Читать книгу Das Fest der Männer und der Frauen - Hans-Ulrich Möhring - Страница 8
Оглавление… e la libertà …
»Komm, Sofie, erzähl!«
Ja, ja gern, nur zu gern … aber wie? Wie erzählte sie etwas, das sie so viele Jahre lang nicht nur vor den Freundinnen gehütet hatte, sondern auch vor sich selbst? so gut gehütet, dass sie wohl wusste von der verbotenen Tür und dunkel ahnte, was sich dahinter verbarg, aber nie wirklich Klarheit schaffen ging, nie auch nur vergewissernd durchs Schlüsselloch lugte, schon gar nicht aufzuschließen versuchte, höchstens einmal traumverloren mit dem Schlüssel spielte, um ihn schnell wieder wegzustecken. Ach, nicht so wichtig. Falls sie Bo früher überhaupt erwähnt hatte, dann höchstens als einen, mit dem sie vor Urzeiten mal zusammen in einer Band gewesen war, aber beim letzten Treffen zum Frühlingsanfang konnte sie dann doch nicht damit hinterm Berg halten, dass dieser alte Freund sie überraschend zu einer Ausstellung in Heidelberg eingeladen hatte, und obwohl sie die Sache herunterspielte, waren alle im Kreis hellhörig geworden. Inzwischen wussten die meisten von der neuen Entwicklung in Sofies Leben, und ohnehin sahen alle ihr die Veränderung an, so beschwingt, wie sie am Nachmittag angekommen, so verpeilt, wie sie beim gemeinsamen Kochen, und so überdreht, wie sie beim Essen gewesen war, so jubelnd, wie sie gesungen hatte. »Du musst diesmal den Anfang machen!«, waren sich alle einig.
Also gut. Das Geschirr war abgeräumt und gespült, und vom Einstimmungskanon angeheizt saßen sie zu elft im Stuhlkreis um das kleine Lagerfeuer, das Carola und Jenny auf der Wiese zwischen den Gästehäusern in Gang gebracht hatten und das sie gut gebrauchen konnten, denn obwohl der Regen der letzten Tage zum Glück aufgehört hatte, waren die Temperaturen für Mittsommer doch noch ziemlich frisch. Sofie seufzte. Über nichts hätte sie lieber gesprochen, aber wie, wie sollte sie von diesem Mann erzählen, der plötzlich wieder in ihr Leben getreten und doch nie wirklich daraus verschwunden war? »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Im Grunde war er immer da.«
»Immer da? Hm. Wie das?«
Am Sonntag erst hatte sie Bo das selbe erzählt. Ronja und Leni waren am Abend aus Berlin zurückgekehrt, und als sie zu viert am Essenstisch saßen und die Mädchen und er aufs neue anfingen, Distanz und Nähe auszutarieren, wurde ihr noch einmal fast schmerzhaft scharf bewusst, wie sehr die Leben dieser drei, ihrer drei Liebsten auf der Welt, miteinander verflochten waren, wie verschlungen die Lebenslinien von Anfang an. Sie beobachtete, wie Ronja unter den vorsichtigen Fragen des fremden Mannes langsam auftaute, und musste daran denken, wie dieses Kind gezeugt worden war. Gerufen. Es war zum einen das leibhaftige Zeugnis der Versöhnung zwischen Gregor und ihr … und zum andern … Zum andern hatte sie die Versöhnung damals so wild und entfesselt begangen, wie sie mit ihm vorher noch nie und nachher nie wieder gewesen war. Gregor hatte sich einen Ruck gegeben und sie nach Bayreuth eingeladen, um ihr mit Tristan und Isolde als abschreckendem Beispiel die Alternative zwischen zerstörerischer und aufbauender Liebe vor Augen zu führen, der Liebe des nachtdunklen Rauschs und des taghellen, verantwortlichen Erwachsenenlebens, und sie hatte sich mit Wille und Bewusstsein noch einmal neu für ihn entschieden und sich ihm dankbar geöffnet, so weit sie nur konnte. Die Nacht mit ihm war für sie der rasende Kampf gegen jene andere Nacht gewesen, deren Erinnerung sie schier zerriss, die eine Nacht mit Bo in Frankfurt, und zuletzt meinte sie, das Gespenst der Vergangenheit gebannt zu haben. Ja, es war möglich, sagte sie sich entschlossen, die Leidenschaft, mit der sie brannte und die von der Oper noch einmal geschürt worden war, ganz auf Gregor zu übertragen, auch wenn er so wenig deren Auslöser war wie in Isoldes Fall König Marke. Neun Monate später kam Ronja zur Welt, ihre Erste, ihre Wilde.
»Es ist nicht so, dass ich die Jahre über viel an dich gedacht hätte, aber wenn ich jetzt zurückblicke, warst du irgendwie immer da«, versuchte sie Bo begreiflich zu machen, als sie ihn noch am selben Abend mit dem Auto nach Hamburg fuhr, wo er den Nachtzug nach Ulm nehmen wollte, um am Morgen gleich in den Wagen springen und zusammen mit Berthold in den Saulgauer Wäldern die Aufräumarbeiten im Sturmholz fortsetzen zu können. Er klang skeptisch. Sie fing an, von Ronja zu erzählen. Natürlich war Bo nicht der Vater, das wusste sie selbst am besten. Und wie sehr dieses Kind sie in der Schwangerschaft und in der ersten Zeit nach der Geburt mit Gregor verbunden hatte, das hatte sie ihm ja erzählt. Als sie die Abschlussprüfung an der Schauspielschule ablegte, hochschwanger mit Ronja, war Gregor hinterher vor Rührung und Begeisterung vor ihr niedergekniet. Nein, Bo war nicht der Vater, aber sie war die Mutter, mit ihrer ganzen, ungeteilten Seele … oder mit ihrer geteilten Seele, wie man es sehen wollte. Die Geburt war grausam gewesen, ein elend langer qualvoller Kampf, bis das Kind schließlich den Widerstand aufgab und sich buchstäblich aus der Verschanzung in ihr herausreißen ließ. Da hatte Gregor sich im Recht gefühlt, dass er auf der Klinikgeburt bestanden hatte, und in der ersten Zeit umsorgte er sie hingebungsvoll und war wahnsinnig stolz auf seine Tochter. Trotzdem, das wusste sie vorher, war er kein Familienmensch. Seine Schnitzler-Inszenierung für das Thalia Theater beanspruchte bald wieder seine ganze Aufmerksamkeit, und nach einigen Monaten brachte er das Engagement, das er ihr dort gern verschafft hätte, immer häufiger aufs Tapet.
Sofie trommelte am Lenkrad, während sie in den Sonntagabendverkehr auf der A7 einscherte. »Er wollte mich unbedingt als Schauspielerin sehen, ständig hat er von meiner kommenden großen Karriere geredet. Ich war das Kind, das er hüten und pflegen und erziehen wollte, nicht Ronja. Und ich war mal wieder hin und her gerissen.« Einerseits war die Geburt in jedem Sinne das Gewaltigste, was ihr im Leben widerfahren war. Sie fühlte sich so voll in ihrer Kraft wie nie zuvor und wollte nicht einsehen, wieso die Mutterschaft, deren Erfahrung ihr endlich alle Lebensverhältnisse so zurechtzurücken schien, wie sie gehörten, auf einmal primär ein Karrierehindernis sein sollte, das man durch geschickte Alltagsorganisation mit Tagesmutter und Haushaltshilfe aus dem Weg räumte. Um welcher größeren Erfüllung willen? Andererseits verband eine warme, weite Dankbarkeit sie mit dem Mann, der sie zur Mutter gemacht hatte, und es beglückte sie, wie sehr Gregor an sie glaubte. Den Ausschlag gab schließlich …
Sie stockte und warf einen Blick auf Bo, der die Rücklehne schräg gestellt hatte und ihr halb liegend lauschte. »Kannst du dich noch erinnern, wie ich dir damals in Frankfurt von meiner Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule erzählt habe?«, fragte sie.
Hm, dunkel. Bo überlegte. Irgendwas von Kleist hatte sie vorgesprochen, nicht wahr? Aber was … nein, das wusste er nicht mehr.
»Im blutgen Feld der Schlacht muss ich ihn suchen, den Jüngling, den mein Herz sich auserkor!«, rief Sofie pathetisch in die Runde.
»Mmm, m-hmmm, m-hmmm«, machte Luzie langgezogen, und die anderen Frauen griffen das Summen auf, spannen es mit rhythmischen Variationen aus, spielten mit der Melodie, differenzierten die Stimmen, bis die Vorsängerin nach einer Weile den wortlosen Gesang mit einem entschiedenen »M-hm-hmmm!« wieder beendete.
»M-hm!«, bestätigte Sofie. »Na, von ›auserkor‹ konnte in der Situation, wo ich gerade aus der Band ausgestiegen war und mich von Fred getrennt hatte, natürlich gar keine Rede sein.« Aber wovon konnte die Rede sein? Wenn sie sich, so schwer es fiel, in die Gemütslage von damals zurückversetzte, dann war sie in Wirklichkeit vor ihm geflohen und hatte sich, schien ihr später, als sie sich hinzudenken traute, von dem Gang nach Hamburg auch versprochen, diesen Jüngling von sich fernzuhalten, innerlich wie äußerlich, dessen Liebe ihr in einem Moment klargeworden war, wie er falscher nicht hätte sein können. Sie wollte diese neue Fessel nicht, sie wollte sich endlich frei bewegen. Ja, gut, das Singen mit ihm hatte etwas in ihr getroffen, und als Freds Frau hatte sie sich sicher gefühlt und sich voll darauf einlassen können, doch als Fred fort war und als Nächster gleich Bo vor ihr stand mit seinem ganzen nackten Verlangen, bekam sie den Horror. Zu viel. Es war alles zu viel. Sie wollte gar nicht wissen, wie tief er nun wirklich in ihrem Herzen saß, sie wollte ihn dort herausreißen, blutig, wenn es sein musste, schon den ersten zarten Keim der Versuchung und überhaupt die ganze verfluchte Illusion der romantischen Liebe, die sie mehr denn je verachtete; herausreißen und zertreten.
»Frei, wie der Wind auf offnem Blachfeld, sind die Fraun, die solche Heldentat vollbracht, und dem Geschlecht der Männer nicht mehr dienstbar.« Die Worte von einst sprangen sie an, und Sofie sprang ihrerseits auf und warf sie den anderen mit dramatischer Gebärde hin, als stände sie auf der Bühne. Sie strich sich die Haare zurück, sang: »Frei wie der Wind sind die Frauen!«
»Frei wie der Wind sind die Frauen!«, antworteten alle, und prompt entwickelte sich der nächste Kreisgesang, länger und temperamentvoller als der erste, mit Solostimmen und tänzerischen Einlagen, mit gehecheltem »Blachfeld! Blachfeld!« im Hintergrund und lautem, fast geschrienem »Nicht mehr dienstbar!«, bis Sofie ihn schließlich mit einem gehaltenen »… wie der Winnnnd« ausklingen ließ. Die Frauen strahlten vor Freude und Energie, als sie sich hinsetzten und die Blicke wieder erwartungsvoll auf die Erzählerin richteten.
»Ich war also ziemlich planlos auf der Suche nach dem dritten, dem zentralen Text, den ich für das Vorsprechen in Hamburg nehmen konnte, und als ich in Kleist geblättert habe und auf das Stück gestoßen bin, war die Entscheidung schnell gefallen.« Sie verstand nicht so recht und es war ihr letztlich auch nicht so wichtig, worauf dieser Dramatiker mit seinen gewaltsamen, zwanghaft hochtrabenden und dann wieder grotesk kalauernden Blankversen hinauswollte, für sie war die Grauensgeschichte von der Amazonenkönigin Penthesilea und dem Griechenkönig Achilles, die sich töten müssen, um sich lieben zu können, selbst eine Art Schlachtfeld, auf dem sie ihren eigenen inneren Kampf austragen konnte. Sie arbeitete akribisch an ihrer Stimme, um ihr den Klang äußerster Verlorenheit zu geben, mit dem sie diesen ganzen Sprache gewordenen Wahnsinn als Mensch, als Frau vortragen konnte. Sie haschte nach einem festen Schicksalsfaden, wollte glauben und glaubhaft machen, dass diese wider Willen Liebende unter dem Ansturm der »wie losgelassne Hunde« tobenden Begierden allem Anschein zum Trotz doch nicht selbst zur Hündin werden musste.
Gregor hatte über die Jahre nie aufgehört, von dieser Prüfung zu schwärmen: wie sie die völlige Entgrenzung der Amazonenkönigin nicht mit der üblichen blindwütigen Raserei gespielt habe, sondern mit einer Traumentrücktheit, unheimlich ruhig und doch zum Zerreißen gespannt, die alle gängigen Klischees von Geschlechterkampf und Wahrheit des Unbewussten weit hinter sich ließ. Gerade durch ihre bebende, verschwebende Stimme und die Sparsamkeit der Gestik habe sie Penthesileas vermeinte Individualität als Konglomerat reiner Affektreflexe enthüllt, beherrscht von Irrsinn und Gewalt als den Zwangsprodukten der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, und damit alle Mythenbildungen, die auch mit revolutionären Vorzeichen an dem Stoff unternommen worden waren, in einem viel revolutionäreren Sinne dekonstruiert. Sofie war sich all dessen nicht so sicher. Das Stück war ihr weit weg, als er ihr das Angebot machte. »Aber dem Reiz, die Rolle zu spielen, konnte ich einfach nicht widerstehen. Und damit, das konnte Gregor natürlich nicht ahnen, war ich sofort wieder im Kampf mit Bo.«
»Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel.« Nach der Aufnahmeprüfung war ihr plötzlich dann doch, als drängte sie »ihr töricht Herz«, ihm, dem »Lieben, Wilden, Süßen, Schrecklichen«, so schnell wie möglich mitzuteilen, dass sie bestanden hatte. Als wüsste er von ihrem Kampf und wartete begierig auf den Ausgang.
»Ich hatte das Gefühl, es dir unbedingt erzählen zu müssen, aber zu der Zeit hat ja nicht einmal Egon gewusst, wo du abgeblieben warst.« Bo brummte bestätigend. Er oder sie, eines von beiden hatte in den Jahren immer dafür gesorgt, dass sie sich verfehlten.
Also vergaß sie ihn – bis zu ihrem unerwarteten Wiedersehen zwei Jahre später – und dann war er ihr natürlich wieder präsent, als sie in der Spielzeit 1979/80 als Gregor Hentschlers Penthesilea auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters stand. Mit umwerfendem Erfolg. Sie war an einem anderen Punkt im Leben als zu Beginn ihrer Ausbildung, fühlte etwas wie schauderndes Mitleid mit dem kranken Dichterhirn, das sich diese Perversion liebender Schutzlosigkeit hatte ausdenken müssen, diese aneinander vorbeirauschenden Scheindialoge zwischen zwei Scheinliebenden, eingesponnen in Wahn die eine, in Konvention der andere, beide gleich unfähig, sich wahrzunehmen. Wie sehr sich ein Mann doch verkunsten konnte, wenn er im Leben keinen Fuß auf den Boden bekam. Gerade dieser tiefe Widerwille gegen den Geist des Stücks jedoch schien es ihr zu ermöglichen, sich ganz und gar in die Besessenheit von der romantischen Liebe hineinzusteigern und die Verkörperung ihres äußersten Zerrbilds als innere Reinigung zu vollziehen, Exorzismus durch Exzess gewissermaßen. Noch krasser als Tristan demonstrierte Penthesilea, wenn sie Achills Leiche mit den Zähnen zerfleischte, die Quintessenz der romantischen Verblendung: Tod. Die extreme Spannung zwischen Identifikation und Distanz, der innere Krieg, den sie mit sich führte, verlieh ihrem Spiel eine unmittelbare Wirkung, die alle Kritiker begeisterte. Von einer »titanischen schauspielerischen Leistung« war in der ZEIT die Rede.
Kurz vor Weihnachten starb Fred, und sofort standen die Gespenster der Vergangenheit mit auf der Bühne. Sie fuhr mit dem Vorsatz nach Mainz, den Gespenstern endlich ins Auge zu sehen, doch das eine Gespenst, auf das sie am meisten hoffte, kam nicht aus der Versenkung. »Ich habe mir von Egon deine Nummer geben lassen und ein paarmal bei dir angerufen, aber du warst nie da.« Wieder brummte Bo. »Doch, ich war da«, sagte er, »aber ich bin nicht drangegangen. Ich dachte, es ist meine Mutter.« Er schüttelte den Kopf. »Da war ich vermutlich schon nicht mehr zu erreichen. Von niemand.«
Sie schwiegen lange. Neumünster-Süd strich vorbei. Großenaspe. Sofies Stimme klang verändert, als sie sagte: »Als ich wieder in Hamburg war, ist in der selben Nacht – da gab es für mich gar keinen Zweifel – Leni gezeugt worden. Es war, als ob das Glück, das dieser Augenblick hatte …«, sie stockte, »als würde darin ein großer Schmerz einfließen.« Wieder schwieg sie. »Du bist für mich mit meinen beiden Töchtern verbunden. Von Anfang an.«
Bo schnaufte und sagte nichts.
Mit der neuen Schwangerschaft war klar, dass es für sie bis auf weiteres keine zweite Spielzeit geben würde. Und die erste brachte sie innerlich gespalten zu Ende. Sie hatte in einem künstlichen Raum etwas mit aller Konsequenz ausagiert und dadurch im Leben eine tiefere Klarheit gewonnen: Wollte sie einen Lebensweg gehen oder eine Titanin der Bühne werden? Ließ sich das verbinden? Schloss es sich aus? Musste sie jetzt noch die Medea spielen? War das Schauspielen ein Weg, ihr Weg, zur eigenen Wahrheit, oder war es der Weg daran vorbei? Sie wusste es nicht.
Nach Lenis Geburt schien sich die Geschichte zu wiederholen. Sie war unendlich fasziniert von der Kleinen und ihrer älteren Schwester, diesen Wesen, die auf ihren Ruf hin gekommen waren, sie wusste nicht, woher und warum, aber jetzt waren sie da, ihr anvertraut, in ihre Hand gegeben, und sie wollte dieses Vertrauen rechtfertigen und ihnen, ja, eine gute Mutter sein, auch wenn sie darunter nicht die dumpfe Gluckenexistenz verstand, die sie bei manchen Frauen sah und die ihre eigene Mutter ihr mit stillem Grausen unterstellte, weshalb sie sehr selten aus Frankfurt zu Besuch kam und, wenn, keine Hilfe war. Gerade in dieser ersten Zeit, wo die kleine Seele noch nicht auf der Erde Fuß gefasst hatte und Sofie in den dunklen Augen des Kindes die Nacht erblickte, aus der es kam, gab es für sie nichts Schöneres und Erregenderes, als sich zwischen den immergleichen täglichen Verrichtungen – stillen, wickeln, anziehen, ausziehen, herumtragen, beruhigen, einschläfern, schäkern – ahnend, tastend diesem anderen Schicksal zu nähern, das dabei war, sich immer stärker mit ihrem eigenen zu verflechten. Wer bist du? Wer bin ich? Warum bist du zu mir gekommen? Gregor verlor irgendwann die Geduld. Die Aufmerksamkeit, die sie ihm im Bett entzog, war das eine, aber was ihn noch stärker angriff, war ihre Weigerung, möglichst rasch an die Bühne zurückzukehren. Sie müsse die Kraft ihrer jungen Jahre nutzen, dürfe ihr großes Talent nicht vergeuden. Sah er denn ihre andere Kraft überhaupt nicht? Ihre Kraft des Lebens.
Ja! Genau! Ganz genau! Die Verbindung von Kunst und Leben, das ist es doch, woran sie schon vor Jahren gemeinsam geknackt haben, versichern sie sich gegenseitig lachend und händedrückend und schulterrubbelnd und sich an der roten Ampel schräg umarmend, als wirklich alles alles erledigt ist, gepackt und geplant und mit Gregor und der Kinderfrau abgesprochen, die Milch abgepumpt und die beiden Kleinen noch einmal geherzt und der Mann dankbar geknuddelt, und sie endlich im Auto sitzen und die Fahrt endlich losgeht, endlich endlich. Kein alltagsferner Hochleistungszirkus einiger Auserwählter für die Masse der passiven Konsumenten, sondern Kunst als aktive Lebensgestaltung, Menschen verbindend, Gemeinschaft stiftend. Magie? Ja, von ihr aus auch Magie! »Ach, Luzie!«, ruft Sofie und umhalst die Freundin noch einmal an der letzten Ampel vor der Autobahn. »Diesmal machen wir ernst, ganz bestimmt!« Sie dreht das Fenster herunter, als sie anfahren, und lässt ihren roten Seidenschal im Wind flattern. »Mit fliegenden Fahnen!«, jubelt sie, und Luzie antwortet mit dem lauten Trillern, das sie sich von den Frauen in Afrika abgehört hat, reckt die Faust. »Bandiera rossa!«, ruft sie, und gemeinsam singen sie mit überschnappenden Stimmen:
Bandiera rossa la trionferà.
Bandiera rossa la trionferà.
Bandiera rossa la trionferà.
Evviva il comunismo e la libertà!
Das war vor zehn Jahren ihr Lieblingslied auf den Häuserkampfdemos, an denen die frisch politisierten Schülerinnen mit fünfzehn, sechzehn hocherregt teilnahmen. Sie gingen zwar in eine Klasse, aber richtig zu Freundinnen wurden sie erst, als sie mit den deutschen und italienischen Hausbesetzern und ihren Unterstützern untergehakt durch die Straßen des Frankfurter Westends liefen, revolutionäre Parolen schrien und Arbeiterlieder sangen. Später mischten sie eine Zeit lang im Frauenzentrum mit, Luzie länger, Sofie kürzer, fuhren nach dem Auseinanderbrechen von Sofies Band zusammen in den Senegal, ein Jahr später an die Elfenbeinküste, und als sie 1977 in der Walpurgisnacht weißgeschminkt durch Hamburg zogen und sich als die neuen Hexen fühlten, die sich von den Männern nicht mehr das Recht nehmen ließen, sich nachts auf den Straßen frei zu bewegen, da sahen sie sich einmal kurz an und hatten beide sofort ihr altes »Avanti popolo« auf den Lippen, und das libertà! im Refrain sangen sie mit besonderer Inbrunst. Hinterher fuhren sie mit drei anderen Frauen an den Mönchteich im Osten der Stadt und waren sich einig, dass sie von nun an verstärkt verschütteten weiblichen Traditionen nachgehen und Ausdrucksformen weiblicher Lebenskraft aus anderen Zeiten und Kulturen auf ihre Weise wiedergewinnen wollten. Luzie war da gerade nach Bremen gezogen, und sie stellten sich vor, sich häufig zu sehen, Sachen zusammen zu machen, gemeinsam etwas zu bewegen. Dann gingen die Lebenswege auseinander. Luzie wurde völlig vereinnahmt von der neuen Stadt und der neuen Stelle als Kostümbildassistentin, ihre erste feste Anstellung nach dem Studium in Offenbach, und Sofie war ein Jahr später schon Mutter und bald darauf ihrerseits davon vereinnahmt, sich als Schauspielerin einen Namen zu machen. So sehr der Gedanke an die Freundin immer wieder an ihr nagte, das Leben war einfach zu voll, die Verbindung nicht zu halten, und das Wort von den neuen Hexen, die sie werden wollten, wurde nie mit Inhalt gefüllt. Der Anruf vor zwei Wochen war daher eine Riesenüberraschung und eine Riesenfreude – zumal er genau zum richtigen Zeitpunkt kam.
»Besser hättest du es gar nicht timen können«, wiederholt Sofie, was sie letztens schon am Telefon gesagt hat. »Es ist so viel passiert in diesen vier Jahren, so viel ist wirklich gut gelaufen bei mir, und trotzdem – das ist mir im Winter klargeworden – stehe ich im Grunde am selben Punkt wie damals und habe immer noch keine Antwort auf unsere große Frage, wie wir heute als Frauen leben können. Welche Kräfte müssen wir wachrufen, welche Formen müssen wir finden, um in dieser kaputten Männerwelt nicht einfach mitzuschwimmen oder unterzugehen?« Luzie nickt nachdrücklich. So ähnlich ist es ihr auch gegangen, als ihr vor einiger Zeit im Frauenbildungshaus diese Broschüre über den Frauenhof im Weserbergland und die Jahreskreisfeste, die sie dort feiern, in die Hand gefallen ist. Die Idee, dass das Spirituelle selbst politisch ist und durchaus kein Eskapismus, keine Flucht vor dem politischen Engagement, gefällt ihr total. Das patriarchale lineare Denken mit seinem ewigen Mehrmehrmehr, größer besser höher schneller weiter, immer weiter auf der geraden Bahn von Leistung und Erfolg, von Fortschritt, Welteroberung und unendlichem Wirtschaftswachstum, das soll nicht nur theoretisch hinterfragt und politisch bekämpft werden, weil es mit brachialer phallischer Gewalt die zyklische Ordnung des Lebens zerstört und in letzter Konsequenz die Grundlage des Lebens überhaupt, die Erde selbst, nein, den Frauen geht es mit ihren Festen ganz praktisch darum, sich als kraftvolle Mondfrauen zu realisieren, die durch ihren Monatszyklus von selbst mit dem Kosmos und seinen Gesetzen verbunden sind. Es ist ein ebenso politischer wie spiritueller Akt, sich bewusst wieder einzugliedern in den großen Kreis und im Jahreslauf die kosmische Ordnung als inneren rhythmischen Vorgang zu erfahren. Das allumfassende Bild dafür ist die dreifaltige Göttin. Ihren drei Erscheinungsformen als junge, reife und alte Frau entsprechen die Lebensphasen wie auch die Jahreszeiten, so dass die weiße Göttin das Treiben und Blühen des Frühlingserwachens versinnbildlicht, die rote die fruchttragende Fülle des Sommers und die schwarze das Absterben zur Wiedergeburt im Herbst. Zu jedem dieser Übergänge feiern die Frauen ein Fest, in dem sie die Kräfte des jeweiligen Entwicklungsabschnitts in sich entdecken und wecken, und im Winterfest wird die Ruhe begangen, die Sammlung der Kräfte, und im Erzählen der überlieferten alten Geschichten und der neuen persönlichen Erfahrungen die Weisheit des Ganzen noch einmal tiefer verinnerlicht. So erobern sie altes verlorengegangenes Hexenwissen zurück.
Das alles, sagt Luzie, hat ihr total eingeleuchtet, und es leuchtet den beiden noch mehr ein und gewinnt für sie sinnliche Kraft, als sie in der idyllisch gelegenen alten Mühle im Lennetal eintreffen und mit den anderen Frauen durch den erwachenden Frühlingswald ziehen, auf der Lichtung inmitten von Buschwindröschen den ersten magischen Kreis bilden, die Höhle am Berg durch ihr Summen in ein mächtiges vibrierendes Energiefeld verwandeln, sich am Abend gegenseitig am ganzen Körper anmalen, ein selbstgewähltes Tier werden, alte Hexenlieder lernen, trommeln, tanzen, singen. Sie rühren an Verschlossenes. Trauern um Verlorenes. Spüren Verbindungen nach. Finden als Frauen unter Frauen zu einer beglückenden angstfreien Gemeinschaft. Am Morgen vollziehen sie einen Geburtsritus, tauchen in das noch eiskalte Flüsschen ein und sind hinterher alle wirklich wie neugeboren. Sofie fühlt sich in einer Weise aufgehoben und angenommen, wie sie es seit Kindertagen nicht mehr erlebt hat. In den Gesprächen lässt sie ihren Gefühlen freien Lauf. Ihre Gefühle kreisen um ihre Kinder. Ein erstes Problem entsteht. Von den vierzehn Frauen an diesem Wochenende sind nur zwei über dreißig, darunter Barbara, die Leiterin, und nur eine außer ihr hat Kinder. Sie stecken in anderen Aufbruchsbewegungen als Sofie, und für diese wiederholt sich, was sie als junge Mutter, dreiundzwanzig bei Ronjas Geburt, fünfundzwanzig bei Lenis, mit Freundinnen erlebt hat: eine Distanz tritt ein. Die Göttin mag gern in einem kosmischen Sinn als Mutter des Lebens gelten und die Gebärfähigkeit grundsätzlich ein Quell weiblicher Stärke sein, der den gebärneidischen Männern trotz aller vergeistigten Ersatzformen immer verschlossen bleiben wird, aber leibhaftige Kinder kommen im Horizont dieser jungen Frauen primär als Fesseln vor, mit denen das Patriarchat ihnen die traditionelle Mutterrolle aufzwingen und die sexuelle Selbstbestimmung nehmen will. Beim jetzigen Stand des Kampfes gehe es darum, die ganzen männlichen Bilder von Weiblichkeit abzuschütteln, von Erfüllung der Frau in Familie und Mutterschaft und so weiter, und Frauen, die sich einen solchen Biologismus in der einen oder anderen Form zu eigen machen – ein paar Namen fallen – unterwerfen sich dem Diktat der Männer und grenzen sich damit selbst aus der Frauenbewegung aus. Hexenwissen heute, sagt Barbara, bedeutet Resakralisierung des weiblichen Körpers, der weiblichen Sexualität, des ganzen Lebens. Die Frauen lernen ihren Körper wieder heiligen und gewinnen die Kontrolle darüber zurück, sie leben ihre Sexualität frei von Angst und Scham und lassen sich diese Freiheit nicht mehr von den Männern beschneiden, die vor der weiblichen Sexualität Angst haben und sie seit Jahrtausenden unterdrücken. Sofie stellt sich ein Hexenwissen vom weiblichen Körper und der weiblichen Seele nicht zuletzt als Hebammenwissen vor, Mutterwissen, als Wissen um die intimste menschliche Ich-Du-Beziehung, die sie kennt. Auch das Schwangersein, wirft sie ein, das Stillen und die vielen anderen Formen der kindlichen Nähe sind Körpererfahrungen von höchster Sinnlichkeit, Weiblichkeit. Niemand mag so recht darauf eingehen. Die grundsätzlichen Töne werden schärfer, die Abgrenzungen gegen eine reaktionäre Muttermystik – die so natürlich niemand Sofie unterstellen will. Diese verstummt nach und nach. Zur befreienden Wirkung der Liebe zwischen Frauen hat sie nichts zu sagen. Die Rede von der Göttin kommt ihr zunehmend aufgesetzt vor. Die beschworenen matriarchalen Traditionen sind für ihr Empfinden Wunschbilder, leidenschaftlich erträumt, aber nicht in der Seele wurzelnd, gut zu erkennen am leisen Gefühl der Peinlichkeit, das bei den Anrufungen der großen Göttin und rituellen Verrichtungen ihr zu Ehren nie ganz weggehen will, auch wenn es an einem Wochenende unter Gleichgesinnten von der gemeinsamen Inbrunst immer wieder zum Schweigen gebracht wird. Peinlichkeit irgendwann auch im Singen. Für den Genuss, mit anderen aus vollem Herzen zu singen, diese ganz besondere Verbindung der Stimmen herzustellen, nimmt sie einiges an bescheidenen Texten und schlichten Melodien in Kauf, aber irgendwann geht ihr das rechtschaffene Protestgesäusel über Männergewalt und Mutter Erde doch ein wenig auf den Geist. Im Singen erweist sich, was echt und was ausgedacht ist. Man hört es den Stimmen an, ob sie geerdet sind oder in anempfundene Bewusstseinshöhen abheben –
»Bewusstseinsstimmen!«, hatte Bo ausgerufen, als sie ihm, aus Rendsburg heimgekehrt, bei Kaffee und Kuchen die Geschichte ihres Frauenkreises erzählte. »Verrückt. Damit hat schon meine Oma gehadert.« Er schüttelte den Kopf. »Sie konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn ihre Schüler – sie war Musiklehrerin, weißt du – zu hoch oben in der Brust gesungen haben und die Stimme von tieferen Schichten abgeschnitten war. Bewusstseinsstimmen hat sie die genannt.«
»Tell me more, tell me more«, zwitscherte Sofie, und Bo erzählte, was ihm von den Gesprächen mit Oma Käthe in Kahla über die musikalische Bildung in der Freien Schulgemeinde, wo sie und Opa Harry in den zwanziger Jahren unterrichtet hatten, in Erinnerung geblieben war. M-hm. Sofie nickte nachdrücklich. Dass Musik eine gemeinschaftsbildende Wirkung hatte, davon war sie auch überzeugt. Klar konnte man immer auf der Wolke der hohen Gefühle entschweben und sich in seiner Begeisterung über die Niederungen des grauen Alltags erhaben fühlen, eine Zeit lang, aber für sie war es wichtig – und für Bos Oma anscheinend auch – dass die Gefühle erprobt und geformt und, wie gesagt, geerdet wurden, dass sie sich im Alltag bewährten. »Von tieferen Schichten abgeschnitten«, das hatte wenigstens zum Teil auch auf die Frauen an dem Wochenende damals zugetroffen. Irgendwie abgeschnitten von sich selbst, auch vom eigenen Körper, obwohl sie den ständig im Munde führten – aber das war vielleicht unvermeidlich bei dem weiten Weg, den die Frauen heute zu sich selbst zurücklegen mussten, nachdem sie so lange nur in der Beziehung auf Mann und Kind etwas gegolten hatten. Sie mussten erst einmal lernen, sich auf einer ganz elementaren Ebene als eigenständige Wesen ernst zu nehmen, und das konnte dann leicht dazu führen, dass man sich gegen äußere Bedrohungen abschottete, reale oder vermeinte, und nur noch mit sich selbst beschäftigt war. Die tiefe Fremdheit gegen sich selbst, mit der alle Frauen, die sie kannte, zu kämpfen hatten, war nicht automatisch damit überwunden, dass einer ihr eigener Bauch gehörte und sie ihre sexuellen Phantasien ohne äußeren und inneren Fortpflanzungszwang auslebte, sei es mit Frauen, die besser als Männer verstanden, was eine Frau fühlte und brauchte.
Sofie schaute zum Fenster hinaus auf das Grau des wolkenverhangenen Mittsommertages. »Für mich hat sich viel von dieser inneren Fremdheit verloren, als die Kinder kamen«, sagte sie schließlich mit ruhigerer Stimme. »Eigenständigkeit und Beziehungsfähigkeit sind für mich kein Widerspruch, im Gegenteil. Ich glaube, wirklich zu sich selbst findet eine Frau nur im Bezug zum Du; ein Mann vielleicht auch. Als ich angefangen habe, auf das andere Leben in mir zu horchen und eine Beziehung dazu aufzunehmen, in eine Art Dialog zu treten, da hat dieses sterile Kreisen um mich selbst aufgehört, diese ständige Selbstspiegelung, wo das Selbst im Spiegel häufig nur ein Kostüm ist. Das Kostüm, das meine Gedanken für mich weben und mir als mein wahres Ich verkaufen wollen.« Sie verstand gut, wie rauschhaft, wie verlockend es seinerzeit für die Workshopteilnehmerinnen gewesen war, sich als Tochter der Großen Mutter zu erleben und zu glauben, damit die wahre Identität gefunden zu haben. Die meisten Frauen kannten sich selbst ja nur als Traum des Mannes, und jetzt wollten sie ihren eigenen Traum von sich träumen. Die Beziehung zu Mann und Kind war ein einziges Minenfeld, auf dem mit jedem Schritt schmerzliche Erfahrungen drohten, so dass sie sich lieber in die warme Zuflucht der Frauensolidarität zurückzogen und sich mit den dort angebotenen kollektiven Sicherheiten vollsogen. Sie füllten die eigene innere Leere mit Träumen von einer matriarchalen Friedensordnung und ihren urzeitlichen Kulten, deren moderne Priesterinnen sie gern gewesen wären.
»Ja«, sagte Bo, »kommt mir bekannt vor. Man geht in ein Bild rein, mit dem man sich identifiziert und das irgendwo auch was Wahres hat, und hält das für sich selbst. Wenn man diese Identität dann auch noch von anderen bestätigt bekommt, ist es mühsam, da wieder rauszukommen.« Er nickte: ja, ein zweites Stück Mohnkuchen nahm er gern.
»Ich wollte aber keine sicheren Bilder«, fuhr Sofie fort. »Diese angeblichen Urzustände waren mir zu eng. Und zu schwach. Ich finde, nach so und so viel Jahrtausenden Männergeschichte ist die Frau wirklich das große Unbekannte, Freuds dunkler Kontinent, auch für sich selbst. Einerseits ist es natürlich eine Schwäche, dass wir uns selbst nicht kennen, oder nur in den geduldeten Formen, aber andererseits ist es unsere große Stärke. Um die bringen wir uns, wenn wir so tun, als gäbe es eine hiebund stichfest bewiesene Vergangenheit, ein leuchtendes Vorbild für die Zukunft, das wir nur reproduzieren müssten. Ich will auf einem freien Weg ins Unbekannte gehen, in eine offene Zukunft, die aus einer offenen Vergangenheit kommt. Mit falschen Sicherheiten nehmen wir uns bloß die Kraft, diesen Weg mit eigenen Füßen zu gehen. Verstehst du das?«
Bo legte die Gabel ab. »Und ob ich das verstehe«, sagte er. Sein Blick war erstaunt. »Es ist ein bisschen, als ob du mir meine eigenen Gedanken erzählst. Das mit dem Willen zur Unsicherheit kenne ich sonst eigentlich nur von mir.« Was ihn betraf, so war er auf seiner Athosfahrt vor Jahren zu dem Schluss gekommen, dass er die überlieferte Weisheit, die geistige Führung, die Glaubensgewissheit, die kultischen Handlungen, die brüderliche Gemeinschaft, die ganzen über viele Jahrhunderte bewährten festen Formen des Mönchslebens zwar achten, ja bewundern, aber nicht übernehmen konnte, selbst wenn er es wollte. Es ging nicht. Er konnte sich kein Kostüm anziehen, und wenn es ihm noch so gut gefiel. Dieses nicht und auch kein anderes. Er musste die Formlosigkeit aushalten, und wenn er jemals zu einer Form fand, die für ihn stimmte, dann allein aus gelebtem, sei es formlos gelebtem Leben. »Im Moment gibt es für mich nur eine einzige Sicherheit: dass ich ungesichert mit dir zusammengehen will.«
Sofie stand auf, setzte sich vor ihm auf dem Boden, legte ihm den Kopf auf den Schoß. Eine Weile blieb sie so, streichelte seinen Schenkel. Dann blickte sie zu ihm auf. »Mein Frauenkreis ist aus dem Impuls heraus entstanden, mich mit anderen Frauen so zu verbinden, wie wir wirklich sind, nicht wie wir gerne wären. Welche Kräfte finden wir wirklich in uns, so wie wir sind, welche Formen können daraus entstehen? Formen, die wir mit dem Herzen tragen können, die uns nicht im stillen peinlich sind. Die den Alltag durchdringen und bereichern und nicht nur ein kurzzeitiger Ausbruch aus dem Alltag sind, in den wir hinterher wieder abstürzen, wenn uns die Hochgefühle nicht mehr tragen. Der Weg dazu, mein Weg, schien mir das Singen zu sein, das Singen in einer Gruppe von Frauen, die ihr Leben in die Hand nehmen wollen. Wenn wir auf die Stimmen lauschen, so wie sie wirklich sind, dachte ich, ist es, als ob wir gemeinsam einen Weg gehen. Einen Weg bauen. Einen Weg ins Dunkel.« Sie legte den Kopf auf seinen Schoß zurück.
»Ein Weg ins Dunkel«, wiederholte Bo. Er strich ihr durchs Haar.
»Ein Weg ins Dunkel unseres wirklichen Lebens«, murmelte sie ihm in die offene Hand. »Vielleicht wird es ja mit der Zeit von selbst hell, von innen heraus. Ohne künstliche Beleuchtung.«
»Okay, Luzie, vieles ist nah dran an dem, was mir auch am Herzen liegt«, sagt Sofie, »aber knapp daneben ist auch vorbei.«
Beim Aufbruch haben sie es offengelassen, ob sie weiter mitmachen und zum Sommerfest wiederkommen wollen, doch kaum ist der Frauenhof hinter der ersten Kurve verschwunden, wächst auch der innere Abstand. Luzie hat die Zeremonien und Weltfriedensgesänge nicht in dem Maße als peinlich empfunden wie Sofie. Göttin als Wort für die Lebenskraft, die kosmische Energie oder so, ist für sie ganz in Ordnung, sie muss sich dabei keine alte Frau mit weißem Dutt im Himmel vorstellen. Sie hat es mehr gestört, dass die lesbischen Frauen in der Gruppe so getan haben, als würden sie mit ihrer Liebesentscheidung als einzige das richtige Leben im falschen führen. Sie könne sich ja mal umschauen, meint sie, ob es ähnliche Projekte gibt, die vielleicht ein bisschen »biologistischer« sind, wo man nicht schief angeschaut wird, wenn man sagt … wenn frau sagt … dass sie lieber mit Männern ins Bett geht.
Sofie erwidert das Grinsen der Freundin. Bei Luzies Pagenkopf und ihrer burschikosen Art ist es verzeihlich, wenn die Lesben sich in ihr geirrt haben. Sie überlegt kurz, schüttelt den Kopf. »Nein, Luzie, lass uns was Eigenes machen. Eines hat das Wochenende ganz sicher für mich gebracht: ich weiß jetzt genau, wie wichtig mir das Thema ist, ich kann da keine Kompromisse machen und mich mit Halbheiten abfinden, die für mich nicht stimmen«, und als sie in Hannover am Bahnhof vorfahren, wo Sofie den Zug nach Hamburg nehmen will, sind die wesentlichen Entscheidungen gefallen. »Keine kommerzielle Veranstaltung, kein therapeutischer Ansatz, kein ideologischer Überbau«, fasst Luzie am Bahnsteig kurz und knackig die Ergebnisse ihres einstündigen Brainstormings im Auto zusammen. »Keine Trennung vom Alltag«, fügt Sofie hinzu. Der Zug fährt ein, sie umarmen sich.
So machen sie es. Im Lauf der nächsten Monate führen sie lange Gespräche mit Freundinnen, und alle sind angetan von der Idee, sich regelmäßig viermal im Jahr mit anderen Frauen, teils schon bekannt, teils noch kennen zu lernen, für ein langes Wochenende zu treffen, ohne professionellen Anstrich und ohne den Anspruch, hinterher irgendwelche vorzeigbaren Produkte oder Programme abzuliefern. Sie wollen zusammen singen, aber nicht als Chor öffentlich auftreten, sie wollen zusammen nachdenken, aber keine Thesen in die Welt setzen, sie wollen sich öffnen und füreinander da sein, aber niemanden therapieren, sie wollen feiern, ohne die Augen vor dem Alltag zu verschließen, und Kräfte freisetzen, die in diesen Alltag hineinwirken, ihn im kleinen verändern, in den Familien, in den Arbeitszusammenhängen, in den Freundeskreisen. Der Gedanke des Jahreskreisfestes gefällt allen, der Aufmerksamkeit auf den Rhythmus des Jahres und des Kontakts zu einer natürlichen Lebensordnung, die sie sich aber nicht unbedingt im Bild einer Göttin vorstellen müssen. Zum Herbstanfang findet das erste Treffen in einem Anglerheim bei Lauenburg statt.
Kraftquelle, Orientierungshilfe, Gemeinschaftserlebnis, Inspiration, Hocherfahrung – von Mal zu Mal gewinnt das Fest im Leben der Frauen, die anfangs zu neunt sind und über die Jahre nie mehr als zwölf werden, neue Facetten, größere Bedeutung. »Ihr seid mein Dorf!«, erklärt Lydia, die ukrainischer Abstammung ist und traditionelle mehrstimmige Gesänge in die Gruppe einbringt. Aus den vielstrophigen ukrainischen Liedern werden im Aneignungsprozess wenige lautmalerische »Sätze« in einer Phantasiesprache, zu der Sofie die anderen ermutigt. Sie verwendet zwischen den Treffen viel Zeit und Energie darauf, singbare Weisen zu komponieren, mit denen sich spielen lässt, zapft ihren unerschöpflichen Vorrat an afrikanischen Liedern an und bearbeitet diese für die Zwecke der Gruppe. Wenn sich ihr irgendwoher ein Text zuspricht, nimmt sie ihn und arbeitet damit, Verse aus Gedichten von Karin Kiwus, die sie gern liest, oder von Else Lasker-Schüler. Die Gruppe wandelt die Texte ab, zersingt die Worte zu Lauten. Diejenigen, die Chorerfahrung haben und die Art zu singen gewohnt sind, verlieren mit der Zeit ihre Kunststimme. Es geht nicht um äußere Perfektion, alle Töne sind gefragt, von den rauesten zu den reinsten. Die gesungenen Laute werden breiter, erdiger, mundartlicher, verlieren ihre hochdeutsche Blässe. Mit der Erfahrung wird der Umgang freier, die Hemmschwellen sinken. Trotzdem spürt Sofie, dass sie noch etwas anderes will. Was? Die Elemente sind alle da: sich austauschen, zusammenfinden, gemeinsam kochen und essen, singen und tanzen; eine Gemeinschaft werden. Wäre eine größere Unmittelbarkeit denkbar, mehr Spontanität, mehr Intensität? Mehr … Theater?
Unterdessen versucht Gregor, sie zur Rückkehr auf die Bühne zu bewegen. Dass Sofie in ihrer Frauengruppe auflebt und Kraft daraus zieht, ist ja ganz prima, aber die Kraft muss in die richtigen Kanäle fließen. Wenn sie eine neue Inspiration braucht, vielleicht noch mal nach Abidjan wie vor einigen Jahren und in die quirlige ivorische Theaterszene eintauchen, dann hätte er nichts dagegen, gemeinsam mit ihr und den Kindern in der Spielpause im Sommer an die Elfenbeinküste zu fahren, so ein Mix aus Kulturtrip und Badeurlaub würde wahrscheinlich allen gut tun. Dann kommen ihm dringende Verpflichtungen dazwischen und die Reise fällt ins Wasser. »Abidjan? Da war ich vor kurzem erst«, bemerkt Sofies Vater, der zwischen zwei Rundfunkterminen beim NDR auf einen Kurzbesuch vorbeikommt und, als die Tochter nachfragt, von seiner mehrwöchigen Reise durch Ghana und die Elfenbeinküste erzählt, wo er für den WDR eine Radiosendung über weibliche Gesangstraditionen bei verschiedenen westafrikanischen Völkern gemacht hat. Gesendet wird sie erst im August, aber er kann Sofie ja schon mal das Band schicken, wenn es sie interessiert. Ja, sehr! Gespannt lauscht sie den Erklärungen, die ihr Baaba über Nnwonkoro, Ayabomo, Dansuom und Adowa bei den Akan, Nzima und Ga gibt. Allgemein sind durchweg die Frauen für den öffentlichen Ausdruck der Gefühle zuständig und begleiten auch die meisten Riten und Übergangszeremonien mit ihren Liedern, das weiß Sofie ja selber. Ihr Stoff können Mythen, Träume, aktuelle Ereignisse, alles mögliche sein. Aber es gibt interessante neuere Entwicklungen; einige sieht er durchaus kritisch. Ayabomo zum Beispiel. Das ist zwar bei den Nzima ein alter Brauch, der es den Frauen ermöglicht, Missstände anzusprechen und eheliche Probleme öffentlich zu machen, ohne befürchten zu müssen, dafür von den Männern geschlagen zu werden, aber seit einiger Zeit nutzen die Frauen ihn verstärkt, um nicht nur gleiche Rechte und anständige Behandlung, sondern auch einen modernen Lebensstandard mit schicken Kleidern und materiellem Komfort einzuklagen, für den die Männer sich gefälligst krummlegen sollen. Trotzdem hat es ihn beeindruckt mitzuerleben, wie Frauen sich abends über den zentralen Dorfplatz hinweg zurufen und an einer Ecke zusammenkommen, wie sie einen Kreis bilden und zu rhythmischem Händeklatschen zu singen anfangen, wie andere Frauen dazutreten und wie sofort eine Atmosphäre der Fröhlichkeit und Herzlichkeit unter den Singenden entsteht. Die Schönheit dieser afrikanischen Frauen – ah, wunderbar. Struktur wie üblich: die Vorsängerin trägt in Liedform gestenreich ihr Anliegen vor, manchmal auch tanzend und regelrecht rollenspielend, und der Chor begleitet sie mit zustimmenden Rufen und wiederholt refrainartig immer die letzten Verse der Strophen. Auch die Umstehenden machen ermunternde Zurufe und nehmen überhaupt lebhaft Anteil, denn meistens werden in den Liedern ja Dinge verhandelt, die sie selber betreffen. In Nguiémé etwa warf die zweite Frau des Bürgermeisters ihrem Mann nicht nur die Zurücksetzung durch eine neue, jüngere Ehefrau, sondern auch üble politische Machenschaften und krumme Geschäfte vor. Faszinierend, wie die Frauen in ihrem geschlossenen Kreis zu einer einzigen kollektiven Stimme werden und in dem Freiraum, den sie sich gewissermaßen ersingen und erspielen, Äußerungen tun, die unter anderen Umständen undenkbar wären. Ach, da gäbe es noch viel zu erzählen, aber jetzt wollen die Enkeltöchterchen auch was von ihrem Opa haben, der immer so lustig ist und so tolle Spiele kennt.
Ja, spielt nur, spielt. Sofie könnte noch lange zuhören, aber der Funke ist übergesprungen. Singen und Erzählen nicht als zwei getrennte Aktivitäten, sondern in eine Form zusammengezogen! Auf die Idee hätte sie selbst kommen können. Natürlich hat sie nicht vor, sich mit ihren Frauen an den Jungfernstieg zu stellen und Klagen über ihre Beziehung und die allgemeine männliche Gefühl- und Gedankenlosigkeit zu trällern. Männer und Frauen sind in ihrem Land an einem anderen Punkt miteinander als bei den Nzima von Nguiémé. Aber im geschützten Raum ihres Kreises könnten doch auch sie, könnte jede einzelne von ihnen die Freiheit und Sicherheit entwickeln, den anderen singend und spielend vorzutragen, was sie auf dem Herzen hat, und so viel Arbeit darin investieren, wie ihr die Sache wert ist. Jede könnte mit ihrem persönlichen Anliegen zur Vorsängerin werden, die anderen anleiten und mitnehmen, um dann wieder in den Kreis zurückzutreten und die nächste machen zu lassen. Sie könnten vorhandene Lieder umdichten oder neue spontan entstehen lassen und langsam ein Repertoire ansammeln, auf das sie zurückgreifen könnten – nicht um Vortragskunst für ein Publikum zu produzieren, sondern gewissermaßen zur vitalen musikalischen Selbstversorgung, um mit solchen Formen das eigene Leben und ihr entstehendes gemeinschaftliches Leben zu stärken. Es wäre ein Mittelding zwischen Komposition und Improvisation, was sie da schaffen würden: sie würden entweder wie bisher bekanntes Liedmaterial für ihre Zwecke benutzen, wenn auch mit neuer Zuspitzung, oder eigene musikalische und textliche Eingebungen gemeinsam bearbeiten, wenn sie sich vielversprechend anhörten. Beim Nachdenken kommt ihr der Verdacht, dass sie mit ihrer tollen Idee nur dem Geheimnis der echten Volksmusik auf die Spur gekommen ist: eine lebendige Gemeinschaft singt von den Sachen, die sie wirklich bewegen, sie hört sich keine vorgefertigten Lieder vom Band an, und sie zelebriert keine festgeschriebenen, jahrhundertelang unverändert gehaltenen Hochkulturkunstwerke, deren ursprünglicher freier und spielerischer Geist sich in der buchstäblichen Aufführung zwangsläufig in sein Gegenteil verkehrt, weil das freie Spiel allein Sache des Komponisten ist und nur bestaunt, aber um Gottes willen nicht mitvollzogen werden darf. Das eigene Singen und Musizieren dagegen befreit jede Einzelne, und zugleich stärkt es das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Einzelne wird in sich selbst geerdet wie auch in der Gemeinschaft, und so geerdet kann sie frei abheben und sich in die Höhe schwingen und hat im höchsten Hochschwung immer die Sicherheit, frei zurückkehren zu können und festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein Satz, sie weiß nicht von wem, geistert ihr durch den Sinn, vor Jahren einmal gehört, sie weiß nicht mehr wann, in irgendeiner wichtigen Situation, sie weiß nicht mehr wo. »Fittiche gib uns, mit treuem Sinn hinüberzugehen und wiederzukehren!« Sie gibt ihm eine melodische Form, bringt ihn der Gruppe zum Sommerfest mit.
Was Sofie mit Erdung meint, verstehen alle, aber manche fragen sich, ob sie so viel Kreativität aufbringen können und mögen, oder so viel Hingabe; eine verlässt die Gruppe. Dann hat Lydia eine Fehlgeburt, ihre zweite, und als sie zwei Wochen später zum Wintertreffen der Gruppe kommt, lässt sie sich mit ihrem ganzen Schmerz in die Hände der Freundinnen fallen, so dass diese gar nicht anders können, als die Weinende und Jammernde aufzufangen. Sie fängt an, ein ukrainisches Wiegenlied zu schluchzen, von dem sie sich vorgestellt hat, es ihrem Söhnchen vorzusingen, und erst stimmt eine leise ein, dann nach und nach die anderen, so gut sie den Text verstehen. Lydia übersetzt ihnen die einfachen Worte, singt deutsch weiter, und alle singen mit. Weinen mit. Die Zeile »Morgen wirst du wieder wach« verändert Lydia zu »Niemals wirst du wieder wach«, und gemeinsam dichten sie weiter, bis aus dem Wiegenlied eine Totenklage geworden ist. Tod und Trauer werden groß unter ihnen. Mona erzählt, wie ihre kleine Schwester mit fünf bei einem Unfall ums Leben kam und wie die Mutter keine Möglichkeit fand, ihr Leid mit jemandem zu teilen, es aus sich hinauszubringen, und wie sie über die Jahre innerlich davon aufgefressen wurde. Andere folgen mit eigenen Geschichten, mit unbewältigtem Schmerz. Dazwischen singen sie immer wieder unter Tränen Lydias Lied, wandeln es ab, dichten eine neue Strophe. Das ganze Wochenende singen sie nur dieses eine Lied, und am Ende ist es ihr gemeinsamer Klagegesang, der mit den Jahren zu Traueranlässen ertönt. Die Art, wie das Lied von der ganzen Gruppe geboren wird, wie mal die eine, mal die andere vorsingt und die anderen einfallen und weitermachen, wird zum Vorbild für andere Formen. Wenn eine erzählt, trauen sich die anderen, mit spontanen Äußerungen einzugreifen, eine Bemerkung zu wiederholen, vielleicht in einer rhythmischen oder melodischen Form, mit einem Wort zu spielen, eine Frage zu singen, ein Leid mit Klagetönen, eine Freude mit Jubel zu teilen. Ein Gefühl entsteht, was angemessen und stimmig ist, das Vertrauen wächst, von den anderen getragen und nicht im Stich lassen zu werden, wenn eine sich öffnet. Manche tanzen, nehmen andere mit. Manche tun sich mit Worten schwer und legen ihr Gefühl in Lautmalereien. Jede legt ihr kleines Herz auf den Tisch und bekommt es gestärkt als großes Herz der ganzen Gruppe zurück. Stücke entstehen, die nur rhythmisches Atmen sind, nur unartikulierte, tierische Töne. Es gibt wilde, ekstatische Momente und Erfahrungen tiefen Friedens. »Ist das vielleicht mit der Göttin gemeint?«, sagt Carola am Ende eines Treffens. »Dann werde ich doch noch fromm.«
Derweil reagiert Gregor zunehmend gereizt auf Sofies anhaltende Weigerung, die Schauspielkarriere weiterzuverfolgen und ihren Frauenkreis hintanzustellen, ihre »militanten Tanzetanten«, wie er sie nennt, auch »militante Dillitanten«, wenn er richtig sauer ist. »Da kriegt das Wort Dilettantismus noch mal eine ganz neue Bedeutung«, ätzt er. Irgendwann platzt Sofie der Kragen. »Du kriegst mich nicht auf die Schlachtbank zurück!«, fährt sie ihn an, als er ihr wieder mal vorhält, welches Verbrechen sie an sich und der Mitwelt begeht, wenn sie ihre »geniale Begabung« unter ihren Dillitanten verkommen lässt. »Die Schlachtbank« ist nach der Penthesilea-Erfahrung mit ihrem Körper- und Seelengemetzel ihr Wort für die Bühne geworden. »Du hast ja keine Ahnung, wie gut wir wirklich sind!«, schäumt sie, und noch weniger Ahnung hat er davon, woran sie eigentlich arbeiten, nämlich an einer Kultur im ursprünglichen Sinne, Kultur als gemeinschaftliches Bauen des Lebens, als gepflegtes menschliches Miteinander. Diese wahre Kultur verarmt und verelendet, wenn die »Genies« es verschmähen, mit ihrer Kunst die Wirklichkeit zu gestalten, und sich bloß auf ein endlos verfeinertes leeres Virtuosentum kaprizieren. In Wahrheit nämlich erweist sich das Genie im Dienst an der Gemeinschaft, nicht im Streben nach eigenem Ausdruck und individueller Selbstverwirklichung, es will helfen und dienen, will wirken, wo es gebraucht wird, und erst wenn es nicht weiß, wo und wofür es gebraucht wird, verselbständigt es sich in technischer Perfektion und stellt sich auf die hohe Bühne, um sich bewundern zu lassen. »Dann stehst du da und die andern beten dich an in deiner titanischen Gottgleichheit, wenn du dir auf der Schlachtbank das Herz eigenhändig herausreißt. Sie beten dich an und sie rächen sich zugleich an dir für ihr eigenes verarmtes Leben, an ihren ›Stars‹, ihren Sternengöttern am dunklen Lebenshimmel. Sie jubeln, wenn die Götter die Schlachtbank besteigen und sich selbst zum Opfer bringen. Je jünger, umso göttlicher. Besser noch, wenn die Stars wirklich sterben, dann können sie hinterher als heilige Tote weiter verherrlicht werden. Aber ohne mich. Ich fange mit diesem Spiel gar nicht erst an. Ich werde das Leben heiligen.«
Gregor schluckt und gibt nach. Sie versöhnen sich wieder, aber eine Entfremdung bleibt und nimmt zu. Er geht fremd und ansonsten in seiner Arbeit auf. Immerhin gelingt es ihr, ihn umzustimmen, als er das Angebot, als Generalintendant der Bühnen nach Kiel zu gehen, ablehnen will, weil ihn zwar die Gestaltungsmöglichkeiten reizen, er aber das Versauern in der schleswigholsteinischen Provinz fürchtet. Sofie argumentiert, der Standort abseits der hektischen kulturellen Erregungszentren biete die Chance, dass sie jeder für sich und beide gemeinsam die solide Grundlage bekommen, die sie bräuchten, um zu ergründen, worin die Verwandlungskraft des Theaters, über die sie in früheren Jahren so viel diskutiert haben, wirklich bestehen könnte; und alltagspragmatisch könne sie die Tätigkeit als Hörspielsprecherin, mit der sie in Hamburg begonnen hat, auch von Kiel aus ausüben. Ein gewisses Sicherheitsdenken ist wohl mit im Spiel, gesteht sie sich im stillen ein, als sie bei der Besichtigung für das großbürgerliche Vorstadthaus mit Platz für ein eigenes Studio plädiert, wo sie ihre Kompositionsarbeit ausbauen kann. Auf einer Halbinsel in der Nähe von Plön entdeckt sie bald nach dem Umzug ein idyllisch gelegenes Landgut mit zwei einfachen Gästehäusern direkt am See, hervorragend geeignet als neuer Treffpunkt für ihre Frauenfeste.
»Wer ist das Du, das dich umfängt, Bo?«
Er legte die Stirn in Falten. Es dauerte, bis er die Frage verstand, schließlich war es sechs Wochen her, dass Sofie ihm am Telefon erzählt hatte, sie habe aus dem kleinen Lied, das sie sich von ihm hatte schenken lassen, einen ziemlich komplexen Wechselgesang mit Trommelbegleitung gemacht, und zum Abschluss des Sommerfests habe der ganze Frauenkreis es noch einmal mit Inbrunst gesungen, es sei schon ins feste Repertoire eingegangen. Bo zuckte die Achseln. »Wer weiß«, sagte er. »Du warst mir nicht fern, als die Verse entstanden sind, aber wenn du Du bist, bist du mehr als du.«
Ein Lächeln ließ ihr Gesicht aufleuchten. Leise begann sie zu singen.
Du bist vor und hinter mir,
über mir und unter mir,
du umfängst mich ga-a-a-a-a-anz,
du umfängst mich ganz.
Sie wartete, als wollte sie das Lied nachhallen lassen, in sich, in ihm, dann stand sie auf. »Ich schau noch mal kurz nach den beiden«, sagte sie und ging ins Nebenzimmer, wo die Mädchen untergebracht waren. »Sie schlafen, endlich«, meldete sie, als sie in die Stube zurückkam. Da Bos Julibesuch in Kiel ausgefallen war, hatte Sofie beschlossen, auf dem Rückweg von Italien noch ein wenig seinen Junggesellenfrieden zu stören. Obwohl die Kinder nach der langen Fahrt hundemüde gewesen waren, hatte es ewig gedauert, bis sie in der fremden Umgebung und der aufgeladenen Atmosphäre zwischen den Erwachsenen zur Ruhe gekommen waren. Das alte Bauernhaus, in dem Bo wohnte, gefiel ihnen gut, wenn auch nicht ganz so gut wie das in den ligurischen Bergen, wo sie zwei Wochen mit der Mama und einer befreundeten Familie Ferien gemacht hatten, mit Meerblick und Pool im Garten.
Auch Bo hatte Fragen. »Warum hast du Gregor nie geheiratet?« Das ging ihm schon länger durch den Kopf, und jetzt sprach er es einfach aus.
Sofie seufzte. »Ich weiß es nicht so genau. Er hätte gewollt, aber so wichtig war es ihm auch wieder nicht. Mir war irgendwie immer klar, dass ich das nicht wollte. Wahrscheinlich war er einfach nicht mein Mann. Deshalb.«
Bo nickte. Die nächste Frage ließ er unausgesprochen.
Sofie setzte sich nicht. Ihr Gesicht war ernst. Als von ihm nicht mehr kam, trat sie hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Es gibt etwas, das ich dir sagen muss.«
»Ja«, sagte er, und im selben Moment wurde ihm klar, was er den ganzen Abend schon an ihr gesehen und nicht gesehen hatte. Er drehte sich halb herum und zog sie auf seinen Schoß.
»Ich bin schwanger.«