Читать книгу Das Fest der Männer und der Frauen - Hans-Ulrich Möhring - Страница 9

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… Küsse, Bisse…

Die Ecke … kam ihr bekannt vor? Dahinter wurde es dunkel. Der lange Gang mit den kahlen Wänden? Der schwarze Schacht, die winklige Treppe …? Nein, fremd, alles fremd. Ein Huschen hinter der halb offenen Tür. Geräusch von der Straße. Wer …? Sie kannte die Tür, führte sie nicht …? Und wenn die Frau jetzt herauskam? Ihr Herz zog sich ängstlich zusammen. Weit weg, Gott sei Dank, die Stimme von draußen. Hörte auf, kehrte wieder. Jetzt näher. Warum stöhnte sie so? So unmenschlich rau. Wie nicht aus dem Mund. Wie ein leidendes Tier. Sie drehte sich um, als der Wind um die Ecke fuhr und den Vorhang bewegte. Oder die Wand? War da eine Gestalt? Als ob die Wand selber stöhnte. Das war doch ihr Haus! Die Angst wehte auf. Sie warf sich herum. Hörte sich schnaufen, noch schlafbenommen. Die Stimme kam gar nicht von draußen! Von unten kam sie, von unten! Mama! Es ging bei ihr los! Die Angst packte zu. Wie schrecklich sie klang! Wieder Stille. Sie lauschte. Das Stöhnen ging wohl schon länger, sie hatte es in den Traum eingebaut. Sie stemmte sich auf einen Ellbogen, lauschte. Stille. Dann ruhig eine Männerstimme, dann eine Frau. Jemand anders. Sie schaute auf ihren Wecker: »3: 24« leuchteten die Ziffern im Dunkeln. Sollte sie hinuntergehen? Ob Leni auch wach war?

Sie stand auf und schlich auf den beleuchteten Flur hinaus. Mamas Stimme war dort deutlicher zu hören, aber sie stöhnte nicht mehr, sie sagte etwas. Bo antwortete, er lachte. Mama lachte auch … oder weinte sie? Sie öffnete leise die Tür zu Lenis Zimmer, doch als sie die regelmäßigen Atemzüge hörte, knipste sie das Licht lieber nicht an. »Leni?«, hauchte sie. »Leni!« Keine Antwort. Sie zögerte, dann schloss sie die Tür wieder. Von Anke auch nichts zu hören. Nein, lieber nicht hinuntergehen. Allein. Und überhaupt. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück. Nach dem kalten Flur war das Bett kuschelig warm.

Dass sie dabei sein dürften, wenn sie gern wollten, hatte Mama ihnen versprochen, als sie in den Sommerferien noch drei Tage bei Bo in Süddeutschland gewesen waren. Anke würde sich gewiss um sie kümmern, die durften sie notfalls wecken, auch mitten in der Nacht, auch wenn sie am nächsten Tag in die Uni musste, auch wenn ihr Freund bei ihr schlief. Sie konnten es selbst entscheiden. Dann hatten Mama und Bo lange darüber geredet, ob er dabei sein wollte. Er wollte gern, wenn sie es wollte. Es war richtig süß zu sehen, wie sehr er sich auf das Kind freute, er guckte gar nicht so ernst wie sonst und war ganz nervös, stieß zweimal sein Glas um, kippte die Nudeln ins Waschbecken, der Brotkorb rutschte ihm vom Tablett, und er lachte die ganze Zeit. Er war total nett. Unten wurde es wieder laut, und diesmal erhob nicht nur Mama die Stimme, sondern Bo auch, nicht so wild wie sie, aber in einem festen Rhythmus, und nach einer Weile ging sie darauf ein, und beide schrien und stöhnten im selben Rhythmus. Das klang witzig und unheimlich zugleich. Die Augen fielen ihr zu. Als sie und Leni geboren wurden, hatte ihr Papa beide Male nicht mit dabei sein wollen; das hatte sie mitgehört, als Mama es Bo erzählte. Und Papa hatte von ihr verlangt, dass sie zur Geburt in ein Krankenhaus ging, obwohl sie lieber zuhause entbunden hätte. Diesmal konnte sie ihr Kind so zur Welt bringen, wie sie es wollte, Bo war einverstanden. Leni und sie freuten sich genauso wie er auf das Geschwisterchen, und Mama war sicher, dass es ein Junge wurde, obwohl sie es nicht auf dem Ultraschall hatte sehen wollen. Jakob sollte er heißen. Vielleicht war er ja schon da, wenn sie aufwachte, ihr kleiner Bruder …

Sie schlief nur flach, als sie den neuen Schrei hörte. Ganz klein und quäkig, und trotzdem war sie sofort hellwach. »6: 09«. Ronja sprang aus dem Bett.

Der ganze Raum pulste von Glück. Er fühlte das Herz seines Sohnes – seines Sohnes! – und mit der anderen Hand das Herz seiner Frau, und ihm war, als wollten sich trotz der verschiedenen Rhythmen die Schläge synchronisieren. Ein Herz. Sein Herz gab den Grundbass. In die heilige Stille hinein knarrte die Tür, und er sah die Mädchen auf der Schwelle zögern, die Augen weit aufgerissen. Er ging sie holen, schloss sie in die Arme. Sie schmiegten sich an ihn wie selbstverständlich. Bald streichelten sie behutsam das kleine rote Bündel Leben auf der Brust der Mutter, und sie flüsterten scheu mit ihr, so fremd, so vertraut. Er ließ seine Hände auf ihnen ruhen, auf allen vieren, die ihm jetzt anbefohlen waren, mal auf dieser, mal auf jenem, wie sie sich regten, und er war wie ein Dach, unter das sie sich bargen, ihre feste, schützende Burg. Er ließ das Gefühl in sich wachsen. Als die Mädchen unruhig wurden, reichte die Hebamme ihm die Schere, mit der er feierlich die Nabelschnur durchschnitt, dann half sie Sofie, den Kleinen anzulegen, und beim dritten Versuch klappte es und er trank. Bald waren Mutter und Sohn glücklich eingenickt, und er ging mit den Mädchen in die Küche, Frühstück für alle machen.

Erholsam, zur Abwechslung mit profanem Geschirr und Lebensmitteln zu hantieren, Abstand zu gewinnen von dem überwältigenden Geschehen im Nebenzimmer, sich zurückzuziehen auf das äußere Umfeld. Das war die ganze Zeit schon seine Zuständigkeit, das Umfeld, die Rahmenbedingungen: Zimmer herrichten, Folie auslegen, Geburtsbecken aufpumpen und füllen, Wickeltisch aufbauen, für Wärmflaschen, Heizstrahler, massenhaft Tücher, kaffeegetränkte Kompressen sorgen und vieles mehr. Essen und Trinken bereitstellen. Eine stärkende Suppe kochen. Sie konnte es brauchen, und ihm gab es Sicherheit. Schon im Herbst hatte Ingo ihn auf seine dienende Rolle eingestimmt, als er mit dem kaputten Knie in Ravensburg im Krankenhaus lag und den aus Köln angereisten Bruder nach seinen Erfahrungen befragte. An einen Geburtsvorbereitungskurs war ja nicht zu denken. Ann-Katrin hatte ihre Kinder allerdings alle im Kreißsaal bekommen, wo es für Ingo nichts zu organisieren gab, nicht in den heimischen vier Wänden, und beim ersten Mal, als Malte kam, hatte er sich hauptsächlich als Störfaktor gefühlt. Ann-Katrin hatte so grausam gelitten, dass er es kaum aushielt, nicht umgehend etwas zu unternehmen, um sie von diesen Schmerzen zu befreien, am liebsten hätte er das Heft in die Hand genommen, Bewegung in die Sache gebracht, wenigstens irgendwie mit angepackt, irgendwas. Aber Ärzte, Hebammen und Schwestern hatten ihn behandelt wie einen, der dumm im Weg stand, und ihn beiseite geschoben, als sie schneiden mussten. Für Fenjas Geburt hatten sie sich eine freundlichere Privatklinik gesucht, und er war stärker eingebunden gewesen und auch ruhiger als beim ersten Mal. Nützlicher. Mach es!, war Ingos Resümee trotz seiner gemischten Erfahrungen: Es wird euch auf jeden Fall stärker verbinden. Und dich und dein Kind auch. Volker hingegen hatte bei der Geburt seiner Söhne auf Conchas ausdrückliches Verlangen jedes Mal draußen gewartet. Er sollte sie nicht so sehen, nicht auch das noch, nachdem er sie schon monatelang mit dickem Bauch ertragen hatte. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass ihr Anblick ihn abstieß – gerade »untenerum«, wenn das Kind kam – und sie für ihn danach womöglich nicht mehr begehrenswert war.

Auf so einen Gedanken musste man erst mal kommen. Bo hatte gar nicht verstanden, wovon die beiden redeten, als er den Peruheimkehrern von seiner bevorstehenden Vaterschaft berichtete und von ihnen neben Glückwünschen ihre Geschichte zu hören bekam, und inzwischen verstand er es noch weniger. Er hatte Sofie in der Schwangerschaft viel zu selten gesehen, aber wenn, war er dahingeschmolzen vor dem Rundwerden des geliebten Körpers, der mit seinen schwellenden Brüsten, dem sich wölbenden Bauch und der schnellen Röte selbst etwas von einer reifenden Frucht gewann, ungeahnte Süße verheißend, so dass er sich bezähmen musste, um sie nicht fortwährend zu betatschen. Eine neue Spannung durchzitterte ihre ganze Erscheinung: mit der Erdenschwere, die ihr so sichtbar zuwuchs, kam zugleich etwas Schwebendes, Leichtes, Ätherisches, als wäre das wahrhaft Irdische nicht von dieser Welt. Ihre Haut war zuletzt glänzend, fast durchsichtig, von innen schimmernd. Schon vorher hatte er die hellen Narben ihrer alten Schwangerschaftsstreifen geliebt, und je deutlicher sie hervortraten, umso mehr erinnerten sie an die Zeichnung eines herrlichen wilden Tieres. »Meine Tigerin«, neckte er sie. Mit jedem Zeichen schrieb sich das Leben selbst in den Körper ein, tätowierte ihn mit einer neuen Erfahrung, schmückte ihn mit einer Schönheit, der die Jugend nur an Glattheit der Oberfläche überlegen war, nicht aber an menschlicher Pracht. Am Tag vor der Geburt nahm ihr Gesicht einen durch und durch weichen und milden Ausdruck an, mütterlich in einem Sinne, wie er ihn so schön nicht für möglich gehalten hätte, ihre Wangen waren rosig und voller als noch kurz zuvor, und ihr Blick glich dem Flirren des Lichts auf dem dämmernden Meer, schon halb entrückt, reines Scheinen des Übergangs.

Umso krasser dann die Veränderung während der Geburt. Nicht dass ihn etwa abstieß, was »untenerum« geschah, im Gegenteil, im Geiste lag er vor ihr auf den Knien wie ein tantrischer Yoni-Anbeter. Wenn aber hier noch von Schönheit zu sprechen war, dann war es die Schönheit der Kriegerin, die zum Kampf ums Leben antritt, schutz- und waffenlos, mit einem Mut, der dem seiner Sagenhelden der Jugend in nichts nachstand. Er jedoch konnte nicht als streithafter Ajax oder Diomedes an die Seite seiner Achillea treten, auf diesem Schlachtfeld hatte er nicht den Helden zu geben, sondern den Knappen, den Handlanger, den Wagenlenker. Während er Kaffee für die Kompressen kochte, fiel ihm eine Bemerkung ein, die Ingo vor Jahren einmal gemacht hatte: dass sie seinerzeit bei den Pfadfindern gern unter sich geblieben waren, um ihre abenteuerlichen Jungssachen ohne die Mädchen zu machen, die lieber Blümchen pflücken als Kampfspiele abhalten wollten. Klar, wenn die Weiber unbedingt dabei sein mussten, ging es auch, irgendwie. Wo man nun ihn auf das Feld der Geburt bestellt hatte statt erprobter Mitstreiterinnen, ging es wohl irgendwie auch. Jedenfalls war es ein ungeheures Geschenk mitzuerleben, wie seine Geliebte sich dem Schmerz, der sie in den Griff nahm, so ganz und gar überließ, so völlig in ihn hineinging, dass sie förmlich, schien ihm, damit verschmolz und ihn in ihrer Ergebung von innen überwand, denn ganz offenbar blieb in diesem wundersamen Kampf der Schmerz nicht reiner Schmerz, er floss über in ein immer wieder fast orgasmisch anmutendes, leuchtendes Glück, das Bo die Tränen in die Augen trieb. Ihr Weinen war Lachen war beides war alles. Ihr Kampf war leibhaftige Weisheit. Und ihr Sieg war Leben, nicht Tod.

Wo und wie sie ihn brauchte, er war zur Stelle. Sie hatte das Recht, über ihn zu verfügen. So oft ihre Stimmung auch umschwang, er folgte. Er hatte hier nichts zu behaupten. Aus dem Geburtsbecken stieg sie nach kurzer Zeit wieder aus: Nein, falsch gedacht, das Ding war nichts für sie, sie brauchte das Gefühl von Erde unter sich, festen Boden, keinen Schwebezustand, in dem sie sich nicht richtig spürte, bei dem übermächtigen Druck in ihr brauchte sie einen Gegendruck. Er musste sie festhalten: fest! fest!, dann wieder loslassen, schnell, sofort: weeeeg! Sie brüllte ihn an, stieß ihn zurück, krallte sich an ihn und zwang ihn in wechselnde Positionen, von denen ihm manche mit seinem Bein selbst heftige Schmerzen bereiteten. Na, da konnte er die soeben erkannte Weisheit der Schmerzüberwindung gleich am eigenen Leib erproben. Die Hebamme riet ihm, ihr die Füße zu massieren, und ja, das tat gut, wie gut, ja, ja, weiter, mach weiter! Er machte. Alles geschah, wie sie es wollte, und es war gut, dass sie wollte, dass ihre Gefühle, so heftig sie umschlugen, in jedem Moment eindeutig waren, dass sie nicht, davon abgeschnitten, angewiesen war auf den technischen Verstand eines Mannes. Mehr als technischen Verstand hatte ein Mann in der Situation nicht zu bieten – und seinen Körper, immerhin, seinen Körper: als Kissen, als Halt, als Widerstand, als Sandsack für ihre trommelnden Fäuste.

Rein unter Frauen, wäre da die Geburt anders gelaufen? Und wenn, wie? Über die Maßen wunderbar, an dieser Erfahrung teilhaben zu dürfen, und doch auch, ja, ungeheuer, als Mann in das weibliche Mysterium schlechthin einbezogen zu werden. Zuvor hatte Sofie ihm von Ritualen erzählt, die Männer in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten um die Geburt ihrer Kinder vollzogen, manche spielten sogar im Männerkreis selbst die Geburt nach. Was immer man davon halten mochte, er hätte keine Rituale gewusst, um seinen Sohn vor bösen Geistern zu schützen, und sich welche anzulesen oder auszudenken hätte er idiotisch gefunden. Er hatte Jakob als Sohn angenommen, ohne ihn extra vom Boden aufheben zu müssen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein männliches Wochenbett ihm den Übergang in die Vaterschaft erleichtern würde. Aber es hörte nicht auf, ihn zu beschäftigen, dass die Teilnahme der Väter an der Geburt in gerade mal anderthalb Jahrzehnten fast selbstverständlich geworden war, nachdem Jahrtausende vorher ihr Ausschluss davon das Selbstverständliche gewesen war. Selbstverständlichkeiten traute er nicht. Die Hebamme schien sein Gegrübel zu riechen, denn sie rief ihn, damit er Jakob nahm, während Sofie die Nachgeburt herauspresste. Sie fand es gut, dass Sofie und er beschlossen hatten, die Plazenta nicht wegzuwerfen, sondern im Garten zu vergraben und im Frühjahr ein Aprikosenbäumchen darüber zu pflanzen. Mit Aprikosen habe er keine Erfahrung, bemerkte er mit verlegenem Schulterzucken zu ihr, seinen dunkel blickenden Sohn in den Händen, als könnte dieser bei der kleinsten falschen Bewegung zerbrechen, genauso wenig wie mit Kindern, da sei das eine Unbekannte gewissermaßen ein Zeichen des andern. Sie murmelte etwas Unverständliches.

Abschließend sollte er ihr noch bei etwas zur Hand gehen, das sie »die U1« nannte. Sinje Kruse war eine breite, starkknochige Frau wohl an die siebzig mit sprechenden Händen, die so sanft wie zupackend sein konnten. Habe ihr gut gefallen, brummte sie, wie ruhig und aufmerksam er die ganze Zeit geblieben war, voll bei der Sache, ohne stille Panik. Sie habe da schon ganz andere Männer erlebt, meinte sie, während sie dem Kleinen den Finger in den Mund steckte und dieser sofort zu saugen begann. Sinjes altes Gesicht strahlte. Dass manche umkippten oder die Flucht ergriffen, fand sie verständlich, da konnte niemand was für, aber die Kerle, die ihr gleich Vorschriften machen wollten und Schmerzmittel für ihre Frau verlangten, wenn die für ihren Geschmack zu laut wurde, oder zügigeres Eingreifen, sichtbaren Fortschritt, mehr Technik, die hatte sie echt gefressen. Sie guckte Jakob in die Ohren, tastete seinen Bauch und die winzigen Hoden ab, brummte zufrieden. Die meisten Männer wollten mehr Technik. Weil sie Angst hatten und keine Ahnung! Sie taten sich schwer damit zu begreifen, dass Geburtshilfe in erster Linie eine Kunst war, die Dinge geschehen zu lassen. Das konnten die Frauen von selbst, wenn man sie ließ. Das Lassen, das hatten die alle nicht gelernt. Und die wenigen Momente erkennen, wo man wirklich handeln musste, dann aber schnell und richtig. Jakob quäkte, als Sinje ihm Arme und Beine bewegte und ihn auf allerlei Art drehte und wendete. Die Momente kriegten die Techniker gar nicht mit, die der Meinung waren, sowieso alles besser zu wissen als die Frauen. Hauptsache, sie waren wichtig mit ihren Apparaten. Wie gesagt, Bo hatte das prima gemacht, auch ohne Vorbereitungskurs. Da sah man mal wieder, dass die paar Handgriffe, die wirklich gebraucht wurden, schnell beigebracht waren, zumal jede Frau da andere Bedürfnisse hatte. Das Wesentliche war, dass einer seiner Frau vertraute, das spürte die dann, und das gab ihr Sicherheit. Sie hatte Jakob inzwischen beruhigt und hörte noch Herz und Lungen ab. Ja, sagte Bo, Kurse und Technik waren eh nicht so seine Sache. Das mit den wenigen Momenten verstand er. Aber jetzt musste er sich erst mal hinsetzen, sein verdammtes Knie tat weh.

Er ist in Gedanken schon beim Umzug nächste Woche. Erst einmal wird er das kleine Kabuff im Obergeschoss beziehen und sich dann irgendwann das Gartenhäuschen ausbauen. Bis dahin wird allerdings Jakob auf der Welt sein, und wenn er – Ruck! Es ist nur ein kleines Stück, das der Stamm vorschnellt, doch genug, um Bo die Säge aus der Hand zu schmettern und ihn von den Beinen zu schleudern. Scheiße, er hat geschlafen und nicht gemerkt, dass das Ding unter Spannung stand! Im nächsten Moment ein solcher Schmerz im linken Knie, dass er fast ohnmächtig wird. Berthold hat es zum Glück gesehen, bei laufender Säge könnte Bo schreien, so viel er wollte, der Arbeitskamerad würde nichts hören. An Stehen und Gehen ist gar nicht zu denken. Als Berthold ihn schließlich mit der Schubkarre zum Auto und auf der Rückbank ins Sankt Elisabeth verfrachtet hat, reicht dem Notarzt ein Blick auf den offenen Bruch und er gibt Anweisung, Bo zur Operation fertig zu machen.

»Wär schöner, wir hätten uns unter andern Umständen kennen gelernt«, meint Volker am Abend des nächsten Tages zu Sofie, als er ihr das Gästezimmer zeigt, das sie bei dem kalten Oktoberwetter doch Bos Zirkuswagen vorzieht. Sie ist völlig erschlagen, nachdem sie wie eine Wilde durch die ganze Republik gedüst ist und an Bos Bett gesessen hat, bis sie fast bei ihm eingeschlafen ist. Concha entschuldigt sich für das Chaos im Haus, sie hätten sich in dem Monat, seit sie aus Peru zurück sind, noch immer nicht richtig eingefunden; zwei Jahre seien schon eine lange Zeit. In seinen Desperadozeiten am Anfang sei Bo nie etwas zugestoßen, bemerkt Volker noch bei dem kleinen Schlaftrunk, auf dem er besteht, bevor er die todmüde Schwangere ins Bett entlässt, aber jetzt, wo der Junge längst den Motorsägenschein nachgemacht und zehn Jahre Erfahrung hat und die vorgeschriebene Schutzkleidung trägt und überhaupt, jetzt pennt er einmal eine Sekunde weg und zack. Aber Sturmholz aufarbeiten ist einfach ein Himmelfahrtskommando. Wenn ein Baum unter Spannung steht, weiß kein Mensch vorher, wie er sich verhalten wird, und in solchen Windwurfnestern kann ein Schnitt eine Kettenreaktion auslösen, die auch mit größter Erfahrung nicht vorauszusehen ist. O Mann, er könnte ihr Geschichten von Waldunfällen erzählen, von Verletzungen mit der Motorsäge, da würde sie das kalte Grausen kriegen. Bos zertrümmerte Kniescheibe ist ja wirklich nicht schön, aber wenn sie Glück hat, kann sie ihren Liebsten in zwei Wochen einpacken, und dann ist die Heilung nur eine Frage der Zeit.

Drei Wochen später erfordern Komplikationen eine Nachoperation, so dass der Umzug erst Anfang Dezember stattfinden kann. Volker hat da ohnehin im Norden zu tun, und Bos spärliche Habe passt bequem in den Volvo, Möbel braucht er keine. »Tja, nicht ganz so gegangen, wie wir im Frühjahr dachten«, bemerkt er, als er am Abend des langen Tages erschöpft auf dem Sofa liegt, Sofies Bauch streichelt und sie sich von dem weichen, dunklen Kokon einhüllen lassen, den das Cello auf der Geburtstags-CD hinter ihnen webt. Sie nickt. »Nicht ganz.« Wie sie ihn da liegen sieht, fragt sie sich, und nicht zum ersten Mal, ob sie diesen Mann schlicht überfahren hat. Ob sie mit ihrem Glück das Schicksal herausgefordert hat. Bis zu dem Unfall ging ja wirklich alles unheimlich glatt, wenigstens für sie. Sie hat den Mann bekommen, den sie haben wollte. Er war bereit, zu ihr zu ziehen. Falls es für ihn da etwas zu entscheiden gebe, sei es mit ihrem Wunsch entschieden. Sie hat sich ein Kind von ihm gewünscht, und wenn alles gut geht, wird sie es in einem Monat bekommen. Ob sie es darauf angelegt habe, hat er sie bei ihrem Besuch im Sommer lächelnd gefragt, und sie musste immerhin zugeben, dass sie auch über die heißeste Liebe nie ihre fruchtbaren Tage vergessen würde. »Hast du nicht jeden Schutz vor mir abgelehnt?« Ja, das gab er ihr zu. Ob er gar nicht daran gedacht habe? Kurzes Zögern. Doch, habe er. Und? Er war bereit, es drauf ankommen zu lassen, aber er hätte es nicht betrieben. Ach ja? Natürlich freue er sich, mehr als er sagen könne, aber was hatte sie so früh so sicher gemacht, ein Kind von ihm haben zu wollen? War ihre Entscheidung vielleicht schon vor dem Wiedersehen in Heidelberg gefallen? Das gab sie ihm nicht zu. Aber, musste sie einräumen, mit ihm zusammenzugehen habe für sie von vornherein geheißen, ein Kind von ihm zu haben. Mit ihm. Ja, sie habe aufs Ganze gehen wollen, ihr Leben wagen, ihres und das ihres Kindes. Einen Punkt setzen, wo es kein Zurück mehr gab. Für sie. Er sei in seiner Entscheidung frei gewesen. Sie hätte das Kind niemals als Druckmittel benutzt.

Was es heißt, sein Leben zu wagen, weiß er, weiß sie. Er tut es gerade. Aber sein Wagemut ist passiver als ihrer. Weniger entscheidungsfreudig als duldsam. Schicksal ist für ihn etwas, das man annimmt. »Illusionäre Entscheidungswut«, wie er es nennt, ist ihm ein Greuel. In Wahrheit, hat er ihr einmal erklärt, kann man sich nur entscheiden, ob man ja oder nein zum Schicksal sagt: Will ich mein Schicksal annehmen und tragen, oder will ich ihm ausweichen und es abwerfen? Das Annehmen kann hart sein, doch es ist gut, immer. Das Ausweichen gibt sich oft clever und schmerzlos, doch es führt ins Unglück. Er habe Erfahrung mit beiden Wegen. Sie, Sofie, sei das schönste Schicksal, das er sich wünschen könnte, aber er ist vorher lange den Schicksalsweg eines einsamen, kinderlosen Mannes gegangen, und er wäre ihn willig weitergegangen, wenn es hätte sein sollen. Das hört sich prima an, aber irgendwie kommt es ihr zu simpel vor. Manchmal sind die Haltungen, die man einnimmt, nicht so eindeutig, wie Bo sie hinstellt. Erwächst Schicksal nicht gerade aus getroffenen Entscheidungen? Als er ihr damals die Karte für die Ausstellung in Heidelberg schickte, hat er da dem Schicksal nicht ordentlich nachgeholfen? Da hat er gegrinst und nichts mehr gesagt.

Ihre Gedanken scheinen bei ihm anzukommen. Ein Paar aus Volkers Freundeskreis fällt ihm ein, das bei aller äußeren Lockerheit immer von einem Schleier grauer Traurigkeit umgeben war. Eines Tages stattete die Frau ihm einen Überraschungsbesuch ab, und beim scheinbar ziellosen Reden über dies und das erfuhr er, dass ihr »Freund«, wie sie ihren Mann auch nach acht Jahren noch nannte, sich am Anfang der Beziehung auf ihren gemeinsamen Beschluss hin hatte sterilisieren lassen, mit einer dieser verquasten spirito-politischen Begründungen, die zu der Zeit gängig waren. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, dass die Frau ihm so zart wie entschlossen den Antrag machte, sie zu schwängern. Er, nun, er stellte sich einfach taub. Sofie nickt und erzählt ihrerseits von einem Paar in Kiel, das nicht ihr Glück gehabt hat: der erste Schuss schon ein Treffer, sondern bei denen es jahrelang nicht klappen wollte, bis sie sich nach vielen Untersuchungen und Überlegungen endlich zu einer künstlichen Befruchtung entschlossen und mit einer Samenspende Erfolg hatten. Es sei natürlich immer schwierig, ein Urteil über Entscheidungen zu fällen, die man nicht selber treffen muss, aber von dem her, was es für sie heißt, ein Kind zu haben, könne sie sich nicht vorstellen, dass sie sich zu einem solchen Schritt entschlossen hätte, wenn sie unfruchtbar gewesen wäre, oder ihr Mann.

Im Hintergrund plätschern Cello, Klavier und Sitar aus. Nein, Bo macht seine Hände schwer, sie muss nichts Neues auflegen. Er gähnt. Er ist müde, stimmt, aber ins Bett möchte er noch nicht. Die Hände wandern zu ihrem Bauch zurück. »Wie soll er heißen?«, fragt er. »Hast du inzwischen eine Idee?«

»Und du?«

Er schüttelt den Kopf. »Mir spricht sich einfach kein Name zu. Neulich hat mir Arno nicht schlecht gefallen, davor mal Martin, aber wenn ein paar Tage vergangen sind, kommen mir solche Vorlieben wieder ziemlich beliebig vor.« Er sieht sie an. »Was das Geschlecht unseres Sprösslings angeht, bist du ja sicher, hast du gesagt. Aber falls es doch ein Mädchen werden sollte, wäre ich sehr für Käthe. Nach meiner Oma.«

»Einverstanden.« Sofie überlegt eine Weile. »Als ich zum ersten Mal schwanger war«, beginnt sie zögernd, »hat mir eine ivorische Freundin von einem ›rituel d’écoute‹ erzählt. Ein Hörritual. Das ist ein Ritual für werdende Mütter, das in ihrem Dorf noch gebräuchlich ist. Ein paar Wochen vor der Geburt spricht ein Dorfältester mit dem Kind im Mutterbauch und fragt die Seele, die sich verkörpern will, wer sie ist und woher sie kommt. Mit welchem Auftrag der Ahnen kommt sie in diese Welt? Wie kann ihr dabei geholfen werden? Mit welchem Namen will sie genannt werden? Und die Mutter antwortet stellvertretend für ihr Kind.«

Bo hört ihren Ton und schiebt sich in eine aufrechte Haltung.

»Mich hat das damals sehr beeindruckt«, fährt Sofie fort. »Ich war ja furchtbar umgetrieben von der Suche nach meiner eigenen Lebensaufgabe, und diese Perspektivverschiebung, nach der Aufgabe eines andern Menschen zu fragen, meines Kindes, kam wie eine Erleuchtung. Es ging um jemand anders und erforderte doch mein Handeln, ein ziemlich unvorstellbares Handeln zumal, ein Handeln, in dem es direkt ums Leben ging. Kein Tunals-ob. Als exotisches Eingeborenenmärchen hören wir solche Sachen ja gern, aber wie ernst kann man so was nehmen, wenn es einen selbst betrifft? Ein Dorfältester, den ich hätte machen lassen können, war nirgends in Sicht, wenn mir also ernst damit war, vor der Geburt mit meinem Kind in Kontakt zu treten, musste ich das selbst versuchen. Ich fing im stillen an, in meinen Bauch hineinzulauschen, auf Regungen zu achten, hinzuspüren, wer da kommen wollte, was für ein Wesen, was es gern mochte und was nicht so gern, wie es mit mir verbunden war.« Wieder zögert sie. Bo blickt unverändert gespannt. »Mit Gregor konnte ich nicht darüber reden. Er hätte das als irrationalen Humbug abgetan. Es war schon schwer genug, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht unverantwortlich war, auf weitere Ultraschalluntersuchungen zu verzichten, weil ich …« Sie macht eine hilflose Handbewegung. »Ich wusste vorher gar nichts darüber, und dann zeigt mir der Frauenarzt beim ersten Mal dieses graue Geschmiere auf dem Bildschirm und erklärt mir stolz, was er alles darin erkennen kann: das ist die Stirn, und da die Nase, und da die linke Hand. Mir kam das völlig unwirklich vor. Ich hatte doch noch gar kein Gefühl für das Kind, das da kommen wollte, es war doch nur eine dunkle Hoffnung, eine gute Hoffnung tief in mir drin, die noch eine ganze Weile wachsen musste, um für mich wirklich zu werden, um die Ahnung meines Kindes zu werden, meines Kindes. Und auf einmal ist es schon aus mir draußen dort auf dem Bildschirm, und ich kann es angeblich sehen, und der Arzt kann mögliche Fehlbildungen feststellen und mich davor warnen und mir eventuell Gegenmaßnahmen vorschlagen, die aber selber höchst fraglich sind und die ich allein verantworten muss, und es hat alles überhaupt nichts mit mir zu tun, es ist nur ein technischer Trick, mit dem der Arzt so tut, als könnte er in mich hineinschauen, aber was er da auch sehen mag, das ist nicht mein Kind. Das ist eine technische Vorspiegelung. Das ist nicht mein Bauch, dieses schmierige graue Bild, er kann nur dieses glitschige Gel darauf schmieren, das mich davon ablenkt zu fühlen, was wirklich in meinem Bauch vorgeht.« Sie schüttelt den Kopf. »In dem Moment ist mir erst klar geworden, was es heißt zu sagen: Mein Bauch gehört mir.«

»Aber das Bild gibt doch wieder, was in deinem Bauch drin ist, es stellt doch nichts anderes dar«, wendet Bo ein. »Wieso meinst du, es hätte nichts mit dir zu tun?«

»Bo, was da geschieht, ist etwas … etwas Menschliches, nichts Technisches, nichts Biologisches. Ich erwarte doch kein biologisches Objekt, ich erwarte mein Kind. Das mich zur Mutter macht. Ich muss diese Mutter werden – das ist nichts Biologisches! Ich muss, wenn ich so weit bin, in Verbindung mit meinem Kind treten, das ich noch nicht kenne und das ich kennen lernen will, von ganzem Herzen, aber das ich niemals kennen lernen werde, wenn ich mir einbilde, es schon zu kennen, weil ich irgendwelche Messdaten darüber weiß, irgendwelche Prognosen. Weil ich es quasi schon im Fernsehen gesehen habe. Der Arzt tut, was alle Wissenschaftler tun, die Illusion eines objektiven Blicks erzeugen, und den perfektioniert er mit seinen Apparaten, aber das Auge allein reicht da nicht hin, es kann nicht ins Dunkel dringen, das kann nur das Ohr. Das Ohr ist das Organ fürs Unsichtbare, für die Gefühlswelt, und deshalb war ich so glücklich, als Marlène, diese Freundin, mir von dem Hörritual erzählte, denn das war genau die Richtung, in der ich meinem Kind näherkommen wollte.« Sie sieht Bo beinahe flehend an. »Verstehst du?«

»Vielleicht. Sprich weiter.«

»Es ist schwer, diese Verbindung zu beschreiben, die da mit der Zeit entsteht. In meinem Bauch hat sich plötzlich ein Lebensdrama abgespielt, neben dem der Abschluss an der Schauspielschule ein Klacks war. Ich dachte, ein Kind will die Bühne des Lebens betreten, was zählen dagegen alle Bühnen der Welt? Ich muss es auf diese Bühne führen, ihm sagen, was hier gespielt wird, es mit seiner Rolle vertraut machen. Dafür muss ich selbst das Stück und die Bühne und den neuen Akteur verstehen, der dort bald auftreten will. Gegen Ende der Schwangerschaft hatte ich das Gefühl von jemand mit einer großen inneren Gegensatzspannung, jemand Starkem und Freiem, der abseits der vielen geht, auf schwierigen Bahnen. Du Wolfsherz, sagte ich eines Abends, und da kam mir die Erinnerung an ein Buch, einen Abenteuerroman, den ich als junges Mädchen gelesen hatte, Mit dem Herren einer Wölfin, in dem hieß die Heldin Ronja. In dem Moment wusste ich, dass ich ein Mädchen bekommen würde, und sie sollte Ronja heißen. Witzigerweise hatte Gregor schon Sonja vorgeschlagen, und die kleine Veränderung gefiel ihm. Aber beim Thema Hausgeburt blieb er unnachgiebig. Für ihn war das die reine Romantik und ein unverantwortliches Risiko, dem er sein Kind nicht aussetzen wollte. Dagegen kam ich nicht an.«

»Das heißt, Ronja ist für dich kein sprechender Name mit einer bestimmten Bedeutung, sondern so was wie ein Klangsymbol für bestimmte Gefühle.«

»Funktionieren Namen nicht allgemein so in unserer Kultur? wenn sie nicht von konkreten Vorfahren kommen? Meine Eltern haben bei Sofie bestimmt nicht an ›Weisheit‹ gedacht. Bei mir kommt halt die spezielle Einbildung dazu, dass das Namensgefühl durch die Verbindung mit dem Kind entsteht. Den Namen Leni habe ich geträumt, und im Traum nannte der Name genau die Gefühle, die jedes Mal in mir aufstiegen, wenn ich in meinen Bauch gelauscht habe. Da kommt eine tiefheitere, menschenverbindende Seele, dachte ich, eine, die andere anzieht und um sich versammelt. Eine Leni. Und damit war klar, dass es wieder ein Mädchen werden würde.«

»Und unser Kind? Dein drittes?«, fragt Bo. Er ist jetzt hellwach, die Müdigkeit von vorher ist verflogen, der Schmerz im Knie vergessen. Ihm ist, als habe er mit seiner Liebsten unbekanntes Gelände betreten, mit unsicherem Untergrund, und er weiß nicht, ob der Boden trägt. Doch er will weitergehen, gar keine Frage.

»Ich bin gegen Arno«, sagt Sofie. Ihr Blick ist ernst. »Er hat für mich nichts Germanisches. Er ist kein Bodo Ingo Gernot Thorsten. Der Geist, der aus ihm spricht, ist irgendwie anders, ein bisschen fremd und ungelenk und zwischen den Stühlen, aber im Herzen treu und bereit, wenn es drauf ankommt.« Sofies Stimme ist leise geworden. »Mein erstes Gefühl war: Gib ihm einen jüdischen Namen. Dann dachte ich: Jakob. Einer, der mit seinem Schicksal ringt. Der vielleicht mal ein großes Volk wird.«

»Das war Abraham«, sagt Bo.

»O je, ich bin nicht sehr bibelfest.« Sie wartet. »Könntest du dir den Namen vorstellen?«

Bo lässt eine Zeit verstreichen. »Ja, könnte ich.« Seine Lippen bilden ein Lächeln. »Klingt doch gar nicht schlecht, Jakob … Anders, nehme ich mal an.«

Sofie guckt entschuldigend. »Ich hätte schon gern, dass er so heißt wie seine Schwestern. Hättest du was dagegen?«

Er schüttelt den Kopf. Dann streckt er sich ausgiebig. Er weiß nicht, was er empfindet. »Aber wenn es doch ein Mädchen wird, heißt sie Käthe!«, sagt er im ironischen Ton eines männlichen Machtworts.

»Ist es nicht schlicht eine Frage der Macht? Also ich kann mir gut vorstellen, wie verunsichernd es für einen Mann sein muss, wenn er in so einem fremden Erfahrungsbereich mit einem rein weiblichen Akt konfrontiert wird, den er kaum beeinflussen kann. Ein extrem gewaltsamer und erschreckender Akt obendrein. Er hat überhaupt keinen Zugriff mehr auf seine Frau, die ganzen gewohnten Dispositive der Macht, könnte man sagen, sind ausgeschaltet. Er kann seine Frau jetzt bewundern und anbeten, er kann sich vor ihr entsetzen, sich vor ihr ekeln, sie bedauern, aber er kann nichts tun. Wäre es nicht denkbar, dass das Unbehagen, von dem Sie gesprochen haben, mit dieser Machtverschiebung zugunsten der Frau zusammenhängt?« Frau Autré fing den Blick ihrer Tochter auf. »Pardon, von dem du gesprochen hast, Bo, wollte ich sagen.«

Bo dachte nach. »Ich glaube nicht«, sagte er schließlich. »Charlotte.« Die Anrede kam auch ihm noch nicht leicht über die Lippen, nachdem Sofies Mutter und er erst am Morgen beim Frühstück auf einen Stoßseufzer von Sofie hin zum Du übergegangen waren und dezent die Kaffeetassen darauf angeklickt hatten. Er blickte sein Söhnchen an, das beim Nuckeln an der Mutterbrust einen leisen Grunzlaut hören ließ. Sein Gesicht hellte sich auf. »Nein, ich glaube nicht«, wiederholte er. »Und Unbehagen ist übertrieben. Es war auch für mich eine Wahnsinnserfahrung, und stimmig für uns beide, denke ich, oder?« Sofie nickte, ohne aufzuschauen. »Nein, mein Problem ist, was dabei alles unausgesprochen bleibt, die Wolke von Unausgesprochenem sozusagen, die über dem Ganzen liegt. Ich meine nicht zwischen Sofie und mir – was uns betrifft, haben wir, glaube ich, so gründlich darüber gesprochen, wie wir konnten. Aber dass in kürzester Zeit in so einer wichtigen Sache ganz neue Verhältnisse einkehren, die überhaupt erst einmal begriffen und verarbeitet werden müssten, aber stattdessen werden sie einfach als der Normalzustand hingestellt, der sich von selbst versteht, und niemand fragt, wie die neue Normalität so plötzlich normal geworden ist – damit tue ich mich ein bisschen schwer.«

»Und die neue Normalität besteht in der dienenden Männerrolle?«

»Die neue Normalität besteht in der Forderung, dass es zwischen den Geschlechtern keinen Unterschied mehr gibt oder dass der kleine Restunterschied auf jeden Fall ohne praktische Bedeutung ist. Männer und Frauen sollen gefälligst gleich und unterschiedslos sein, zumindest in ihren gesellschaftlichen Rollen. Ich finde es, sagen wir, extrem verwirrend, in einer Situation zu sein, wo der Geschlechtsunterschied so groß und deutlich ist, wie er größer nicht sein könnte, aber es wird so getan, als wäre meine Anwesenheit in diesem fremden Lebens- und Erfahrungsbereich das Selbstverständlichste von der Welt, als hätte es gar nichts zu besagen, dass ich ein Mann bin. Alle sind sich einig, dass es ›neue Männer‹ braucht, ›neue Väter‹, und das Neue an diesen Männern ist, dass sie sich in ihrem Denken und Handeln nicht mehr von den Frauen unterscheiden dürfen. Ich hätte den Verdacht, dass damit auf die Dauer weder die Männer noch die Frauen glücklich werden.«

»Interessant.« Charlotte strich sich die blondierten Fransen ihres schrägen Ponys aus der Stirn und wandte sich ihrer Tochter zu. »Und was ist mit den Frauen aus diesem Kreis, den du hast? Wären die keine Alternative gewesen? Das ist nicht als Kritik an Bo gemeint, aber die Frage kam mir schon, als du mir damals am Telefon von deinen Plänen erzählt hast: dass es eine Hausgeburt werden soll und dass dein Freund dabei sein wird und so weiter. Ich dachte immer, die Idee bei deinem Frauenkreis wäre, dass ihr euer Leben irgendwie weiblich gestaltet, dass ihr euch von den Männern unabhängig macht, gerade in … in den wichtigen Sachen, wie Bo sagt.« Sie bemühte sich hörbar um einen neutralen Ton.

»M-hm«, machte Sofie, während sie den satten Jakob von der Brust nahm, sich abtupfte und ihn vorsichtig in sein Kinderbett in der Ecke legte. Bo schaltete sich ein. »Darüber haben wir natürlich auch geredet. Wenn eine andere Lösung stimmiger gewesen wäre, hätten wir uns dafür entschieden, kein Problem von meiner Seite. Ich musste mich nicht unbedingt als ›neuer Mann‹ profilieren, und es war auch nicht so, wie du vorhin gemeint hast, dass ich mir oder Sofie oder der Welt beweisen musste, dass ich die Sache auch mit der Verletzung durchziehen kann, und wenn es mir noch so schwerfällt.«

»Es stimmt schon, dass Kinder zur Welt bringen eigentlich Frauensache ist und der Vorgang unmittelbar nur die Frauen angeht, nicht die ganze Familie«, sagte Sofie, während sie auf die Couch zurückkehrte und sich zuknöpfte. »Man könnte auch sagen, die vertraute häusliche Umgebung ist dafür völlig ungeeignet, weil eine Geburt das Unvertrauteste überhaupt ist. Die Grenzüberschreitung schlechthin. Sie sprengt jeden normalen Rahmen. In traditionellen Zusammenhängen gab es dafür eigene Reinigungsriten und Gebärhütten, und die waren den Frauen vorbehalten und wurden nur von Frauen eingerichtet, ganz praktisch, aber auch geistig. Die häusliche Umgebung ging wohl zur Not auch, aber die musste dann komplett verwandelt werden. Der Unterschied zu dem, was wir heute haben, ist weniger, dass damals die Männer ausgeschlossen wurden und heute werden sie einbezogen, sondern dass es eben sehr klare Vorstellungen von den Bereichen und Aufgaben gab, die Männer und Frauen hatten, und wir nur, wie Bo gesagt hat, eine diffuse Gleichheits- und Partnerschaftsideologie haben. So was wie getrennte Zuständigkeiten der Geschlechter halten wir für überholt. Die Leute früher haben sich Geschichten darüber erzählt, was Männer und Frauen sind und was sie für Zuständigkeiten haben, und das war für sie die Wahrheit, weil ihr Leben dadurch eine Form und eine Ordnung erhielt, aber vielleicht könnte es auch ganz andere Geschichten geben, Geschichten, in denen die Zuständigkeiten fließender sind und Männer und Frauen zum Beispiel aus ihren verschiedenen Räumen zum Akt der Geburt zusammenkommen und ihren eigenen Beitrag zum neuen Leben leisten, real wie symbolisch.«

»Was könnten das für Geschichten sein?«, fragte Bo.

»Vielleicht Geschichten von Bindung und Lösung, keine Ahnung. Von den verschiedenen Formen, in denen Frauen und Männer ein Kind an sich binden und die Bindungen wieder lösen, angefangen mit dem Durchtrennen der Nabelschnur. Wobei es da durchaus Überschneidungen zwischen alten und neuen Geschichten geben könnte.« Sofie zuckte die Achseln. »Wie gesagt, keine Ahnung. Das wäre doch mal ein Job für den Dichter in der Familie, was meinst du?« Sie stupste den stirnrunzelnden Dichter liebevoll an. »Deine Jungs haben zwar vor langer Zeit gegen die Wissenschaftler und Techniker verloren, aber vielleicht wendet sich das Blatt ja eines Tages, und ihr Geisteshelden gewinnt wieder die Oberhand.« Mit einem kreischenden Auflachen duckte sie sich vor dem Schlag, zu dem Bo ansetzte, dann wandte sie sich ihrer Mutter zu. »Was ich gemacht habe, eine Hausgeburt mit meinem Mann als Helfer, ist erst mal einfach ein Kompromiss mit den realen Verhältnissen. Da war es mir vor allem wichtig, dass unser Kind nicht unter klinischen Bedingungen und unter der Fuchtel männlicher Spezialisten auf die Welt kommt. Die meisten Leute, die vor fünfzehn, zwanzig Jahren die Eroberung des Kreißsaals auf ihre Fahnen geschrieben hatten und die Einbeziehung der Männer forderten, hatten nichts daran auszusetzen, dass die Entbindung auf jeden Fall in der Klinik lief und grundsätzlich die Mediziner dafür zuständig waren. Die waren sogar für die programmierte Geburt mit künstlich eingeleiteten Wehen, weil das für einen entspannteren Betriebsablauf im Krankenhaus sorgte. Es gab zwar auch andere Ideen von sanfter Geburt, aber –«

»Ich fand es absolut grauenhaft, wie es zu meiner Zeit lief«, unterbrach Charlotte. »Ich kann mich heute noch an den gekachelten Kreißsaal im Bürgerhospital erinnern, wo ich dich bekommen habe, an diesen scheußlichen Geruch. Ich habe ewig lange allein gelegen, ohne dass jemand nach mir geschaut hat, und wenn mal ein Arzt kam, hat man sich auch noch dumme Sprüche anhören müssen – dass das Kind leichter reinkommt als raus, haha, und solches Zeug – und als dann die Wehen einsetzten und es losging, waren auf einmal noch mehrere andere Frauen mit mir im Saal, nur durch Vorhänge getrennt, und jede hat mithören müssen, wie die anderen schrien und … und … alles.« Sie schüttelte sich.

»Das war 78, als Ronja kam, auch noch nicht viel besser«, sagte Sofie, »nur dass sie technisch aufgerüstet hatten und du von Wehenschreibern, Herzrhythmusmessern, Infusionspumpen und was weiß ich noch alles umstellt warst, die ständig gebrummt und gepiept und getickert haben. Als ich damals an eine Hausgeburt dachte, bevor Gregor dagegen auf die Barrikaden ging, habe ich in ganz Hamburg genau eine alte Frau gefunden, die noch als Hausgeburtshebamme praktiziert hat und die das gemacht hätte. Aber um auf deine Frage zurückzukommen.« Sie sah ihrer Mutter in die Augen. »Ja, mit unserem Frauenkreis wollen wir unser Leben ›irgendwie weiblich gestalten‹, das stimmt, aber wir tun nicht so, als ob es lebendige weibliche Traditionen gäbe, an die wir anknüpfen könnten, sei es in der Entbindung. Da am allerwenigsten. Gerade in dem, was uns Frauen am meisten gehört, sind wir am gründlichsten enteignet. In der Traditionslosigkeit, in der wir heute alle leben, können wir als Frauen nur behutsam versuchen, eigene Formen zu finden, kleine Formen, die wir tragen können und die uns begegnungsfähig machen, wenn die Männer ihrerseits anfangen aufzuwachen. Das ist übrigens, ob du’s glaubst oder nicht, etwas, was niemand besser versteht als Bo und was ihn genauso umtreibt wie mich. Was finden wir für lebbare Formen, die uns fordern, aber nicht überfordern. Das alles habe ich dir schon früher zu erklären versucht, aber bis jetzt hatte ich immer den Eindruck, dass dich das nicht furchtbar interessiert und du lieber an dem Gedanken festhältst, ich würde mit meinen Frauen irgendein uriges matriarchalisches Getümel treiben.«

Charlotte setzte an, etwas zu sagen, doch Sofie ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Natürlich hätte ich statt Bo auch Luzie fragen können, ob sie mir hilft, oder Jenny oder Mona, aber zum einen wäre es für die schwieriger gewesen und mehr Aufwand, dafür extra aus Bremen oder Hamburg anzureisen und sich weiß Gott wie lange bereitzuhalten, und zum andern hat Luzie selbst kein Kind und keine Erfahrung auf dem Gebiet, und Jenny und Mona haben ihre Kinder im Kreißsaal bekommen, und bei unseren Gesprächen darüber, wo man am besten entbindet, im Krankenhaus oder zuhause, fanden sie die Sachen, die ich gesagt habe, zwar grundsätzlich richtig, aber bei ihren Kindern hätten sie das Risiko nicht eingehen mögen, und dass ich für ihr Empfinden meine eigene Sicherheit und die meines Kindes gefährden wollte, war ihnen auch nicht geheuer – was ich gut verstehe. Ich will auch mein Kind möglichst sicher zur Welt bringen, wer will das nicht? Aber die Art, wie bei uns Sicherheit hergestellt wird, und was sich daraus alles ergibt, damit kann ich mich einfach nicht abfinden. Die Art, wie Frauen entmündigt und von ihrem Körper abgeschnitten werden, wie sie den Kontakt zu ihrem Kind und sich selbst durch Illusionsmaschinen und absurde Vorsorgeentscheidungen ausgetrieben bekommen. Ich denke, früher war die Geburt etwas Existentielles, die Ankunft eines neuen Menschenwesens auf der Erde, und die ganzen Gebete, Riten, Wallfahrten und Gelübde drumherum sollten dem Kind auch einen guten Lebensweg bereiten. Eine Frau aus Liberia, die ich letztes Jahr kennen gelernt habe, hat mir erzählt, dass in ihrer Tradition jede Geburt eine Initiation ist. Die Frauen sehen dabei dem Tod ins Auge und erwerben ein Wissen vom Leben, das tiefer ist als alles, was sie in der Schule lernen. Falls wir hier je so ein Wissen hatten, dann haben wir es schon lange verloren, und geblieben ist uns Unsicherheit und Angst. Ich will mich aber nicht von der Angst bestimmen lassen.« Sofie tat einen tiefen Schnaufer. »Mit dem Entschluss, daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, stehe ich allerdings auch unter meinen Frauen ziemlich allein da, und ganz gewiss ist unser Kreis keine traditionelle Gemeinschaft, die über bewährte Formen verfügt, ein Kind in Empfang zu nehmen und ins Leben zu geleiten. Deshalb kam es mir richtig vor, die Realität zu akzeptieren, wie sie ist, und die Formlosigkeit zusammen mit Bo auszuhalten. Unter den gegebenen Umständen wollte ich die Erfahrung der Geburt lieber mit ihm teilen und von dort aus weitergehen, wohin auch immer. Hoffentlich dahin, wo ich tiefer erfahre, was es heißt, eine Frau zu sein.« Die Bemerkung, dass sie das von ihrer Mutter ganz gewiss nicht gelernt hatte, verkniff sie sich.

»Autsch!«, knurrte Bo beim vierten Biss und stieß Sofie zurück, nachdem sie im Bett förmlich über ihn hergefallen war und ihn erst in die Schulter, dann in die Seite, in den Bauch und zuletzt in den Penis gebissen hatte. »Das hat weh getan. Was ist los mit dir?«

Breitbeinig auf ihm sitzend reckte sich Sofie zu stolzer Pose auf. »›Küsse, Bisse‹«, deklamierte sie mit erhobener Hand, »›das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen.‹«

»O Gott, Penthesilea ist wieder da«, stöhnte Bo. »Hast du denn gar kein Mitleid mit dem armen Ödipus, verstümmelt an Fuß und Geschlecht?« Die Amazonenkönigin schüttelte wild ihr Haupt und wollte etwas sagen, doch da schnappte sich der unterlegene Mann flink ihre linke Brust und machte Anstalten, seine Zähne darin zu versenken. Sie schrie kurz auf, dann warf sie sich auf ihn, und ein Gerangel begann, das nach einer Weile langsamer, inniger wurde und in eine Versenkung anderer Art überging. Bei alledem musste Bo auf sein Knie aufpassen, dessen anhaltende Empfindlichkeit immerhin den Nebeneffekt hatte, dass die Empfindlichkeit seines Lustorgans ein wenig ab- und sein Durchhaltevermögen entsprechend zunahm.

»Kriegt sie dich so?«, fragte er hinterher, nachdem beide noch einmal nach Jakob geschaut hatten und zusammengekuschelt wieder im Bett lagen.

»Ach, ich musste mich einfach mal abreagieren«, erwiderte sie. »Dich kriegt sie mehr.« Was stimmte. Dass seine Schwiegermutter in spe sich über einen Monat Zeit gelassen hatte, um ihren neugeborenen Enkel zu besichtigen, befremdete ihn, und dass es ihr wichtig war zu betonen, wie gut sich der Besuch mit einer Lesung in Hamburg kombinieren ließ, fand er affig. Hinzu kam, dass ihr Hauptinteresse darin zu bestehen schien, ihre Tochter als Informantin für ein neues Buch anzuzapfen, an dem sie gerade schrieb. Charlotte Autré – den Künstlernamen führte sie seit der Trennung von ihrem Mann auch privat – war eine Schriftstellerin mit einem schmalen Oeuvre und einer kleinen, aber treuen Lesergemeinde. Ihre Romane und Geschichten hatten keine stringente Handlung, sondern zeichneten meist komplexe Personenkonstellationen, die sie mit wissenschaftlicher Akribie in ihrer heillosen Verstrickung analysierte. Ihr bekanntestes Werk, Exit, reihte in einer klinisch neutralen Sprache die Motive und Vorgänge auf, deren Verkettung zu ihrem Selbstmordversuch Ende der siebziger Jahre geführt hatte. In ihrem neuen Buch, Arbeitstitel Donna, sollte es »im weitesten Sinne« um weibliche Macht und Ohnmacht gehen, dargestellt am Schicksal wechselnder Protagonistinnen, deren einzige Verbindung untereinander die mehr oder weniger flüchtige Berührung mit dem Frankfurter Weiberrat von 1968 war. Die Fragen, die sie an ihre Tochter und sogar ihre Enkelinnen richtete, schienen alle dieses Projekt zu betreffen, doch das sei, meinte Sofie, einfach ihre Art, menschliche Nähe herzustellen. »Sie liebt ihre Enkel, soweit sie lieben kann«, sagte sie, »aber ihre Möglichkeiten, es zu zeigen, sind halt begrenzt.«

Auf der anderen Seite lernte Bo in den folgenden Tagen ihre ruhige Präsenz im Haus schätzen, ein krasser Kontrast zu ihrem Ex-Mann, der drei Wochen vorher bei seinem Besuch pausenlos die Enkel bespaßt, afrikanisch gekocht, Geschichten erzählt, Musik vorgespielt und überhaupt einen unglaublichen Trubel veranstaltet hatte, ohne sich von der Wochenbettatmosphäre beirren zu lassen. Kindern tat Leben gut! Erwachsenen auch! Er hatte aus Mainz nicht nur seine Lebensgefährtin Leloba mitgebracht, die Bo zuletzt vor über fünfzehn Jahren in der Frauen-WG seiner alten Freundin Petra gesehen hatte und die sich über das Wiedersehen mit ihm so ausgelassen freute, wie sie sich über ihre Rolle als Sofies »Stiefmutter« amüsierte, sondern auch Bos Mutter. Mit »Hallo, hier ist Opa Manu«, hatte Dr. Emanuel Anders die unbekannte Frau kurzerhand angerufen und sie weniger gefragt, ob sie mitkommen wolle, als ihr den Termin mitgeteilt, zu dem er sie abholen werde. Bo konnte sich nicht erinnern, seine Mutter jemals so von Grund auf durchgelockert gesehen zu haben wie an dem Abend, als sie nach fröhlicher Fahrt Manus altem VW-Bus entstieg. An seine und Sofies Erschöpfung, als die drei wieder fuhren, erinnerte er sich hingegen noch gut.

Zu viel Trubel war mit Oma Charlotte nicht zu befürchten, aber Bo fand es gewöhnungsbedürftig, wie gezielt sie Ronja und Leni ausfragte: was sie von Jungs hielten, wer in ihren Cliquen das Sagen hatte, wie Streitigkeiten ausgetragen wurden, alles, was irgendwie mit Macht zusammenhing. Aber die Mädchen gaben gern Auskunft und fühlten sich ernst genommen. Von ihm wollte sie wissen, ob er Gregor gegenüber Eifersucht empfand, wie es war, »pardon«, quasi in dessen Haus zu leben, mit seinen Töchtern. Am zweiten Tag beschloss Bo, den Spieß umzudrehen und seinerseits zu fragen. Ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin interessierte ihn, und er fand es einleuchtend und nicht unsympathisch, wie für sie bei allem die eigene Arbeit im Vordergrund stand und das öffentliche Ansehen ihr wenig bedeutete, wie sie sich nur ihren Lesern verpflichtet fühlte. Verpflichtet eben zu dieser Arbeit. Ihr Leben würde ihr entgleiten, wenn sie sich nicht auf die Art schonungslos Rechenschaft ablegte und dabei sich und andere radikal in Frage stellte. Bo ließ sich erzählen, hörte aufmerksam zu. Ihm schien, als wären in der knochigen Gestalt doch auch Ähnlichkeiten mit seiner Geliebten zu erkennen. Die Frage ging ihm durch den Kopf, ob er unter den veränderten Lebensbedingungen seine Haltung zum Schreiben vielleicht überdenken sollte, ob er es auch irgendwie als etwas ihm Gemäßes, als seine Arbeit begreifen konnte, wie er es vor Jahren in anderer Weise ja schon einmal versucht hatte.

Als Charlotte gefahren war, kam ihm die Idee zu einer Geschichte. In einer lockeren linken WG der siebziger Jahre leben zwei Männer, von denen der eine anfängt, sich in Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert zu vergraben, und innerlich mehr und mehr aus seiner Zeit herausfällt. Als der andere einmal eine abschätzige Bemerkung über eine Frau macht, die der eine heimlich liebt, wird er von diesem zum Duell gefordert. Die Situation ist absurd, es scheint ein Spiel zu sein, was sie treiben, dann besorgt der eine irgendwoher alte Duellpistolen. Sekundanten finden sich, auch sie glauben noch an ein Spiel. Als die beiden sich an einem frühen Sonntagmorgen auf einer herbstlichen Nebelwiese gegenüberstehen, ist aus dem Spiel Ernst geworden, ohne dass einer wüsste, wie das zugegangen ist. Die Absurdität nimmt ihren Lauf. Sie würde noch gesteigert, dachte sich Bo, wenn der eine, der zuletzt vom anderen erschossen wird, der Ich-Erzähler wäre. Eine Weile spielte er die Geschichte in mehreren Versionen im Kopf durch, verfeinerte die Details, formulierte sogar manche Passagen, so dass sie sich ihm wörtlich einprägten. Es tat irgendwie gut. Er schrieb die Geschichte nicht auf. Wozu? Hölderlins Frage war ihm wieder präsent: »wozu Dichter in dürftiger Zeit?« Darüber lohnte es sich nachzudenken. Er ließ die Geschichte sein, der Antrieb verlor sich.

Das Fest der Männer und der Frauen

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