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Einleitung – Altern ist alt und neu zugleich
ОглавлениеAltern ist alt und neu zugleich. Altern ist alt, weil Menschen nach dem heutigen Stand geschichtlicher Homo sapiens Forschung nicht nur seit mehr als 300.000 Jahren existieren und wie alle anderen Lebewesen von Anfang an einem Alterungsprozess unterliegen, an dessen Ende bis heute (fast) ausnahmslos der Tod steht (Callaway, 2017). Altern ist gleichzeitig neu, weil das heutige Altern phänotypisch gesehen wohl ein deutlich anderes Altern darstellt, als jemals zuvor und zwar nach Quantität und Qualität.
Die älteren Menschen selbst sind eine besonders heterogene Gruppe geworden. Einige markante Beispiele: Arme Ältere sind derzeit die am stärksten wachsende Gruppe bei Tafelangeboten in Deutschland. Dabei sind Ältere heute gleichzeitig ganz überwiegend materiell ziemlich gut gestellt, und sie nutzen Urlaubsangebote wie keine Generation vor ihnen. Ältere sind heute ebenso eine deutlich wachsende Gruppe in deutschen Gefängnissen; es befinden sich mehr als 200.000 über 55-Jährige in Haft. Ältere sind in großem Maßstab pflegebedürftig, stellen aber auch neue Rekorde auf: Der Weltrekord im 100m-Lauf für 60-jährige Männer liegt derzeit bei 11,7 Sek.; der Weltrekord im 100m-Lauf bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit im Jahre 1896 lag bei 12,0 Sek.!
Aber wo ist eigentlich das »Alter« in unserer Gesellschaft jenseits solch medial gern inszenierter Hoch- und Höchstleistungen? Viele »ältere« Menschen sagen, dass sie sich überhaupt nicht »alt« fühlen. Wann beschreiben wir uns selbst heute als »älter« oder »alt«? Dies hängt in starkem Maße vom Kontext ab: Im Berufsleben sind wir spätestens ab 50 Jahren sogenannte »ältere« Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sind wir mit 65 bis vielleicht 75–80 Jahren in der nachberuflichen Phase – diese Lebensphase wird heute in der Alternsforschung (Gerontologie) als das Dritte Alter bezeichnet (Laslett, 1995) – wechseln wir häufig die Perspektive: »Alt« sind nun die »anderen Alten«, vor allem die Hochaltrigen, also Menschen im sog. Vierten Alter etwa jenseits von 80 Jahren. Wir fühlen uns im Dritten Alter zwar »älter«, aber bitte nicht »alt«. Erreichen wir das Vierte Alter zögern viele nicht mehr, sich als »alt« zu bezeichnen. Allerdings fühlen sich Menschen selbst im Vierten Alter immer noch deutlich jünger als sie chronologisch sind. Alt sind jetzt »Die im Pflegeheim« oder »Die nicht mehr raus können« oder »Die mit Alzheimer«. Es sieht fast so aus, dass wir heute so alt werden wie nie, aber gleichzeitig so jung wie möglich sterben möchten. Das könnte ein grundsätzlicher Widerspruch des heutigen Älterwerdens, vielleicht sogar der conditio humana der Moderne generell, sein.
Gleichzeitig gibt es eine andere Sicht der Dinge: Das Vierte Alter nimmt quantitativ durch die permanent steigende Lebenserwartung immer mehr zu, die Hochaltrigen sind die am stärksten wachsende Gruppe unserer Bevölkerung. Wir sind demnach auf dem Weg in eine Gesellschaft der »hochaltrig-Gebrechlichen« (im angloamerikanischen Raum ist häufig von »Frailty« die Rede). Durch den weiteren Anstieg der Lebenserwartung haben viele eine letzte Lebensphase vor sich, in der möglicherweise die Würde des menschlichen Lebens gefährdet ist. Man kann sich sehr konkret die Gruppe der ca. 15 Prozent sehr alten Frauen mit sehr geringem Einkommen vor Augen führen, deren Würde schon materiell in Frage steht (Götz, 2019). In Städten wie München, auch wenn dies Extreme sein mögen, könnten es 2035 etwa ein Drittel der über 65-Jährigen sein, der Großteil Frauen.
Die erste Grundthese unseres Buches lautet: Älterwerden zeigt sich heute in vielen Facetten, aber auch in Ambivalenzen, ist wahrscheinlich die vielschichtigste Lebensphase überhaupt. Das wollen wir zeigen. Und dabei auf keinen Fall in Pessimismus verfallen. Es lassen sich, so werden wir argumentieren, durchaus Wege aufzeigen, die Verluste, aber auch die Gewinne des späten Lebens als EINE in sich geschlossene Form in den Fokus zu rücken, und diese nicht durch eine in Drittes und Viertes Alter teilbare Lebensgestalt in ihrer Kontinuität in Frage zu stellen. Eine Lebensgestalt zumal, die in ihrer Anforderung, Würde, Möglichkeit und Begrenzung sich grundsätzlich nicht anders darstellt als andere Lebensphasen.
Die zweite Grundthese dieses Buches schließt sich unmittelbar an: Wir argumentieren, dass die wissenschaftliche Evidenz der aktuellen Alternsforschung hilfreich ist, um den Anforderungen und Widersprüchlichkeiten des heutigen Älterwerdens proaktiv zu begegnen: Zum einen kann der Erwerb von gesichertem und aktuellem Wissen in Bezug auf Alternsprozesse dazu beitragen, die Kontrolle über das eigene Älterwerden zumindest bis zu einem gewissen Grad zu bewahren. Wir verfügen heute über eine Stärke an wissenschaftlicher Evidenz, die uns mehr als jemals zuvor helfen kann, den Prozess des Alterns besser zu verstehen und evidenzgetrieben positiv zu beeinflussen.
Das hat nichts mit »Anti-Aging« zu tun. Es geht uns schlicht um eine allgemeinverständliche Darstellung von neuen Forschungsbefunden und kritischen Blicken auf diese. Nicht alles, was wir an alternswissenschaftlichem Glanz haben, ist Gold, und in Zeiten von »Fake Science« führt die Alternsforschung durchaus kein behütetes Inseldasein jenseits jeder Hinterfragbarkeit. Dennoch: Wir haben dieses Buch geschrieben, weil Alternsforschung aus unserer Sicht insgesamt heute gut aufgestellt ist, aber auch mit anderen Perspektiven vernetzt und kritisch begleitet werden muss. Was wir nicht wollen: vollständig sein oder eine Einführung in die Alternsforschung bieten. Wir konzentrieren uns dabei auf Themenfelder der Alternsforschung, die wir sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich und versorgungsbezogen als zentral erachten.
Das wollen wir in diesem Buch in allgemeinverständlicher Weise versuchen. Dabei haben wir die Zusammensetzung unseres Teams mit Bedacht gewählt: Hans-Werner Wahl ist als Alternspsychologe zwar stolz auf die heute erzielten Befunde der Psychologie des späten Lebens und der Lebensspannenpsychologie, die vor allem das individuelle Altern in den Blick nimmt. Altern ist aber stets gesellschaftlich gerahmt und in Zeiten von »Diversity« wohl sogar als eine der stärksten Audrucksformen von gesellschaftlicher Vielfalt und Heterogenität zu sehen. Da hilft es sehr, eine Diversitätsforscherin, Elisabeth Wacker, als Mitautorin zu haben. Auch laufen Betrachtungen des Älterwerdens immer Gefahr, sich entweder auf die Seite von »gesunden« oder »kranken« Alternsprozessen zu schlagen, oft ohne irgendeine Brücke dazwischen zu bauen. Da ist es von großem Vorteil, Hans Förstl als Arzt im Autorenteam zu haben, der sich mit den Untiefen psychischer und körperlicher Belastungen spät im Leben seit Jahrzehnten in seiner täglichen Arbeit konfrontiert sieht. Und das alles vor dem Hintergrund einer neuen Generation von älteren Menschen, die nicht zuletzt und trotz aller Diversität eines gemeinsam haben: eine höhere Bildung und das Bedürfnis, diese im Alter zu erhalten und auszubauen. Die historisch gesehen auf das frühe Lebensalter und privilegierte Gruppen beschränkte Schulbildung hat sich heute auf breite Schichten und das ganze Leben ausgedehnt. Die Schulbank ist gerade spät im Leben noch nie so intensiv von Älteren gedrückt worden. Da ist es sehr hilfreich, wenn eine Bildungswissenschaftlerin mit gerontologischem Schwerpunkt, Ines Himmelsbach, ihre Fachkenntnisse einbringt. Zudem hat glücklicherweise kein Geringerer als der römische Konsul und Dichter Cicero unsere Einladung angenommen, jedes Kapitel mit einem Zitat aus seinem Büchlein »Cato der Ältere über das Greisenalter«, veröffentlicht im Jahre 44 v. Chr., einzuleiten.1 Wir bieten zudem Anregungen zum Umgang mit zentralen Fragen des heutigen Älterwerdens an.
So lädt die dritte Grundthese dieses Buches ein, gut informiert, gerne auch durch dieses Buch angeregt, über das eigene Älterwerden nachzudenken, über die großen Chancen, die sich somit ausschöpfen lassen sowie über die anspruchsvollen Anforderungen, denen man zugleich beherzt gegenübertreten kann.
Dabei geht es uns vor allem darum, Differenzierungen in die oftmals einseitig geführten Diskussionen zum Älterwerden in unserer Gesellschaft zu bringen. Bisweilen findet man nämlich meist einen Belastungsdiskurs. Danach kommt Altern die Gesellschaft teuer zu stehen, ja Altern wird sie mittel- und langfristig überfordern, wenn wir uns nicht zu signifikanten Einschnitten durchringen können. Oft gebrauchte Begrifflichkeiten in diesem Zusammenhang sind »Überalterte Gesellschaft«, »Demografiefalle«, »Rentnerschwemme« oder »Rentner-Tsunami«. Bisweilen finden wir, genauso einseitig, einen »Alles ist easy«-Diskurs zum Älterwerden. Hier sind die Begrifflichkeiten dann z. B. »Anti-Aging«, »Silver-Ager«, »Best-Ager« oder »Power-Oldies«. Beides taugt aus unserer Sicht nicht dazu, eine ausgewogene und mehrperspektivische Sicht des heutigen Alterns zu gewinnen.
Vor diesem Hintergrund lauten zentrale Fragen dieses Buches: Kann es gelingen, die vielen Stärken des Alterns auszukosten und gleichzeitig die Probleme des Alters, vor allem des hohen Alters, als unvermeidbaren Teil des »lange-Leben-Lebens« zu akzeptieren? Kann es gelingen, die Gewinne und Verluste des Älterwerdens, beide sind heute ausgeprägt, im Sinne einer überzeugenden Sinnhaftigkeit zu versöhnen? Es ist unsere Hoffnung, dass unser Buch hilft, Ihre ganz persönlichen Antworten auf diese Fragen zu finden.
1 Cicero (44 v. Chr.). Cato Maior de Senectute. Reclam Ausgabe 1965. Über das fehlende Genderbewusstsein bei Cicero sehen wir hinweg. Was er primär in Bezug auf ältere Männer schrieb, kann man heute getrost auch auf ältere Frauen verallgemeinern. Bezeichnungen wie »Greis« sind der historischen Zeit geschuldet. Wer Cicero folgen will, findet die Seitenzahl, nicht aber jedesmal das Erscheinungsdatum.