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Kapitel 3

Gestüt Walpurga, Badenweiler

Tess rieb sich verwundert die Augen. So früh am Morgen zu erwachen war ungewöhnlich genug, aber ohne Kater? Wie lange lag ihr Flachmann schon leer in der Nachttischschublade? Sie war im Begriff, sich zu verändern. Jetzt, da die Tage schnell kürzer wurden und die ersten Frostnächte vor der Tür standen, begann in ihrem Kopf der Frühling. Blumenwiesen verbreiteten ihren betörenden Duft und laue Lüftchen wehten den abgestandenen Alkoholdunst nach und nach aus ihren Poren. Nicht dass sie ganz aufs Trinken verzichtete, beileibe nicht. Aber die kostbaren, witzigen und romantisch verliebten Telefonate und Kurznachrichten ihres herzergreifend unverdorbenen Jonas am Abend im Bett wiegten sie so sanft in den Schlaf, dass sie den betäubenden Schlummertrunk regelmäßig vergaß. Der Frühling machte auch das Leben im goldenen Käfig des Familiensitzes überraschend erträglich. Selbst im Haus konnte sie vollkommen nüchtern sein und trotzdem frei atmen. In diesem schrecklichen Haus, wo die Perfektion des selbstgerechten Stiefvaters und seiner noch vollkommeneren Mutter Walpurga wie ein einziger giftiger Vorwurf aus jeder Mauerritze, den Tapeten, kostbaren Teppichen, antiken Möbeln, piekfein glänzenden Wasserhähnen, ja gar aus dem schweren Tafelsilber kroch.

Sie schlug die schwarz seidene Bettdecke zurück, küsste das Handy mit dem Morgengruß ihres Geliebten und stellte sich unter die Dusche, deren warmer Tropenregen sie wieder erfrischte wie früher, nicht nur weckte, seit sie Jonas kannte. Der einzige Nachteil des neuen Lebensrhythmus bestand darin, dass sich die Begegnungen mit Lars am Frühstückstisch häuften. Seit der alte Hubert die meiste Zeit in Italien verbrachte und sie ihm nicht mehr täglich die intakte Ehe vorspielen musste, hatte sie kaum ein Wort mit Lars gewechselt. Er versuchte es immer wieder, weil er als ehemaliger Staranwalt nichts anderes gelernt hatte als Theater zu spielen, doch seine Themen interessierten sie nicht. Außer einem, bei dem sie sich regelmäßig in die Haare gerieten. An diesem schönen Frühlingsmorgen, wo draußen ein Herbststurm die letzten Blätter von den Bäumen fegte, war es wieder soweit.

»Irgendwann müssen wir es ihm sagen«, murmelte Lars, bevor er sein Dreiminutenei mit einem präzisen Hieb köpfte.

»Was meinst du?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, wovon er sprach.

»Er hat ein Recht darauf, zu erfahren, dass wohl nichts wird mit dem Nachwuchs.«

»Musst du am frühen Morgen damit anfangen?«

»Wann sonst? Wir sehen uns ja nie mehr.«

Sein Ton ließ sie aufhorchen. Er hörte sich an, als bedauerte er diesen Umstand außerordentlich.

»Wir müssen es Hubert schonend beibringen, das ist dir doch klar?«

Tess lachte verächtlich. »Du meinst, mein protestantischer Stiefvater verträgt die simple Wahrheit nicht, dass man nur vorne schwanger wird?«

Lars senkte den Blick und löffelte das Ei bedächtig aus, bevor er ruhig weitersprach: »Wir müssen einen plausiblen Grund finden, den Hubert akzeptieren kann, sonst ist er imstande, das Testament zu ändern. Ich meine, das wollen wir beide nicht.«

»Hast Angst, das vorgezogene Erbe zurückzahlen zu müssen, wie?«

»Darum geht es doch nicht …«

»Genau darum geht es«, brauste sie auf. »Du willst ihm weismachen, wir könnten keine Kinder kriegen. Dass ich nicht will, ist euch beiden scheißegal. Vielleicht fürchtest du, dass ich dir bei meinem katholisch sündigen Lebenswandel eines Tages einen Bastard ins Nest setze, einen wie mich.«

»Hör auf …«, protestierte er. Der Rest blieb unausgesprochen.

Sie stand wütend auf. Die Bedienung hatte sich diskret zurückgezogen, als der Streit ausbrach, also goss sie sich selbst Kaffee nach aus der verhassten Silberkanne in der Mitte der langen Tafel. Ihr Handy piepste. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie die SMS las.

»Wieder dieser Hook?«, fragte Lars lauernd.

Überrascht ließ sie das Handy fallen. »Was – woher …«

»Ich bin nicht blind, Tess. Du lässt dein Telefon überall liegen, da konnte ich gar nicht anders, als ein-, zweimal einen Blick darauf werfen.«

Sie schäumte. »Ja sicher«, rief sie aufgebracht. »Der überkorrekte Herr Brüderle spioniert seiner Frau nach. Ich dachte, wir lassen uns unsern Freiraum, schon vergessen? Vielleicht sollten wir das schriftlich in einem Vertrag regeln. Du kennst sicher einen guten Anwalt.«

Er ließ sie toben, hielt es nicht für nötig, sie zu unterbrechen. Der Blick, den er ihr zuwarf, sagte deutlich genug: Bist du fertig? Warum schaffte er es immer wieder, sie zu provozieren? Sie kannte die Antwort, aber sie nützte ihr nichts. Er war trainiert, die schwachen Punkte anderer Leute zu erkennen und sie dann mit wenigen Worten bis aufs Blut zu reizen. Das war sein Lebensinhalt. Er konnte wahrscheinlich gar nicht anders. Seine nächste Frage nach einer Minute knisternden Schweigens passte genau in dieses Schema:

»Wie lange geht das schon mit diesem Hook?«

Als ob ihn je interessiert hätte, mit wem sie herumhurte. Statt ihm diese Wahrheit erbost an den Kopf zu werfen, antwortete sie mit provozierendem Lächeln: »Bald drei Monate.«

Er stutzte.

»Das hast du nicht erwartet«, freute sie sich.

»Muss ich mir Sorgen machen?«

»Sorgen?«

»Am Ende verliebst du dich in den Kerl.«

»Seit wann interessieren dich meine Gefühle?«

»Du hast keine Ahnung. Ich zähle jedenfalls auf deine Diskretion. Das Gestüt hat viele Augen, auch wenn dein Vater nicht mehr hier wohnt.«

»Stiefvater«, korrigierte sie ärgerlich und kehrte der reich gedeckten Tafel den Rücken.

Freiburg

Jonas war kein Geschäftsmann. Er besaß keinen Riecher für profitable Geschäfte. Deshalb war er Forscher geworden, wollte nie etwas anderes sein. Aus demselben Grund dachte er keine Sekunde daran, Vorteile für sich und seine Arbeit aus der Tatsache zu ziehen, dass er durch Zufall in den innersten Kreis des Holzbrinck-Brüderle-Imperiums vorgestoßen war. Sein Interesse galt einzig und allein Tess, der Person, die ihn bei jeder Begegnung mit einer neuen Facette überraschte, als wüsste sie selbst nicht, wer sie sein wollte. Sie war der einsamste Mensch, dem er je begegnet war, soviel hatte er verstanden. Und sie war die erste Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. So einfach war das und so unmöglich.

Er dachte nicht an diese hoffnungslose Zukunft, als er an diesem kalten Morgen, später als sonst, an der uralten Linde vorbei die Herrengasse hinauf schritt zum Stadtgarten, hinter dem das Gelände der ›BWpharm‹ lag. Fröstelnd schlug er den Mantelkragen hoch, um die eiskalten Ohren zu wärmen. Die Rollläden der Geschäfte waren hochgezogen, stellte er erstaunt fest. Wenn er sonst hier vorbeikam, brannte höchstens im Bäckerladen Licht und das Wasser im Bächle war sein einziger Begleiter. Er war wirklich spät dran. Zu spät für die Sitzung beim CEO. Es spielte keine Rolle mehr. Die mutierten Bakterien produzierten den ›XORACIN‹-Wirkstoff auch ohne ihn. Die kritische Phase war überwunden, das Projekt ein Selbstläufer. Seine Gedanken beschäftigten sich nun mit einem ganz andern Projekt, dem wichtigsten seines jungen Lebens. Er musste Tess aus ihrer Isolation befreien. Sein Herz ließ ihm keine andere Wahl. Später bliebe noch genügend Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen.

»Lars will dich sprechen«, sagte Patrick zur Begrüßung, als er die Tür zum Büro öffnete.

»Dr. Brüderle möchte dich sprechen, sofort«, verkündete seine Sekretärin mit forschendem Blick, kaum hatte er den Mantel aufgehängt.

»Ich weiß. Irgendeine Vermutung, was er will?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es klang nur ziemlich dringend.«

»Ist Hauser bei ihm?«

Wieder Kopfschütteln. »Dr. Hauser hat einen Kundentermin.«

Sie musste es wissen, denn sie kontrollierte auch Hausers Terminkalender. Brüderle wollte ihn also persönlich unter vier Augen sprechen. Etwas beunruhigt betrat er das Büro des CEO.

»Sie sind ja doch da, gut«, stellte Brüderle trocken fest. Es war kein Vorwurf, nur eine deutliche Frage.

Jonas hustete rau, bevor er seine vorbereitete Antwort vorbrachte. Er laberte etwas von aufziehender Erkältung und erhöhter Temperatur.

»Ich gehe davon aus, dass Sie nicht einfach verschlafen haben«, bemerkte Brüderle ohne einen Anflug von Ironie.

Jonas stand der Sinn nicht nach Konversation. »Sie wollten über die ›XORACIN‹-Zulassung sprechen?«, vermutete er, um die Sache abzukürzen.

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Diese Sache ist auf gutem Weg. Schließlich bleibt das Prozedere sozusagen in der Familie.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Staatssekretärin Trauttmannsdorff im Gesundheitsministerium heißt mit vollem Namen Margarethe von Holzbrinck-Trauttmannsdorff.«

»Sie ist die …«

Jonas stockte erschrocken. »Mutter von Tess«, lag ihm auf der Zunge. Im letzten Moment korrigierte er die Frage:

»Die Gattin des Patrons?«

Brüderle nickte.

»Verstehe«, schmunzelte Jonas. »Praktisch.«

Der CEO reagierte mit keiner Faser auf die ironische Bemerkung, jedenfalls nicht äußerlich. Für ihn war die enge, familiäre Beziehung zum wichtigen Gesundheitsministerium in Berlin nichts weiter als eine geschäftliche Notwendigkeit.

Brüderle kehrte zum Sachthema zurück: »Dr. Hauser bestätigte mir in der Sitzung, dass Sie den Terminplan einhalten können. Ist das so?«

»Absolut. Der Meilenstein wird eingehalten, sofern keine weiteren Anforderungen aus Berlin eintreffen.«

Brüderle schüttelte energisch den Kopf. »Das wird nicht geschehen.«

Jonas versuchte es nochmals mit Ironie: »Die Wissenschaft hat ihren Zweck erfüllt. Somit werde ich bald arbeitslos sein«, lächelte er.

Diesmal reagierte Brüderle, allerdings nicht so, wie er erwartete: »Das hängt ganz von Ihnen ab«, meinte er.

Jonas sah ihn verständnislos an.

»Ich meine, ob Sie arbeitslos werden, liegt ganz bei Ihnen«, wiederholte Brüderle und beobachtete ihn dabei mit dem Pokerface des beinharten Anwalts.

»Gibt es Beschwerden über meine Arbeit?«

»Mir nicht bekannt. Wir alle hier schätzen Ihre Arbeit«, versicherte Brüderle.

»Dann kann ich ja beruhigt sein«, murmelte Jonas ärgerlich. Er war des Rätselratens müde und wandte sich zum Gehen. »War das alles, Dr. Brüderle?«

Die Audienz war keineswegs zu Ende. Mit der stets gleichen, undurchdringlichen Miene stellte Brüderle die Frage, die Jonas zuletzt aus seinem Mund erwartet hätte:

»Was sagt Ihnen der Name Hook?«

Die Zeit blieb stehen. Seine Kinnlade fiel herunter, dann bewegte sich gar nichts mehr. Erst als er wieder Sauerstoff in den Lungen brauchte, begann sich die Erde langsam weiterzudrehen.

»Hook? Ich – weiß nicht …«, stotterte er.

»Sie müssen diesen Hook ganz gut kennen«, stellte das Pokerface ruhig fest. »Hook sendet nämlich laufend anzügliche SMS unter Ihrer Handynummer an meine Frau.«

Jonas schoss heißes Blut in den Kopf. Er musste glühen vor Schamröte. Sprachlos wie ein ertappter Erstklässler vor dem Lehrer, stand er vor seinem obersten Chef. In Sekundenschnelle wandelte sich die Scham in Zorn. Zorn über seine eigene Dummheit, über Brüderles Dreistigkeit, mit der er offenbar seine Frau überwachte, obwohl die Ehe nur auf dem Papier bestand, und Wut über das beschissene Leben seiner Tess auf dem unseligen Gestüt Walpurga. Der ganze Dreck wäre aus ihm herausgebrochen, hätte nicht Brüderle in diesem Augenblick zu seinem eindringlichen Monolog angesetzt.

»Hook muss eines wissen«, sagte er mit Grabesstimme, ohne auch nur einen einzigen unnötigen Gesichtsmuskel zu bewegen. »Meine Frau Theresa ist psychisch sehr labil. Sie sucht manchmal die Nähe anderer Menschen, fremder Männer, weil sie krankhaft unsicher ist. Sie sucht Bestätigung. Findet sie diese nicht, geschieht die Katastrophe. Schon mehrmals hat sie sich kaum mehr von diesen Schocks erholt. Es ist eine Krankheit, gegen die es keine Pille gibt. Man kann nur vorbeugen, indem man sie in ihrer eigenen Welt in Ruhe lässt, verstehen Sie? Sagen Sie das diesem Hook. Und noch etwas: Sollte ich feststellen, dass Theresa wieder auf eine solche Katastrophe zusteuert, werde ich den oder die Verantwortlichen mit der ganzen Härte des Gesetzes zur Rechenschaft ziehen. Ich bin Anwalt. Ich kenne mich aus. Sagen Sie auch das Ihrem Freund Hook. Das ist alles.«

Brüderle nahm die Unterschriftenmappe aus dem Eingangskörbchen und setzte seine tägliche Routinearbeit fort, als wäre er nie unterbrochen worden.

Jonas konnte keinen klaren Gedanken fassen, fand kaum den Ausgang und torkelte den Korridor hinunter zu den Aufzügen wie ein angezählter Boxer, der sich kaum auf den Beinen halten kann. Es war der Tag, an dem er zum ersten Mal einen Anruf von Tess nicht entgegennahm und keine ihrer Kurznachrichten beantwortete. Seine Zukunft begann früher, als ihm lieb war.

Gestüt Walpurga, Badenweiler

»Soll ich den Kaffee auftragen, Madame?«

Tess blinzelte, schloss die Augen sofort wieder. Das grelle Licht tanzte weiter in ihrem Schädel, als freute es sich über ihren elenden Zustand. »Wie spät ist es?«, ächzte sie heiser mit trockenem Mund.

»Drei – Sie haben geklingelt.«

Sie tastete nach dem Flachmann auf dem Nachttischchen. »Leer«, murmelte sie und hielt der Bediensteten die Flasche hin.

»Soll ich das Bad einlassen, Madame?«

Sie drehte sich auf die andere Seite, gab einen Laut von sich, den das Dienstmädchen als Ja verstand, und vergrub den Kopf im Kissen. Das Rauschen des Wassers drang gedämpft in ihr Ohr. Es hörte sich an, als liefe die neu gewonnene Lebensfreude in einem Sturzbach aus ihrem Körper. Der alte Schnapsnebel machte sich wieder in ihren grauen Zellen breit. So ließ sich der jähe Verlust der blühenden Wiesen und lauen Frühlingslüftchen besser ertragen. Seit Tagen versuchte sie Jonas zu erreichen, sprach nur noch mit seiner Mailbox. Kein Morgengruß wartete auf dem Display des Handys, wenn sie aufwachte. Wozu überhaupt aufwachen unter diesen Umständen? Alles war wieder so sinnlos wie vor ihrer Begegnung mit ihm. Das Dienstmädchen ließ sich Zeit mit dem Wodka, also schleppte sie sich mühsam ins Bad. Die ätherischen Öle des Badezusatzes erregten Übelkeit, aber der stechende Geruch wehte wenigstens einen Teil des Selbstmitleids aus ihrem Kopf. Ihre Gedanken begannen, sich neu zu ordnen. Der Entschluss, Klarheit zu schaffen – heute, jetzt, sofort – drängte sich in den Vordergrund. Jonas sollte ihr ins Gesicht sagen, weshalb er plötzlich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Sie musste ihr Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen. Alkohol war nicht die Lösung, hämmerte der Verstand ihr ein. So sehr, dass sie den Flachmann vergaß, noch ehe sie aus dem Bad stieg.

Zehn Minuten später saß sie in ihrem blauen E-Klasse-Cabrio, unterwegs nach Freiburg. Sie fuhr direkt zur ›BWpharm‹. Das Bürogebäude, in dem Jonas und Lars arbeiteten, betrat sie zum ersten Mal.

»Wo finde ich Dr. Herzog?«, herrschte sie die Empfangsdame an, ohne sich vorzustellen.

»Wen darf ich melden?«, fragte die Angestellte höflich. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, wer vor ihr stand. »Oh mein Gott«, murmelte sie erschrocken. »Entschuldigen Sie, Frau Brüderle, nur einen Augenblick.«

Hastig griff sie zum Telefon, wählte und sprach so leise in den Hörer, dass Tess nur ihren Namen verstand.

»Sie werden gleich abgeholt«, versicherte die Dame mit einem nervösen Blick zu den Aufzügen.

Tess brauchte nicht lange zu warten. Mittlerweile nagten keine Selbstzweifel mehr an ihr, nur noch die Stinkwut auf Jonas. Eine Lifttür öffnete sich mit heiterem Glockenton, als frohlockte sie: Seht her, hier ist er. Sie war bereit, sich auf den Mann zu stürzen, der ihr neues Elend zu verantworten hatte – und stutzte. Lars trat aus dem Aufzug.

»Tess, welche Überraschung«, grüßte er ganz ohne überflüssiges Lächeln.

»Wo ist er?«, schnauzte sie ihn an, als steckte er mit seinem Nebenbuhler unter einer Decke.

»Wen meinst du, meine Liebe?«

Seine geschwätzige Ausdrucksweise stieß ihr sauer auf. Ein simples »Wer?« hätte genügt, aber auch das wäre zuviel gewesen, denn er wusste ganz genau, von wem sie sprach.

»Jonas, verdammt noch mal«, rief sie zornig.

»Wir sollten das im Büro besprechen.«

Ihr unerwartetes Erscheinen und der laute Auftritt schienen den perfekten Lars erheblich zu verunsichern. Vielleicht war sie ihm einfach nur peinlich. Auch gut.

Er trat einen Schritt auf sie zu und flüsterte eindringlich: »Mach hier bitte keine Szene.«

»Ich will dir deine kostbare Zeit nicht stehlen. Sag mir einfach, wo ich Jonas finde.«

Er zeigte fast flehend auf den Lift. »Fahren wir nach oben – bitte.«

Sie blickte weder links noch rechts, erwiderte keinen Gruß, während sie ihm zu seinem Büro auf der obersten Etage folgte. Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, änderte sich seine Haltung. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. Stumm bot er ihr Platz an auf dem Sofa, wo sonst die Besprechungen mit dem privilegierten Personal stattfanden.

Sie blieb stehen, fragte noch einmal: »Wo ist er?«

Sein kalter Blick streifte sie. »Was willst du von Hook?«

Sie sparte sich Ausflüchte, um nicht Gefahr zu laufen, dass ihr Ärger verrauchte. »Gratuliere zu deiner Kombinationsgabe, Sherlock Holmes«, entgegnete sie trocken.

Er zeigte keine Regung. Seine nächste Frage traf sie unerwartet und genau in ihre blutende Wunde: »Hat er dich versetzt?«

Genauso gut hätte er ihr die Faust in den Magen rammen können. Ihr Atem stockte und der Schmerz fuhr ihr in die Glieder, dass sie sich doch noch setzen musste.

»Was weißt du schon«, wisperte sie schließlich tonlos.

»Du wirst verstehen, dass ich deiner Beziehung mit meinem Angestellten Herzog nichts Positives abgewinnen kann. Aber ich sehe, wie du leidest …«

»Einen Scheiß siehst du! Du hast keinen Schimmer, wie es in mir drin aussieht.«

»Mag sein«, gab er zu, »aber hast du dich nie gefragt, warum er sich an dich herangemacht hat?«

»Jonas hat sich nicht an mich rangemacht«, brauste sie auf. »Er hat …«

»Er hat dich ausgenutzt. Er hat bekommen, was er wollte. Jetzt braucht er dich nicht mehr. Je eher du das begreifst, desto besser für dich.«

Sie fand keine Worte, starrte ihn nur hilflos an. Seine nüchtern vorgetragene Anschuldigung schmerzte so sehr, dass sich alles in ihrem Kopf zu drehen begann. Jonas hatte sie geliebt, das wusste sie. Kein Mann kann eine Frau so täuschen. Ausgenutzt? Unmöglich. Sie waren glücklich.

Lars hieb gnadenlos weiter in die Bresche: »Was hat er in der Bibliothek gesucht? Hast du dir das mal überlegt? Er hat dich doch in der Bibliothek beglückt, nicht wahr?«

»Hast du heimlich zugesehen? Hat’s Spaß gemacht?«

Sie war außer sich. Weniger wegen seiner emotionslos vorgetragenen Anklage, als wegen der treulosen Dienstboten auf Gestüt Walpurga. Woher sonst sollte Lars von ihrem Abenteuer in der Bibliothek erfahren haben?

»Auf jeden Fall war jemand an meinen Papieren, und ich denke, du weißt genau, wen ich meine.«

»Lächerlich!«, rief sie entrüstet aus und sprang auf.

Sie versuchte krampfhaft, sich an Einzelheiten der Nacht in der Bibliothek zu erinnern. So sehr sie sich auch anstrengte, ihr Gedächtnis gab nur das alles überstrahlende Gefühl preis, das sie mit den glücklichen Stunden verband: der erfrischende Schock, seit Langem wieder richtig zu leben in einem Rausch bedingungsloser Hingabe, der ihr manchmal beinahe die Besinnung raubte. Wie sollte sie sich da gemerkt haben, was sonst noch geschah in jener Nacht?

»Offenbar hat er gefunden, was er suchte«, fuhr Lars unerbittlich fort, »sonst hätte er dich nicht fallen lassen. Mach endlich die Augen auf, Tess. Er ist es nicht wert. Wer weiß, was er noch alles im Schilde führt. Wir beobachten ihn sehr genau.«

Die Ungeheuerlichkeit dieser nüchternen Feststellung schnürte ihr die Kehle zu. Blass, mit versteinerter Miene, vermochte sie nur ihre Frage zum dritten Mal herauszuwürgen: »Wo ist er?«

»Nicht im Haus.«

Lars beugte sich vor, versuchte ihr in die Augen zu schauen, doch sie erwiderte seinen Blick nicht, sah durch ihn hindurch.

»Tess, lass es, ich flehe dich an. Komm, ich fahre dich nach Hause.«

»Welches Zuhause?«, murmelte sie tonlos.

Sie drehte sich auf ihren Absätzen und ging. An der Tür versuchte er, sie aufzuhalten. Sie stieß ihn weg wie einen Müllsack, der den Weg versperrt.

»Dr. Herzog«, rief die Empfangsdame aufgeregt, als Jonas den Aufzug betreten wollte.

Erstaunt trat er an ihr Pult. »Ja?«

Sie erhob sich, beugte sich vor, um leise sprechen zu können. »Entschuldigen Sie, Dr. Herzog, ich glaube, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«

Die Dame machte einen verstörten Eindruck. »Was ist passiert?«, fragte er mit einem Lächeln, das sie beruhigen sollte.

»Frau Brüderle – ach Gott, es tut mir so leid.« Sie musste erst Atem schöpfen, bevor sie weitersprechen konnte. »Frau Brüderle war hier und …«

»Hier, in der Firma?«, rief er überrascht.

»Ja, sie kommt sonst nie hierher. Sie schien sehr aufgebracht und hat verlangt, Sie zu sehen. Da Sie nicht im Haus waren, habe ich Dr. Brüderle gebeten …«

»Oh mein Gott. Mich wollte sie sprechen?«

»Ja, aber sie fuhr mit ihrem Mann hinauf ins Büro. Sie haben sich gestritten. Nach einer Weile ist sie ganz aufgelöst aus dem Haus gestürmt. Verzeihung, ich weiß, ich hätte Sie anrufen sollen. Ich konnte nicht wissen …«

»Beruhigen Sie sich. Sie haben nichts falsch gemacht.«

Die Floskel hörte sich selbst in seinen Ohren reichlich hohl an. Natürlich konnte sie nicht wissen, wie es um sein unseliges Dreiecksverhältnis stand. Es musste Tess enorme Überwindung gekostet haben, ihn in diesem Haus aufzusuchen, das sie verabscheute wie alles, was mit dem Namen Holzbrinck zusammenhing. War er doch mehr als eine ihrer Affären, die Brüderle angedeutet hatte? Er wollte es aus ihrem Munde hören.

»Wo ist sie jetzt?«, fragte er in Gedanken versunken.

Die Empfangsdame schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wie gesagt, sie ist aus dem Haus gestürmt, als würde sie fliehen, dann fuhr sie mit ihrem Wagen davon.«

Jonas murmelte ein »Danke schön« und eilte zurück zur Garage. Auf der Fahrt nach Badenweiler versuchte er vergeblich, sie ans Telefon zu bekommen. Sie musste das Handy ausgeschaltet haben. Vermutlich wollte sie nicht durch Anrufe von Lars belästigt werden. Er drückte aufs Gas, fuhr hart am Limit, denn er spürte, dass Tess in Gefahr war. In einem gab er Brüderle recht: Sie war labil, konnte nicht mit Ausnahmesituationen umgehen. Manchmal kam sie ihm vor wie ein Schaf oder ein Reh, ein Fluchttier, das sich Konflikten nicht stellte, sondern vor ihnen flüchtete. In den Alkohol, in fragwürdige Abenteuer oder Schlimmeres. Er parkte den Wagen unmittelbar vor der Treppe des Haupthauses. Die Zeit der Diskretion war vorbei, der Konflikt mit Lars Brüderle offen ausgebrochen. Er brauchte nicht mehr heimlich über Wald und Weide aufs Gestüt zu schleichen. Jetzt begann der Kampf um Tess im hellen Tageslicht und mit nackter Faust.

»Wo ist Tess?«, fragte er den Butler, der ihm die Tür öffnete.

Sein scharfer Befehlston ließ keinen Zweifel offen, dass er nur an der Antwort auf diese Frage interessiert war. Der Bedienstete versuchte gar nicht erst, Unverständnis zu markieren.

»Sie – Frau Brüderle ist weggefahren«, antwortete er ohne Umschweife.

»Wann?«

»Kurz nach drei.«

»Seither ist sie nicht zurückgekehrt? Sind Sie sicher?«

»Nein – ja – ich meine, ich bin sicher, dass sie nicht wiedergekommen ist.«

»Wohin ist sie gefahren?«

Der Butler zuckte die Achseln. »Wenn ich ihr etwas ausrichten …«

Er stockte, denn Jonas sprang schon wieder die Treppe hinunter. Im Wagen durchwühlte er hastig das Handschuhfach auf der Suche nach dem rosa Kärtchen, das er seinerzeit eingesteckt hatte. Fluchend räumte er das Fach aus, griff in die Seitentaschen der Türen, bis er sich plötzlich erinnerte. Er suchte im falschen Auto. Damals im ›Forstschlösschen‹ waren sie mit Patricks Wagen unterwegs gewesen. Verärgert fuhr er ab. Während der Fahrt durch das Wäldchen zur Landstraße versuchte er sich zu erinnern, welchen Weg er seinerzeit gefahren war. Müllheim lag in der Nähe, an diese Ortstafel erinnerte er sich. Tess telefonisch zu erreichen, hatte er aufgegeben. Das ›Forstschlösschen‹ war seine letzte Hoffnung. Es war ihr Zufluchtsort gewesen, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Ironischerweise war es das zweifelhafte Verdienst ihres Mannes, sie dort eingeführt zu haben. Jonas schmunzelte unwillkürlich, als er daran dachte, wie sie ihm die Geschichte erzählt hatte. Es ging um ein großes Geschäft mit osteuropäischen Partnern, soweit sie sich erinnerte. Die teure Einladung ins ›Forstschlösschen‹ war eine Idee der Marketingabteilung, um die Geschäftsfreunde milde zu stimmen. Eine Idee, die bestens funktionierte. Zum blanken Entsetzen des prüden Lars Brüderle entpuppten sich die Begleiterinnen seiner Geschäftspartner schnell als professionelle Huren, die sich zudem glänzend mit Tess verstanden. Was musste Lars an jenem Abend gelitten haben. Die schummrigen Grotten des ›Forstschlösschens‹ mit ihrer schrägen Bevölkerung konnte ein aufrechter Protestant wie Brüderle nur als Brueghel’sche Hölle empfunden haben. Aber er hielt durch bis zum Schluss, wie Tess lachend berichtete. Es ging um viel Geld.

Endlich fand er die Straße, die abrupt in einen Feldweg mündete. Der unbefestigte Untergrund zwang ihn, die Geschwindigkeit zu drosseln. Langsam, viel zu langsam fuhr er in den Wald hinein, sah die unauffällige Abzweigung und parkte kurz danach vor dem Forsthaus, das sich Schlösschen nannte. Der Abend war noch jung. Nur drei Autos standen auf dem Parkplatz. Den blauen Mercedes kannte er. Er atmete erleichtert auf. Sie war da.

Milan nickte ihm freundlich zu und ließ ihn eintreten, ohne nach dem rosa Kärtchen zu fragen. Der Mann musste ein phänomenales Personengedächtnis haben. In der Eingangshalle trat die Hausherrin auf ihn zu, deren Gedächtnis offenbar genauso gut funktionierte.

»Captain Hook«, grüßte sie mit strahlendem Lächeln, das ihre Zähne entblößte, als wollte sie in seine Nase beißen.

Schnell streckte er ihr die Hand entgegen, um sie auf Abstand zu halten. »In der Tat, Frau Juliane. Heute bin ich allerdings nicht zum Vergnügen hier. Ich muss dringend mit der jungen Frau sprechen, die vor etwa zwei Stunden mit dem blauen Mercedes hier eingetroffen ist. Sie nennt sich Tess. Ist sie drin?«

Juliane machte ein ernstes Gesicht. »Bedaure, aber wir legen größten Wert auf Diskretion, wie Sie wissen. Ich darf keine Auskunft über unsere Gäste geben. Aber wenn Sie eintreten möchten …«

»Nein, ich muss nur Tess dringend sprechen, verstehen Sie?«

Sie schien nicht zu verstehen. Die Frau zerrte an seinen Nerven. Er überlegte, ob er sie einfach ignorieren und Tess suchen sollte. Dabei riskierte er zumindest ein paar blaue Flecke und möglicherweise eine gebrochene Nase. Bereits streckte Milan den Kopf zur Tür herein.

»Alles in Ordnung?«, fragte er mit einem misstrauischen Blick auf Jonas.

Plötzlich wusste er, wie er die gute Juliane überzeugen konnte. »Hören Sie«, sagte er in vertraulichem Ton. »Es ist eine äußerst heikle Angelegenheit. Tess sollte eigentlich eine Therapie beginnen – Alkohol, Sie wissen schon. Da ist sie seit Tagen nicht erschienen. Jetzt lässt sie ihr Mann polizeilich suchen. Früher oder später werden die hier auftauchen und alles auf den Kopf stellen.«

»Was sagen Sie da?«, platzte Juliane aufgeregt heraus, dass ihr Mieder Mühe hatte, den wogenden Busen zurückzuhalten. »Polizei? Das fehlt uns gerade noch.«

»Eben. Diese Peinlichkeit will ich auch Tess ersparen. Ich möchte sie so schnell wie möglich diskret von hier wegbringen. Das verstehen Sie doch?«

Polizei, diskret, diese Sprache verstand Juliane ausgezeichnet. »Sie ist wahrscheinlich unten in der Bar«, murmelte sie hastig. »Kommen Sie.«

Die wenigen Gäste befanden sich erst in der Aufwärmphase. Sie vergnügten sich am Büfett im Foyer des Theaters. Tess war nirgends zu sehen. Die Grotten, Käfige und ausgeklügelten Apparaturen, an denen sie vorbeikamen, warteten noch auf die ersten Gäste. Die Bar machte den gleichen, verlassenen Eindruck, bis er die Schuhe sah, die hinter der Theke hervorguckten. Der Anblick versetzte ihm einen Stich ins Herz, denn er kannte die schwarzen High Heels.

»Tess!«, rief er von panischer Angst ergriffen und stürzte sich hinter die Theke.

Sie lag reglos am Boden, das Gesicht in einer kleinen Blutlache. Es stank nach Erbrochenem und Alkohol. Eine Hand umklammerte noch den Hals der zerbrochenen Wodka-Flasche, deren Splitter verstreut um sie herumlagen wie höhnische Grabbeigaben. Jonas fiel auf die Knie, drehte ihren Kopf behutsam zur Seite, fühlte ihren Puls, während er ihr das Haar liebevoll aus dem Gesicht strich. Unfähig zu sprechen, wartete er atemlos auf ein Lebenszeichen. Er beugte sich über sie, bis sein Ohr ihre blutverschmierte Nasenspitze berührte. Er glaubte, ihren Atem zu spüren. Seine Finger fanden endlich die richtige Stelle an ihrem Hals. Ihr Herz schlug schwach, aber es schlug.

»Sie lebt!«, krächzte er heiser. »Ein Arzt! Wir brauchen einen Krankenwagen, schnell!«

Juliane beobachtete die Szene wie gelähmt, doch jetzt erwachte sie aus ihrer Starre. Jonas sah zu, wie sie das Telefon aus ihrem Mieder kramte, dann beugte er sich wieder über seine Tess. Er konnte nicht mehr für sie tun, als sie richtig zu lagern, ihr ein weiches Kissen unter den Kopf zu schieben, sie warm zuzudecken. Sie atmete regelmäßig, reagierte aber nicht auf seine Versuche, mit ihr zu sprechen. Unendlich erleichtert stellte er fest, dass sie nicht verletzt war. Das Blut stammte von Nasenbluten, das inzwischen aufgehört hatte. Einmal schlug sie kurz die Augen auf. Er konnte nicht feststellen, ob sie ihn erkannte. Auch wenn sie nicht mit ihm sprechen konnte, ihr trauriger Anblick war Anklage genug. Er war schuld an ihrem Absturz, da gab es für ihn keinen Zweifel. Dass er sie gerade noch früh genug entdeckt hatte, bevor sie an ihrem eigenen Erbrochenen erstickte, tröstete ihn kaum. Er erkannte in den langen Minuten, während sie auf den Notarzt warteten, dass sie auf ihn angewiesen war. Er war verantwortlich für dieses zerbrechliche Wesen, das sich oft nur hinter dem Panzer des Zynismus versteckte. Die Beinahekatastrophe öffnete ihm die Augen. Er erkannte die Aufgabe, und er würde seine Verantwortung wahrnehmen, denn er liebte sie. Daran änderten auch keine Heiratsurkunden und Eheverträge irgendetwas.

Wie in Trance fuhr er hinter dem Rettungswagen durch die Nacht. Nebelschwaden reflektierten das blinkende Blaulicht, als ginge ein stilles Gewitter nieder über die schlafende Landschaft am Rande des Schwarzwalds. In der Uniklinik setzte er sich an ihr Bett und wich keine Sekunde von ihrer Seite, bis sie die Augen erneut aufschlug.

»Jonas«, wisperte sie, »verlass mich nicht.«

Sie tastete nach seiner Hand, klammerte sich fest, als fürchtete sie, er wäre nur ein Trugbild. Sie fragte nicht, was geschehen und wie sie hierher gekommen war. Nur seine Gegenwart schien ihr wichtig. Lächelnd erwiderte er ihren Händedruck.

»Ich liebe dich«, sagte er leichthin, als wären es nicht die drei Wörter, die nur unter größten Vorbehalten und begleitet von tausend Zweifeln über seine Lippen kommen durften. Nur im richtigen Augenblick bedeuteten sie mehr als eine leere Floskel, und dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen. Sie wussten es beide wie zwei verschränkte Elementarteilchen, die nur zusammen existieren und untergehen konnten. Sie zog ihn zärtlich zu sich. Ihre Lippen trafen sich, und für kurze Zeit gab es nur noch sie zwei im endlosen Universum.

Bis die Tür mit einem Knall aufflog. Lars stürmte ins Zimmer. »Tess, um Gottes willen!«, rief er schwer atmend.

Lars gab vor, Jonas nicht zu bemerken, der sich leise in den Korridor zurückzog. Er würde die beiden eine Weile allein lassen. Nicht sehr lange, nahm er sich vor. Dann würde er sich wieder ans Bett seiner Geliebten setzen, ohne sich von Lars oder sonst wem stören zu lassen.

Die Schonzeit war noch nicht abgelaufen, als Lars aus dem Zimmer kam und mit versteinerter Miene auf ihn zutrat.

»Sparen wir uns die Höflichkeiten«, brummte er in verhaltenem Zorn. »Hätten Sie nicht möglicherweise Tess das Leben gerettet, wären Sie jetzt fristlos entlassen, Dr. Herzog. Einzig diesem Umstand haben Sie es zu verdanken, dass sie nicht hochkant rausfliegen und in keinem Pharmaunternehmen in diesem schönen Land mehr Arbeit finden. Den Job bei Hauser sind Sie ab sofort los. Melden Sie sich morgen früh bei Herrn Caprese vom Vertrieb. Er wird Ihnen die letzte Chance in dieser Branche bieten. Ich kann nur raten: Ergreifen Sie diesen Strohhalm – und lassen Sie endgültig Ihre dreckigen Finger von meiner Frau.«

Seltsamerweise berührte Jonas die unerwartete Standpauke nicht mehr als ein Schnitt beim Rasieren. Er warf dem CEO von ›BWpharm‹ einen verächtlichen Blick zu und ging zurück ins Krankenzimmer. Dort beugte er sich lächelnd über das blasse Gesicht im Meer der roten Haare. Er küsste Tess sanft auf die Stirn und murmelte: »Alles wird gut.«

Unentrinnbar

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