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Die Tage verstrichen einer wie der andere bei Familie Weber: freudlos und eintönig. Draußen zog der Frühling vorbei, mit blauem Himmel und dann und wann mit Leben spendendem Regen, der aber, wenn er in langen, nassen Schnüren vom Himmel fiel, alles noch trister und farbloser erscheinen ließ. Herr Weber war immer wieder auf Arbeitsämtern anzutreffen, wo er ehrenamtlich in der Gewerkschaftssektion mithalf und Beitragsmarken klebte. Hin und wieder spazierte er durch die Straßen, plauderte mit ebenfalls arbeitslosen Freunden und ehemaligen Kollegen, oder er fuhr mit der Tramway zum Stadtrand, von wo er zu Fuß in den Wald ging, um seiner neuen Leidenschaft zu frönen: dem Schwammerlsuchen. Dabei lief er trotz seines Alters so rastlos zwischen den Bäumen bergauf und bergab, dass sich nur selten jemand fand, ihn zu begleiten.

Die meiste Zeit saß er aber zu Hause, wo er ein aus der Bezirks-Arbeiterbibliothek geliehenes Buch nach dem anderen verschlang. Und jeden Morgen studierte er sorgfältig die Zeitung, neben den Nachrichten auch die Stellenangebote, deren es leider nur wenige gab – die Annoncen von Arbeitssuchenden waren deutlich in der Mehrzahl.

Er war nie ein Freund vieler Worte gewesen, aber seit seiner Entlassung zeigte er sich überaus schweigsam. Er sprach selten und dann nur über den schlimmsten Schicksalsschlag seines Lebens: die Arbeitslosigkeit. Nachts redete er oft im Traum und gestikulierte wild mit den Armen, zum Leidwesen seiner Frau, die neben ihm im gemeinsamen Bett lag. Sein Kummer verfolgte ihn mit höhnenden Albträumen bis in den Schlaf. Einmal stand er bei seinen geliebten Maschinen, die ihm allerdings entglitten, sobald er sie zu berühren versuchte. Schließlich flohen sie vor ihm in wildem Galopp. Ein andermal war er im Laufschritt zu seinem Arbeitsplatz unterwegs, der aber unauffindbar blieb. Er rannte durch alle Straßen, sah die gewaltigen Schlote der Fabrik in der Ferne, konnte sie jedoch nicht erreichen, welche Richtung auch immer er einschlug. Wenn er dann morgens schweißgebadet aus solcher Pein erwachte – der alte Wecker in seinem Kopf, der ihn Tag für Tag pünktlich um halb sechs aus dem Bett gerufen hatte, funktionierte noch einwandfrei –, stand er sofort auf, wusch sich und schlüpfte in sein Gewand, als würde er sich zum Weggehen fertig machen. Doch dann setzte er sich für gewöhnlich ans Fenster und beobachtete die Frauen und Männer, die auf ihrem Weg zur Arbeit unten an ihm vorbeiliefen.

Hin und wieder fragte jemand: »Geh, Vaterl, warum bleibst nicht im Bett? Wozu stehst so zeitig auf?«

»Ich kann nimmer liegen«, gab er dann meist zurück. »Ich hab das vierzig Jahre so gemacht und kann jetzt nicht anders.«

Seine Frau versuchte bald im Guten, bald im Bösen, ihn von dieser Gewohnheit abzubringen. Anton verwünschte ihn jedes Mal halblaut, wenn er von unnötigen Geräuschen geweckt wurde, und Anna murmelte etwas von Rücksichtslosigkeit und Kaprizen eines alten Dickschädels, wenn er viel zu früh am Morgen an ihrer Klappliege anstieß. Einzig Karl blieb ruhig. Sein Herz zog sich in bitterem Schmerz zusammen, wenn er sah, wie sehr der Vater litt.

Arbeitslosigkeit wirkt sich auch auf Körper und Geist eines jungen Menschen fatal aus, bei einem älteren jedoch beschleunigt sie den Prozess des Niedergangs. Der alte Weber verfiel zusehends. Es war erschütternd zu beobachten, wie dieser kräftige Arbeitsmann mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck oft gedankenverloren dasaß und mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, nicht wissend, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Dabei starrte er mit gequälter Miene vor sich hin, während sich in seinen dunklen Augen eine verzweifelte Frage spiegelte. Nach Wochen erfolgloser Stellensuche war er schließlich überzeugt, nie wieder Arbeit zu finden und zu ungewollter Untätigkeit verdammt zu sein. Wenn er so den Untergang der ganzen Familie bis hin zum Verlust der Wohnung in Riesenschritten auf sich zukommen sah, sanken die dichten Brauen über seinen großen Augen zusammen, seine erschlaffenden Gesichtszüge fielen in Falten und sein ganzes Auftreten wirkte müde und kraftlos. Viele seiner Leidensgenossen suchten erbärmlichen Trost im Suff, aber das wollte der alte Weber nicht. Sein Vater war seinerzeit wegen Alkoholismus und daraus erwachsender Exzesse der Schrecken der Familie gewesen, und der Sohn hatte sich schon früh geschworen, das Gift namens Alkohol zu meiden. Es kommt häufig vor, dass Kinder von Säufern – so sie nicht an ihren Lebensumständen und den erlittenen Schlägen zerbrechen – Rauschmitteln konsequent aus dem Wege gehen.

Anton war trotz seiner grobschlächtigen und ungeschliffenen Art in Wahrheit weder dumm noch skrupellos. Oft fühlte er Unbehagen ob seiner moralischen Unzulänglichkeit und beneidete Menschen wie seinen Bruder Karl oder seinen Schwager Heinrich. Stets aufs Neue bedrückte ihn die Inhaltsleere seiner Existenz, und mehrmals schon hatte er sich entschlossen, ganz von vorne zu beginnen, dem die Lebensenergie aussaugenden Alkohol abzuschwören, nicht mehr mit Kartenspiel sinnlos die Zeit totzuschlagen und Geld zu sparen, um es für nützliche Dinge wie Bücher oder Ausflüge zu verwenden.

In diesen einsichtigen Phasen war er oft über mehrere Tage hinweg freundlicher und weniger reizbar als sonst, sprach kaum, las viel und machte sich Gedanken über die Welt. Dann mied er seine »guten Freunde«, seine »Spezln«, völlig und sein Zigarettenkonsum halbierte sich. Einmal war es ihm derart ernst damit, sein Leben von Grund auf zu ändern, dass er tatsächlich den Vorsatz fasste, das Rauchen ganz aufzugeben. Allerdings hielten sich diese Zustände nie besonders lange. Gewöhnlich wischte ein plötzliches Ärgernis oder ein zufälliges Zusammentreffen mit seinen Saufkumpanen die guten Vorsätze abrupt vom Tisch. Eventuelle Gewissensbisse beruhigte er, indem er sich einredete, irgendwann in der Zukunft, aber spätestens, sobald er eine dauerhafte Beschäftigung gefunden hätte, einen neuen Anfang suchen und sich über die Realisierung seiner bescheidenen, doch ambitionierten Pläne Gedanken machen zu wollen.

Seine Angehörigen wussten wenig über sein Innenleben. Sie nahmen ihn so, wie er sich für gewöhnlich gab, und wenn er seine »guten Tage« hatte, schrieb man die Veränderung einer Krankheit oder einer Depression zu.

Auch er empfand die Arbeitslosigkeit als drückend, vor allem, weil er sich ihretwegen kaum Vergnügungen leisten konnte. Zudem verdammte sie ihn zu ziellosem Nichtstun und hielt ihn in Abhängigkeit von anderen. In seinem schönsten Zukunftstraum sah er sich als Besitzer eines Geschäfts oder einer Werkstatt, kurz: als selbstständiger Unternehmer in bescheidenem Rahmen. Doch dieses Ziel durch eigener Hände Arbeit zu erreichen, war ihm schon als ein zu langwieriges, wenn nicht gar aussichtsloses Unterfangen erschienen, als er noch ein regelrechtes Einkommen gehabt hatte. Für einen Arbeitslosen war das nicht zu machen. Daher zerbrach er sich den Kopf, wie er mit einem Schlag reich werden könnte. Kein Wunder, dass er, der immer schon beachtliche Summen von seinem Verdienst für Lotto und Glücksspiele abgezweigt hatte, selbst jetzt noch einen Teil seines Arbeitslosengeldes dafür ausgab. Ein nennenswerter Gewinn stellte sich allerdings nie ein.

Eines Morgens brachte der Briefträger ein Schreiben. Es enthielt die Mitteilung, dass Antons Antrag auf Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung wegen Überziehung der Anspruchsfrist abgelehnt worden war.

Zunächst wusste er nicht, wie er es den anderen beibringen sollte, aber nach einiger Zeit sorgenvollen Grübelns überreichte er den Brief wortlos seiner Mutter. Diese las, was sie in Händen hielt, langsam, beinahe Buchstaben für Buchstaben. Als sie verstand, ließ sie mit einem Aufschrei des Entsetzens das Papier fallen. Die Hände über den Kopf zusammenschlagend rief sie: »Großer Gott! Jetzt können wir wirklich verhungern! Das hat uns noch gefehlt!«

Turmstraße 4

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