteil umfasst mehrere tausend Manuskriptseiten – gelang es Dilthey auch in diesem Fall nicht, das Werk zum Abschluss zu bringen. Teile daraus wurden in den Bänden III und XII der GS sowie 1933 in einer Einzelpublikation veröffentlicht.

Neben diesen Großprojekten finden sich in Diltheys Werk weitere wichtige Veröffentlichungen, die eine intensivere Beschäftigung lohnen, wie z. B. seine Hegel-Biographie Die Jugendgeschichte Hegel von 1905 und vor allem die Sammlung seiner wichtigsten literargeschichtlichen Aufsätze Das Erlebnis und die Dichtung, die 1906 erschien. Außerdem sind Diltheys ausgedehnte geistes- bzw. philosophiegeschichtliche Studien, die seit Anfang der neunziger Jahre in dichter Folge erscheinen, seine Abhandlungen zur Poetik und Pädagogik, seine späten Arbeiten zu einer „Philosophie der Philosophie“, wie er seine Weltanschauungslehre auch genannt hat, sowie insbesondere die 1910 veröffentlichte Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, die sich an den ersten Band der Einleitung anschloss und Struktur und methodische Grundlagen der Geisteswissenschaften analysierte sowie das Problem der historischen Erkenntnis behandelte, von großer, dauerhafter Bedeutung. Aber auch im Fall des Aufbaus war es Dilthey nicht vergönnt, den angekündigten zweiten Teil dieser umfangreichen Abhandlung ab-

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zuschließen; er starb, bevor er diese Absicht konkret in Angriff nehmen konnte. Insofern lässt sich durchaus mit einem gewissen Recht davon sprechen, dass über Diltheys Lebenswerk, das trotz vieler bedeutender Schriften letztlich ein großes Fragment darstellt, eine gewisse Tragik liegt, was Dilthey wohl auch gesehen und worunter er gelitten hat, wie gelegentliche Hinweise in seinen späten Texten belegen.

Während wichtige Teile seines Werkes insofern noch lebendig und „aktuell“ sind, als sie noch immer in den einschlägigen Debatten als Referenztexte dienen, auf die man sich affirmativ oder kritisch beruft, erscheint uns die Person Dilthey doch merkwürdig fremd und als eine Gestalt, die uns heute fern gerückt ist.

Diltheys Lebensspanne reicht vom Biedermeier bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs; als er geboren wurde, war Hegel zwei Jahre tot und Goethe gut anderthalb Jahre. In seine Lebenszeit fallen viele bedeutende, wenn nicht gar revolutionäre Entwicklungen in politischer, wirtschaftlicher, naturwissenschaftlich-technischer wie kultureller Hinsicht: die Märzrevolution von 1848, der preußisch-österreichisch-dänische Krieg von 1864, der preußisch-österreichische Krieg von 1866, der deutsch-französische Krieg von 1870/71, die Reichsgründung von 1871, der Wilhelminismus, die Gründerzeit, der rasante Aufstieg der Naturwissenschaften, der eine Fülle von Entdeckungen und technischen Entwicklungen mit sich brachte, sowie die Stilwechsel in Kunst und Literatur von der Spätromantik des Biedermeier über den Realismus zum Naturalismus und Impressionismus.

Wie kein zweiter repräsentiert Dilthey in seiner Biographie den Typus des deutschen Professors des 19. Jahrhunderts, der inzwischen nur noch eine historische Figur ist: fast sein ganzes Leben war der Forschung und Lehre sowie dem Austausch mit befreundeten Philosophen und Wissenschaftlern gewidmet. Nahezu alles wurde seinem rastlosen Arbeiten untergeordnet. Urlaube wurden zur Arbeit an begonnenen Forschungsvorhaben genutzt; seine Briefe, selbst an die Familie und die Braut, dienen fast immer auch dem Bericht über gerade anstehende Arbeiten oder dem Ausblick auf neue Projekte. Diese fast als eine Bessenheit zu bezeichnende Erfülltheit von seinen Forschungen und seine umfassende geisteswissenschaftliche Bildung werden treffend illustriert durch eine

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köstliche briefliche Schilderung, die der junge William James in einem Brief vom 17. Oktober 1867 an seine Schwester von einer Begegnung mit Dilthey anlässlich eines Mittagessens bei dem mit Dilthey eng befreundeten Kunst- und Literarhistoriker Herman Grimm gibt und die Herman Nohl in einem Handbuchartikel über Dilthey wiedergegeben hat: „Ein weicher dicker Mann mit schwarzem Haar […] von ungewissem Alter zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren, mit sehr kleinen grünen Augen. Er trug den obligaten Frack, hatte aber an exceedingly grimy shirt and collar and a rusty old rag of a cravat. Der Professor floß über von Informationen über alles Erkennbare und Unerkennbare. He is the first man I have ever met of a class of men, to whom learning has become as natural as breathing. Er sprach und lachte unaufhörlich bei Tisch, berichtete Frau Grimm die ganze Geschichte des Buddhismus, und ich weiß nicht, was von andren Punkten der Religionsgeschichte. Nach Tisch gerieten Grimm und der Professor in eine heiße Kontroverse über die primitive Form der Naturreligion. Ich bemerkte, daß die Antworten des Professors ziemlich müde wurden, als plötzlich sein dicker Kopf nach vorn fiel. Grimm rief, er solle lieber einen ordentlichen Schlaf im Sessel nehmen. Er stimmte eifrig zu. Grimm gab ihm ein reines Taschentuch, das er über sein Gesicht warf und augenblicklich einzuschlafen schien. Nach zehn Minuten weckte ihn Grimm mit einer Tasse Kaffee. Er erhob sich, erfrischt wie ein Riese, und fuhr fort, mit Grimm zu streiten über die Identität von Homer.“ (The Letters of William James. Edited by his son H. James. Vol. I. Boston 1920, 109 – 111; H. Nohl: Wilhelm Dilthey (1957), in: Ders.: Die Deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze 1770 – 1830. Herausgegeben von O. F. Bollnow und F. Rodi. Göttingen 1970, 304.)

In stiller Arbeit entstand im Laufe der Jahre nicht nur ein höchst umfangreiches publiziertes Werk, das heute in der Ausgabe seiner Gesammelten Schriften greifbar ist, die 1914, kurz nach seinem Tod, vom Kreis seiner engeren Schüler begonnen wurde und 2006 nach der Edition von sechsundzwanzig, z. T. sehr umfangreichen Bänden zum Abschluss kam. Er füllte darüber hinaus in jahrzehntelanger harter, disziplinierter Arbeit mit seinen Manuskripten, Skizzen, Entwürfen, Plänen und Projektdispositionen seine Manuskriptschränke. Sein handschriftlicher Nachlass, dessen umfangreichster Teil im Archiv der Berlin-Brandenburgischen

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Akademie der Wissenschaften (Berlin) aufbewahrt wird – ein kleinerer Nachlassteil befindet sich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen –, umfasst mehrere zehntausend Seiten, von denen nur ein Teil in den Nachlassbänden der GS veröffentlicht werden konnte.

Gute Gründe für eine intensivere Beschäftigung mit dem philosophischen Werk Diltheys wurden oben schon genannt: er ist eine bedeutende, philosophiehistorisch wichtige Gestalt der deutschen Philosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und hat eine große Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, zu der so wegweisende Philosophen wie u. a. Martin Heidegger, Georg Misch, Helmuth Plessner, Erich Rothacker, Otto Friedrich Bollnow und Hans-Georg Gadamer gehören, die in unterschiedlicher Weise durch sein Werk zu Kritik und Auseinandersetzung oder zur (kritischen) Weiterführung seiner Denkmotive angeregt wurden.

Diltheys bedeutendste Leistung liegt zweifellos in seiner Philosophie der Geisteswissenschaften: Er hat als einer der ersten versucht, die Geisteswissenschaften als eine von den Naturwissenschaften unabhängige Gruppe von Wissenschaften philosophisch zu begründen und dabei entscheidende Einsichten in das Wesen geisteswissenschaftlicher Erfahrung und die Struktur der Geisteswissenschaften gewonnen.

Sein Ziel war es, ein „allgemeingültiges Wissen der geschichtlichen Welt“ (VII, 152) zu begründen bzw. die Bedingungen der Allgemeingültigkeit des geschichtlichen und kulturellen Verstehens zu erforschen. Die Geisteswissenschaften begreift Dilthey daher zunächst als Wissenschaften, die – wie die Naturwissenschaften – die allgemein anerkannten Kriterien der Wissenschaftlichkeit erfüllen, wie z. B. die Forderungen nach Allgemeingültigkeit und Objektivität. Während Dilthey somit einerseits den Wissenschaftscharakter dieser Gruppe der Wissenschaften der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit betont, hebt er aber auf der anderen Seite zugleich hervor, dass sie in erkenntnistheoretischer und in der Folge davon auch in methodischer Hinsicht von den Naturwissenschaften unterschieden sind.

Der Grund dafür liegt in der unaufhebbaren (ontologischen) Differenz von Natur und menschlicher Kultur sowie dem je verschiedenen (methodischen) Verhältnis, das wir als Forschungssubjekte zu diesen

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beiden Bereichen der Wirklichkeit einnehmen. Die Natur, als ein Zusammenhang kausal bestimmter Prozesse, ist für uns – so Dilthey – eine „fremde Welt“, die für uns „stumm“ ist. Die kulturelle, geistige Welt dagegen, an der wir partizipieren, ist „unsere Welt“, sie spricht uns an, wir verstehen sie, sie ist für uns bedeutsam und sinnhaft. Der Natur können wir uns gleichsam nur „von außen“ nähern, die Kultur dagegen, die als menschliches Erzeugnis zugleich den Menschen formt – der Philosoph und Kulturanthropologe Michael Landmann wird für dieses Wechselverhältnis die prägnante Formel vom Menschen als „Schöpfer und Geschöpf der Kultur“ finden –, ist uns „von innen“ bekannt, vertraut und daher verständlich. Wir – und hier wird deutlich, dass Dilthey das so genannte „Vico-Axiom“ (F. Fellmann) paraphrasiert, wonach der Mensch nur das verstehen kann, was er selbst hervorgebracht hat – verstehen die kulturelle Welt, die „unsere Welt“ ist, weil wir sie (mit)hervorgebracht haben. Wir sind als Elemente dieser kulturellen Welt verwoben in die mannigfaltigen und komplexen Geflechte oder Netzwerke gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeiten, wie Sprache, Traditionen, Religion etc., die uns umgeben und prägen, an denen wir mitgestalten und weiterarbeiten und die für uns deshalb verständlich sind.

Außerdem ist Dilthey wichtig, weil er einer der Hauptbeteiligten der sogenannten „Verstehen-Erklären-Debatte“ ist, zu den Klassikern der Hermeneutik zählt und mit seiner Philosophie der Geisteswissenschaften den Versuch einer hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften unternommen hat, die nicht nur einen wesentlicher Beitrag zur Philosophie der Geisteswissenschaften geliefert, sondern auch bedeutende Anstöße zur Begründung einer „hermeneutischen Philosophie“ gegeben hat. Dilthey hat das für die Geisteswissenschaften konstitutive Grundverhältnis von Leben, Ausdruck und Verstehen herausgearbeitet und den von Hegel übernommenen, aber von ihm anders gefassten Begriff des „objektiven Geistes“ in die Theorie der Geisteswissenschaften und damit auch in die Hermeneutik eingeführt und mit seiner Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit außerdem auch einen beachtlichen Beitrag zur Kulturphilosophie geleistet.

Weiterhin ist Diltheys Konzeption einer nicht-naturwissenschaftlich ausgerichteten, beschreibenden und zergliedernden, d. h. „verstehenden“

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Psychologie von außerordentlicher Bedeutung, da er mit dieser eine Konzeption entwickelt hat, die aktuell wieder viel Resonanz erfährt und in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Lage von besonderer Virulenz ist.

Einige weitere gute Gründe, warum sich eine intensive Beschäftigung (und Auseinandersetzung) mit ihm lohnt, lassen sich noch darüber hinaus anführen: weil er als Alternative zur Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit (Locke, Hume und Kant) eine auf die Totalität der menschlichen Natur begründete „Philosophie des Lebens“ entwickelt hat und in seinen anthropologischen Überlegungen den Menschen als ein geschichtliches und gesellschaftliches Wesen herausgestellt hat; weil er durch seine literarhistorischen Aufsätze schulbildend geworden ist; weil er mit seinen biographischen Werken über Schleiermacher und Hegel glänzende Beispiele geistesgeschichtlicher Forschung geliefert hat; weil er nicht nur die geisteswissenschaftliche oder verstehende Psychologie, sondern auch die geisteswissenschaftliche Pädagogik inspiriert hat und weil er mit seiner Weltanschauungslehre wichtige Einsichten in den Lebensbezug der Philosophie vermittelt hat.

Schließlich ist Dilthey gerade in unserer heutigen Situation von unverminderter Aktualität, weil er zu einer Zeit, in der der Materialismus von Ernst Haeckel, Ludwig Büchner etc., der Positivismus und Empirismus von Auguste Comte, John Stuart Mill und Henry Thomas Buckle sowie die exakten Naturwissenschaften mit ihren Methodenkonzeptionen den Eigensinn der geistigen Welt – wie er sagte – „verstümmeln“ wollten, die Autonomie dieser geistigen Welt und die ihrer Wissenschaften zu retten versuchte. Gegenwärtig befinden wir uns in einer Situation, die derjenigen Diltheys gegen Ende des 19. Jahrhunderts verblüffend ähnlich ist: zahlreiche naturalistische Positionen, angefangen von der Hirnforschung über Repräsentanten der analytischen Philosophie bis zu Anhängern eines Neo-Materialismus, stellen mit großer Resonanz in den Medien die Annahme der menschlichen Willensfreiheit und damit die Souveränität der Person sowie die These einer Unabhängigkeit des Geistigen von Naturprozessen und folglich die der kulturellen Wirklichkeit radikal infrage. Diltheys Argumente gegen eine solche, heute im Trend liegende naturalistische Vereinnahmung bzw. Negation der geistig-kulturellen Wirklichkeit und sein Versuch der Begründung der

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Geisteswissenschaften als eigenständiger, von den Naturwissenschaften unabhängiger Wissenschaftsgruppe können auch heute noch wichtige Impulse geben in einer Debatte, in der es um nicht mehr und nicht weniger geht, als um die uns alle betreffende zentrale Frage nach unserem Begriff des Menschen selbst.

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Wilhelm Dilthey

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