Читать книгу Turmstraße 4 - Hans Weinhengst - Страница 6
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ОглавлениеAcht Wochen waren seit Groners Tod vergangen.
Das Leben der beiden Hinterbliebenen, Witwe und Tochter, ging ruhig und ereignislos weiter. Mit anderen Menschen hatten sie jetzt weniger denn je zu tun. Bloß Karl Weber war ein oft und gern gesehener Gast. Nicht nur Martha freute sich über seine Besuche, auch der Mutter wuchs der ruhige, empfindsame Bursche mehr und mehr ans Herz. Er konnte mit zärtlichen Worten Trost spenden, und es gelang ihm, die beiden von ihrer Unschuld an Groners tragischem Tod zu überzeugen, ohne ihnen zu nahe zu treten oder ihre Gefühle zu verletzen. Auch in praktischen Belangen machte er sich mithilfe seiner Kraft und Geschicklichkeit nützlich.
Da Martha ihre Mutter nicht alleine lassen wollte, diese aber nur selten Anlass sah, außer Haus zu gehen, verbrachte Karl, um mit seiner Liebsten zusammen zu sein, ausgiebig Zeit in der Groner’schen Wohnung. So saß er auch eines Samstagnachmittags Martha gegenüber beim Tisch, auf dem verschiedene Handwerksutensilien lagen: Spulen mit isolierten und nicht isolierten Drähten, kleine Holzbretter, Schrauben, Nägel, Schalter und anderes für die Herstellung eines Radioapparates Erforderliche.
Frau Groner war für zwei bis drei Stunden fortgegangen, und die beiden jungen Leute wollten diese Zeit nützen, um sie bei ihrer Rückkehr mit einem selbst gefertigten Radio-Empfangsgerät zu überraschen.
Martha hatte mit ihrem ersparten Taschengeld nach Karls Anweisungen das nötige Material besorgt und dieser hatte ein geliehenes Buch über den Selbstbau von Radiogeräten studiert. Nun entstand unter ihren Händen in fröhlicher Zusammenarbeit ein einfaches, aber ansehnliches Kästchen, in dem Spulen, Kondensatoren, Elektronenröhren und andere Dinge montiert und miteinander verbunden wurden, die elektrische Impulse einer Antenne in geeigneten Strom umwandeln sollten, stark genug, um einen Lautsprecher zum Klingen oder Reden zu bringen. Schweigsam, mit vor Eifer rot glühenden Wangen machte sich das Paar mehr als zwei Stunden lang daran zu schaffen. Plötzlich warf Karl den kleinen Hammer von sich und sprang auf.
»Und fertig!«, rief er freudig. »Probieren wir unser Werk gleich einmal aus! Wir müssen das Gerät nur noch mit dem Akkumulator und dem Lautsprecher verbinden – und los geht’s! Halt! Wir brauchen noch Antenne und Erdung!«
»Als Antenne können wir eine Matratzenfeder nehmen!«, schlug Martha vor. »Mit der Erdung wird’s schwierig, weil wir weder Leuchtgas- noch Stromanschluss in der Wohnung haben. Wir werden bald beides kriegen, ich hab schon um die Einleitung angesucht. Nur, müssen wir wirklich so lang warten?«
»Aber nein!«, war Karls entschiedene Antwort. »Ich frag die Hausmeisterin, ob sie uns erlaubt, dass wir einen Draht an der Wasserleitung befestigen, den wir dann von dort über den Gang in die Wohnung legen.«
Die im Erdgeschoß wohnende Hausbesorgerin war eine ehrwürdige Matrone, deren rundlicher Körper einem wandelnden Fass ähnlich sah. Nachdem der Liegenschaftseigentümer nicht vor Ort ansässig war, lag die Vollmacht in allen verwaltungstechnischen oder die Hausordnung betreffenden Fragen in ihren Händen. Das machte sie zu einer Ehrfurcht gebietenden Respektsperson. Sämtliche Arbeiten überließ sie ihren Kindern, während sie sich selbst ausschließlich in leitender Funktion sah. Sie hasste Geschwätzigkeit und Klatschsucht – bei anderen.
Als Karl seine Bitte ausgesprochen hatte, wiegte sie gravitätisch das kugelförmige Haupt mit dem roten Gesicht, in dem eine riesige Nase saß, die auch jeder männlichen Physiognomie beherrschend ihren Stempel aufgedrückt hätte.
Das Kopfwackeln war offenbar zustimmend und signalisierte Einverständnis, denn nach einem tiefen Seufzer sagte sie: »Na ja, wieso nicht? Das wird doch der Wasserleitung hoffentlich nicht schaden, wenn Sie einen dünnen Draht drüberwickeln. Und das Haus wird auch nicht schäbiger, wenn ein Draht am Gang liegt. Passen S’ aber auf, dass der niemanden stört. Sie wissen ja selber, was für streitsüchtige Kanaillen da herinnen wohnen.«
Karl wollte sich schon zufrieden davonmachen, aber so einfach ließ die Alte gewöhnlich kein Opfer gehen, das einmal in ihre Fänge geraten war.
»Na, na, junger Herr, nur nicht so eilig! Sie haben doch Zeit! Leider sogar viel Zeit, gell? Es ist zum Heulen heutzutag, dass junge, fleißige Leut mehr Freizeit haben, als ihnen lieb ist! So kommen der ganze Unfug zustande und all die Gaunereien! Es ist ja furchtbar, wenn man heut in die Zeitung schaut. Sagen Sie, wie geht’s denn den armen Frauen, den Gronerischen? Haben sie sich in ihrem Schmerz schon gefasst?« Sie atmete tief auf. Aber als Karl antworten wollte, fuhr sie rasch fort: »Dass sie nur nicht zu arg trauern, gell! Ehrlich gesagt haben sie nicht allzu viel verloren, ihr Leben ist jetzt sicher ruhiger. Der alte Groner – Gott hab ihn selig! – hat sie ja nur sekkiert. Es ist wirklich nobel, wie Sie sich um die zwei Frauen kümmern, die wären jetzt ganz auf sich gestellt, und bestimmt spricht das Herz da ein Wörterl mit, gell? Das Mädel ist aber auch eine Hübsche – und so anständig! Das muss ihr sogar der Neid lassen.« Bei diesen Worten rollte das schwatzende Fass vielsagend die Augen. »Wenn man heutzutag nur leichter Arbeit fänd – Sie haben ja auch keine, oder? Schauen Sie, ich hab zwölf Kinder, sieben sind verheiratet und die fünf ledigen wohnen noch bei mir. Von denen sind vier Söhne arbeitslos, und den Gatten von drei Töchtern geht’s nicht anders.«
»Zwölf Kinder!«, rief Karl staunend, eigentlich nur, um irgendetwas zu sagen.
»Ja, zwölf Kinder!«, ratschte die Frau weiter. »Aber, was glauben Sie denn: Ich hätt neunzehn, wenn nicht sieben schon tot wären. Was hab ich getrauert und geweint um jedes einzelne, besonders um den letzten Buben! Der ist mit siebzehn an einer Verletzung gestorben, die er sich beim Fußballspielen zugezogen hat. Ich rat Ihnen: Spielen Sie um Gottes Willen nie Fußball, gell! Aber heut denk ich mir fast, es ist besser, dass sie tot sind. Die würden vielleicht Gott weiß was mitmachen, wenn sie noch am Leben wären. Na ja! Also, montieren Sie ruhig Ihren Kontakt am Wasserhahn, dass Sie schön Ihre Radiomusik hören, gell! Und grüßen Sie mir die lieben Frauen!«
»Danke! Auf Wiedersehen!« Karl, der die ganze Zeit nur ungeduldig auf das Ende des Wortschwalls gewartet hatte, wandte sich rasch zur Tür.
»Auf Wiederschauen, junger Herr!«
»Zwölf Kinder, neunzehn Mal gebären!«, murmelte Karl in Gedanken, während er die Treppe nach oben lief. »Furchtbar!«
Er entschuldigte sich bei Martha für sein langes Fortbleiben, aber sie lächelte nur.
»Ich hab selbst schon erlebt, wie schwer es ist, der Hausmeisterin zu entkommen. Es ist jetzt meine Aufgabe, jeden Monat bei ihr den Zins abzuliefern.«
Nun sahen sie zu, dass sie mit ihrer Arbeit fertig wurden. Schon bald drehte Karl an den Skalenscheiben, mit denen man die Funktion des Rheostats, der Kondensatoren und des Variometers graduell regulieren konnte. Und mit einem Mal war das Zimmer erfüllt von der Musik eines ganzen Orchesters, und das alles kam aus diesem Gerät!
Wie Kinder freuten sich die beiden jungen Menschen über das Werk ihrer Hände. Vor allem die musikbegeisterte Martha, die bisher leider nicht oft Gelegenheit gehabt hatte, gute Musik zu hören, war hingerissen. Es ist leicht, Angehörigen der besitzlosen Klasse eine Freude zu bereiten.
»Aber jetzt verlang ich eine Belohnung«, sagte Karl, als die Radiosendung Pause machte, »und ich will sie sofort!«
»Die sollst du haben!« Hingebungsvoll bot Martha ihre Lippen dar, denen Karl einen feurigen Kuss entriss.
»Na, ihr amüsiert euch ja prächtig!«, war im selben Moment Mutter Groners Stimme zu vernehmen. Ihr Eintreten war unbemerkt geblieben, weil die Liebenden in ihrer Seligkeit das Öffnen der Wohnungstür und die Schritte durch die dunkle Küche überhört hatten.
»Das war ein Honorar, Mamsch, das ich dem Karl schuldig war. Er hat sichs aber wirklich verdient«, erklärte Martha, ein wenig errötend. »Schau, was er für dich gemacht hat!«
Sie wollte eben auf den Radioapparat zeigen, aber in diesem Moment begann die Musikübertragung von neuem und das Gerät zog ganz von selbst die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich.
»Zum Zeitvertreib«, sagte Karl, »wenn Sie allein zu Haus sind.«
»Na, ihr seid so lieb! Und ich sag euch noch was: Jetzt müsst ihr nicht mehr mit mir in der engen Wohnung hocken! Draußen lacht der Frühling! Gleich morgen macht ihr einen Ausflug, wenn das Wetter so schön ist wie heut. Die Martha braucht dringend frische Luft. Ich würd auch gern mitkommen, wenn ich an den Beinen nicht so bedient wär mit dem Rheumatismus. Das Heimgehen war für mich jetzt schon sehr anstrengend.«
Martha und Karl protestierten anfangs dagegen, die Mutter alleine zu Hause zu lassen. Aber schließlich fügten sie sich gerne und begannen voll Begeisterung, eine Route für ihre Wanderung zu planen.
Beim Abendessen mit seiner Familie war Karl so sehr von Gedanken an den bevorstehenden Ausflug vereinnahmt, dass er die außergewöhnlich beklemmende Stimmung, die über der Tischrunde hing, gar nicht wahrnahm.
Unvermittelt brach er das Schweigen und sagte freudig erregt: »Morgen mach ich einen Sonntagsausflug in den Wald. Kann mich bitte wer um fünf wecken? Ich zieh mich auch ganz leise an und werd niemanden stören.«
»Kauf dir lieber eine Zeitung und studier die Stellenanzeigen!«, schnalzte Anna in scharfem Ton.
Verdutzt blickte Karl in die Runde. Erst jetzt fiel ihm das verzagte Gesicht des Vaters auf, in dessen Zügen Schmerz und Sorge zu lesen waren. Auch bemerkte er jetzt die roten, verweinten Augen der Mutter und den ungewohnten Ernst in Antons Miene.
»Was ist passiert?«
»Jetzt hat der Vater auch noch seinen Posten verloren«, antwortete Anton düster.
Schweigen. Langes, drückendes Schweigen. Man hörte nur noch die unvermeidlichen Geräusche des Suppe-Essens: das Klimpern der Löffel und das Schlürfen der Münder.
Jetzt war die gesamte Familie brotlos. Erna und ihr Mann gehörten gewissermaßen nicht mehr dazu. Sie hatten vom Magistrat endlich eine Wohnung bekommen.
»Ja, Kinder«, fing der Vater gebrochen an, »es kommen schwere Zeiten auf uns zu! Fast fünfundvierzig Jahre hab ich mit meinen Händen hart geschuftet, und jetzt kann ich untätig herumziehen und verhungern. Undankbare Welt! Ich hab seit dem Tod meiner Mutter nie mehr geweint. Das war vor vierzig Jahren, aber heute hab ich die Tränen nicht zurückhalten können, als ich von meiner Kündigung erfahren hab. Wenn euch junge Leut schon keiner braucht – ich Alter, halb Ausgemergelter, bin vollkommen überflüssig in dieser Welt.«
»Kränk dich nicht so, Vater!«, versuchte Karl zu trösten. »Gleich werden wir nicht verhungern. Du kriegst ja Unterstützung von der Arbeitslosenversicherung und als langjähriges Mitglied auch von der Gewerkschaft. Die Zeiten müssen schließlich einmal besser werden! Und ich werd mich ab jetzt doppelt um Arbeit bemühen.«
»Ausgerechnet du!«, rief Anna spöttisch. »Du bist in deiner Verliebtheit nicht zu gebrauchen, und du sitzt viel zu viel über deinen Büchern. Und wenn du wirklich Arbeit findest, denkst sicher nicht an uns, sondern wirst deinen Augenstern heiraten wollen.«
Karl errötete. Anna hatte seine längst gehegten geheimen Absichten herausposaunt. Und doch protestierte er: »Na sicher werd ich euch nicht vergessen. Auch wenn ich heirate, werd ich immer schauen, dass ich wenigstens einen Teil meiner Schuld bei euch abbezahl.«
»Geh, Karl, plausch nicht!«, wieherte Anna auf. »Als hättest du mit dir und deiner Familie nicht genug zu tun, wenn du heiratest.«
»Lasst bitte wenigstens heut das ewige Streiten! Mein Kopf platzt jeden Moment, und ich bin nicht gewillt, mir eure Blödheiten noch länger anzuhören.« Mutter Webers Tonfall war trotz des müden Klangs ihrer Stimme gebieterisch.
Das Abendessen – Gemüsesuppe mit Erdäpfeln und Butter – war beendet und die Familie zerstreute sich. Die Männer gingen ins Zimmer, die Frauen brachten die Küche in Ordnung und spülten das schmutzige Geschirr. Gesprochen wurde kaum mehr. Der Vater las Zeitung, Anton blickte durch das offene Fenster auf die dunkle Straße, von der das übermütige Geschrei der immer noch spielenden Arbeiterkinder heraufschallte, und Karl war mit Vorbereitungen auf die bevorstehende Wanderung beschäftigt.
Als die Familie schließlich zu Bett ging, sagte der Vater zu Karl: »Mach du nur deinen Ausflug morgen! Ich weck dich!«
Und seine Stimme klang ungewöhnlich mild und freundlich.
Ein herrlicher Maitag brach an. Strahlend präsentierte sich die Feuerscheibe der Sonne über dem östlichen Horizont und spendete der ganzen Region Licht und angenehme Wärme. Auf Gräsern, Blumen und Blättern glänzten Tautropfen wie kleine Opale. Die Luft war erfüllt von vielfältigem Piepsen, Zirpen und Summen.
Tief berührt von dem herrlichen Schauspiel des Sonnenaufgangs, von der Schönheit der Natur im Glanz des jungen Tages und vom Glück, das zwei Menschen empfinden, die den Genuss der Liebe teilen und ihres Lebens froh sind, marschierten Martha und Karl einen Steig bergan in den grünen Wald. Außer ihnen waren zahlreiche andere Wanderer einzeln oder in Gruppen auf Straßen, Wegen und Trampelpfaden ausgeschwärmt, sich an Wiesen und Feldern, Hügeln und Tälern ergötzend. Immer wieder wurde das Trillern, Piepsen, Zirpen, Summen und Krähen von Gelächter und lärmenden Stimmen übertönt. Karl und Martha nahmen das als Störung wahr, weil sie darin eine Entheiligung dieses feierlichen Morgens sahen. Sie suchten einen weniger begangenen Weg, um Abstand zwischen sich und die anderen Ausflügler zu bringen.
»Ich bin heuer zum ersten Mal aus der Stadt draußen«, sagte Karl nach langem Schweigen.
»Ich auch«, gab Martha zurück. »Wir müssen unbedingt meine Mamsch einmal mitnehmen. Sie liebt die Natur! Trotzdem hat sie schon seit Jahren keinen Wald und keine Wiese mehr gesehen. Vielleicht hat mein Vater wirklich nichts dafür können, aber in den letzten Jahren hat er keinen Sinn mehr gehabt für das Schöne im Leben.«
Der Weg wurde allmählich steiler, und die Sonne sandte ihre Strahlen immer gleißender vom wolkenlosen Himmel. So kamen die beiden Wanderer bald ins Schwitzen, vor allem Karl, der den großen Rucksack schleppte. Aber schon hieß sie ein naher Wald mit seinen Schatten spendenden Baumkronen willkommen.
Am Waldrand blieben Karl und Martha stehen, drehten sich um und genossen mit freudestrahlenden Augen die Aussicht auf die ausgedehnte Landschaft. Ihre Blicke sprangen von Hügel zu Hügel und glitten dann langsam von den nahe gelegenen Gehöften und kleinen Siedlungen in die Ferne, wo einzelne Gebäude und selbst ganze Dörfer zwergenhaft erschienen, bis hin zu den ausgefransten Rändern der Großstadt. Sie berauschten sich am Anblick des unermesslichen Grüns, das die gesamte Gegend mit vielfältigsten Nuancen überzog, durchschnitten von den weißen Linien der Straßen und Wege und zwischendurch belebt von eingestreuten Häusern und kleinen Ortschaften. So blieben sie, eng aneinander geschmiegt, lange stehen.
»Sollten wir da nicht ein bissl rasten?«, fragte Martha schließlich.
»In Ordnung. Aber im Schatten! Und essen wär jetzt auch nicht schlecht«, meinte Karl, den die frische Morgenluft und das Gehen hungrig gemacht hatte.
Aber die Ruhepause dauerte nicht lange. Die noch nicht gestillte Wanderlust trieb sie weiter. Ein solcher Spaziergang durch den Wald verzaubert frisch Verliebte auf eine ganz besondere, kaum erklärbare Weise, vor allem, wenn sie zum ersten Mal – und dann noch bei herrlichem Wetter – gemeinsam unterwegs sind.
Das Paar lauschte den Gesängen der Vögel und dem Rauschen der Blätter, imitierte den Ruf des Kuckucks und spielte Fangen. Karl, leichtfüßig trotz des schweren Rucksacks, lief suchend umher, während Martha sich im dichten Buschwerk verbarg. Bald bewarfen sie einander mit Tannenzapfen, bald balgten sie sich in scheinbarem Ringkampf inmitten des abgefallenen Laubs auf dem Waldboden. Derart übermütig und ausgelassen erreichten sie die Hügelkuppe.
Bei all diesem Spaß war neben harmloser Fröhlichkeit und unschuldigem Vergnügen durchaus noch etwas anderes im Spiel. Erwachende Triebe eroberten im Unterbewusstsein der beiden jungen Leute immer mehr Raum, und die Anziehung des anderen Geschlechts würzte ihr Geplänkel mit einem erregenden Kitzel.
Auf der Anhöhe folgten sie einem Pfad entlang des Grats. Der von Fichten und Föhren durchsetzte Laubwald wich hier dürftigerem Baumbestand, in dem Nadelhölzer – vor allem Kiefern – überwogen. Nach einiger Zeit führte sie der Weg erneut abwärts. Mit einem Satz sprang Karl, der eben noch vor seiner Liebsten gegangen war, auf die Seite und verschwand im Dickicht hinter Sträuchern und jungen Kiefern.
Bald darauf tauchte er wieder auf und rief: »Martha, komm! Hier ist es gemütlich, grad richtig zum Ausruhen. Ein freier Platz mitten im dichtesten Gebüsch – schattig und trotzdem wunderschön!«
Er nahm ihre Hand und zog sie durch eine schmale Öffnung im Gesträuch hinter sich her. Beiden steckte schon die Müdigkeit in den Gliedern, vor allem Martha, die so langes Marschieren auf holprigen Wegen nicht gewohnt war. Nachdem Karl eine Decke auf der Erde ausgebreitet hatte, ließen sie sich mit einem freudigen Seufzer darauf nieder.
Sie aßen Brot mit billiger Wurst, Marthas selbst gebackenen Kuchen und Äpfel. Danach tranken sie aus einer Blechbüchse etwas kalten Tee. Sie teilten alles, von jedem noch so kleinen Rest kosteten beide und jeder bemühte sich, dem anderen das bessere Stück zu überlassen und es ihm in den Mund zu schieben. Und dieses einfache Essen war köstlicher als jedes noch so aufwändige Mahl.
»Und jetzt lies mir was vor. Hast wieder was Neues geschrieben?«, verlangte Martha, nachdem sie sich gestärkt hatten. »Ich hab gesehen, du hast ein Heft eingesteckt.«
Karl gab ihr einen flüchtigen Kuss und entnahm dem Rucksack sein Notizbuch. Und schon trug er mit seiner angenehmen, ausdrucksvollen Stimme Gedichte vor, die von Liebessehnsucht, schicksalhafter Verbundenheit und von einem hungernden Mädchen handelten, das eine wohlhabende Dame vergeblich um ein Stück Brot bittet und dieser unmenschlich geizigen Frau dennoch das Leben rettet. Er las eine »Hymne an das Schweigen« und die tiefsinnige Geschichte über einen Knaben, der sein Lieblingsspielzeug verliert und darüber so traurig ist, dass er auch durch neue, schönere Dinge nicht getröstet werden kann. Noch nach Jahren weckt die Erinnerung an das alte, verlorene Spielzeug sentimentalen Schmerz. Als man es schließlich doch wiederfindet und dem Jungen in die Hand gibt, wundert der sich darüber, dass er den Verlust einer solchen Lappalie je hatte betrauern können.
Dann schwiegen beide. Ein einsamer Kuckucksruf war aus der Tiefe des Waldes zu hören. Von Zeit zu Zeit summte ein umherirrendes Insekt vorbei, und manchmal drangen Stimmen ferner Wanderer an ihr Ohr. Karl legte das Notizbuch beiseite und umfasste mit der Rechten Marthas Taille. Martha, die beim Zuhören in traurig-schönen Bildern versunken war, schlang einen Arm um seinen Hals und legte den Kopf auf seine Brust. Schweigend saßen sie lange so da.
»Karl«, flüsterte Martha plötzlich, »ich bin so glücklich, dass ich dich hab!«
»Meine liebe, teure Martha!« Karl drückte sie fester an sich. »Du bist mein Ein und Alles!«
Und sie begannen, sich ihre gemeinsame Zukunft in hellen Farben und mit Worten voller Hoffnung auszumalen: Wie sie vorhatten, sich gegenseitig das Leben zu versüßen, wie sie sich ein bescheidenes, aber schönstmögliches und gemütliches Nest bauen würden und wie sie versuchen wollten, immer den Gleichklang zu bewahren und nie ein böses Wort füreinander zu haben. Niemand wäre Herr und niemand wäre Knecht, ihre Beziehung ein frei gewähltes Zusammenleben gleichberechtigter Partner.
»Und wenn wir Kinder haben«, sagte Martha, »dann – gell, Karl – dann schlagen wir sie nicht, sicher nicht! Und wir schimpfen sie nicht so grob, wie es viele bei der Erziehung machen.«
»Freilich, Martha. Ich hab das schon immer ausgesprochen feig gefunden, wenn Erwachsene sich an den wehrlosen Kleinen vergreifen. Außerdem sind die eh so leicht zu lenken, wenn sie Zuwendung und Liebe spüren.«
»Ein Kind erziehen, muss was Schönes sein, weil man selber wieder irgendwie zum Kind wird! Und es verbindet die Eltern noch einmal, und es gibt dem Leben einen echten Inhalt und ein Ziel. Dabei bedeutet für viele Menschen ein Kind nur Arbeit und Belastung. Aber für uns wird’s ein Grund sein, dass wir uns miteinander freuen! Sogar den Sorgen und Entbehrungen, die wir vielleicht deswegen haben, werden wir schöne Seiten abgewinnen, und es wird uns noch mehr zusammenschweißen.«
Martha bedachte in diesem Augenblick freilich nicht die schrecklichen Lebensbedingungen, mit denen die gegenwärtige – ach so schöne – gesellschaftliche »Ordnung« viele Eltern und Kinder konfrontierte und die im Volk weit verbreitete Geringschätzung von Bildung und Wissen, die zu den schlechten Beziehungen innerhalb der Familien beitrug. Kinder waren allzu oft unerwünscht wegen der erbärmlichen Umstände, in denen zu leben die Eltern gezwungen waren. Aber weder Martha noch Karl dachten in dieser Stunde an die raue Wirklichkeit. Sie hatten die Arbeitslosigkeit und das Elend verdrängt, und wenn sie doch einmal daran dachten, dann wirkte das alles so fern und unwirklich und schien kein echtes Hindernis darzustellen für ihre Liebe und ihr Streben nach Glück.
An diesem Tag, in diesen wenigen Stunden, ließen die beiden ihren trostlosen, von Mangel und Not geprägten Alltag vollständig hinter sich und genossen den Augenblick der Seligkeit und den Traum von ihrer strahlenden Zukunft.
Die Zeit verging und der Abend kam. Die tief stehende Sonne sandte nur noch vereinzelte Strahlen zwischen den Stämmen der Bäume und Sträucher hindurch zu den Liebenden. Diese waren einander nach und nach näher gekommen, versanken mitunter in wortlose Träumereien und vergaßen die große Welt immer mehr, die irgendwo, fernab von ihnen, lärmte und sich weiterdrehte mit ihren kleinen und großen Schmerzen, Ungerechtigkeiten und Banalitäten. Schon wurde es dunkel um Martha und Karl, die sich immer noch eng umschlungen in ihrer Zuflucht verbargen.
Ihre Münder flüsterten schmeichelnde und kosende Worte, tauschten Liebesschwüre aus und bekräftigten diese mit heißen Küssen. Dazwischen herrschte oft über längere Zeit Stille, während der sie gegenseitig dem Pochen ihrer Herzen lauschten. Unterdrückte, kaum beherrschbare Leidenschaft ließ ihren Atem schwer werden und die Nähe des jeweils anderen verwirrte ihre Sinne. Begierig sog Karl die Wohlgerüche des weiblichen Körpers ein. Sehnsucht, ein neuartiges Verlangen und eine unerklärliche Angst ließen Martha erschauern.
»Karl!«, flehte sie flüsternd. »Wir sollten jetzt gehen!«
»Nein Martha! Noch nicht! Zwei liebende Herzen, weit weg von all den anderen Menschen – ist das nicht wunderschön?«
»Karl! Mir ist ein bissl bang! Ich weiß nicht …«
»Wovor fürchtest dich, Schatz?« Und nach einem tiefen Seufzer setzte er nach: »Martha, ich kann nicht weggehen, bevor wir uns nicht vollständig gehören!«
»Nein, Liebling! Nicht vor der Hochzeit! Und schon gar nicht da, es könnt ja wer kommen!«, widersprach Martha schwach.
Karl blieb beharrlich. »Martha, meine Angebetete«, drang er in sie, »jetzt zeig mir, dass du mich gern hast! Du brauchst keine Angst haben, hierher verirrt sich niemand. Außerdem würden wir den schon lang vorher hören.«
Mit diesen Worten zog er sie an sich und küsste sie auf ihren Mund mit einer Leidenschaft, deren Glut ihr Blut derart erhitzte, dass sich durch die heftige Erregung in ihren bebenden Atem seufzende Laute mischten. Karl, berauscht vom brennenden Wunsch sie zu besitzen, war sich plötzlich seiner Worte so sicher wie nie zuvor und brach mit der unüberwindlichen Kraft der Überzeugung ihren Widerstand, sodass sie sich schließlich hingab.
Den Heimweg legte das junge Paar überwiegend in Stille zurück, beider Brust erfüllt von diesem großen Ereignis, ihre Mienen getragen von feierlichem Ernst.
Der Abend dieses wunderbaren Sonntags hielt für Karl schließlich noch Schmerzliches bereit. Müde hatte er sich bald von seiner noch erschöpfteren Geliebten und deren Mutter verabschiedet. Gerade als er vom ersten Stock in den zweiten stieg, waren Schreie des Entsetzens, aufgeregte Stimmen und hektisches Wirrwarr zu vernehmen. Türen fielen krachend ins Schloss, hysterisches Kreischen erschallte.
Karl beschleunigte seine Schritte die Stufen aufwärts. Frauen, Männer und Kinder hatten ein Ziel: das oberste Geschoß. Auf der schmalen Treppe herrschte reges Gedränge.
Karl erblickte seinen Vater und rief ihn an: »Warum rennen die alle so – und wohin?«
»Ein Unglück ist geschehen!«, antwortete der und lief weiter.
Karl folgte ihm, einem Impuls der Neugier gehorchend. Im vierten Stock angekommen, konnte er zunächst weder selbst etwas erkennen noch auf anderem Wege das Geringste in Erfahrung bringen. Eine dichte Menschenmenge drängte sich im hinteren Teil des Ganges zusammen. Schreien, Stoßen, Nachfragen. Es roch nach Leuchtgas. Immer noch strömten die Menschen aus den unteren Etagen herauf. Bald war Karl völlig eingekesselt. Jetzt schämte er sich, blind seiner Sensationslust gefolgt zu sein.
Da erschien der Kugelkopf der Hausmeisterin. Mit ihrer Autorität bahnte sie sich einen Weg durch das Menschengewimmel. Und schließlich erfuhr auch Karl den Grund der allgemeinen Aufregung.
In Wohnung Nummer 53 lebte bei Familie Capka ein alter Arbeiter, Peter Müller, als Untermieter. Am Samstag war er gleichzeitig mit Karls Vater aus der Fabrik entlassen worden. Der alleinstehende Alte hasste und fürchtete das Elend der Arbeitslosigkeit so sehr, dass er sich das Leben genommen hatte. Er hatte auf einen Moment gewartet, in dem die Familie außer Haus und er alleine in der Wohnung war. Die Capkas fanden ihn später tot neben seinem Sessel. Die Wohnung war voll des giftigen Gases, alle Ritzen an der Tür und den Fenstern waren sorgfältig verstopft worden.
Niedergeschlagen ging Karl in seine Wohnung. Auch seine Angehörigen, die alle in den vierten Stock gelaufen waren, kamen bald erhitzt und tief betroffen zurück.
Das Gesicht des Vaters zeigte schmerzliche Trauer und seine Stimme zitterte merklich, als er sagte: »Der arme Kerl! So viele Jahre waren wir Arbeitskollegen. So ein End hat er sich nicht verdient. Ein ganzes Leben schuftet man und verbraucht seine ganze Kraft, und dann sind es nur der Strick oder das Gas, die einen vor Elend und Hunger bewahren. Es ist eine furchtbare Welt!«
Die schönen Bilder des Tages verblassten in Karls Erinnerung, und wieder erschien ihm alles trostlos und deprimierend. Der gnadenlose graue Alltag lag ihm schwer auf der Brust. Ein Rundblick durch die enge Wohnung mit den schäbigen Möbeln, die auch das letzte bisschen freien Raum beanspruchten, schmerzte ihn. Allerhand Gewand hing auf Haken an den Wänden, weil der einzige Kasten zu klein und für einen weiteren kein Platz war. Den nahmen größtenteils die zwei riesigen Bettgestelle ein, deren eines den Eltern, das andere ihm und seinem Bruder gehörte. Anna schlief auf einer faltbaren Liege, die untertags in einer Ecke stand. In einem anderen Winkel befand sich ein weiteres Klappbett, das früher Erna und Heinrich als Ruheplatz gedient hatte. An einer Wand, die stumm, aber deutlich nach frischem Anstrich schrie, hingen ein blinder Spiegel und einige Bilder, von denen eines die Eltern in jungen Jahren zeigte, während auf den anderen verschiedene Heilige zu sehen waren. Als Karl ein kleiner Bub gewesen war, hatte die Mutter jeden Abend gemeinsam mit den Kindern vor diesen Bildern zu Gott und den Heiligen gebetet. Aber im ausweglosen Elend war vor langem schon die fruchtlose Frömmigkeit der Familie erfroren.
»Diese Hunde!« Jäh unterbrach Antons laute, angriffslustige Stimme Karls düstere Gedanken. »Habt ihr das heut in der Zeitung gelesen, dass in Amerika Getreide vernichtet wird? Mit Weizen werden dort Schweine gefüttert und Lokomotiven geheizt, weil sonst wegen der Überproduktion die Preise fallen würden! Und bei uns sind letzte Woche Brot und Mehl teurer geworden!«
»In Amerika hungern ja auch Millionen! Das hab ich vor ein paar Tagen gelesen«, brachte sich Anna aus der Küche ein, deren Türe wie üblich offen stand.
»Zerstückeln sollte man diese Gauner, die in Zeiten wie diesen mit vollgefressenen Bäuchen aus Profitgier Lebensmittel vernichten!«, rief die Mutter aufgeregt.
»Was für ein herrliches Dasein«, murrte der Vater. »Die Fruchtbarkeit der Erde ist für manche Leut ein Unsegen, und mitten im größten Überfluss fehlt vielen Menschen das Allernotwendigste! Ehrlich, das Leben ist nimmer lebenswert. Ich beneid den alten Müller. Der hat’s hinter sich, der ist draußen aus der Irrenanstalt, die man Welt nennt.«
Karl schüttelte geistesabwesend den Kopf. Nein, sterben wollte er trotz allem ganz sicher nicht! Er hatte ja seine Martha, und es warteten im Leben noch viele glückliche Stunden auf ihn. Für immer konnten die Umstände nicht so schlimm bleiben. Er interessierte sich genauso wenig für Politik wie der Großteil der Arbeiter, die in indolenter Resignation ihr freudloses Dasein ertrugen. Aber er hatte dennoch vom Kampf der Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung durch das Kapital gehört, über die sozialistische Bewegung, die eine Veränderung der Welt anstrebte, und er hegte die vage Hoffnung, dass irgendetwas passieren könnte, was dem herrschenden Elend ein Ende setzte.
Er malte sich die Zukunft nun wieder schöner aus. Er dachte an das eheliche Zusammenleben mit seiner Angebeteten und an die Freuden als Vater von geliebten Kindern, die einst um ihn herumtollen würden. Unter ihren Liebkosungen würde sich seine Müdigkeit verflüchtigen, wenn er von einem anstrengenden Arbeitstag heimkäme. Er sah sich in einer hellen, einfachen, aber gemütlich eingerichteten Wohnung in einem der modernen Bauten, wie sie die Gemeinde Wien laufend errichtete. Im Kreise seiner Familie würde er jeden Sonntag Ausflüge machen und die Schönheit der Natur genießen, im Sommer wandern, im Winter Skifahren oder auf dem weichen Schnee rodeln gehen. Tiefes Mitleid mit seinen Eltern und Geschwistern, deren trostloses, sorgenvolles Alltagsgrau nicht durch solch heilsame Hoffnungen erhellt wurde, überkam ihn. Und er verspürte den lebhaften Drang, ihnen etwas Aufmunterndes, etwas Tröstliches zu sagen, aber so sehr er auch nach passenden Worten suchte – er fand keine und blieb still.