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Kapitel 2

Freiburg

Hauser war ein gealterter Dandy, das genaue Gegenteil dessen, was sich Jonas unter seinem Vorgänger vorgestellt hatte.

»Unsere Farm ist eine Generika-Klitsche, kein Elfenbeinturm für verwöhnte Grundlagenforscher«, stellte er gleich am Anfang klar.

Mit Farm meinte er wohl seine Firma ›BWpharm AG‹. Jonas ließ sich nicht abschrecken. Immerhin hielt es Hauser als früherer ›Bernoulli‹-Forscher schon fast drei Jahre beim Freiburger Generika-Produzenten aus. Mehr als das: Er war verantwortlich für die gesamte Entwicklung.

Die Rechte eingehakt im faltenlosen Gilet wie Napoleon auf Davids berühmtem Bild, wartete Hauser auf seine Reaktion.

»Der kleine Unterschied ist mir durchaus bewusst«, antwortete Jonas und hielt sich für besonders witzig.

Hauser musterte ihn skeptisch, bis sich sein Mund plötzlich zu einem spöttischen Grinsen verzog. »Nun ist unser Freund Helbling also wieder am gleichen Punkt angelangt«, freute er sich. »Am Ende muss der Ärmste wieder selber arbeiten. Nun – für die Basler Kunstszene wäre es ein echter Gewinn, wenn er ihr fernbliebe. Er versteht von zeitgenössischer Kunst etwa soviel wie ich von Fußball, nämlich gar nichts.«

Ein bitterer Unterton störte seine Ironie. Der Wegzug aus Basel schien Hauser doch mehr zugesetzt zu haben, als Jonas anfangs dachte. Er selbst verspürte keine Lust, weiter über die Vergangenheit zu reden und schwieg.

»Ich kann Sie also nicht davon abhalten, hier anzuheuern«, stellte Hauser nach einer Kunstpause fest.

»Ist das ein Problem?«

»Für mich nicht, überhaupt nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch, Dr. Herzog. Sie sind hochqualifiziert. Ach was, reden wir nicht um den heißen Brei herum. Sie sind überqualifiziert für diesen Job. Ich will nur verhindern, dass Sie Ihren Entschluss bald wieder bereuen. Das ist alles.«

Es war ein beruflicher Abstieg, ein Karriereknick, wie er im Buche stand. Das brauchte er nicht auszusprechen. Beide wussten es.

»Ich wäre nicht hier, wenn mich die Arbeit nicht interessieren würde«, versicherte Jonas und meinte es genau so.

»Sicher«, murmelte Hauser mit einem Blick auf die Uhr. »Über die Arbeit unterhalten wir uns später eingehend. Der Patron erwartet uns jetzt.«

Dr. Hubertus von Holzbrinck hieß der Patron. Er war der Gründer und Hauptaktionär der ›BWpharm‹. Die Firma hatte früher Kosmetika hergestellt, dann aber auf den lukrativen Markt der Arzneimittelkopien umgestellt. Der alte Holzbrinck machte nicht den Eindruck eines gemütlichen Opas, den Jonas mit der Bezeichnung Patron verband. Vor ihm stand ein strammer, asketischer Offizier in straffem Zivil, dessen Händedruck schmerzte. Die strenge Erziehung zu Disziplin und protestantischem Fleiß stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dazu passten die stahlblauen Augen und der schlecht verheilte Schmiss auf der Wange. Der einzige offensichtliche menschliche Makel an ihm war die Liebe zu seiner Pfeife, die er entweder ständig in der Linken oder im Mundwinkel hielt. Während der kurzen Besprechung ließ er keinen Zweifel daran: Hubertus von Holzbrinck war die Firma. Daran würde der Plan auch nichts ändern, in Kürze auf sein Weingut in Italien überzusiedeln.

Sympathisch, dachte Jonas. Je weiter von diesem Zuchtmeister entfernt, desto besser.

»Der Lars ist ein sehr zuverlässiger Statthalter«, bemerkte Holzbrinck zu Hauser, der folgsam nickte.

»Steigbügelhalter«, verstand Jonas zuerst. Keiner der Herren hielt es für angezeigt, ihm zu erläutern, wer dieser patente Lars war. Zurück in Hausers Büro, stellte er die Frage.

»Lars Brüderle, pardon, Dr. Lars Brüderle«, antwortete Hauser. »Unser CEO.« Sein abschätziger Ton verriet, dass er nicht sonderlich viel von seinem Chef hielt.

Jonas wusste nicht, warum, aber er fand auch das ganz sympathisch. Hauser war wenigstens ehrlich. »Man hat’s nicht immer leicht mit seinen Chefs«, meinte er lächelnd.

Es klopfte. Ein Mann etwa in Jonas’ Alter kam herein.

»Sind wir soweit?«, rief er begeistert.

Der Mann war haargenau Hausers jüngere Kopie, sah man ab von der fast nachlässigen Freizeitkleidung und dem breiten Grinsen in seinem Gesicht.

»Mein Sohn Patrick«, erklärte Hauser. »Biologe wie der Vater. Er steht Ihnen für alle fachlichen Themen zur Verfügung.«

Patrick gab ihm die Hand und meinte lachend: »Das war allerdings mein Text.«

Hausers Sohn sorgte wie ein Katalysator bei einer chemischen Reaktion dafür, dass Jonas in kürzester Zeit einen guten Draht zu den Strippenziehern in Holzbrincks ›Farm‹ fand. Vielleicht lag es ein wenig am Exotenbonus des schweigsamen Schweizer Singles mit der manchmal etwas holprigen Aussprache. Es gelang ihm jedenfalls, auch den CEO zu überzeugen, eine vielversprechende neue Produktionsmethode ernsthaft zu prüfen. Mit einem Schlag wurde aus dem langweiligen Job des Arzneimittelkopierers ein spannender Forschungsauftrag. Ein Generikum musste nach dem Gesetz dem kopierten Originalmedikament therapeutisch äquivalent sein, die gleichen Indikationen abdecken und es musste die gleichen Wirkstoffe enthalten. Über das Herstellungsverfahren gab es keine Vorschriften, ebenso wenig über Hilfsstoffe, die meist als Verunreinigungen nie ganz eliminiert werden können. ›BWpharm‹ hatte die Medikamente bisher fast ausschließlich chemisch erzeugt, die klassische Methode. Man imitierte den Herstellungsprozess des Originalpräparats eins zu eins. Das führte zwar sicher zum erwünschten Ergebnis, war aber genauso aufwendig und teuer wie die ursprüngliche Herstellung. Was dies bedeutete, war auch den Mitarbeitern klar, die keinen Leistungskurs in Betriebswirtschaft besucht hatten: geringe Margen. Lars Brüderles Verkaufsarmee war bestens darauf trainiert, geringe Margen durch Absatzvolumen wettzumachen, indem sie mehr oder weniger offen Ärzte und Apotheken durch Exklusivverträge gängelte – gegen angemessene Entschädigung. Aber zaubern konnten auch die Verkäufer nicht. Als Jonas sah, welchen Hauptwirkstoff das aktuelle Medikament ›XORACIN‹ zur Stärkung des Kreislaufs enthielt, kramte er die alten Unterlagen aus Boston hervor. Er hatte sich nicht getäuscht. Genau denselben Wirkstoff erzeugten genetisch veränderte E. coli Bakterien zehnmal effizienter als die Chemiker und mit minimalem Energieaufwand. Der Prozess dauerte nur unwesentlich länger, war also durchaus praxistauglich. Aus unerfindlichen Gründen versank diese spektakuläre Erkenntnis damals in den bodenlosen Archiven der Harvard Medical School. Das war seine Chance, frischen Wind in Holzbrincks ›Farm‹ zu pusten. Verblüfft verfolgten seine Mitarbeiter, wie der schweigsame Schweizer über Nacht echtes Charisma entwickelte. Seine Begeisterung steckte sogar die Chemikerin Isabella an, die jeder Hetero begehrte und keiner bekam, obwohl er im Grunde ihren Job gefährdete mit diesem Plan.

»Daran dürfte sogar unser CEO seine Freude haben«, murmelte Jonas eines Abends zufrieden, als er mit seinen Leuten die Auswertung der ersten Testreihe sichtete.

Patrick lachte spöttisch. »Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Warum?«

»Der gute Lars ist Anwalt und Betriebswirt, kein Kopfarbeiter wie wir, schon vergessen? Erst höhere Ertragszahlen werden ihn erfreuen, nehme ich an. Sicher weiß man’s nicht. Hier im Haus hat ihn nämlich noch keiner lachen sehen.«

»Nicht alle Anwälte sind Dummköpfe«, widersprach Jonas, während er den Produktivitätsanstieg seiner Kolibakterien über die letzten zwei Wochen bewunderte.

»Alle wahrscheinlich nicht«, grinste Patrick. »Lars ist zum Beispiel durchaus fähig, die größere von zwei Zahlen zu erkennen.«

»Wo du so wenig von deinem Chef hältst, frage ich mich, wie er unser CEO werden konnte.«

»Ganz einfach: gleiche Burschenschaft wie Holzbrinck und Heirat mit seiner Tochter.«

»Genug jetzt, Boys«, rief die schöne Isabella. »Lassen wir die Zwerge weiterschuften. Es ist schönes Wetter und Freitagabend, schon vergessen?«

Der Freitagabend im Biergarten oder im alten Brauhaus des ›Feierling‹ gehörte zu den angenehmeren Gepflogenheiten der Entwicklungsabteilung. Unter den alten Kastanienbäumen dieser Brauerei erfuhr Jonas in kurzer Zeit mehr über die Interna der ›BWpharm‹ als durch sorgfältiges Aktenstudium in seinen einsamen Nächten. Überdies lag das ›Feierling‹ bequem am Weg zu seiner Wohnung in der Gerberau. An diesem Abend hatte er allen Grund, mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Die Arbeit lief hervorragend. Er hatte neue Freunde gefunden, wenn auch von ganz anderer Art als Niklaus, dessen tiefgründigen Humor er gelegentlich vermisste. Patrick war ein feiner Kerl. Offen, ehrlich, aber auch oberflächlich, dass es manchmal schmerzte.

Jonas spürte einen leichten Stoß an der Schulter.

»Dort drüben«, flüsterte Patrick und grinste dabei bis über beide Ohren.

Verwundert blickte er in die Richtung von Patricks spitzer Nase. Die schöne Isabella begrüßte gerade eine unbekannte Rothaarige mit Beinen bis zum Hals. Die beiden küssten sich auf den Mund. Sie saugten sich aneinander fest, eng umschlungen, als wollten sie auf der Stelle in einem atomaren Blitz verschmelzen wie zwei aggressive Wasserstoffkerne zu edlem Helium.

»Potz Heidenblitz«, imitierte Jonas seinen alten Freund. »Darum also …«

Patrick freute sich königlich. »Hat sie dich auch abblitzen lassen?«

»Nein, um Gottes willen. Ich hab’s nicht versucht. Ich wunderte mich nur, warum sie noch Single ist.«

»Mit diesem Gestell, meinst du.«

»So ungefähr. Dass du es versucht hast, überrascht mich hingegen nicht im Geringsten.«

Patrick trank nachdenklich sein Bier aus. »So eine Verschwendung«, brummte er ärgerlich. »Gott, bin ich spitz.«

»Dann solltest du etwas dagegen tun, aber lass mich aus dem Spiel.«

»Ich versuche schon die ganze Zeit, meine Libido zu ersäufen, aber es geht nicht, wenn man so etwas live mit ansehen muss.«

»Musst du nicht.«

»Du hast gut reden.« Patrick deutete mit zwei gespreizten Fingern auf seine Augen. »Die machen das automatisch, ob ich will oder nicht. Die Augen sind schuld. Die müssen jedem Weiberarsch nachgucken – siehst du?«

Sein Kopf drehte sich in die Richtung eines Tisches, an dem sich vier noch viel zu junge Mädchen aufgeregt schnatternd niederließen.

»Tragisch«, gab Jonas zu.

Patricks Argumentation und Artikulation deuteten darauf hin, dass er allmählich genug Bier im Blut hatte, und Jonas sagte es ihm.

»Ganz richtig«, pflichtete der entschieden bei. »Ich brauch was Stärkeres.«

Wenige Augenblicke später standen zwei Klare neben den Biergläsern. Oder genauer: ein Williams und ein leeres Schnapsglas. Es sollte nicht der einzige hochprozentige Drink bleiben, den Patrick an diesem lauen Sommerabend in sich hineinschüttete, um seine Libido zu betäuben. Obwohl Jonas es besser wusste, wehrte er sich nicht sonderlich gegen die melancholisch lockere Stimmung, die ihn sanft dazu verführte, eins oder zwei über den Durst zu trinken. Es war Wochenende, und zu Hause wartete ohnehin niemand auf ihn. Patricks eigenmächtige Augen verfolgten Isabella und ihre Freundin noch lange, nachdem sie nicht mehr zu sehen waren.

»Kannst du noch fahren?«, fragte er unvermittelt, ohne die Augen zurückzuholen.

»Hab’s mal gelernt, warum?«

»Ich bin zu besoffen.«

»Das ist kaum zu übersehen.«

Patrick stand auf, blätterte ein paar Geldscheine auf den Tisch, die reichten, um die Getränke zu bezahlen und die nächste Miete der Bedienung.

»Los komm, wir müssen was unternehmen. Bist eingeladen, aber du fährst.«

»Wohin?«, fragte Jonas verblüfft.

»Wirst schon sehen.«

Irgendwo im Südschwarzwald

Jonas trat abrupt auf die Bremse. Das Dorf, das Patrick erwähnt hatte, lag hinter ihnen. Weiter auf der Straße, die in den Wald führt, lautete die Instruktion. Doppelt unbrauchbar. Erstens sah das, was er im Licht des blassen Mondes vor der Frontscheibe erblickte, nicht wie eine Straße aus. Bestenfalls ein Feldweg war es, der sich weiter vorn gabelte. Beide Wege führten in den Wald.

»Welchen nehmen wir?«, fragte er, als er nichts von Patrick hörte.

Der schlief tief.

Jonas rüttelte ihn wach und fragte lauter: »Welchen?«

Patrick fuhr hoch. »Die Rote«, krächzte er.

»Ich meine: Wohin fahren wir?«

»Zum ›Forstschlösschen‹.«

»Hört sich nach Wald an.«

»Steht auch im Wald. Wo sind wir?«

»Am Waldrand.«

»Dann fahr hinein, Mensch.«

Sie hätten das Spiel noch lange weitertreiben können, doch Jonas wollte endlich wissen, was sich im geheimnisvollen ›Forstschlösschen‹ abspielte. Sie hatten einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt für eine illegale Pokerrunde oder Schnapsbrennerei.

»Wie du siehst, führen beide Wege in diesen verfluchten Wald«, klärte er Patrick auf. »Also, nehmen wir den linken oder den rechten Weg?«

Fehlte nur noch, dass er jetzt mit einem logisch korrekten Ja antwortete, dachte Jonas gereizt. Scheinwerfer blendeten im Rückspiegel. Ein weißer Sportwagen brauste an ihnen vorbei mit einer Geschwindigkeit, für die dieses Sträßchen bei Gott nicht gemacht war. Staub und Dreck wirbelten auf, als zwei Räder durch den Straßengraben pflügten. Im nächsten Augenblick verschluckte der schwarze Wald den späten Gast und die quälende Ruhe kehrte zurück.

»Ihm nach!«, befahl Patrick im Brustton der Überzeugung.

»War das einer deiner ›Forstschlösschen‹-Verschwörer?«

»Sonst gibt’s ja nichts in diesem Wald.«

»Das fürchte ich auch«, brummte Jonas und drehte den Zündschlüssel.

Fünf lange Minuten fuhren sie vorsichtig an finster blickenden Tannen vorbei. Die eine oder andere Eiche oder Buche mochte auch dabei sein, so genau wollte er es nicht wissen.

»Halt, wir sind da«, rief Patrick plötzlich mitten im Wald.

Weit und breit war kein Haus zu sehen. Nur ein unscheinbarer Pfad führte rechts ins Gebüsch hinein. Kein Wegweiser, nichts deutete auf das geheimnisvolle Schlösschen hin.

»Ein wenig spät, um Pilze zu sammeln, findest du nicht?«, knurrte Jonas.

»Mach schon.«

Patrick saß jetzt hellwach und kerzengerade in seinem Sitz. Ruckartig schoss sein Kopf in die Höhe wie beim Erpel nach der Balz. Der versteckte Pfad erwies sich als komfortabel geteerte Zufahrt zu einer Lichtung, die von der Waldstraße her nicht zu sehen war. Ein behäbiges Schwarzwälder Forsthaus mit ausladendem Walmdach und üppig bepflanzten Holzbalkonen stand mitten in einer Blumenwiese, wo mannshohe Königskerzen sogar im fahlen Mondlicht wie gelbe Fackeln leuchteten. Auf dem großzügigen Parkplatz neben dem Haus bemerkte Jonas als Erstes den weißen Sportwagen.

»Das soll dein Schloss sein? «, fragte er etwas enttäuscht.

»Schwer was los heute«, freute sich Patrick beim Anblick der mindestens zehn geparkten Autos.

An der Tür stand Arnold Schwarzeneggers kleiner Bruder. Jonas fragte sich, wie der Mann in seinen Smoking geschlüpft war. Der Anzug schmiegte sich so eng an seine prallen Muskeln, dass er zu platzen drohte. Patrick klaubte ein rosa Kärtchen aus der Tasche und hielt es dem Zerberus hin. Der nickte freundlich, ohne den Ausweis genau anzusehen. Man kannte sich.

»Der Herr ist mein Gast, Milan«, antwortete Patrick auf den fragenden Blick, mit dem der Türsteher Jonas einschätzte.

Milan nickte. »Ich wünsche den Herrschaften gute Unterhaltung.«

»Werden wir haben«, grinste Patrick in der Eingangshalle, einer befremdlichen Mischung aus Jägerstube und Pariser Plüschsalon des Fin de Siècle.

Jonas überraschte bloß, dass nicht Oscar Wilde auf dem Sofa unter dem goldenen Hirschgeweih saß, sondern eine füllige ältere Dame in knappem Dirndl, die in einem Magazin las. Bevor sie sich erhob, um die neuen Gäste zu begrüßen, wollte er wissen, was der Name ›Peter Pan‹ auf Patricks rosa Ausweis bedeutete.

»Mein Pseudonym – passt doch, oder? Milan ist der einzige richtige Name im ›Forstschlösschen‹, außer den Namen der Betreiber natürlich.«

Die Dame war schon bedrohlich nahe.

»Du solltest dir auch einen Spitznamen zulegen«, drängte Patrick.

»Klar doch – Captain Hook, wo wir schon dabei sind.«

»Captain Hook?«, säuselte die Dame mit einem Lächeln so süß wie ihr Parfüm. »Sie sind neu hier. Ich heiße Sie ganz herzlich willkommen bei uns im ›Forstschlösschen‹.«

»Captain Hook ist mein Gast, Juliane«, bemerkte Patrick, während er sie mit drei Bussis begrüßte, wie das in Pariser Salons noch heute üblich sein soll. Dabei verschwanden zwei große Geldscheine diskret in den Abgründen von Julianes Mieder.

»Drinks und Snacks findet ihr im Foyer, wie gewohnt.«

Die Hausherrin, oder was immer Juliane darstellte, warf einen Blick auf die Uhr.

»Die nächste Show beginnt in zehn Minuten – nicht vergessen«, schmunzelte sie geheimnisvoll, während sie die Tür aufhielt.

Jonas rümpfte die Nase. »Auf Theater kann ich echt verzichten«, flüsterte er Patrick ins Ohr, um die nette Juliane nicht zu brüskieren.

Patrick lachte laut auf. »Nicht auf dieses Theater, glaub mir.«

Er schien beinahe wieder nüchtern zu sein. Umso mehr freute ihn die reiche Auswahl alkoholischer Getränke an der Selbstbedienungs-Bar, die das halbe Foyer einnahm.

»Schlag zu. Alles inklusive«, rief er gut gelaunt und goss sich ein Wasserglas prall voll mit eisgekühltem ›Smirnoff‹. Den Tomatensaft daneben rührte er nicht an.

Jonas schüttelte leicht angewidert den Kopf. »Willst du mir nicht endlich erklären …«

Weiter kam er nicht. Zwei Mittvierzigerinnen nahmen ihn in die Zange, dass er kein Glied mehr zu rühren vermochte, ohne sie nicht irgendwo unanständig zu berühren.

»Was haben wir denn da?«, sagte die eine, die Hagere, mit rauchiger Stimme zur andern, drallen, die glatt Rubens Muse hätte sein können, wäre der Gute nicht längst verstorben und sie ein paar Jahre jünger. Die beiden trugen bis ins Detail identische Kleider, als wären sie missratene eineiige Zwillinge.

»Originell«, grinste Jonas, weil ihm in der Eile nichts Originelleres einfiel.

»Es kann sprechen«, versicherte die Dralle der Hageren.

Vielleicht gehörte der Auftritt zum absurden Theater, dachte Jonas. Er hasste diese Art moderner Kultur, bei der man das Publikum nicht in Ruhe ließ.

»Meint ihr mich?«, fragte er vorsichtshalber.

»Es spricht mit uns«, wunderte sich die Hagere und zeigte zwei Reihen makellos weißer Zähne zwischen blutroten Lippen.

»Hört mal ihr beiden Holden. Wäre es nicht einfacher, direkt miteinander zu kommunizieren? Ich spreche sogar fließend Deutsch. Auch wenn es vielleicht nicht so aussieht: Ich bin kein Wesen vom andern Stern. Ich bin ein ganz normaler Mann.«

»Und was für einer«, platzten beide gleichzeitig heraus.

Sie kicherten eine Weile, bis die rauchige Stimme die erste Frage an ihn richtete: »Wie heißt du denn?«

»Captain Hook.«

»Originell«, fand diesmal die Hagere.

Das Kichern ging weiter. Wie auf ein geheimes Kommando hakten sich die Damen bei ihm unter und zogen ihn vom sicheren Büfett weg.

»Die Show beginnt gleich. Die will sich unser Captain Hook sicher nicht entgehen lassen.«

Er sah sich hilfesuchend nach Patrick um, doch der war im düsteren Saal verschwunden.

»Wie heißt denn das Stück?«

Er wollte es wirklich wissen, doch seine Begleiterinnen fassten die Frage als gelungenen Scherz auf, ihrem Gelächter nach zu urteilen.

»Wie heißt denn dein Stück, Captain Hook?«, keuchte Rubens Muse, nachdem sie zu Atem gekommen war, um gleich wieder loszuprusten.

Noch ein gelungener Scherz. Es war zwecklos, weiter zu fragen. Ohne Widerstand ließ er sich von den beiden in die vorderste Reihe an eine Art Reling manövrieren. Der Raum war viel kleiner als angenommen, eher eine intime Kellerbühne für ein Einmannkabarett als ein Theatersaal. Dafür sprach auch der rote Schimmer, der nur die kreisrunde Bühne und die erste Zuschauerreihe schummrig beleuchtete. Sitzplätze gab es keine, jedenfalls nicht an der Reling. Der enge Zuschauerraum mutete an wie das steile Auditorium eines alten Anatomiehörsaals. Schweißperlen traten auf Jonas’ Stirn. Nicht die Enge und der schwere, süßliche Duft, der ihn an eine Leichenhalle erinnerte, waren die Auslöser seiner inneren Wallungen. Auch nicht seine Begleiterinnen, die spürbar und unverrückbar dafür sorgten, dass er nicht fliehen konnte. Ihn beunruhigte vielmehr die Tatsache, dass er im roten Lichtschein stand, genau wie die Bühne. Schon jetzt glaubte er, alle unsichtbaren Augenpaare wären einzig und allein auf ihn, den Neuling gerichtet.

»Die Musik – es geht los«, flüsterte die Muse erregt und zwickte ihn zur Sicherheit kräftig in den Arm.

Aus dem Nichts materialisierte sich eine schwarz gekleidete Gestalt in der Mitte der Bühne. Schwarze Stiefel, schwarze Hose, schwarzes Jackett, schwarzer Strohhut. Alles glänzte wie frisch gewichst im gleißenden Strahl der Spots, die nun die Szene ausleuchteten, als ginge es um ein Fotoshooting für die nächste ›Vogue‹. Die schwarze Gestalt war eine Frau, das sah er deutlich, obwohl sie ihm den Rücken zukehrte. Die Arme zerrte vergeblich an der Kette, die ihre hoch erhobenen Hände an die Decke fesselte. Ein paar Augenblicke geschah nichts weiter, als dass der Musikpegel bedrohlich anstieg. Das Drama erreichte den Höhepunkt in einem Tusch. Das Licht ging aus, dann blitzte und donnerte es, und die Finsternis hatte ein Ende. Vier giftgrüne Warane mit rotem Kamm krochen über den Bühnenrand hinauf und auf die Wehrlose zu, die verzweifelt an der Kette zerrte. Keine echten Reptilien natürlich. Dick geschminkte Frauen waren es, die sich breitbeinig auf allen Vieren der schwarzen Gestalt näherten, nackt bis auf die Farbe und den lächerlichen Plastikkamm, soweit er beurteilen konnte. Die Bühne begann sich langsam zu drehen. Das Profil der schwarzen Gestalt wurde sichtbar und damit mehr und mehr nackte Haut, denn Hose und Jackett bestanden nur aus der hinteren Hälfte. Die bizarre Szene übte eine unwillkürliche Anziehungskraft auf Jonas aus. Er war ein Mann, und vor ihm auf der Bühne agierten fünf nackte Frauen. Gespannt verfolgte er, wie sich die züngelnden Reptilien an der gefesselten Frau aufrichteten. Die Erkenntnis schoss ihm wie ein Blitz durch den verwirrten Kopf, als sich zwei der Warane an den Brüsten der Gefangenen festsaugten. Das war keine gewöhnliche Striptease-Show mehr. Er vergaß für einen Moment die beiden reifen Blondinen an seiner Seite, die übrigen Zuschauer, die Augen in seinem Rücken, und hielt den Atem an. Alles schien möglich auf der Bühne des ›Forstschlösschens‹. Wie zur Bestätigung dieser unerhörten Vermutung drängte der dritte Waran seinen grünen Kopf zwischen die Beine der Gefangenen, während die Hände des vierten Reptils unter der Hülle über ihrem Hintern verschwanden. Die Bedrängte fand hörbaren Gefallen an ihren Peinigern, genauso wie das Publikum. Jonas ertappte sich dabei, den Hals zu recken, um genau zu sehen, was da im Schoß der Frau geschah. Männer tun so was. Beschämt wagte er einen kurzen Seitenblick auf die Muse neben ihm. Auch sie verfolgte das Geschehen auf der Bühne konzentriert mit Argusaugen und einem seligen Lächeln auf den Lippen. Hätte sein Verstand noch funktioniert, er hätte nichts mehr verstanden. So aber wandte er sich schnell wieder der schamlosen Vorstellung ohne Worte zu und wunderte sich über gar nichts mehr. Wieder setzte das Licht aus. Blitz, Donner, Tusch. Als die Spots wieder aufflammten, bot sich den begeisterten Zuschauern ein ganz anderes Bild auf der verruchten Bühne. Nur noch ein Reptil beschäftigte sich mit der Gefangenen, deren halbe Kleider verschwunden waren. Sie lag mit angewinkelten Beinen auf dem Boden, das Tier auf ihr, die Zunge in ihrer Scheide, den Kamm lustvoll aufgestellt – aber das bildete er sich vielleicht nur ein in der Hitze. Er brauchte den Hals nicht mehr zu recken. Auch für den Fantasielosesten unter den Zuschauern blieb kein Zweifel mehr darüber, was sich da ganz genau abspielte. So sehr nahmen ihn die rhythmischen Bewegungen und Gesänge der beiden in Anspruch, dass er die drei andern Warane komplett vergaß. Bis es zu spät war. Ein grüner Kopf tauchte plötzlich vor ihm auf. Flinke Hände öffneten mit geübtem Griff seinen Hosenschlitz und legten sich um seine prächtig aufgeblühte Männlichkeit, bevor er wusste, wie ihm geschah. Die Schockstarre dauerte so lange, bis er die Lippen des Reptils spürte. Dann endlich kehrte sein Verstand mit einem heißen Schwall Blut im Hirn zurück.

»Heiliges Kanonenrohr«, rief Captain Hook entsetzt.

Er riss sich unsanft von den verzauberten Blondinen los, hechtete über die Reling und floh aus dem Saal, als wäre der alte Helbling persönlich hinter ihm her. Erst draußen merkte er, dass er vergessen hatte, sein Glied wieder in die Hose zu stecken. Er glaubte, genug gesehen zu haben, wollte nur noch an die frische Luft. Nur der Druck auf die Blase hinderte ihn daran, auf kürzestem Weg zur Tür hinauszurennen. Mit Scheuklappen irrte er durch die schummrig beleuchteten Gänge, bis er die Tafel mit der Aufschrift ›Hygienebereich‹ entdeckte. Eine ungewöhnliche Bezeichnung fürs Klo, aber was war hier schon normal. Tatsächlich fand er die Kabinen mit den vertrauten Schüsseln. Ein Pissoir sah er nicht, auch keine Türen mit dem eindeutigen Symbol für Männlein oder Weiblein. Er schlüpfte in eine der offenen Kabinen, hielt mit einer Hand die Tür zu, da der Riegel fehlte, ließ mit der andern die Hose runter und setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung.

»Hallo«, sagte die Schüssel.

Er fuhr auf, als hätte der Blitz hinter ihm eingeschlagen. Zu seinem Glück stockte der Wasserstrahl augenblicklich.

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Wie heißt du?«

Die Schüssel hatte eine angenehme Altstimme, das musste er zugeben. Aus der Tonlage ging nicht klar hervor, welchen Geschlechts sie war, aber das spielte im Augenblick keine Rolle. Verstört, wie Jonas war, fand er keine Worte, um die einfache Frage zu beantworten.

»Bist ein Hübscher«, flirtete die Schüssel unbeirrt weiter.

Jetzt entdeckte er das diskrete Loch und das Auge dahinter.

»Ich wollte eigentlich nur …«, murmelte er verlegen.

»Ach so, schade.«

Das Auge verschwand, eine Klappe fiel über das Guckloch.

»Vielleicht überlegst du dir’s noch«, hörte er gedämpft durch die Trennwand.

In aller Eile suchte er nach weiteren Spionageeinrichtungen. Er setzte sich erst wieder, als er sicher war, allein zu sein. Doch so sehr er sich auch bemühte, die Zuschauer in seinem Kopf wollten keine Ruhe geben. Es war zwecklos. Das Ventil wollte sich nicht mehr öffnen. Mit einer leisen Verwünschung beendete er seine Sitzung, spülte und eilte hinaus. Nur weg vom Hygienebereich. In der Aufregung erwischte er die falsche Abzweigung und stolperte in ein Boudoir, das sich erfreulicherweise sogleich als zweite Bar entpuppte. Da er nicht Wasser lassen konnte, beschloss er, wenigstens den prozentualen Anteil von H2O mithilfe von Alkohol zu reduzieren. Das sollte zu schaffen sein in seinem Zustand. Er gab vor, das kopulierende Paar hinter dem Tresen nicht zu bemerken und näherte sich einer Frau, die offenbar gefunden hatte, was er suchte. Sie saß zusammengesunken auf einem Barhocker, hielt den leeren Kognakschwenker fest umklammert – und schlief mit dem Kopf auf der Tischplatte.

Ein schönes Kind, dachte Jonas beim Anblick des schlanken Körpers, des seiden glänzenden roten Haars und der keck vorstehenden Backenknochen. Sie mochte ungefähr in seinem Alter sein. Schade, war sie nicht ansprechbar. Er sah sich nach der Quelle um, die zum Glas gehörte. Eine leere ›Asbach Uralt‹-Flasche stand auf der Anrichte.

»Mist«, schimpfte er ärgerlich, denn im Gegensatz zur Bar im Foyer herrschte hier Ebbe.

Die schlafende Schöne regte sich. »Ruhe«, lallte sie undeutlich.

»Entschuldigung, ich wollte Sie – dich nicht wecken.«

Beinahe wäre er ins förmliche Sie zurückgefallen, denn irgendwie hatte er das Gefühl, die Frau gehörte nicht hierher.

Sie hob den Kopf, blickte ihn aus großen Augen verwirrt an und murmelte: »Ich brauch Nachschub.«

Als er nicht gleich reagierte, hielt sie ihm das Glas unter die Nase.

»Ver – stehst?«

Mit dem S hatte sie etwas Mühe. Das konnte er gut verstehen. »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist«, gab er zu bedenken.

»Bist ein ganz Gscheiter, wa?«

Er nahm ihr das Glas aus der Hand, bevor sie es fallen ließ. Mit geschlossenen Augen stieg er über das Paar hinter der Theke, das nun bei der Stellung Hund angelangt war. Schnaps fand er in keinem Schrank, wohl aber einen funktionierenden Wasserhahn über der Spüle. Die Rothaarige war schon wieder eingenickt, als er ihr das Wasser reichen wollte.

»Nachschub«, sagte er laut, um das Gestöhn der Hunde zu übertönen.

Die Schöne trank gierig vom vermeintlichen Weinbrand, bis sie abrupt innehielt. Sie sah ihm entsetzt ins Gesicht, als wäre er allein für ihr ganzes Elend verantwortlich. Das Wasser aus ihrem Mund ergoss sich wie ein tropischer Sprühregen über ihn. Einzelne Spritzer trafen sogar die fleißigen Sexarbeiter, sodass der Rüde verwundert aufblickte, bevor er sich umso heftiger weiter vergnügte.

»Pfui Teufel, was ist denn das?«, rief die Rothaarige erbost.

Durch den Schock hörten sich Stimme und Aussprache beinahe wieder nüchtern an. Jonas trocknete sich das Gesicht mit einem Papiertaschentuch. »Man nennt es Wasser«, erklärte er dabei.

»Wasser – willst mich vergiften?«

»Das besorgst du schon selbst. Der Schnaps ist alle.«

»Blödsinn, eben war die Flasche noch voll.«

»Das habe ich befürchtet.«

Sie schien sich wirklich über ihn zu ärgern, nicht über sich selbst, aber weshalb sollte ihn das überraschen? Um sie abzulenken, versuchte er es mit Smalltalk. Er streckte ihr die Hand hin und stellte sich vor:

»Ich bin Captain Hook – und du?«

Sein Verstand sagte ihm, dass ein solcher Satz nie über seine Lippen kommen dürfte. Es würde auch nie wieder passieren, schwor er sich, aber er wollte sich unbedingt mit dieser unbegreiflichen Frau unterhalten. Zu seiner Überraschung formte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

»Bist scharf auf mich, wie?«, stellte sie völlig korrekt fest.

Die naheliegende Antwort blieb ihm im Halse stecken. Er guckte nur albern aus der Wäsche und wartete darauf, dass sie die schwierige Frage selbst beantwortete. Gerade als er die Hand zurückziehen wollte, schlug sie ein.

»Ich bin die Tess.«

Er lachte erleichtert. »Ach so, Polanski, verstehe.«

»Gar nix verstehst du.«

»Der Film ist doch von Polanski?«

»Welcher Film?«

»Tess.«

»Und?«

»Wie – und – was meinst du?«

»Wie ist sie, deine Hollywood-Tess?«

Er erinnerte sich nur schwach an den alten Film. Die echte Tess interessierte ihn ohnehin wesentlich mehr. »Ich glaube, sie ist eine ziemlich tragische Romanfigur«, antwortete er vorsichtig. »Unerfüllte Liebe und so.«

»Stimmt genau.«

Die Antwort gab ihm neue Rätsel auf. Kannte sie die Geschichte nun oder war es ihre Geschichte? Ein tiefer Seufzer hinter der Theke unterbrach seine Gedanken. Die Hunde waren fertig. Jonas hörte, wie der Mann die Klappe des Mülleimers öffnete und etwas hineinwarf, das er sich lieber nicht vorgestellt hätte. Dann entfernten sich die beiden mit glücklichen roten Gesichtern in Richtung der sprechenden Kloschüssel.

»Hallo«, gab er ihnen grinsend mit auf den Weg.

»Die hab ich schon oft hier gesehen. Bleiben immer zusammen. Versteh ich nicht.«

»Vielleicht mögen sie sich«, wagte Jonas zu vermuten.

Tess schüttelte den Kopf. »Versteh ich nicht. Warum kommen sie dann hierher?«

»Ah – das ist eine sehr gute Frage.«

Er konnte sie auch für sich selbst nicht beantworten. Vor allem wunderte ihn, dass er immer noch da war. Schicksal vielleicht? Eine unbekannte kosmische Kraft, die ihn dazu zwang, das Geheimnis dieser Frau zu lüften?

Aus einem Durchgang, der wie das Tor zu Dantes Inferno aussah, drang plötzlich Stimmengewirr. Eine kehlige Männerstimme begann zu lachen. Die Glocken heller, weiblicher Stimmen fielen ein, dann fing jemand an, rhythmisch zu klatschen. Die Stimmen aus der ewigen Verdammnis begannen zu singen:

»Ja, mir san mit‘m Radl da …«

Der höllische Gesang kam näher. Eine erste Gestalt quoll aus dem schwarzen Schlund. Ein wohlgenährter, älterer Herr betrat fröhlich klatschend die Bar, nackt bis auf den Stringtanga. Obwohl – so genau sah Jonas nicht, was sich unter seinem Wanst verbarg. Er war der Anführer einer ausgelassenen Polonaise. Männlein und Weiblein in unterschiedlich geschmackvoller Ausstattung wechselten sich ab. Stets spuckte das Höllentor neue abenteuerliche Gestalten aus. Die Prozession wollte nicht enden. Es war zu spät für eine Flucht. Starr vor Schreck ließ Jonas den Albtraum vorüberziehen. Er wagte kaum zu atmen, bis sich die Schwingtür auf der andern Seite der Bar hinter dem Letzten schloss.

Tess schien die Irren gar nicht bemerkt zu haben. Sie setzte die Konversation dort fort, wo der Gesang sie unterbrochen hatte. »Was suchst du eigentlich im ›Forstschlösschen‹, Captain Hook?«, wunderte sie sich.

»Ich …«

Er hatte keine Ahnung, und sein Hirn war nicht mehr zu gebrauchen. Nur der idiotische Gassenhauer drehte einsame Runden in seinem Schädel.

»Tess!«, rief eine begeisterte Stimme.

Aus dem Nichts tauchte ein fröhliches Faktotum hinter dem Rücken seiner Schönen auf. Der Mann glich verblüffend Till Eulenspiegel. Nicht nur trug er eine gelbe Narrenkappe, deren Glöckchen heiter bimmelten, auch sonst steckte sein Körper ganz in einer gelben Haut bis auf ein paar strategische Ausnahmen. Jonas traute seinen Augen nicht, als der Narr Tess ohne Vorwarnung von hinten begrapschte. Seine Hände waren gleichzeitig überall, als wäre er ein perverser Tausendfüßler.

»He, Moment mal«, protestierte Jonas, sobald er die Sprache wieder fand. »Lass das, verdammt noch mal. Ich unterhalte mich gerade mit der Dame.«

Till Eulenspiegel störte das nicht. Mit breitem Grinsen hob er den Rocksaum seiner Beute und begann stumm ihren Po zu streicheln.

»Also …«

Jonas’ Stimme versagte wieder. Wütend ballte er die Rechte zur Faust und hätte im nächsten Augenblick losgeschlagen, wäre nicht Tess’ zynische Bemerkung in seinem Kopf explodiert:

»Lass ihn«, lächelte sie. »Er braucht das.«

Dabei rutschte sie etwas weiter nach hinten auf dem Hocker, um Till Eulenspiegels Spiel mit ihrem Po zu erleichtern.

»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte sie, als gehörte die untere Hälfte nicht zu ihrem Körper.

Jonas’ Verstand drohte vollends auszusetzen. Er öffnete den Mund, doch der klappte unverrichteter Dinge wieder zu. Ein ersticktes Röcheln war alles, was seine Kehle hergab. Der lüsterne Till hatte die richtige Position gefunden. Er schnurrte aufdringlich wie ein alter Kater. Vor Captain Hooks entsetzten Augen verschwand der ›kleine Till‹ des Komikers zwischen den rosa Hinterbacken der Frau, mit der er doch nur reden wollte.

»Ich lass ihn nur hinten rein«, beruhigte Tess.

Das war das Zeichen zum Aufbruch. Plötzlich drückte die Blase wieder und sein Magen begehrte auf. Er würgte mit letzter Kraft den Brechreiz hinunter. Hals über Kopf flüchtete er aus der Schreckenskammer. Er wusste nicht, wie er dem ›Forstschlösschen‹ heil entkommen war, aber wenig später fand er sich auf dem Parkplatz wieder. Mit weichen Knien stand er neben Patricks Wagen und sog die kühle Nachtluft gierig in seine Lungen. Die Reaktion des Sauerstoffs mit den übrigen verruchten Gasen in seinem Innern war heftig. Er hatte kaum Zeit, sich vom Wagen abzuwenden, bevor sich sein Magen unter Krämpfen entleerte.

Die Waldluft wehte die giftigen Dämpfe langsam aber sicher aus seinem Kopf. Er begann, wieder einigermaßen klar zu denken, war jedoch schlicht zu müde, sich weiter um Patrick zu kümmern. Der fremde Autoschlüssel steckte noch in seiner Tasche, also stieg er, ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, ein und fuhr Patricks Wagen durch den finsteren Forst nach Hause.

Gestüt Walpurga, Badenweiler

Der Bus passierte das Tor, über dem in schlecht lesbarer Sütterlinschrift in goldenen Lettern auf schwarzem Eisen stand, was jeder in der weiteren Umgebung des Schwarzwälder Städtchens Badenweiler sowieso wusste: ›Gestüt Walpurga‹. Der unheilschwangere Name des Holbrinck’schen Familiensitzes konnte Jonas nicht einschüchtern. Er hatte seine Walpurgisnacht hinter sich. Genau vor einer Woche war er der unbegreiflichen Tess begegnet, und seither ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Die Einfahrt zur schlossähnlichen Anlage, die man bescheiden Gestüt nannte, führte durch ein Buchenwäldchen, um einen kleinen See herum vor einen Gebäudekomplex aus hellem, karminrotem Sandstein. Klinisch saubere Blumenrabatten säumten die ausladende Freitreppe, auf der die halbe Gästeschar des ›BWpharm‹-Sommerfestes Platz gefunden hätte. Das Haupthaus musste gut und gerne zweihundert Jahre alt sein, zeigte aber eine makellose Fassade wie der frisch rasierte Lars Brüderle frühmorgens im Büro. Auch das kleine Fußballfeld vor der Treppe, wo die sechs Busse die Belegschaft ausluden, zeigte keinerlei sichtbare Spuren früheren Gebrauchs.

»Sieht aus wie Disneyland, nicht wahr?«, spottete Patrick, der hinter ihm die Treppe hinaufstieg.

Jonas überraschte die keimfreie Umgebung keineswegs. Er kannte seinen CEO Brüderle, den aktuellen Hausherrn auf Gestüt Walpurga, inzwischen gut genug, dass er sich nur fragte, wie es hier lebendige Tiere geben konnte. Eine weitere Frage drängte sich auf in der edlen Empfangshalle mit dem spiegelglatten Parkett unter reich verzierter Stuckdecke:

»Was passiert, wenn einer der Angestellten etwas fallen lässt?«, wollte er leise von seinem Freund wissen.

»So etwas ist niemals beobachtet worden«, grinste Patrick. »Es gibt allerdings eine uralte Legende …«

»Quatsch, erzähl mir lieber, was hier abgeht.«

Nach der Exkursion ins ›Forstschlösschen‹ war er vorsichtig geworden bei Einladungen an unbekannte Orte ohne genauen Plan. Diesmal blieb ihm allerdings keine Wahl. Das Sommerfest, das der CEO großzügig auf seinem Gestüt ausrichtete, war Pflicht. Besonders für Jonas, den jungen Shootingstar der Brüderle’schen Drogenküche. Seine Abwesenheit wäre wohl zuerst aufgefallen. Vielleicht ließ Lars die Angestellten mit Bussen herankarren, damit keiner unterwegs die Fliege machte. Vielleicht aber auch nur, damit nicht bunte Privatautos die strenge Ordnung auf dem Parkplatz störten.

Ein Schwarm schwarz uniformierter Serviererinnen mit weißen Spitzenhäubchen und Schürzchen reichte badischen Weißwein in kleinen Gläsern und Wasser in großen.

»Den Wein solltest du langsam trinken«, warnte Patrick flüsternd. »Nach drei Gläsern ist Schluss. Die führen Strichlisten.«

Jonas blickte ihn verdutzt an. »Das meinst du nicht ernst.«

Patrick meinte es ernst.

»Du leidest unter schwerem Verfolgungswahn«, stellte Jonas kopfschüttelnd fest.

Er leerte das embryonale Achtele in einem Zug und schnappte sich das nächste von einem Tablett in der Nähe.

Lars Brüderle begnügte sich mit einer überraschend kurzen Ansprache. Bald strömten die Gäste in den Park hinter dem Haus, in das Bierzelt, wo es zwar kein Fassbier gab, aber reichlich Schinken und eine bayrische Blaskapelle aus Stuttgart. Es war eine Art protestantisch nüchternes Oktoberfest, das der CEO hier zelebrierte. Die Unterhaltung an den langen Holztischen wurde dennoch schnell lauter und ausgelassener. Nicht einmal der obligatorische, gruppenweise Besuch der Stallungen vermochte die gute Stimmung merklich zu trüben. Da er die meisten Anwesenden nur vom Sehen kannte, benutzte Jonas die Gelegenheit, mit möglichst vielen Unbekannten ein paar Worte zu wechseln. Ganz im Sinne des Gastgebers, nahm er an. Womit sollte er seine Zeit auch sonst totschlagen?

»Wir holen die Kohle rein, die alle andern hier ausgeben«, prahlte einer vom lautesten Tisch unter beifälligem Gejohle seiner Kolleginnen und Kollegen.

»Wie macht ihr das?«, fragte Jonas naiv.

»Wir verkaufen, und zwar gnadenlos.«

Gelächter am Tisch.

Jonas spielte weiter den Unbedarften: »Was verkauft ihr denn so?«

»Na was wohl! ›CAVAXIN‹, ›XORACIN‹, ›LIPEXIN‹, was immer wir unsern lieben Kunden andrehen können.«

»Ach so«, seufzte Jonas scheinbar erleichtert. »Ihr verkauft die Medikamente, die wir produzieren. Ich fürchtete schon, ihr handelt mit Drogen.«

Die Lauten krächzten vor Vergnügen. Jonas verließ den Tisch der gnadenlosen Verkäufer. Er war zufrieden mit der Art, wie er sich bei ihnen eingeführt hatte. Mit der Zeit erschwerte die stickige Luft das Atmen. Draußen vor dem Jubelzelt verpesteten die Raucher die Landluft. Auch das brauchte er nicht. Der Zigarettenrauch trieb ihn immer weiter weg vom Festvolk. Unvermittelt fand er sich allein vor dem Stall, in dessen Boxen Brüderles Lipizzaner gelangweilt im Stroh scharrten. Die kostbaren Schimmel stellten offenbar Brüderles wahre Leidenschaft dar. Soviel hatte er auf diesem Fest immerhin gelernt. Das Tor stand halb offen. Drinnen brannte Licht. Ein Pferd schnaubte, begleitet von beruhigendem Flüstern und dem Rascheln trockenen Strohs. Er ging neugierig hinein. Im Kunstlicht und ohne geführte Gruppe wirkte der Stall bescheidener, geradezu wohnlich. Jonas beschlich das Gefühl, in den verbotenen Intimbereich von Brüderles Anwesen einzudringen. Er hörte Flüstern aus einer der hinteren Boxen, die nur schummrig beleuchtet waren. Eine zierliche Frauengestalt war dabei, einem Pferd den Schweiß mit Stroh und Decke abzureiben. Das Tier genoss die Massage sichtlich. Es warf den Kopf hoch, dass die silberne Mähne im staubigen Lichtkegel tanzte und schnaubte zufrieden dabei.

»Er scheint späte Ausritte zu mögen«, sagte Jonas lächelnd zum entzückenden Rücken.

Die Frau hielt augenblicklich inne in ihrer Arbeit. Wie zur Salzsäule erstarrt, blieb sie stehen, ohne sich ihm zuzuwenden.

»Er ist eine Sie«, antwortete sie mit einer Stimme, die ihm durch Mark und Bein fuhr, als liefe ein Kriechstrom in seinem Körper Amok.

Gebannt beobachtete er ihre Hände, die im Zeitlupentempo die hochgesteckten Haare lösten. Sie schüttelte die Mähne. Seidiger Glanz glitzerte und funkelte im Gegenlicht wie Spritzer eines blutigen Wasserfalls, als das rote Haar auf ihre Schultern fiel. Ihm drehte sich der Magen um vor Entsetzen und Wollust. Die Stimme, das Haar, der knabenhafte Körper – es durfte nicht wahr sein. Starr vor Schreck schaute er zu, wie sie sich unerbittlich langsam zu ihm umdrehte, ihm das Gesicht zuwandte, das er flatternden Herzens wiedererkannte. Das Gesicht, das seit Tagen und vor allem Nächten sein gemartertes Hirn heimsuchte, als wäre er dauernd auf LSD.

»Guten Abend Captain Hook«, grüßte die Schöne.

Sein langes Gesicht erschreckte die Stute. Sie wich unruhig zurück und stampfte ärgerlich auf den Boden. Die Frau strich ihrem Pferd sanft über die Nüstern, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Ruhe, Brunhild, nur ruhig«, murmelte sie, »Captain Hook ist ein ganz Braver. Der tut dir nichts.«

Jonas hüstelte verlegen, weil ihm jedes Wort im Halse stecken blieb.

»T – Te …«

Er brach den Versuch ab, ihren Namen auszusprechen. Sie trat auf ihn zu, wieder bedrohlich in Zeitlupe wie das unabwendbare Schicksal. Schon roch er ihr feines Parfüm neben Pferdeschweiß und Stallgeruch. Er schloss die Augen, öffnete den Mund, um es nochmals zu versuchen.

»Tess«, ächzte er gequält, »was tust du hier?«

Das Schicksal kam unaufhaltsam näher, und ihm fehlte die Kraft, auszuweichen.

»Ich wohne hier«, lächelte sie. »Und du? Was führt dich in meinen Stall?«

»Dein …«

Wieder versagte seine Stimme für kurze Zeit. Er schluckte leer, während er versuchte, seine wie Derwische im Delirium tanzenden Gedanken zu ordnen.

»Dein Stall?«, wiederholte er tonlos. »Ich dachte …«

Sie stand jetzt so nahe bei ihm, dass ihn ihr Atem streifte. Willenlos ließ er es geschehen, als sie seine Hand ergriff. Den Mund ganz nah an seinem Ohr, sagte sie:

»Tess Brüderle, geborene Holzbrinck, mein Name. Und mit wem habe ich das Vergnügen, Captain Hook?«

Brüderle, Holzbrinck, die Namen hämmerten in sein Bewusstsein, als prasselten Steine auf seinen Schädel. Er konnte nicht klar denken, das verstand er in diesem Augenblick, in dem die surrealen Bilder der Walpurgisnacht im ›Forstschlösschen‹ wieder in grellen Farben zum Leben erwachten. Eines erkannte sein benebelter Geist jedoch sofort: Die Konsequenzen dieser Begegnung würden fürchterlich schmerzhaft sein, egal wie er sich jetzt verhielte. Also ließ er ihre Hand gewähren, wehrte sich auch nicht gegen den Kuss auf seine Lippen, ihre forschende Zunge in seinem Mund. Sie berührte und liebkoste ihn mit einer Intensität, als wäre sie vollkommen ausgehungert, was er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Er wunderte sich nicht lange darüber, denn im Nu verlor er vollends den Verstand. Der tanzende Derwisch in seinem Kopf steigerte sich in einen rasenden Wirbel, der alle anständigen Gedanken mit Lichtgeschwindigkeit wegblies und das, was von seinem bewussten Ich noch übrigblieb, mit eiserner Faust ins Auge des Sturms drückte, wo er der lüsternen Tess schutzlos ausgeliefert war.

Der Sturm legte sich mit einem Donnerschlag, wie er begonnen hatte. Sie stand neben Brunhild, strich ihr über die Nüstern, als hätten die letzten ekstatischen Minuten nur in seiner Fantasie stattgefunden.

»Wir beide haben noch viel nachzuholen, meinst du nicht, Captain Hook?«, sagte sie mit unschuldigem Lächeln.

»Ich heiße nicht Captain Hook«, entgegnete er albern. Er war noch nicht ganz zurechnungsfähig.

Sie lachte. »Hätte ich fast gedacht, stell dir vor.«

Es war ein warmes Lachen, das ihm glühende Röte ins Gesicht trieb. Sie beobachtete ihn liebevoll, wie eine Mutter, die ihrem Kind beim Spielen zusieht.

»Du bist Lars Brüderles Gattin?«, fragte er in der vagen Hoffnung auf ein Nein.

»So steht’s auf dem Papier. Und du arbeitest für ihn, nehme ich an.«

Er nickte resigniert. »Jonas Herzog, Pharmakologe«, murmelte er. »Mann, Mann, Mann …«

Sie hatte plötzlich einen in edles Leder gebundenen Flachmann in der Hand. Lächelnd schraubte sie den Deckel ab und trank einen herzhaften Schluck der Flüssigkeit, die mit Sicherheit aus mindestens vierzig Prozent Äthanol bestand.

»Erstklassiges Wässerchen«, erklärte sie und streckte ihm die Flasche entgegen.

Er schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee.«

»Findest du? Da bin ich anderer Ansicht. Der Schnaps reinigt von innen und ist wesentlich bekömmlicher als Seifenlauge. Dank dem Gesöff habe ich es immerhin schon viele Jahre hier ausgehalten.«

»Was wir hier tun, ist keine gute Idee.«

»Wir reden doch nur.«

»Du weißt, was ich meine. Wie soll das jetzt weitergehen mit uns?«

Als hätte er um ihre Hand angehalten, fiel sie ihm um den Hals. Sie drückte einen feuchten Kuss auf seine Lippen, dann begann sie, sein Ohrläppchen anzuknabbern. »Soll es denn weitergehen?«, hauchte sie dabei.

Jede Faser seines Körpers wollte ja schreien, doch der Verstand legte sich quer. Er befreite sich sanft von ihrer ungestümen Umarmung und hörte sich zu seinem Entsetzen sagen: »Wir dürfen uns nicht mehr sehen. Dein Mann …«

»Dem ist egal mit wem ich mich paare, solange ich mich nicht scheiden lasse.«

»Ich verstehe gar nichts mehr.«

»Brauchst du auch nicht. Ist eine lange Geschichte. Hat mit dem Holzbrinck’schen Erbe zu tun. Dafür lohnt es sich, zu leiden.«

Litt nun sie oder Lars, der CEO, oder am Ende nur er selbst? Er kapierte es nicht. Er wollte die Sache ein für alle Mal klären, bevor sie den Flachmann wieder ansetzte. Das ferne Klingeln eines Telefons hinderte ihn daran. Gleich danach hörte er die laute Stimme Lars Brüderles, der den späten Anruf gar nicht zu schätzen schien.

»Scheiße – dein Mann – was machen wir jetzt?«

»Ich würde zuerst den Hosenladen schließen«, riet sie ihm schmunzelnd.

Während er hektisch den Griff des Reißverschlusses suchte, hörte er ein Rascheln im Stroh. Er fand, was er suchte, zerrte daran wie an der Reißleine des rettenden Fallschirms. Als er aufblickte, stand er allein vor der Box. Keine Spur von Tess. Sie hatte sich in glitzernden Staub verwandelt. Nur Brunhild musterte ihn misstrauisch mit glänzenden Augen, als hätte sie im Stillen geweint.

»Hallo, jemand da?«, rief Lars Brüderle am Tor.

Jonas blieb keine Zeit, sich zu verstecken. Er hoffte inständig, dass Tess wirklich verschwunden war, und trat schicksalsergeben auf Brüderle zu.

»Ich bin’s, Dr. Herzog«, sagte er mit einer Stimme, die betont ruhig wirken sollte, aber nur überlaut daherkam.

»Dr. Herzog? Was machen Sie denn hier im Stall?«

»Entschuldigen Sie, die Tür war offen, das Licht brannte und ich hörte, dass die Pferde unruhig waren.«

Jonas beglückwünschte sich insgeheim zu dieser brillanten Ausrede, aber sein CEO traute ihr nicht. »So? Seltsam. Um welches Pferd handelt es sich?«, fragte er lauernd. Dabei blickte er sich offen nach weiteren Eindringlingen um.

»Die – wunderbare Lipizzanerstute da hinten.«

Jonas zeigte auf die Box, wo Brunhild tatsächlich wieder aufgeregt schnaubte. Seine frappante Pferdekenntnis schien Brüderle doch noch zu beeindrucken.

»Brunhild, die Stute meiner Frau«, murmelte er. »Sie ist ein wenig ängstlich.«

»Ein schönes Tier«, meinte Jonas bewundernd, obwohl er Pferde nur an der Farbe unterscheiden konnte.

»Wie alle hier«, ergänzte Brüderle säuerlich.

»Natürlich.«

Jonas beeilte sich, seinem CEO zum Ausgang zu folgen. Der blieb plötzlich stehen und drehte sich mit ernster Miene zu ihm um. »Übrigens, Dr. Herzog. Die Frage des klinischen Tests hat sich erledigt. Ich habe mit Berlin gesprochen. Ihre Argumente haben überzeugt.«

Er hätte ebenso gut Chinesisch reden können. Im ersten Moment verstand Jonas kein Wort. Gut trainiert, wie er war, antwortete er automatisch mit der passenden Floskel: »Ausgezeichnet. Das sind gute Nachrichten.«

Erst nachdem sie den Stall hinter sich hatten, sank die Neuigkeit in sein Bewusstsein. Lars Brüderle hatte soeben bestätigt, dass keine zusätzlichen, aufwendigen klinischen Tests für ihr gentechnisch hergestelltes Generikum ›XORACIN‹ nötig waren. Anders ausgedrückt: Sein Projekt war auf der Zielgeraden zum totalen Triumph. Freuen mochte er sich nicht darüber. Vielleicht später. An diesem Abend machte er sich zu große Sorgen um seine Tess.

Unentrinnbar

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