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Von Alternsfakten
1.1 Immer länger leben als Segen und Fluch
»›Wer lange lebt, sieht vieles, was er nicht begehrt.‹ Und vieles vielleicht, was er begehrt.«
(Cicero, S. 15, Cäcilius zitierend)
Schönes langes Leben!
Die neuen Bundesländer sind dabei
Viel Hoffnung, aber auch Trauerflor
Immer länger leben – Die »graue Revolution« findet demografisch längst statt
Wir werden heute so alt wie nie zuvor, vor allem wenn wir das Glück haben, in weit entwickelten Industrieländern zu wohnen. Aber auch in ärmeren Ländern wächst der Anteil älterer Menschen fast überall (Salomon et al., 2012). Im Senegal z. B. betrug die Lebenserwartung bei Geburt 1990 bei Männern 56,8 Jahre, bei Frauen 60,9 Jahre. Im Jahr 2010 waren es dann schon 63,5 (M) bzw. 67,1 (F) Jahre. In Ägypten betrug die Lebenserwartung 1990 62,4 (M) bzw. 67,0 (F) Jahre; im Jahr 2010 waren es 68,0 (M) bzw. 73,4 (F) Jahre. In Deutschland lag die Lebenserwartung in 1990 bei 71,9 (M) bzw. 78,4 (F) Jahre. Im Jahr 2010 waren es 77,5 (M) bzw. 82,8 (F) Jahre. In 2020 dürfte sie bei 79,1 (M) bzw. 84,1 (F) liegen. Das ist nach einer geschätzten mittleren Lebenserwartung bei Geburt in der Bronze- und Eisenzeit von ca. 18 Jahren, im Mittelalter von ca. 25 Jahren und in Deutschland Anfang des 20. Jahrhundert von ca. 46 Jahren eine unglaubliche Steigerung der Lebenserwartung des komplexen Systems Mensch. Eine mehr als Vervierfachung gegenüber der Zeit vor etwa 3000 Jahren, eine Verdreifachung gegenüber der Zeit vor 1000 Jahren und fast eine Verdopplung gegenüber der Zeit vor gut 100 Jahren! Ein großer Teil des mittleren Anstiegs der Lebenserwartung bei Geburt ist dem gewaltigen Rückgang der Kindersterblichkeit zu verdanken. Starben im Mittelalter etwa 30 von 100 aller Kinder vor dem 5. Lebensjahr, so sind es heute nur noch etwa 5 von 1000 Kindern. Es sei betont, dass dies durchschnittliche Werte sind. Es gab schon immer auch Menschen mit sehr vielen Lebensjahren, und hatte man erst einmal 60 Jahre erreicht, so war die Wahrscheinlichkeit, die 70 Jahre zu »nehmen«, durchaus nicht gering. Aber dies waren eben Ausnahmeerscheinungen, die heute zur Regel geworden sind. Das ist vor allem der Unterschied zu früheren Zeiten. Der bislang eindeutig verifiziert älteste Mensch, die Südfranzösin Jeanne Calment, ist übrigens 122 Jahre und 164 Tage (122,4 Jahre) alt geworden und starb im Jahr 1997.
Zoomen wir noch etwas tiefer in die demografischen Entwicklungen in Deutschland und nehmen einmal exemplarisch die Zeit zwischen 1958 und 2015 ( Abb. 1.1). Bis Ende der 1980er Jahre hatte sich hinsichtlich der verbliebenen Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren ein deutlicher West-Ost-Unterschied zugunsten der westdeutschen Männer und Frauen herausgebildet, der bei den Frauen noch stärker ausgeprägt war als bei den Männern. Nach der deutschen Vereinigung stieg allerdings die fernere Lebenserwartung 65-jähriger ostdeutscher Frauen besonders stark und schnell an, so dass heute bei den Frauen keine West-Ost-Unterschiede mehr zu beobachten sind. Bei den ostdeutschen Männern verlief der Anstieg der Lebenserwartung im Alter 65 etwas langsamer; hier haben sich seit dem Jahr 2000 die Unterschiede zuungunsten der ostdeutschen Männer nur wenig verändert, sind also auch heute noch in abgemilderter Form vorhanden. Auch bei den ostdeutschen Frauen könnte eventuell die sehr positive Entwicklung in der Lebenserwartung wieder gedämpft werden, denn nach der Wende stieg z. B. bei jüngeren Frauen das Rauchen gegenüber der vormaligen Zeit in der DDR deutlich an (Vogt et al., 2017).
Eine weitere Abbildung enthält die bei der Fertigstellung dieses Buches aktuellste Vorausberechnung zum Anteil der 67-Jährigen und Älteren des Statistischen Bundesamts ( Abb. 1.2).
Zunächst beachte man, dass das Statistische Bundesamt nun das Alter 67 Jahre, im Einklang mit der aktuellen Rentengesetzgebung, als neuen Startpunkt für »ältere Menschen« nimmt. Auch zeigt sich, dass es in unterschiedlichen Rechenvarianten zu einem Anstieg der Älteren bis etwa 2040 kommen wird. Im Jahr 2040 wird von 21,4 Millionen Älteren ausgegangen. Derzeit sind es rund 18 Millionen. Es wird also in den kommenden 20 Jahren zu einem weiteren Anstieg der Älteren um ca. 16 Prozent kommen.
Warum wir älter werden
Zentrale Gründe für den sehr starken Anstieg der Lebenserwartung sind: (1) signifikanter Rückgang der Kindersterblichkeit, (2) signifikanter Rückgang der Sterblichkeit gebärfähiger Mütter im Kindbett, (3) Fortschritte in der Behandlung der großen Lebensbedrohungen durch Krankheiten, vor allem durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Abb. 1.1: Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren in West- und Ostdeutschland nach Geschlecht auf der Grundlage von Sterbetafeln 1958 bis 2015 (Quelle: BIB – Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, leicht modifiziert).
und Krebserkrankungen sowie (4) bessere Schulbildung mit (5) Verbesserungen von Hygiene, Ernährung und Gesundheitsbewusstsein. (6) Auf die mittlere Lebenserwartung vor allem der Männer wirkt sich sicherlich auch aus, dass es in Mittel- und Westeuropa seit mehr als 75 Jahren keinen großen Krieg mehr gegeben hat. Älterwerden und Langlebigkeit sind also ein multifaktorielles Geschehen, das nicht auf eine Ursache reduziert werden kann.
Abb. 1.2: Anteil der Menschen in Deutschland über 67 Jahre in Millionen – 3 Varianten der Abschätzung für die Zeit bis 2060 (Quelle: Statistisches Bundesamt, leicht modifiziert)
1.2 Lebenserwartung im internationalen Vergleich
»Sodann, inwiefern würde Ihnen das Greisenalter weniger beschwerlich sein, wenn Sie im achthundertsten Jahre ständen, als im achtzigsten? Denn das vergangene Lebensalter, mochte es auch noch so lang sein, könnte, wenn es verflossen ist, durch keinen Trost das Greisenalter eines Toren sanfter machen.«
(Cicero, S. 5)
Hitparade des langen Lebens
Wer sind die Gewinner und warum?
Ungleichheit besteht weiter
Die Lebenserwartung ist, wie eben primär am Beispiel Deutschland verdeutlicht, in historisch ungewöhnlich kurzer Zeit angestiegen. Ihr Anstieg in den neueren Industrienationen wie Südkorea sowie in den Ländern des Globalen Südens scheint sich hingegen in immer kürzerer Zeit zu vollziehen. In Südkorea lag die mittlere Lebenserwartung um 1960 noch deutlich unter 60 Jahren, in 2016 lag sie, gemittelt über beide Geschlechter, mit über 82 Jahren höher als in Deutschland.
Wer steigt hoch in den Lebenserwartungs-Charts?
Bleiben wir noch bei Südkorea. Voraussichtlich wird dieses sich höchst dynamisch entwickelnde Land im Jahr 2030 Rang 1 auf der weltweiten Lebenserwartungsskala einnehmen, zumindest aber in einer Liga zusammen mit Ländern wie Island, Japan, Hongkong und der Schweiz spielen, während Deutschland bis 2030 etwas abgeschlagen im Mittelfeld der hinsichtlich steigender Lebenserwartung erfolgreicheren Länder liegen wird (Kontis et al., 2017).
Deutlich besser schneidet Deutschland bereits heute im europäischen Vergleich ab (Eurostat, 2021), wenn es um den Zugewinn an gesunden Lebensjahren geht: Dieser ist hierzulande zwischen 2010 und 2018 um mehrere Jahre gestiegen, während es in anderen Ländern gar zu einem Rückgang in der Zahl an hinzugewonnenen, gesunden Lebensjahren gekommen ist (z. B. in Griechenland, Serbien). Im Vergleich mit allen OECD-Ländern, wahrscheinlich dem angemessensten Maßstab, weil die ökonomischen Leistungen dieser Länder allesamt gut bis sehr gut sind, schneidet Deutschland in aktueller Betrachtung allerdings recht schlecht ab; es erreicht mit seiner Lebenserwartung bei Geburt nur einen mittleren Platz (OECD, 2019). Doch es ist noch dramatischer: In Westeuropa beträgt die Lebenserwartung für Neugeborene mittlerweile im Schnitt 79,5 Jahre (männlich) und 84,2 Jahre (weiblich). Deutschland liegt mit 78,2 und 83 Jahren deutlich darunter. Verglichen mit allen 22 westeuropäischen Nationen bilden die Deutschen bei der Lebenserwartung der Männer sogar das Schlusslicht. Von der derzeitigen Lebenserwartung etwa von Männern bei Geburt in Japan (87 J.) oder »nur« der Schweiz (82 J.) sind wir noch ziemlich weit entfernt.
Warum gibt es bedeutsame Länderunterschiede in der Lebenserwartung?
Die Gründe für die durchaus großen Unterschiede in der Lebenserwartung bzw. in den hinzugewonnenen gesunden Lebensjahren zwischen Ländern sind kompliziert und am wenigsten in biologischen Zusammenhängen zu suchen. Genetische Unterschiede erklären nach heutigem Kenntnisstand etwa 25 Prozent der verschiedenen Lebenslänge. Das ist für einen einzelnen Faktor durchaus viel. Neben einer möglicherweise regional etwas unterschiedlichen Verteilung genetischer Faktoren, spielen ökonomische, bildungs-, ernährungs- und wohn- sowie gesundheitsversorgungsbezogene Unterschiede zwischen den Ländern die weit größere Rolle. Der mittlere sozioökonomische Status in Deutschland ist im internationalen Vergleich recht hoch, kann also kaum die Lebenserwartung »drücken«. Gesundheitsrelevante Stresseffekte des Arbeitslebens scheinen hingegen in Deutschland weniger gut abgefedert als in anderen Ländern; Präventionsanstrengungen greifen hier zudem bei Menschen im mittleren Lebensalter und frühen Alter weniger gut als in anderen Ländern, wie etwa in Skandinavien. Schaut man auf Lebensstilfaktoren, so zeigt sich derzeit in Deutschland ein relativ starker Anstieg von Lungenkarzinomen bei älteren Frauen als Folge des wachsenden Tabakkonsums bei jungen Frauen ab den 1960er Jahren, vor allem in Westdeutschland. Auch dürften ein relativ höheres Übergewicht, ein relativ höherer Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, und eine in größeren Subpopulationen nicht optimale Ernährung zur eher unkomfortablen Position Deutschlands im Lebenserwartungswettstreit beitragen. So scheint z. B. die sog. Sekundärprävention nach Eintritt und Behandlung einer koronaren Herzerkrankung im Vergleich zu anderen Ländern nicht so gut zu funktionieren, d. h. die notwendige Umstellung des Lebensstils, um weitere Verschlechterungen bzw. Komplikationen zu vermeiden, scheint in Deutschland weniger »nachhaltig« zu wirken als in anderen Ländern. Hinsichtlich der medizinischen Versorgung gibt es konvergierende Hinweise, dass auch in Deutschland trotz hoher Versorgungsqualität noch deutliches Verbesserungspotenzial besteht.
Die historisch schnelle Zunahme der Lebenserwartung hat übrigens rein gar nichts mit Evolution zu tun, die sehr, sehr viel längere Zeiträume benötigen würde, um Auswirkungen auf den Phänotyp zustande zu bringen. Darwinistisch lässt sich argumentieren, dass die Evolution nur wenig Interesse an einer Verlängerung oder gar höheren Adaptivität der postreproduktiven Lebenszeit haben kann, weil diese nur bedingt zur Arterhaltung beiträgt. Es sind also eher die von den Menschen selbst geschaffenen, gewollten bzw. ungewollten, bislang nicht veränderten bzw. nicht veränderbaren kulturellen Bedingungen, welche unsere Lebensdauer unterschiedlich »alt« aussehen lassen.
Unterschiede der Lebenserwartung innerhalb von Ländern nicht vergessen
Gerne wird an dieser Stelle auf die USA verwiesen, in der die Unterschiede der Lebenserwartung zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern der 50 Bundesstaaten bei Geburt leicht um sieben Jahre variieren können. So lag die Lebenserwartung 2018 in West Virginia bei 74,8 Jahren gegenüber 82,3 Jahren auf Hawaii. Auch im Hinblick auf die Lebenserwartung in Deutschland sind Differenzierungen nach dem sozioökonomischen Status notwendig. Von Armut betroffene Frauen haben in Deutschland eine etwa um acht Jahre kürzere Gesamtlebenserwartung verglichen mit Frauen, die keine Armutserfahrung machen; im Alter von 65 Jahren sind es immer noch gut sechs Jahre Differenz (Robert-Koch-Institut, 2010). Landkreise wie Starnberg und Breisgau-Hochschwarzwald liegen in Deutschland an der Spitze der Lebenserwartung mit etwa 81–82 Jahren für Männer und 84–85 Jahren bei Frauen. Nach Klie (2020) variiert die Lebenserwartung von pflegebedürftigen Menschen in Deutschland regional sehr stark, nämlich um neun Jahre. Das ist ziemlich gewaltig.