Читать книгу Das Modell des Konsequenten Humanismus - Hans Widmer - Страница 5

Оглавление

Der Anfang des Kreises

Allen lebenden Strukturen ist der Drang zur Ausschöpfung der Existenzmöglichkeiten konstituierend eingeschrieben. Neue Arten von Lebewesen müssen stets flexibler sein, um unter den bisherigen zu bestehen. Am Ende der biologischen Evolution steht das Phänomen »Bewusstsein«, das die Existenzmöglichkeiten der Gattung Mensch spektakulär erweitert. Deren Beherrschung der Welt gegenüber dem knappen Überleben ihrer Vorfahren verdeutlicht dies. Ebenso tritt hervor, dass Bewusstsein kein graduell ertastetes Vermögen, sondern ein Evolutions-Sprung ist.

Eben dieses Bewusstsein schafft im Kollektiv qua seiner Überlegenheit unablässig eine Welt über der Natur, für die die Instinkte, die andere Primaten erfolgreich durch ihre Nischen in der Natur leiten, niemals ausreichen. Was Menschen allein durch die von bewussten Wesen gemachte Welt leiten kann, ist ihr Bewusstsein. Die Krux dabei: Die Instinkte sind dieselben, und das Bewusstsein steht in deren Dienst.

Damit kein »Dschungel höherer Raffinesse« entsteht, muss das Bewusstsein die Instinkte in eine humane Kultur transponieren. Davon ist die Menschheit noch weit entfernt. Ihr reales Elend entspringt keineswegs einer Fehlkonstruktion der Spezies, sondern – horribile dictu in Anbetracht historischer wie gegenwärtiger Ungeheuerlichkeiten – fehlerhafter Prägung und Entwicklung des Bewusstseins.

Die erforderliche Erkenntnis legt das vorliegende Modell auf der Grundlage dessen vor, was Wissenschaft bisher hervorgebracht hat: etwa, was Leben sei, der Mensch, Freier Wille, Glück. Wissenschaftliche Erkenntnis rührt aus der systematischen Befragung davon, was als Wirklichkeit erscheint. Erkenntnis ist überhaupt nur aus solcher Befragung zu gewinnen. Philosophische Arbeit beginnt folglich mit der Einverleibung relevanter Erkenntnis: »die enge Pforte, die zur Weisheit führt.«Kant


Immanuel Kant,

1724–1804

Die Erkenntnis führt stringent zur zweckmässigen Organisationsform menschlicher Gesellschaften: nämlich derjenigen, die allen Mitgliedern den Rahmen für ein erfülltes Lebens bietet. Auch leitet sie das Individuum zur Ausschöpfung dieses Rahmens an. Der Erwerb der Erkenntnis setzt jedoch den Willen voraus und ihre Umsetzung die Selbstbeherrschung, die sich beide erst daraus einstellen. Ebenso setzt die zweckmässige Organisation jene kenntnisreichen, selbstbeherrschten Individuen voraus, die sie erst hervorbringt. Das Wünschbare kann folglich nicht verfügt werden – aber dessen Heranreifen kann katalysiert werden: durch Aufklärung.

Abgrenzung gegenüber konventioneller Philosophie

Konventionelle Philosophie geht von Begriffen wie »Gerechtigkeit« oder »Sinn von Sein« aus. Kant spottet gar, sie »tappt auf Begriffen herum«. Sie fragt nicht nach der Wirklichkeit, sondern danach, was Philosophen gesagt haben. Was der Wissenschaft das Experiment ist, ist der Philosophie das Zitat. Philosophie strebt nach Weisheit – eine Weisheit, die jedoch nicht auf Erkenntnis baut, ist ein Schuss in die Nacht.

Die Thesen der Philosophie lassen sich wissenschaftlich nicht belegen – es gibt nur Philosophen, deren Gedanken man studieren kann. Diese haben über Jahrhunderte mindestens eine Million Druckseiten publiziert, wobei sich die Mehrheit – der Natur solchen Philosophierens gemäß – damit befasst, andere zu widerlegen; einige wenden sich sogar vom eigenen Publizierten ab. Damit hat selbst der, der alle studiert, nichts in der Hand, an das er sich halten kann.

Aufbau des Modells

Das Modell des Konsequenten Humanismus trifft keine Annahmen über irgendetwas im Voraus, auch setzt es kein spezifisches Wissen voraus. Es geht von Anschauung aus und entwickelt mit intuitiver Logik Folgerungen, die der Lesende selber rekonstruieren kann, was auch Relativitätstheorie oder Hyperzyklus (Sprung zum Leben) umfasst.


Ludwig Wittgenstein,

1889–1951


Friedrich Hegel,

1770–1831

Vor und für Kant war selbstverständlich, dass sich Philosophie alle verfügbare Erkenntnis aneignete. Anfangs des 19. Jahrhunderts nahm Wissenschaft aber derart Fahrt auf, dass Philosophen nicht mehr folgen konnten – und wenn sie vorerst noch folgten: Relativitätstheorie und Quantenmechanik hängten sie definitiv ab. Sie zogen sich auf »das Klarwerden von Sätzen«Wittgenstein zurück, einzelne gar in Mystik, was in keiner Weise ihre Aufgabe ist. Sie sollen die tragenden Erkenntnisse erwerben, sich darüber hinausschwingen und sich ihren alten Aufgaben auf der neuen, grandiosen Basis stellen.

Bewusstsein erweitert den Horizont von dessen Träger radikal: räumlich, zeitlich, sozial – insbesondere dadurch, dass es ihn als »Selbst« enthält. Da der erweiterte Horizont sowohl Chancen wie Bedrohungen birgt, muss das Bewusstsein alles deuten, was es darin wahrnimmt. Fehlen ihm Kenntnisse, behilft es sich mit Annahmen und Behauptungen; wie die Weltgeschichte jedoch verdeutlicht, sind Erkenntnisse weit erfolgreicher. Das Selektionskriterium bei der Gewinnung von Erkenntnis ist Widerspruchsfreiheit: einmal gegenüber der Wirklichkeit und dann gegenüber aller verifizierter Erkenntnis. Den Horizont erfüllter Widerspruchsfreiheit größtmöglich auszudehnen dient zwei Zielen zugleich: Erklärungsstärke und -vollständigkeit.

Die unausweichliche Folgerung davon ist: Ein Modell erklärt das Ganze – oder es erklärt nichts. Es ist erst geschlossen, wenn es nicht nur die Welt erklärt, sondern ebenso das Denken, das die Erklärungen leistet. Die dabei für Schlüssigkeit erforderliche Menge zu erarbeitender Erkenntnisse ist, bei aller versuchten didaktischen Verdichtung, groß. Und wer sich darauf einlässt, weiß überdies erst nach der Investition, ob sie sich auch lohnt.

Ein geschlossener Kreis von Erklärungen? Wissenschaften erklären eingegrenzte Wirklichkeit aus eingegrenzter Wirklichkeit und haben darin eine exponentiell anwachsende, mittlerweile ungeheure Fülle an Erkenntnissen hervorgebracht; für ein widerspruchsfreies Ganzes hingegen fühlt sich keine zuständig. Philosophie nach Hegel hat vor der Aufgabe kapituliert; gelegentlich mokiert sie sich gar über den Kleingeist, der es trotz ihrer Warnung versucht.

Die Basis für das Modell des Konsequenten Humanismus bildet die Art, wie sich das Bewusstsein die Welt vorstellt; ausgehend davon steigt es über Stufen zum Denken hoch, das die Vorstellung hervorbringt:

1.Anschauungen a priori.Kant Raum und Zeit bilden unentrinnbar das Koordinatensystem im menschlichen Gehirn, worin es die Welt darstellt.

2.Kontinuum, Masse, Kosmos. Denknotwendig erfüllt ein Kontinuum den vorgestellten Raum – seit Anaximander und bis Einstein. Die »deduktive Physik«*, auf der das Modell fußt, leitet Masse als Dynamik eines geeignet spezifizierten Kontinuums ab, und dasselbe Kontinuum trägt die Expansion des Universums.

3.Atome, Elementarteilchen. Wenn Massendynamiken interagieren, gibt es Interferenzen, die sich als Quantenphänomene manifestieren und die Basis von allem Wahrnehmbaren sind. Elementare Dynamiken strukturieren sich zu Atomen, diese zu anorganischen Molekülen, unter geeigneten Umständen zu organischen.

4.Leben. Der riesigen Ansammlung organischer Moleküle auf der Erde entsprang einmalig der Hyperzyklus von einander gegenseitig prägenden Molekülen: die Basis für Leben. Soweit bisher bekannt, nur auf der Erde.

5.Biologische Datenverarbeitung. Das Zusammenwirken von Zellen und Zellverbänden wurde in der Evolution zunehmend ergänzt durch das Aufeinandertreffen bloßer Stellvertreter biochemischer Zustände: durch Signale in Leiterbahnen, Ganglien, Gehirnen.

6.Denken. Der biologischen Datenverarbeitung entsprang Denken. Dieses kommt nicht umhin, sich die Welt als Körper in den Koordinaten der Anschauungen a priori vorzustellen.

Der ontologische Kreis beantwortet die Frage: »Was kann ich erkennen?«, mit der sich Kants »Kritik der Reinen Vernunft« auseinandersetzt. Jedoch zielen mit Bewusstsein ausgestattete Wesen nicht primär auf Ontologie, sondern auf ein eigenes glückliches Leben ab. Sie verlangen Antworten auf Fragen, wie sie Kant in seiner »Kritik der Praktischen Vernunft« stellt: »Wie soll ich handeln? Was kann ich hoffen?«, auch auf die Frage, wie sich Gesellschaften organisieren sollen: politisch, wirtschaftlich, kulturell. Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen ist die Gewissheit des »Freien Willens«. Kant postulierte diesen kurzerhand, während gegenwärtige Hirnforschung daran zweifelt. Das Modell des Konsequenten Humanismus erkennt ihn über seine unersetzliche Funktion: die Lösungen zu bewerten und zu wählen, die Denken für die Welt hervorbringt, in der Instinkte allein nicht ausreichen. Im Raum, den Freier Wille eröffnet, tut sich die Möglichkeit gelingenden Lebens auf: »Glück«.


Ontologischer Kreis

Das Modell begründet, was gelingendes individuelles Leben ist, und was dazu führt; ebenso, welches seine Voraussetzung ist: der »Zweckmäßige Staat«, und dessen Voraussetzung: »mündige Bürger«. Beides bedingt einander, beides leitet sich aus den vorangegangenen Stufen her und bildet das Fundament dafür, dass »alle Menschen gleich glücklich sein könnten«.Lichtenberg


Georg Christoph

Lichtenberg, 1742–1799

Jede wissenschaftliche Erkenntnis beruht auf einem Entwurf, der die »Probe am Probierstein der Wirklichkeit«Kant bestanden hat. Im Modell des Konsequenten Humanismus ist das Ganze der Entwurf. Dieser besteht die Probe, da jede seiner Stufen als Wissenschaft belegt ist und jede Stufe aus der vorangehenden stringent hervorgeht. Dabei wird deutlich: Erkenntnis ist das, was das Bewusstsein aufbaut, und nicht wie bei Platon: Stücke eines vor den Menschen bestehenden Erkenntnisinventars, dem sie allmählich auf die Spur kommen.

Hyperstasen

Das vorgelegte Modell ist mit zwei didaktischen Herausforderungen konfrontiert:

–mit einer Art von Unschärferelation: die für Schlüssigkeit notwendige Fülle von Erkenntnissen ist unüberblickbar, umgekehrt ist die Argumentation mit unvollständigen Erkenntnissen nicht schlüssig;

–mit der Überführung von einer Stufe zur andern.

Um der Unschärferelation beizukommen, braucht es Verdichtung, Veranschaulichung und Begriffe wie »Selbstorganisation«, »Evolution«, »Datenverarbeitung«, die weitläufige Tatbestände umfassen und zugleich deren Essenz nicht verfehlen. Dabei ist die Fülle an Einzelerkenntnissen kein Hindernis für ein Gesamtbild, sondern dessen Voraussetzung, wie beim Erstellen eines Puzzles.

Für das schwierige Verständnis der Sprünge von einer Stufe zur nächsten sei an Folgendes erinnert:

–die Burg im Sandkasten ist zwar aus Sand, aber sie ist nicht Sand, sondern Burg, sie ist etwas Neues und im Sand nicht schon enthalten;

–eine Melodie besteht aus ihren Tönen, aber ihre Essenz sind nicht die Töne;

–Leben besteht aus Molekülen, aber dessen Essenz sind nicht die Moleküle.

Hinzu kommt das Phänomen der Selbst-Organisation: Wird eine Ladung Kies auf den Bauplatz gekippt, entsteht ein Schüttkegel; dieser organisiert sich selbst, er wurde nicht vorausgedacht; oder werden gleiche Kugeln aneinandergeschoben, organisieren sie sich ohne jedes Dazutun zu gleichseitigen Dreiecken. Das selbstorganisierte Aus-einanderhervorgehen der Stufen erfasst das Modell mit dem neuen Begriff »Hyperstase«1: Hyperstase = Produkt der Selbstorganisation eines Substrats.

Unerklärbare Basis – sechs Hyperstasen

Der Mensch hat nicht die Welt im Kopf, sondern Vorstellungen davon, und das Koordinatensystem für jegliches Abbilden sind Raum und Zeit. Wer sich, ohne jede philosophische Absicht, fragt, was Raum und Zeit seien, muss bald einsehen, dass es unmöglich ist, diese auf andere Begriffe zurückzuführen oder sie wegzudenken; sie bilden das nicht überschreitbare Koordinatensystem für die Vorstellung der Welt. Mit dieser Einsicht entfällt ein Komplex philosophischer Fragen, etwa, was Zeit sei oder Ewigkeit, warum überhaupt etwas sei und was der Zweck davon. Deduktive Physik hebt die Unverträglichkeit von Einsteins Relativitätstheorie mit den Anschauungen a priori auf.


Selbstorganisation

I. Hyperstase: So wie ein Hurrikan aus Ungleichgewichten entsteht und aus Luft und Wasser besteht, aber nicht Luft und Wasser ist, sondern Dynamik davon, so ist Masse Dynamik des Kontinuums. Dieses ist spezifiziert, während Anaximanders Apeiron, Plotins Ureines, Descartes’ Äther, Einsteins Raum-Zeit-Kontinuum bloße Ideen waren. Die Mathematik, um das Verhalten eines Kontinuums zu erfassen, sind Feldtheorien. Alle großen Theorien induktiver (konventioneller) Physik sind Feldtheorien; mit diesen kann sie das Verhalten von Elementarteilchen bis Galaxien berechnen, nicht aber begründen.

II. Hyperstase: Das Zusammenwirken von elementaren Massendynamiken führt wieder zu etwas gänzlich Neuem: Strukturen. Der Grund dafür liegt darin, dass die der Massendynamik inhärente Rotation im Raum eine Achse definiert (Spin), also eine Ausrichtung, was Raum als Anschauung nicht hat. Die unterste Hierarchiestufe stabiler Strukturen sind Protonen und Neutronen, daraus bilden sich zusammen mit ebenfalls stabilen Elektronen Atome, daraus Moleküle, unter geeigneten Umständen komplexe organische Moleküle (die noch kein Leben sind). Die Wissenschaft, die Zustandekommen und Zusammenhalt der Strukturen beschreibt, heißt Quantenmechanik. Sie wurde im Wesentlichen erraten, geht in der deduktiven Physik zwingend aus der Massendynamik hervor und steigt damit vom Olymp des Unbegreiflichen ebenso herunter wie die Relativitätstheorie.


Plotin, 205–270 ; René Descartes, 1596–1650

III. Hyperstase: Die Essenz des Sprungs zu Leben liegt in einem Zyklus von Strukturen, worin das Positiv der DNA der Bauplan für das Negativ ist und umgekehrt (Hyperzyklus). Damit tritt das Phänomen Information ins Universum. Auf der Erde naturgesetzlich, im Universum offenbar selten.

IV. Hyperstase: Das Zusammenwirken von biologischen Molekülen in Zellen und von Zellen miteinander wird durch Konzentrationen und Abgrenzungen gelenkt: Was aufeinander wirken soll, ist in Berührung, und was nicht, ist getrennt. Der nächste große Sprung ist jener zu Stellvertretern für die von Molekülen ausgehenden Kräfte, zu bloßen Signalen. Es ist der Sprung zu biologischer Datenverarbeitung – dem Urgrund von allem Geistigen.

V. Hyperstase: Das Wesentliche des Sprungs von biologischer Datenverarbeitung zu Denken liegt in Entkopplung und Verselbständigung gewisser Datenverarbeitung von reflex- und instinktgetriebenen Zwängen. Diese entkoppelte Datenverarbeitung baut eine Vorstellung der Welt auf, die beim Kleinkind bald so umfassend wird, dass sie das Subjekt selbst enthält. Wieder liegt ein Zyklus vor: Das Subjekt denkt – Denken bringt das Subjekt hervor.

Der Mensch ist durch die Gesetzmäßigkeiten von Leben allein nicht zu erklären. Was ihn ausmacht, Denken oder gleichbedeutend: Bewusstsein, unterscheidet ihn von andern Primaten nicht bloß graduell, sondern kategorisch. Mit Bewusstsein tritt ein ebenso neues Phänomen ins Universum wie Leben selbst. Bewusstsein ist die Horizonterweiterung, der alle Lust, alles Leid, alle Furcht, alle Zuversicht, alles Menschliche entspringt.

Bewusstsein impliziert Freien Willen als Begleiterscheinung, nicht als weitere Hyperstase. Der Mensch ist nicht frei, als was und in welche Welt er »geworfen« sein wolle. Seine Freiheit liegt im jeweils nächsten Schritt und ist doch die Freiheit, die er empfindet. Ebenso ist »Glück« eine Begleiterscheinung, nämlich der physiologischen Natur von Lernen: Lebensförderliche Absichten und Erfahrungen führen zur Ausschüttung von Hormonen, die bejahende Stimmung hervorrufen.

VI. Hyperstase: Über zahllosem menschlichen Leben entfaltet sich als letzte Hyperstase Kultur, die mehr ist als Summierungen von individuellem Verhalten: Es entstehen Sprache, Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Religion. Dies alles organisiert sich in historischen Zeiträumen selbst und entwickelt sich aus gering unterschiedlichen Anfängen zu ausgeprägten, eigenständigen Kulturen, obschon deren Substrat immer dasselbe ist: die menschliche Natur.


Jacob Burckhardt,

1818–1897


Robert Walser,

1878–1956

Genetisch entwickelte sich der Mensch im Zeitraum der Menschheitsgeschichte nicht weiter. Davon gingen etwa Jacob Burckhardts »Weltgeschichtliche Betrachtungen« aus: »… vom einzig bleibenden … duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird.« Hingegen evolvieren die religiöse, politische und wirtschaftliche Organisation von Gesellschaften, und diese stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen das Individuum, sein Bewusstsein und seine Aspirationen heranwachsen. Die Entwicklung des Rahmens war übrigens im 20.Jahrhundert in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie, Bildung, Gesundheit und Wohlstand substantiell – bei allen barbarischen Rückschlägen. Doch bleibt der Weg zu einer Kultur, die der menschlichen Natur angemessen ist, zu »Konsequentem Humanismus«, noch weit.

Humanismus steht, verdichtet, für das Bemühen um artgerechte Lebensinhalte und Gesellschaftsbedingungen. Von Horaz bis in den deutschen Idealismus im 18./19. Jahrhundert wurde Humanismus poetisch und emphatisch besungen, um der Realität aufs Tragischste zu unterliegen: statt der hohen Ideale dominierten Kriege, Genozide, Kommunismus, Nationalsozialismus. Allmählich verstummten die Hymnen, nach dem Zweiten Weltkrieg gar radikal. Das humanistische Ideal war nicht falsch, doch genügt es nicht, das Wünschbare zu wünschen. »In Friedenssachen spielen Talent und Instinkt eine erheblichere Rolle als die gute Absicht, die an sich etwas total Charakterloses ist.«Robert Walser


Horaz, 65–8 v.Chr.

Konsequenter Humanismus ist derjenige Idealismus, der von Erkenntnis, dem Vermögen, das den Menschen definiert, ausgeht. Tragfähig ist nur, was auf der Wirklichkeit – diejenige Vorstellung der Welt, die von der Welt bestätigt wird – baut. Von den Anschauungen a priori über Hyperstasen aufsteigend, ergibt das Modell des Konsequenten Humanismus unausweichlich, dass individuelles Glück nicht geringer ausfallen muss als das kühner Träume, vorausgesetzt, Menschen sind zweckmäßig organisiert, wissen, was gewusst werden kann, halten ihre Absichten über den Tag hinaus ein. Gesellschaften sind zweckmäßig organisiert, wenn Individuen selbst bestimmen, was sie bestimmen können; analog Gemeinde, Provinz, Staat; und Staaten damit im Dienst der Entfaltung ihrer Bürger stehen.

Da das Modell strikt der Ratio folgt, argumentiert es dann nicht am »Innersten«, am »Göttlichen« im Menschen vorbei? Nein: Die Vernunft

–hilft als Navigationsgerät dem unschuldigen, innersten Wesen durch die von Menschen geschaffene Welt; je tragfähiger die Erkenntnis, desto sicherer;

–leitet das Individuum nicht nur an, sich in dieser Welt zurechtzufinden, sondern auch das Innerste in seiner Reinheit, Weisheit und Lebensfreundlichkeit zu erkennen und zu wecken;

–legt damit das Göttliche im Menschen frei;

–weist den Weg, über alles Drängen und Sperren in Gemüt und Welt hinweg, zum eigentlichen, unveräußerbaren Besitz: der verständigen, beständigen, bejahenden Persönlichkeit.

Unbequem daran ist: Die Erkenntnis muss erworben werden. Wäre in der Welt die Liebe zu Erkenntnis so groß wie in religiösen Bekenntnissen die Liebe zu Gott – die Menschheit wäre weiter. Um mit Horaz zu sprechen: »Sapere aude.«

Das Modell des Konsequenten Humanismus

Подняться наверх