Читать книгу Das letzte Steak - Hansjörg Anderegg - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1
Tübingen
»Jetzt ist er hin, der Neger!«, rief der Mann auf dem Steg.
Halb entsetzt, halb belustigt starrte er in den nur vom fahlen Mondlicht erhellten Ammerkanal hinunter.
Die laute Stimme weckte den langen Kurt, der eben erst auf der harten Steinbank eingenickt war. Mühsam hob er den schweren Kopf und schimpfte:
»Halt dei Gosch, Schmitz!« Leise fügte er hinzu: »Gottverdammter Nazi.«
Es musste gegen zwei Uhr morgens sein. Eins hatte er noch schlagen gehört vom Turm des Stifts. Schmitz, der zwanzig Jahre älter aussah, als er war, weil seine chronisch schlechte Laune schon tiefe Furchen ins Gesicht gegraben hatte, begann aufgeregt zu gestikulieren. Kurt versuchte, ihn nicht zu beachten, ließ den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. Es lohnte sich nicht, sich über Schmitz aufzuregen. Der Nazi hatte so viel Scheiße im Kopf, dass man am besten nicht hinhörte, wenn er den Mund aufmachte.
»Er ist hin, sag ich. Seid ihr alle taub?«
Kurt regte sich nicht, doch er hörte, wie ein anderer sich aufrichtete und an ihm vorbei zum Steg schlurfte. Es war der Benjamin unter den Sandlern am Ammerkanal, denn kurz danach rief er mit seiner Fistelstimme:
»Heiligs Blechle, es stimmt. Da liegt ein Toter im Wasser.«
Mit einem Mal war Kurt hellwach. Er trat an den Kanal und sah den leblosen Körper. Der Mond schien auf das schwarze Gesicht, dessen Augen ihm überrascht entgegenblickten, als wäre er der Letzte, den er hier erwartet hätte.
»Was ist das, Blut?«, fragte Kurt benommen.
Die kurzen Hemdsärmel und der Kragen waren weiß, doch auf der Brust schimmerte ein nasser Fleck, schwarz wie das Wasser.
»Wir müssen die Rettung rufen. Vielleicht lebt er noch«, murmelte er.
Der Benjamin lachte nervös. »Mit der Nase unter Wasser und diesem Loch in der Brust?«
Kurts Augen waren zu schwach, um die Verletzung zu erkennen, aber so wie der Schwarze dalag, vollkommen reglos und halb unter Wasser, musste er dem Benjamin zustimmen. Für diesen Mann kam jede Rettung zu spät. Der Gedanke, sich aus dem Staub zu machen, schwirrte ihm kurz durch den Kopf, drehte eine Ehrenrunde, dann entschied er sich für die andere Alternative. Er ging über den Steg zur Kneipe, um den Wirt zu alarmieren. Geduldig drückte er auf den Knopf an seiner Wohnungstür, bis im oberen Stock eine Lampe aufleuchtete, begleitet von einem herzhaften Fluch.
»Hast du sie noch alle?«, herrschte der Wirt ihn aus dem Fenster an.
»Franz, du musst die Bullen rufen.«
»Genau das werde ich tun, wenn du nicht sofort Ruhe gibst.«
»Da liegt einer im Kanal.«
»Das musste ja so kommen, so wie ihr säuft.«
»Ein Schwarzer, er ist tot.«
Das Gesicht verschwand vom Fenster. Sekunden später stand Franz in Unterhosen und Leibchen am Steg und schüttelte den Kopf.
»Hattet ihr Streit?«
»Spinnst du?«, brauste der Benjamin auf.
Der Wirt klappte sein Handy auf. Während er den Notruf wählte, brummte er:
»Dem Nazi ist alles zuzutrauen, so wie der daherredet.«
Kurt sah sich um. Schmitz war verschwunden. Der Georg schlug schon drei, als endlich Leben in die Gegend ums Nonnenhaus kam. Scheinwerfer erhellten den Platz, Fenster öffneten sich, Neugierige des ganzen Viertels versammelten sich wie an der Fasnetserweckung. Nur widerwillig ließen sie sich hinter die Schranken weisen, die Kalle, sein Bekannter bei den Stadtbullen, errichtete. Sanitäter stiegen in den Kanal, hoben den Toten aus dem seichten Wasser und hievten ihn auf die Trage. Der Notarzt wartete mit verschränkten Armen, bis sie den Leichnam fachgerecht vor seiner Heiligkeit aufgebahrt hatten, dann schnäuzte er sich in ein rot–weiß kariertes Taschentuch und sagte:
»Ertrunken ist er wohl nicht.«
»Das sieht ein Blinder«, murmelte Kurt und provozierte damit ein kaum unterdrücktes Gelächter bei seinen Leidensgenossen.
Er stand mit dem Benjamin in der Nähe neben dem Wirt. Als Zeugen hatte Kalle sie nicht hinter die Schranken gewiesen, ein Privileg, auf das er gerne verzichtet hätte. Die klaffende, blutverschmierte Wunde in der Brust des Schwarzen war nicht zu übersehen im hellen Scheinwerferlicht. Der Mann war erstochen worden, das verstand auch ein Laie mit Löchern in der Netzhaut wie er. Der Arzt entschloss sich endlich, neben die Trage zu knien, um den Leichnam zu untersuchen. Die Sanitäter warteten mit versteinerten Mienen in respektvollem Abstand auf Anweisungen des Hohepriesters.
Eine Polizeisirene unterbrach die Zeremonie. Von der Metzgergasse herunter schoss ein Dienstwagen auf sie zu. Er bremste kurz vor dem Steg. Kurt erkannte die hochgeschossene, kräftige Gestalt sofort, die sich mühsam aus dem Fahrersitz schälte: Polizeihauptmeister Uwe Schröder, raue Schale, weicher Kern. Der Hüne stürmte auf den Platz, nickte dem Arzt kurz zu, besah sich die Bescherung und wandte sich an seinen Untergebenen:
»Was haben wir?«
Kalle antwortete so leise, dass Kurt kein Wort verstand.
»Zeugen?«
Kalle deutete auf das Grüppchen beim Wirt. Die beiden kamen auf sie zu.
Schröder musterte ihn, den Benjamin, den Wirt, der inzwischen immerhin seine Jeans angezogen hatte, wie ein Gärtner seine verkümmerten Setzlinge.
»Ist das alles?«
»Ich fürchte ja«, bestätigte Kalle kleinlaut.
Schröder bedachte das armselige Häuflein mit dem Muss-das-denn-sein-Blick, bevor er sich den Wirt vorknöpfte, aus Rache für die Störung der Nachtruhe, wie Kurt annahm.
»Ich glaube, wir alle könnten einen Kaffee vertragen«, schlug der Wirt eilig vor, der die Schwächen von Polizeihauptmeister Schröder ebenso gut kannte wie die Sandler. Schröders Miene hellte sich auf. Sie nahmen am runden Stammtisch Platz. Wie erwartet, entwickelte sich die Zeugenbefragung so zu einem zivilisierten Gespräch unter alten Bekannten.
»Schade um den Kaffee«, brummte Kurt nach dem ersten Schluck.
Der Benjamin grinste, die andern stutzten.
»Ist doch wahr«, fuhr er fort mit einem wehmütigen Blick zur Theke, wo der ganze Geist des Schwabenlands in trinkbarer Form nur darauf wartete, die braune Brühe zu veredeln.
»Vergiss es, hier geht’s um Mord, verstanden?«, wies ihn Schröder zurecht.
Er verstand nicht, was der Klare auf der Theke mit dem Mord zu tun haben sollte, aber er war eben nicht der Hellste. Mit hängenden Schultern wagte er einen zweiten Schluck, um wach zu bleiben.
Der Wirt konnte nur wiederholen, was er der Polizei schon erzählt hatte. Der Lange und seine Kollegen hatten die Leiche entdeckt. Er selbst war nur der Mann mit dem Telefon.
»Hat einer von euch das Opfer früher schon mal gesehen?«, fragte Schröder.
Kopfschütteln. Es gab zwar nicht wenige dunkelhäutige Menschen in der Gegend, aber die meisten waren blutjunge Leute, die an der nahen Uni studierten.
»Der Doktor meint, der Mann wäre um die Vierzig«, murmelte Schröder mehr zu sich selbst. »So einer müsste hier doch verdammt noch mal auffallen.«
»Nachts sind halt alle schwarz«, grinste der Benjamin, der sich unbedingt in die Diskussion einbringen wollte.
Zu seinem Glück betrat der Arzt in diesem Augenblick die Wirtsstube. Er setzte sich dazu und wartete schweigend auf den Kaffee, bevor er seinen Befund bekanntgab. Dass die Zeugen mithörten, störte weder ihn noch Schröder.
»Der Tote ist männlich, eins fünfundsiebzig groß, schlank, ein Schwarzer, wahrscheinlich Afrikaner. Er hat eine Stichwunde in der Brust. Ein einziger Stich genau ins Herz führte zum sofortigen Exitus. Die Hämatome sind alle postmortal entstanden. Identifikation negativ. Wir haben weder Papiere noch Geld oder Handy bei ihm oder im Kanal gefunden.«
»Raubmord?«, fragte Schröder.
»Möglich, aber das herauszufinden ist euer Bier.«
»Tatzeit?«
»Der Mann starb vor höchstens zwei Stunden. Genaueres wissen wir erst nach der Obduktion in Stuttgart. Ich schätze, das Opfer ist zwischen eins und halb zwei hier in der Nähe erstochen und in den Kanal gestoßen worden.«
»Hier in der Nähe!«, rief der Wirt und erblasste.
Er sprang auf, holte eine Flasche mit dem kostbaren klaren Wasser und stellte jedem ein Schnapsglas hin. Ohne zu fragen, goss er ein, dann leerte er sein Glas in einem Zug, genauso wie die andern Zeugen.
»Ein Raubmord direkt vor meiner Tür – ich fass es nicht«, seufzte er, während er sich nachschenkte.
Kurt traute seinen Augen nicht, als er die Flasche wegstellte. Beleidigt deutete er auf ihre leeren Gläser, doch der Wirt beachtete ihn nicht. Stattdessen schob ihm Schröder sein volles Glas hin. Der Benjamin bekam den Klaren des Arztes. Damit war die Welt wieder in Ordnung.
Nicht für lange Zeit, denn der Wirt machte eine Bemerkung, die Kurt besser nicht kommentiert hätte.
»Vor meiner Haustür wird einer geschlachtet, und keine Sau merkt etwas.«
»Vielleicht hat ja der Nazi etwas gesehen.«
Es war ihm herausgerutscht. Er wusste sofort, dass er einen kapitalen Bock geschossen hatte. Schröder durchbohrte ihn mit Blicken, als hätte er ihn angespuckt.
»Was meinst du damit?«, fragte er gefährlich leise.
»Schmitz hat ihn doch zuerst gesehen, den Toten. Ich meine ja nur …«
»Herrgottsdonderwettr aber au! Das fällt dir erst jetzt ein? Wo ist der Kerl?«
»Abgehauen. Er – hat uns geweckt, dann habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Schröder stand auf und polterte: »Mir reicht’s. Los, mitkommen, Langer. Wir unterhalten uns auf dem Revier.«
Der Hüne packte ihn unsanft am Kragen, zog ihn hoch und schob ihn zur Tür hinaus. Auf dem Weg zum Wagen brüllte er Kalle zu:
»Fahndung nach Schmitz – ja, der Nazi! Er soll die Leiche entdeckt haben. Ich will den Kerl stante pede auf dem Posten, verstanden?«
Felixstowe, Suffolk
Thomas Stuart nahm den ersten Zug und blies den Rauch durch die Nase, dann warf er die Zigarette angewidert weg. Der Geruch des Tabaks ekelte ihn an. Nichts war mehr wie früher, außer dem grau verhangenen Himmel, aus dem es seit Tagen in kurzen Abständen regnete, als wären die Wolken inkontinent. Er hatte wieder kaum geschlafen. Wie auch? Seit seine Frau am Dienstagabend nicht nach Hause gekommen war, lebte er in einem falschen Film, in einer unwirklichen Zwischenwelt, aus der er verzweifelt einen Ausgang suchte.
In der Morgendämmerung regte sich weit und breit nichts an seiner Straße, als wären alle Bewohner ausgezogen, selbst die Vögel und Stechmücken. Er betrachtete das Haus, in dem er seit der Heirat mit der wunderbaren Felicity wohnte. Das schmale Reihenhaus im roten Backsteinbau war der Mittelpunkt seines Lebens gewesen bis letzten Dienstag. Es war ein bescheidenes Haus und nicht die beste Gegend in Felixstowe, aber hier lebten sie glücklich. Er wollte nicht mehr. Felicity liebte ihn, er liebte sie, und sie war die beste Mutter, die er sich für seinen Sohn wünschen konnte. Warum ich?, fragte er sich zum hundertsten Mal. Warum konnte der Herrgott seine kleine Familie nicht einfach in Ruhe lassen? Was hatten sie getan, dass es plötzlich so enden musste?
Jetzt, ohne Felicity, war das Haus nur noch Kulisse im falschen Film. Er wusste, dass das nicht stimmte, aber manchmal übermannte ihn die Bitterkeit. Dann vergaß er Scotty, der ihn jetzt ganz besonders brauchte. Sein Sohn war sechzehn und hing sehr an seiner Mutter. Scotty war ein guter Junge, das spürte er, obwohl sie mit den Jahren immer weniger miteinander gesprochen hatten. Am Dienstagabend war die Verbindung ganz abgebrochen. Scottys Mund blieb versiegelt. Weder er noch die Polizei brachten auch nur ein einziges Wort aus ihm heraus. Er verstand die Reaktion des Jungen auf den Schock und die unerträgliche Ungewissheit. Trotzdem verwünschte er ihn manchmal, wenn er nicht mehr ein noch aus wusste.
Bedrückt kehrte er ins Haus zurück. Schmutziges Geschirr stapelte sich im Spültrog. Die Luft roch abgestanden trotz des offenen Fensters. Die Vorräte im Kühlschrank gingen zur Neige. Die zuletzt gewaschene Wäsche lag immer noch im Korb in Felicitys Arbeitszimmer. Die Lage wurde mit jeder Stunde unübersichtlicher. Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte, ohne ein neues Problem zu entdecken. Als wäre dies nicht genug, plärrte oben in Scottys verschlossenem Zimmer von morgens früh bis spät in die Nacht aggressive Musik. Heavy Metal, Lärm, mit dem er seit jeher auf Kriegsfuß stand.
Einmal mehr stieg er die Treppe hoch und klopfte an die Tür des Jungen.
»Scotty, dreh die Musik leiser! Lass uns reden.«
Nichts geschah. Die Musik hämmerte weiter. Der Junge widersprach ihm nicht einmal mehr. Es war unmöglich, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Er schwänzte die Schule, blieb dem Fußballtraining fern, und sein Vater stand im eigenen Haus vor verschlossener Tür wie ein Aussätziger, den alle mieden. Er gab auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich muss ihm mehr Zeit lassen, redete er sich ein, bloß glaubte er selbst nicht daran, dass Zeit die Wunden heilte. Je länger die Ungewissheit dauerte, desto erdrückender wurde das Gefühl, dass Felicity etwas Unaussprechliches zugestoßen sein musste. Nein, Zeit heilte keine Wunden. Zeit war die reinste Folter. Niemand in der Nachbarschaft oder in der Fabrik, wo Felicity seit Jahren als Vorarbeiterin angestellt war, hatte etwas bemerkt, was ihr Verschwinden erklären könnte. Die Polizei fand keine Spur, obwohl sie die Gegend mit Hunden durchkämmt hatte. Die Küstenwache suchte immer noch nach ihr. Alles umsonst. Was von ihr blieb, waren nur Erinnerungen und die Unordnung im Haus, für jedermann sichtbares Zeugnis ihres Fehlens.
Er fand ein paar alte Teebeutel im Küchenschrank. Er brühte Wasser auf, spülte die benutzte Tasse auf der Anrichte kurz aus, hängte einen Beutel hinein und goss das siedende Wasser darüber. Er wartete, bis das Wasser die richtige Farbe annahm, rührte abwesend, dann schüttete er den Inhalt der Tasse in den Ausguss und verließ das Haus.
Das Transportunternehmen, bei dem er als Magaziner arbeitete, lag an der Einfahrt zur A14, ein Fußweg von zehn Minuten. Es begann wieder zu regnen. Er stülpte die Kapuze über den Kopf. Wasser rann ihm übers Gesicht. Die Hosenbeine waren nach kurzer Zeit nass bis über die Knie, als watete er durch die Trimley Marshes. Er bemerkte es kaum. In Gedanken stellte er sich immer wieder dieselben Fragen: Was war geschehen? Warum? Wo ist sie? Die wichtigste Frage wagte er nicht einmal zu denken, so unerträglich war die Vorstellung, Felicity könnte nicht mehr am Leben sein. Er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er als Nächstes unternehmen musste. Offensichtlich brauchte er eine ordnende Hand zu Hause und jemanden, der einen Zugang zu Scotty finden würde. Diese Person gab es, doch er hasste den Gedanken, seine Schwester um Hilfe zu bitten. Je mehr Gründe er suchte, es nicht zu tun, desto deutlicher erkannte er, dass es keine bessere Lösung gab.
Die Menschentraube vor den Lagerhallen unterbrach seinen Gedankengang. Etwas stimmte nicht. Warum versammelten sich die Kollegen draußen vor dem Tor im strömenden Regen? Als er nähertrat, sah er, dass das Haupttor verschlossen war. Magaziner, Fahrer und die Angestellten aus dem Büro sprachen und riefen aufgeregt durcheinander. Am Tor standen Polizisten und über dem Schloss klebte ein leuchtend gelbes Siegel. Bei diesem Anblick wich das Blut aus seinem Gesicht.
»Felicity?«, schrie er heiser und drängte sich nach vorn.
Walt aus der Buchhaltung fing ihn ab.
»Nein, es hat nichts mit Felicity zu tun. Es geht um die Firma. Verdammt, Thomas, wir sind pleite.«
Ungläubig starrte er ihn an und fragte albern:
»Was heißt das?«
Zwei andere antworteten gleichzeitig außer sich, sodass er den Zusammenhang erraten musste. Es war die Geschichte, die er in letzter Zeit immer häufiger in der Zeitung gelesen hatte, nur betraf es diesmal ihn selbst und seine Kollegen. Die Firma schrieb seit Langem Verluste, musste stets teurere Kredite aufnehmen, bis die Bank den Schlussstrich zog. Über Nacht war der Laden, in dem er das halbe Leben verbracht hatte, insolvent. Was für ein harmloses Wort für die beschlagnahmten Lkws, die gepfändeten Lager und die Arbeiter im Regen ohne Aussicht auf einen weiteren Penny.
»Wo ist Ben?«, fragte er Walt nach einer Weile.
Ben war der Juniorchef, der das Familienunternehmen erst vor drei Jahren vom Vater übernommen und seine Sache gar nicht so übel gemacht hatte, seiner Meinung nach.
»Spital, Nervenzusammenbruch.«
Das gelbe Siegel am Tor markierte nicht nur das Ende der Firma. Es war auch das Ende der Straße für die versammelte Belegschaft. Manche unter ihnen hatten das Verfalldatum überschritten, er eingeschlossen. Sie würden kaum neue Jobs finden. Ihr Leben ging gerade mit dem verfluchten Regen den Bach runter. Das verstand er zwar, doch berührte es ihn kaum. Sein Leben hatte er schon vorher verloren. In Gedanken versunken machte er sich auf den Heimweg.
Die Musik dröhnte noch lauter aus Scottys Zimmer. So ging es nicht weiter. Oben an der Treppe stutzte er. Die Zimmertür stand halb offen.
»Scotty?«
Er stieß die Tür vorsichtig auf. Sein Junge war ausgeflogen. Die Laufschuhe standen nicht mehr unter dem Bett. Scotty war draußen im Regen am Joggen, wie früher, als kein Hudelwetter ihn davon abhalten konnte. Erleichtert schaltete er das Radio ab. Ein Lächeln huschte über sein zerfurchtes Gesicht. Der Junge war dabei, sich wieder aufzufangen, Gott sei Dank. Ein Rascheln hinter seinem Rücken erschreckte ihn. Ein Papierknäuel rollte auf ihn zu. Der schwarze Kater stand breitbeinig in der Tür. Er blickte ihn vorwurfsvoll an und krächzte ein paar Mal laut zur Begrüßung.
»Cromwell!«
Der Kater strich ihm um die Beine, dann schüttelte er sich und protestierte mit der heiseren Stimme des fortgeschrittenen Alters. Thomas kraulte ihm beruhigend den Hals.
»Um dich kümmert sich auch niemand mehr, tut mir leid.«
In der Küche fand er noch eine Büchse mit Katzenfutter. Er schob Cromwell den Teller hin, doch der Kater sah ihn nur an und stieß sein lang gezogenes, weinerliches Krächzen aus, mit dem er sonst die Krähen erschreckte.
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, murmelte er. »Warte hier, ich bin gleich zurück.«
Er klingelte bei der Nachbarin und bat sie um ein Ei. Cromwell war süchtig nach Eigelb, und er hatte etwas Gutes verdient.
»Gibt es Nachrichten von Felicity?«, fragte die Frau nach kurzem Zögern.
Er schüttelte den Kopf. »Sie mussten die Suche einstellen – bei diesem Wetter.«
»Es tut mir so leid, Thomas. Ich bete jeden Tag für sie.«
Das hatte er aufgegeben. Wenn es einen Herrgott gäbe, müsste er ein Sadist sein. Trotzdem bedankte er sich artig und fragte:
»Hast du zufällig Scotty gesehen?«
»Ja, der arme Junge. Er ist vor zwanzig Minuten weggefahren.«
»Gefahren?«
»Mit unserm Fahrrad. Du weißt, er kann es nehmen, wann er will. Wir brauchen es nicht mehr.«
Die Nachricht alarmierte ihn. »Hatte er etwas dabei? Hast du gesehen, wohin er gefahren ist?«
Sie blickte ihn entsetzt an. »Du meinst, er ist abgehauen? Nein – auf keinen Fall – nicht Scotty! Ich sah ihn aus dem Haus rennen. Er schnappte sich das Rad und brauste in Richtung Fabrik davon. Mach dir keine Sorgen. Der Junge kommt bald wieder.«
Cromwell schnurrte lauter als sonst, als Thomas das Eigelb verrührte, denn er spürte, dass sein menschlicher Butler nicht bei der Sache war. Die Nachbarin hatte gut reden. Natürlich machte er sich Sorgen um Scotty. Er machte sich nur noch Sorgen in letzter Zeit, die Sorge um den Arbeitsplatz noch nicht mitgezählt. Der Kater gab endlich Ruhe und verschlang seinen Eidotter.
Schweren Herzens rief Thomas seine Schwester an. Sie hätte sich sowieso nach seinem Befinden erkundigt, wie jeden Tag, aber er wollte die Initiative nicht ihr überlassen, wenn er schon um Hilfe bitten musste. Das Gespräch war noch nicht zu Ende, als er Scotty in irrem Tempo aufs Haus zu rasen sah. Er warf das Rad hin und stürmte in die Stube.
»Dad!«, keuchte er völlig aufgelöst.
Dabei hielt er ein blau-weiß gestreiftes Tuch hoch, bei dessen Anblick Thomas der Atem stockte. Wortlos legte er den Hörer auf und griff nach dem Tuch. Es war nass und verschmutzt, doch es gab keinen Zweifel: Felicity hatte diesen Schal am Dienstag getragen.
Scotty blickte ihn angstvoll an.
»Er hat sich im Gebüsch verfangen«, flüsterte er. »Dad, sie liegt irgendwo da draußen.«
»Red keinen Unsinn!«, wies er ihn zurecht, obwohl er genau dasselbe dachte.
Vor ihm stand nicht mehr der selbstbewusste Teenager, der den Rest der Welt mit schriller Musik und Unordnung provozierte. Scotty war wieder der kleine Junge, der den starken Arm des Vaters brauchte.
»Wo hast du ihn gefunden?«
»Ich bin hinter der Fabrik weiter gegen die Marshes gefahren, dort …«
»Die Sümpfe«, wiederholte Thomas nachdenklich.
Die Polizei hatte die Suche dort wegen der Überschwemmung abbrechen müssen. Er drückte das Tuch, als müsste er Felicity festhalten. Es fühlte sich weich und zart an wie sie.
»Wir müssen die Polizei rufen«, drängte Scotty.
»Ich weiß.«
Eine Stunde später stampfte er mit seinem Sohn an der Spitze des Suchtrupps durch das nasse Gras auf die Fundstelle zu. Die Männer schwärmten aus und begannen Gebüsch und Marschland zu durchkämmen. Sie konnten keine Hunde einsetzen. Das Wasser stand zu hoch. Scotty reichte es bisweilen an die Hüfte, doch er ließ sich durch nichts davon abbringen, bei der Suche nach seiner Mutter zu helfen. Thomas benötigte seine ganze Aufmerksamkeit, um den Jungen im Auge zu behalten. So bemerkte er erst, dass ein Constable die Hand hochhielt, als der Rest der Truppe auf ihn zu watete.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, wies ihn der Sergeant an, der den Einsatz leitete.
Er dachte nicht daran. Scotty erst recht nicht. Hals über Kopf stolperten sie zur Stelle, wo sich alle im Halbkreis versammelten.
»Felicity? Habt ihr sie gefunden?«, rief Thomas verzweifelt.
Der Sergeant versuchte, ihn aufzuhalten.
»Sie sollten sich das nicht ansehen«, sagte er hastig.
Die Beamten versuchten, Scotty zurückzuhalten, aber der Junge war schneller. Er drängte sich zwischen ihnen hindurch, und sein Vater tat es ihm gleich.
»Mom! Nein!«, brüllte der Junge.
Er sank auf die Knie, ergriff die Schuhe, deren Spitzen ihm entgegen ragten, versuchte, den Leichnam seiner Mutter aus dem Wasser zu ziehen. Zwei Polizisten waren damit beschäftigt, ihn zurückzuhalten und zu beruhigen, während Thomas nur noch das wächserne Gesicht im schmutzigen Tümpel sah. Die toten Augen lasen direkt in seinen Gedanken.
»Felic …«
Seine Stimme versagte. Da lag die Frau, ohne die er sich kein Leben vorstellen konnte, vor ihm im Dreck. Als hätte sie sich nur kurz ausgestreckt und wäre vom Regen überrascht worden – und vom Messerstich in ihr Herz. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, konnte er den Blick nicht von ihr wenden, als müsste sie jeden Moment erwachen. Er nahm nichts anderes wahr, als diesen geschundenen Körper, den seine Felicity für immer verlassen hatte. Reglos stand er da und reagierte auf nichts, was um ihn herum vorging, doch plötzlich brach es aus ihm heraus. Er schloss seinen Jungen in die Arme, drückte ihn fest an sich, und beide begannen, hemmungslos zu schluchzen.
Allein in den Trümmern seiner Träume, nahm er die Befehle des Sergeants, die aufgeregten Funksprüche, die Blaumänner der Spurensicherung, das Eintreffen des Gerichtsmediziners nur am Rande wahr. Willenlos ließ er sich mit dem Jungen wegführen. Er kehrte erst im Rettungswagen in die Gegenwart zurück, wo eine Sanitäterin unablässig in beruhigendem Ton auf ihn einredete.
»Verstehen Sie mich? Wir bringen Sie und den Jungen nach Hause. Ich habe Ihnen etwas zur Beruhigung gegeben.«
»Beruhigung«, lallte er verständnislos.
»Sie stehen unter Schock. Es ist wichtig, dass Sie sich jetzt ausruhen. Die Nachbarin wird sich um Sie beide kümmern. Können wir jemanden aus Ihrer Familie anrufen, um Sie zu unterstützen?«
Familie – was bedeutete das Wort noch? Er starrte durch sie hindurch auf der Suche nach einer Antwort.
»Wo ist sie?«, fragte er unvermittelt.
»Man bringt sie in die Gerichtsmedizin.«
Er setzte sich auf und machte Anstalten, von der Trage zu steigen. »Ich muss zu ihr.«
Scotty saß mit versteinertem Gesicht auf der Bank an der Wand.
»Wir müssen zu ihr«, ergänzte er rasch.
»Das geht jetzt leider nicht, Mr. Stuart. Die Gerichtsmedizin muss Ihre Frau zuerst untersuchen, um festzustellen, was genau geschehen ist. Das möchten Sie doch auch wissen, nicht wahr?«
»Sie dürfen Mom nicht aufschneiden!«, rief Scotty entrüstet.
Danach verfiel sein Sohn wieder in teilnahmsloses Schweigen. Es war die letzte Äußerung, die Thomas für lange Zeit aus seinem Mund hören sollte. Auch ihm stand der Sinn nicht nach Reden. Die Nachbarin, die Freunde aus dem Quartier, Arbeitskollegen, die nach und nach in seinem Haus eintrafen, brachten kaum ein Wort aus ihm heraus. Selbst die Schwester, die am frühen Nachmittag einzog, schwieg er beharrlich an. Scotty hatte sich wieder in sein Zimmer eingeschlossen, diesmal ohne Musik. Es kam ihm vor, als bewohnten Fremde das Haus, als wären sie beide nur ungebetene Gäste. Der leere Magen rettete ihn schließlich aus der Depression. Die Schwester stellte ihm eine Komposition aus Eiern, Würstchen und gegrillten Tomaten hin, deren Duft er nicht widerstehen konnte. Es war das erste anständige Essen seit Tagen. Der frische Tee beschleunigte den Heilungsprozess, sodass er allmählich wieder vernünftige Sätze formulieren und Fragen stellen konnte.
»Wie ist es geschehen?«, wollte er von der Polizeipsychologin wissen, die neuerdings auch in seinem Haus wohnte und gerade unverrichteter Dinge vom oberen Stock herunterkam.
»Die Untersuchungen sind noch im Gange. Fest steht, dass das Opfer an einem Stich ins Herz gestorben ist.«
»Das Opfer heißt Felicity«, brummte er.
»Ja natürlich, Entschuldigung.«
»Hat sie gelitten?«
Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Der Gerichtsmediziner meint, der Tod sei augenblicklich eingetreten.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Felicity hat nicht leiden müssen, glauben Sie mir.«
»Wer tut so etwas Schreckliches?«, fragte die Schwester. »Alle haben Felicity geachtet und geliebt. Ich verstehe es nicht.«
»Niemand kann so etwas verstehen«, stimmte die Psychologin ihr zu, »aber wir werden alles unternehmen, um diese Tat aufzuklären.«
»Das bringt sie uns auch nicht zurück«, brummte er.
»Nein, da haben Sie natürlich recht. Trotzdem wird die Aufklärung Ihnen helfen, den Verlust mit der Zeit zu akzeptieren.«
Er sah sie ratlos an. Was meinte sie mit akzeptieren? Wie würde er diesen Wahnsinn je verstehen können? Die Psychologin las ihm die Zweifel vom Gesicht ab. Sie sagte, was sie wohl schon manchen Betroffenen geraten hatte:
»Es ist jetzt ganz wichtig, dass Sie sich nicht zurückziehen. Reden Sie mit Bekannten und Freunden, mit Ihrem Sohn. Versuchen Sie, zu Ihrem gewohnten Tagesablauf zurückzufinden. Das gibt Ihnen Halt und die Kraft, für Ihren Sohn da zu sein. Er braucht Sie jetzt mehr als zuvor.«
Schöne Worte, dachte er bitter. Was wusste sie schon über ihn. Von einem gewohnten Tagesablauf konnte keine Rede sein, selbst wenn er wollte. Seit diesem Morgen war er arbeitslos. Er hatte keine Ahnung, wie er den nächsten Zins fürs Haus bezahlen sollte, doch das war im Moment seine geringste Sorge. Er ließ die Psychologin im Glauben, geholfen zu haben, nickte ihr zu und bedankte sich. Sie überreichte ihm die Visitenkarte mit der üblichen Floskel, die er oft im Fernsehen gehört hatte, dann verabschiedete sie sich.
»Ich sehe mal nach Scotty«, murmelte er und stieg schweren Herzens die Treppe hoch.
Kaum oben angekommen, hörte er unten Josh Sorins dröhnenden Bass:
»Wo ist er?«
Josh gehörte die Konservenfabrik, deren Vorarbeiterin Felicity gewesen war. Ein Patron alter Schule, kümmerte er sich um seine Schäfchen wie um eine große Familie. Seit Scottys Geburt ging er regelmäßig ein und aus in ihrem Haus, denn er war auch Scottys großzügiger Pate. Thomas stieg wieder hinunter.
»Wen meinst du?«, fragte er mit gequältem Lächeln.
Josh drückte ihn an seine breite Brust. »Verdammt, Thomas, es tut mir so leid. Ich kann es immer noch nicht glauben.«
»Da bist du nicht allein.«
Hinter Josh trat Aaron Poynter ein, Joshs zweiter Vorarbeiter, Felicitys Kollege und jetzt wohl Nachfolger. Er streckte die Pranke aus, die kaum in einen Boxhandschuh passte, und murmelte verlegen:
»Mein Beileid. Ich – weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Was ist genau geschehen?«, fragte Josh.
Thomas zuckte die Achseln. »Sie sagen, es war ein einziger Stich ins Herz. Mehr weiß ich nicht.«
Josh starrte ihn mit großen Augen an. »Wie ist es passiert? Wann, wo?«
Wieder konnte er nur mit den Schultern zucken, worauf Josh rot anlief.
»Was sagen die Bullen?«
»Gar nichts oder sie wissen nichts.«
Josh warf seinem Vorarbeiter einen Blick zu, als wollte er ihm dafür die gebrochene Nase noch einmal polieren.
»Bullen«, knurrte der verächtlich. »Auf die kannst du dich nicht verlassen, aber wir werden die Bestie finden, die deine Felicity auf dem Gewissen hat. Das verspreche ich dir.«
Seine Hand verkrampfte sich zur Faust, als hätte er den Hals des Täters schon gepackt.
»Wie kommt Scotty klar?«, fragte Josh.
»Gar nicht, fürchte ich. Er mauert sich ein in seinem Zimmer und heult.«
»Ich sehe mal nach ihm.«
Er stieg hinauf. Thomas setzte sich mit Aaron an den Küchentisch.
»Bier?«, fragte er, obwohl es seit Tagen nur noch leere Flaschen im Haus gab.
Aaron schüttelte den Kopf. »Danke, nur keine Umstände. Was für ein elender Scheißtag!«
»Das kannst du laut sagen. Passt alles wunderbar zusammen: das Verbrechen, das Wetter und jetzt bin ich auch noch den Job los.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Aaron aus.
»Leider schon. Die Firma ist pleite.«
Aaron schüttelte ungläubig den Kopf. »Pleite«, wiederholte er dumpf. »Und das an diesem Tag.«
Aaron war kein Meister der Rhetorik, doch Thomas verstand, was er damit sagen wollte.
»Eine Riesenschweinerei ist das«, rief Aaron aus, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.
Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber, bis Josh sich wieder zu ihnen gesellte, da klagte Aaron:
»Alles geht den Bach runter.«
»Scotty spielt auf seinem Computer«, sagte Josh mit einem Lächeln, das ihn aufmuntern sollte.
Tatsächlich war es das erste Mal, dass er den Computerspielen seines Sohnes etwas Positives abgewinnen konnte.
Josh wandte sich an seinen Vorarbeiter: »Was geht den Bach runter?«
»Thomas steht auf der Straße. Seine Bude ist pleite.«
Josh sah Thomas vorwurfsvoll an. »Warum sagst du denn nichts?«
»Was soll ich dazu sagen? Mir gehen jetzt andere Dinge durch den Kopf, wie du dir vorstellen kannst.«
Josh überlegte nicht lange. »Mach dir mal keine Sorgen um den Job«, beruhigte er. »Aaron kann einen guten Magaziner brauchen, nicht wahr?«
Die Frage war an den Vorarbeiter gerichtet. Der grinste erfreut und antwortete:
»Jederzeit. Du kannst morgen anfangen.«
Flüchtig streifte Thomas der Gedanke an einen üblen Scherz, doch Josh streckte ihm die Hand entgegen und fragte:
»Deal?«
Er schlug zögernd ein. »Ich weiß nicht, ob ich morgen schon …«
»Ach, war nicht so gemeint«, stellte Aaron klar. »Lass dir ruhig Zeit, aber ich rechne mit dir.«
»Ein Problem weniger«, lächelte Josh. »Siehst du, schon geht es wieder aufwärts.«
Er stand auf und zog das Telefon aus der Tasche, während er murmelte: »Jetzt wollen wir mal der Polizei Beine machen.«
Während des Gesprächs tigerte der Patron erregt durch die Wohnung, sodass nur Wortfetzen an den Küchentisch drangen.
»Sie wird nach London überführt«, erklärte er, als er sich wieder setzte. »Scotland Yard übernimmt den Fall. Wurde auch Zeit, dass die Profis übernehmen.«
Die Nachricht überraschte und verwirrte Thomas. »London?«, fragte er unsicher. »Was heißt das? Wann kann ich zu ihr?«
Josh klopfte ihm auf die Schulter. »Bald. Lass das nur meine Sorge sein. Ich mache ihnen Feuer unterm Hintern, dass ihnen Hören und Sehen vergehen, wenn sie schlampen.«
Er brauchte gern große Worte, doch der forsche Ton wirkte unter diesen Umständen beruhigend. Thomas traute ihm durchaus zu, selbst bei Scotland Yard etwas zu bewegen. Josh war nicht irgendwer. Er gehörte zum Jetset Norwichs, wo er seinen Landsitz hatte, und zu den besten Steuerzahlern Suffolks, wo seine Fabrik stand. Sein Einfluss auf Politik und Behörden war nicht zu unterschätzen.
Thomas fühlte sich jedenfalls wesentlich besser, nachdem er mit den beiden gesprochen hatte.
»Meinst du, er packt es?«, fragte Aaron, als Josh zu ihm ins Auto stieg.
Josh nickte schweigend.
»Schlimm für deinen Jungen«, murmelte Aaron.
Josh warf ihm einen warnenden Blick zu und sagte nur: »Du solltest dich in der Fabrik umhören – und am Hafen.«
»Darauf kannst du einen lassen. Wir kriegen das Schwein.«
Scotland Yard, London
Detective Chief Inspector Adam Rutherford eilte mit stummem Gruß an der Vorzimmerdame vorbei zur Tür von Chief Superintendent Whitney. Die Dame, die schon zwei Chiefs überlebt hatte, sprang entsetzt auf und rief:
»Halt Sir! Der Superintendent darf nicht gestört …«
Den Rest verschluckte sie, denn Adam betrat nach energischem Klopfen kurzerhand das Allerheiligste seines Vorgesetzten und Freundes.
»Eines Tages wirst du sie umbringen«, warf der ihm vor, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. »Kannst du dich nicht anständig anmelden wie alle andern?«
»Ich bin nicht alle andern«, brummte Adam. »Hast du zwei Minuten?«
»Die sind schon fast vorbei.«
Er staunte über die ausnehmend gute Laune seines Chefs. Ironie war sonst nicht seine Stärke, wie auch alle andern Formen von Humor. Er nutzte die Gelegenheit, um gleich den heiklen Punkt anzusprechen.
»Ich brauche zehn Leute.«
Ein Wolkenbruch braute sich auf Whitneys Gesicht zusammen, doch dann zog er die Mundwinkel hoch und fragte leichthin:
»Nur zehn?«
Sein Chef war heute wirklich nicht zu bremsen.
»Ich mache keine Witze«, sagte er bestimmt.
Whitney beugte sich vor und blickte ihn an wie sein Mathematiklehrer vor hundert Jahren nach einer verpatzten Arbeit. Ungeduldig fragte er:
»Erinnerst du dich an die Kürzung unseres Etats im Januar? Du musstest selbst zwei Leute entlassen.«
»Habe ich vergessen, mich dafür zu bedanken? Hör mal, ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst. Beim Chapham Killer hat sich gerade eine heiße Spur ergeben, in Felixstowe muss die ganze verdammte Fabrik vernommen werden, Hafenarbeiter, Anwohner, Autovermietungen, Taxifahrer und Wirte nicht zu vergessen. Das sind über fünfhundert Leute. Jetzt sollen noch vier meiner Männer die Drugs unterstützen. All das mit elf überarbeiteten Detectives, mich eingeschlossen. Es wird lange dauern.«
Whitney versuchte eine Weile, in seinen Gedanken zu lesen.
»Fünfhundert?«, fragte er schließlich verwundert. »Gibt es denn so viele Menschen in diesem gottverlassenen Felixstowe?«
Er wollte dem Superintendent die gute Laune wirklich nicht verderben, aber sein Problem musste jetzt gelöst werden. Ungeduldig wartete er auf Whitneys konstruktiven Beitrag.
»Ich kann keine zehn Detectives aus dem Hut zaubern, nicht einmal einen«, erklärte der schließlich zögernd, während er sein Gekritzel auf dem Notizblock eingehend betrachtete.
Was schließen wir daraus?, hätte Adam beinahe gefragt, doch er ließ Whitney weiter zappeln. Endlich legte sein Chef den Stift weg.
»Wie weit seid ihr mit den Dealern?«
Die Unterhaltung schwenkte in die richtige Richtung, dachte Adam erfreut.
»Meine Leute sind eben erst daran, sich einzuarbeiten.«
»Die sollen die Akten wieder zurückschicken. Ich sorge dafür, dass die Drogenfahndung allein klarkommt. Konzentriert euch auf die Tötungsdelikte.«
Adam erwiderte den vernichtenden Blick der Vorzimmerdame mit einem zufriedenen Lächeln. Sein Plan war aufgegangen. Whitney würde nach einer oder zwei Stunden auch begreifen, dass er keineswegs seinen Laden aufblähen, sondern sich nur auf den eigentlichen Job der Mordkommission konzentrieren und den lästigen Exkurs in die Drogenfahndung vermeiden wollte. Womöglich würde ihn die Geschichte eine gute Flasche Wein kosten. Ein angemessener Preis, fand er.
Ein Funke von Whitneys guter Laune war auf ihn übergesprungen, doch der erlosch sogleich wieder, als er sein Glashaus neben dem Büro der Detectives betrat. Draußen schien die Sonne, eine gelungene Überraschung in diesem Sommer, deshalb hatten sich die Jalousien automatisch geschlossen. Im kalten Kunstlicht machten seine Sukkulenten traurige Gesichter. Er ging ans Fenster, um seinen stacheligen Freunden etwas Trost zu spenden, doch sie mochten nicht zuhören. Die Lobivia weigerte sich weiterhin, ihre Blüte auszutreiben, als wäre ihr jede Freude am Leben vergangen.
»Irgendwie kann ich dich verstehen«, murmelte er.
Es musste sich etwas ändern, bloß wusste er nicht was. Er und sein düsteres Treibhaus am Rand des eisigen Großraumbüros lebten schon ewig in einer Symbiose, deren labiles Gleichgewicht niemand zu stören wagte, nicht einmal er selbst.
Nach und nach verließen seine Leute die Schreibtische. Es wurde Zeit für die Lagebesprechung im großen Sitzungszimmer. Unterwegs sammelte er die vier zur Drogenfahndung Verdammten ein. Sie nahmen die Nachricht mit freudestrahlenden Gesichtern auf. Vier glückliche Detectives an einem Tag – ungefähr vier mehr als im Durchschnitt.
»Wer zum Teufel isst Ölsardinen aus Blechbüchsen?«, fragte Pete, als er sich neben ihn setzte.
Pete Townsend gehörte zum Inventar seiner Abteilung. Als einfacher Sergeant besaß er mehr Autorität als die meisten Inspectors, dennoch wehrte er sich seit Jahren erfolgreich gegen eine Beförderung. Adam hatte nie wirklich verstanden, was ihn dazu bewog, auf höheres Gehalt und bessere Pension zu verzichten. Möglicherweise bildete er sich ein, als Inspector nicht mehr frisch von der Leber weg reden und fluchen zu dürfen.
Adam brauchte nicht zu antworten. Mad Barclay meinte giftig:
»Man sollte diesen Josh Sorin selbst zu Büchsenfutter verarbeiten.«
Adam pflegte eine ambivalente Beziehung zu seiner Pathologin. Sie hieß eigentlich Dr. Madison Barclay. Er kannte keinen besseren Gerichtsmediziner, doch ihr Spitzname war Programm. Hatte man das Pech, einen ihrer unkontrollierten Wutausbrüche zu erleben, konnte man sie durchaus für verrückt halten.
»Der Fabrikant aus Felixstowe?«, fragte er, um sie zu beruhigen.
»Arroganter Macho. Glaubt, mich mit seinen Beziehungen unter Druck setzen zu müssen. Ich kann’s nicht erwarten, diesen Idioten auf meinem Tisch zu haben.«
Machos zersägen und ausnehmen gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, denn sie war selbst das weibliche Äquivalent dazu und eine akute Gefahr für den weiblichen Nachwuchs beim Yard, wie jeder wusste.
Die Uhr an der Wand zeigte auf zehn. Zeit, anzufangen. Er blickte in die Runde und legte sogleich die Stirn in Falten. Mit hochgezogenen Brauen fragte er:
»Wo steckt Cornwallis?«
Erst nach kurzem Zögern meldete sich ein blasser junger Mann:
»Sir, ich glaube, DS Cornwallis ist noch in Felixstowe.«
Adams Blicke brachten das bleiche Gesicht zum Glühen.
»So, glauben Sie?«, fragte er lauernd. »Und was wissen Sie?«
Der junge Mann schluckte schwer, versuchte vergeblich, eine Antwort zu finden.
»Richten Sie Ihrem Partner aus, er habe sich gefälligst zur Lagebesprechung einzufinden wie alle andern auch«, wies er ihn zurecht.
»Verstanden, Sir, soll ich ihn …«
Er war aufgesprungen, das Telefon in der Hand.
»Setzen!«
Er brauchte den jungen Computerexperten, um das elektronische Whiteboard zu bedienen, das die gute, alte, einfache Pinnwand ersetzte. Er wartete, bis der eingeschüchterte Detective Constable den Stuhl wieder an den Tisch gerückt hatte, bevor er Pete aufforderte, die Lage im Mordfall Stuart zusammenzufassen. An der Wand erschien das Porträt einer Frau neben dem Ausschnitt aus der Landkarte von Felixstowe.
»Mrs. Felicity Stuart, einundvierzig, wurde am Freitag, 22. August, morgens um 11:20 Uhr in den Trimley Marshes bei Felixstowe, Suffolk, tot aufgefunden.«
Während er sprach, fügten sich mehr und mehr Zeichen, Texte, Figuren und Fotos ins Bild, bis der aktuelle Stand der Ermittlungen als virtuelle Collage fast die ganze Wand bedeckte. Auf Petes Zeichen blendete der junge Mann die Zeitlinie mit allen bis jetzt rekonstruierten Ereignissen ein, von den letzten Stunden vor Felicitys Verschwinden bis zum Fund ihrer Leiche. Es waren nicht viele, genau drei. Pete las vor:
»Dienstag, 19. August, 17:35 Uhr: Felicitys letztes Gespräch mit Aaron Poynter, ihrem Stellvertreter. Unmittelbar danach verlässt sie die Fabrik. Freitag, 22. August, 10:10 Uhr: Der Sohn Scotty Stuart entdeckt Felicitys Schal im Moor. Freitag, 22. August, 11:20 Uhr: Suchtrupp der Suffolk Constabulary findet Felicitys Leiche im Moor.«
Die beinahe leere Zeitlinie ärgerte Adam, doch enthielt er sich eines Kommentars und wandte sich an die Pathologin:
»Wissen wir inzwischen mehr über Todeszeitpunkt und Todesursache?«
»Steht im vorläufigen Bericht für alle, die lesen können«, brummte sie.
Und die Zeit dazu haben, hätte er am liebsten ergänzt. Stattdessen warf er ihr einen aufmunternden Blick zu und wartete.
»Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen«, fuhr sie widerwillig fort. »Mal abgesehen von den zahlreichen postmortalen Hämatomen, die durch unsachgemäße Behandlung des Leichnams zustande kamen, kann ich Folgendes festhalten: Das Opfer ist durch einen einzigen Messerstich ins Herz gestorben. Der Tod muss unmittelbar eingetreten sein, so präzis war der Stich geführt. Ich selbst ich hätte es nicht besser gekonnt. Die Tatwaffe ist bisher nicht gefunden worden. Vermutlich handelt es sich um einen zweischneidigen Dolch mit zirka ein Zoll breiter und mindestens sechs Zoll langer Klinge.«
»Der Täter war ein Fachmann? Ein Arzt?«, fragte er verblüfft.
»Oder ein erfahrener Metzger. Die Präzision kann natürlich auch Zufall gewesen sein, aber das halte ich für eher unwahrscheinlich, denn es gibt wie gesagt nur eine Stichwunde.«
»Kann es eine Frau getan haben?«
»Möglich. Eine kräftige Frau mit der richtigen Portion Wut im Bauch – warum nicht? Der Stichkanal führt leicht schräg nach oben. Das deutet darauf hin, dass der Täter oder die Täterin ungefähr gleich groß ist wie das Opfer.«
»Fünf Fuß sieben, Sir«, rief der junge Mann am Computer dazwischen.
»Also eher klein, gedrungen«, murmelte Adam. »Das ist wenigstens ein erster, konkreter Anhaltspunkt. Wurde das Opfer misshandelt, missbraucht?«
»Vergewaltigt meinst du? Nein, es gibt kein Anzeichen von Missbrauch oder Gewalt, außer dem Messerstich. Er muss sie vollkommen überrascht haben.«
»Todeszeitpunkt?«
»Der Zeitpunkt des Exitus lässt sich nicht mehr genau eingrenzen. Sicher ist, dass der Leichnam schon vor der letzten Regenfront im Moor gelegen hat. Das heißt, er ist irgendwann vor ein Uhr am Mittwochmorgen dort abgelegt worden.«
»Sie ist nicht dort gestorben?«
»Nicht am Fundort. Die Kriminaltechnik konnte den Tatort noch nicht finden. Dürfte auch ziemlich schwierig werden, falls sie im Moor gestorben ist. Das viele Wasser hat fast alle Spuren beseitigt.«
Er warf einen Blick auf die Projektionswand. »Wir gehen also davon aus, dass die Tat zwischen Dienstag, 17:35 Uhr und Mittwochmorgen, 1 Uhr, geschehen ist?«
»Ich hätte es kaum besser formulieren können.«
Wie von Geisterhand gezeichnet, erschien ein roter Balken mit der Beschriftung ›Todeszeitpunkt‹ auf der Zeitlinie. Es gab zu viele weiße Flecke in diesem Fall und entschieden zu wenige Detectives, die er darauf ansetzen konnte. Seine Leute vermochten mit Mühe die Befragung der Fabrikarbeiter zu bewältigen und die Familie des Opfers zu durchleuchten. Mehr lag auch mit Unterstützung der Polizei von Suffolk nicht drin. Mad Barclay fiel das auch auf. Sie reagierte ungehalten:
»Wer nimmt sich den König der Sardinen zur Brust?«
Pete grinste. »Sorin? Der wird von den Kollegen in Norfolk vernommen.«
»Gratuliere!«, schnaubte die Pathologin verächtlich. »Der King wird von seinen Vasallen ausgequetscht. Das könnt ihr euch sparen.«
Adam griff ein, bevor der Schlagabtausch eskalierte:
»Wir können nicht alles allein machen – leider. Konzentriert die Vernehmungen auf den Tatradius und die Suche nach dem Motiv.«
Auf der Karte an der Wand erschien ein schraffierter Kreis mit Sorins Konservenfabrik als Mittelpunkt. Das Programm deutete damit an, in welchem Gebiet sich das Opfer vor der Tat wahrscheinlich aufgehalten hatte.
»Es gibt verdammt wenig Greifbares«, sagte er verärgert. »Im Grunde wissen wir noch gar nichts, was uns weiter bringt.«
Während er aussprach, was alle dachten, ging die Tür leise auf. Eine jugendliche Gestalt, nicht unähnlich dem Neuling am Computer, betrat den Raum.
»Detective Sergeant Cornwallis, schön, dass Sie den Weg zu uns doch noch gefunden haben«, knurrte Adam.
»Sorry, Sir, ich wurde in Felixstowe aufgehalten. Gestern Nacht ist uns gelungen, den Jungen Scotty Stuart endlich zum Reden zu bringen. Er sagt aus, seine Mutter am Dienstagabend gesehen zu haben, als sie die Fabrik verließ. Er behauptet, ein Mann habe kurz mit ihr gesprochen, dann sei sie in sein Auto eingestiegen. Das Auto sei in Richtung Hafen gefahren. Zeitpunkt etwa 17:45 Uhr.«
Das Ereignis erschien auf der Zeitlinie, während die Augen der Kollegen an den Lippen des Sergeants hingen.
»Und weiter?«, drängte Adam. »Wie sah der Mann aus? Wagentyp, Kennzeichen?«
Cornwallis schüttelte bedauernd den Kopf. »Scotty hat sich widersprochen. Er sah die beiden nur kurz, während er auf dem Rad vorbeifuhr. Ab 18 Uhr war er nach übereinstimmenden Zeugenaussagen bereits wieder zu Hause. Sicher ist er sich einzig, dass er Felicity gesehen hat und den Rücken eines untersetzten Mannes etwa in ihrer Größe.«
»Ist uns auch schon bekannt.«
Cornwallis blickte ihn bestürzt an, dann sah er das vorläufige Täterprofil an der Wand und lächelte.
»Ja, Sir, die Größe deckt sich mit Scottys Aussage. Der Unbekannte könnte der Täter gewesen sein.«
Er hüstelte, legte eine Kunstpause ein, bevor er hinzufügte:
»Scotty hat gehört, wie der Unbekannte laut und eindringlich auf seine Mutter einredete. Er hat zwar nicht verstanden, worum es ging, ist aber überzeugt, dass der Mann mit ausländischem Akzent gesprochen hat. Wahrscheinlich Holländisch oder Deutsch, gibt er an.«
»Der Kleine beherrscht ja beide Fremdsprachen, nehme ich an«, spottete Adam.
Cornwallis schüttelte beleidigt den Kopf. »Er kennt den Klang der Sprachen von den Hafenarbeitern und Seeleuten, sagt er. Sir, ich meine, wir sollten den Jungen ernst nehmen. Es könnte eine wichtige Spur sein.«
Das brauchte der Sergeant einem alten Hasen wie ihm nicht zu erläutern. Angenommen, Scotty irrte sich nicht, dann gab seine Beobachtung dem Fall eine neue Wendung, die ihm gar nicht gefallen wollte. Cornwallis traute er zu, den Zeugen richtig einzuschätzen, also entschied er sich, großes Geschütz aufzufahren.
»Wir dehnen die Untersuchung aus«, sagte er. »Täterprofil und Tathergang werden an Interpol weitergeleitet. Ich will wissen, ob sich ähnliche Fälle in Deutschland oder den Niederlanden ereignet haben. Gibt es entsprechende Täter, die seit Kurzem wieder auf freiem Fuß sind, und so weiter, das ganze Programm.«
Wiesbaden
Der Applaus fiel höflich aus. Das Konzert im Atrium riss die Zuschauer nicht von den Stühlen. Chris hatte sich mehr versprochen von der Bigband aus Schweden. Die Musiker spulten die Evergreens routiniert und technisch perfekt ab, doch wurde sie den Verdacht nicht los, die wollten gar nicht hören, was sie spielten. Das Publikum zerstreute sich rasch. Ein paar ältere Herren unterhielten sich auf der Allee, unschlüssig, welche Kneipe es sein sollte. Ein junges Paar kam ihr entgegen. Eng umschlungen, mit sich selbst beschäftigt, traten sie auf die Straße. Chris löste die Kette vom Fahrrad. Sie nahm die schnelle Bewegung am Ende der Straße nur aus den Augenwinkeln wahr. Ein Sportwagen schlitterte mit quietschenden Reifen vom Siegfriedring in die nächtliche Allee und raste mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu.
»Achtung!«, schrie sie. »Weg von der Straße!«
Statt zu bremsen, ließ der Irre im 3er Cabrio den Motor aufheulen. Die Leute auf der Straße reagierten viel zu langsam, wie in Zeitlupe. Chris sprang ins Scheinwerferlicht, ruderte mit den Armen und rief aus Leibeskräften:
»Anhalten, Polizei!«
Der Schock traf den Fahrer hart. Er trat augenblicklich auf die Bremse. Seine motorisierte Waffe rutschte näher, zu schnell, um den Zusammenstoss zu vermeiden. Von der Ringstraße brausten Blaulichter heran. Instinktiv sprang sie auf und landete auf der Motorhaube. Ihr Rücken prallte hart an die Frontscheibe, aber der Scheißkerl stand still.
»Anhalten, Polizei!«, rief sie nochmals, während sie ächzend vom Wagen rutschte.
Der Fahrer, ein süß parfümierter Schnösel, noch grün hinter den Ohren, starrte sie entsetzt an und regte sich nicht.
Sie zückte ihren Ausweis. »Aussteigen!«
Er schien sie nicht zu hören. Die Streifenwagen schlossen auf, da löste sich die Schockstarre. Er griff an den Schalthebel, doch sie war schneller. Ohne Zögern drehte sie den Zündschlüssel und zog ihn heraus. Das Brummen des Motors erstarb.
»Aussteigen, Hände auf die Haube«, sagte sie ruhig und langsam genug, damit es auch schwache Schüler verstanden. Streifenpolizisten eilten herbei. Endlich begriff der Idiot, dass es vorbei war. Er ließ sich mit hängenden Schultern abführen.
»Sind Sie seine Begleitung?«, fragte ein Polizist in vorwurfsvollem Ton.
»Sehe ich so aus?«
Sein Blick auf ihren leuchtend blonden Zopf und in den tiefen Ausschnitt bestätigte genau das. Wütend hielt sie ihm die Dienstmarke unter die Nase und sagte zur Sicherheit:
»Kriminaloberkommissarin Christiane Hegel, BKA Wiesbaden. Und Sie sind?«
»Entschuldigung«, murmelte er verdutzt.
»Ich kam aus dem Konzert und sah, wie der Verrückte auf die Leute zuraste. Ich musste ihn aufhalten.«
»Sie könnten tot sein.«
»Berufsrisiko.«
Ihr Rücken schmerzte. Sie versuchte, sich die Stelle zu massieren. Dabei drohten ihre Brüste, unterstützt vom Push-up, dem Kollegen von der Streife ins Gesicht zu springen. Der junge Mann wusste nicht wohin mit den Augen, bis sein älterer Partner neugierig auf sie zutrat.
»Kommissarin Hegel vom BKA hat ihn gestoppt«, erklärte der Junge hastig.
»Oberkommissarin«, verbesserte sie.
Sie fand die feine Abstufung in der Funktionsbezeichnung lächerlich, aber es tat gut, den Jungen zu quälen.
»Oberkommissarin, Entschuldigung«, murmelte er verlegen.
»Sind Sie verletzt?«, fragte der Ältere.
Sie schüttelte den Kopf. »Danke, ich bin in Ordnung.«
»Sind Sie sicher? Sie haben ein ganz schönes Früchtchen aus dem Verkehr gezogen. Der Mann hat eine Person angefahren und Fahrerflucht begangen, deshalb waren wir hinter ihm her. Er wird wohl für eine Weile von der Straße verschwinden.«
»Hoffentlich ist er schon strafmündig«, lächelte sie.
Dadurch fasste der Junge neuen Mut. »Er ist immerhin schon achtundzwanzig«, grinste er.
Sie nickte ihm verständnisvoll zu. »Manche Leute entwickeln sich eben sehr langsam.«
Das betroffene Gesicht des Polizisten erinnerte sie entfernt an die erste Begegnung mit ihrem Jamie. Milder gestimmt, wehrte sie sich nicht dagegen, den Beamten fürs Protokoll aufs Revier zu folgen. Sie hielt den konfiszierten Zündschlüssel hoch und sagte zum Jüngling:
»Sie könnten mich ja fahren. Mein Fahrrad findet sicher Platz im Streifenwagen Ihres Partners.«
Der Junge blühte auf während der kurzen Fahrt, was nicht nur am schnittigen Sportwagen lag. Sie hatte beschlossen, in den nächsten zehn Minuten richtig nett zu ihm zu sein.
Am nächsten Morgen in der Zentrale des Bundeskriminalamts empfing sie ihr Partner mit besorgter Miene. Sven blickte sonst nicht von der Arbeit auf, wenn sie das Büro betrat, doch nun sprang er gar auf und betrachtete sie eingehend von allen Seiten.
»Bist du auch wirklich O. K.?«, fragte er leise, um sie nicht zu erschrecken.
»Dasselbe wollte ich dich fragen.«
Hatte sie etwas übersehen? Im Spiegel war ihr nur ein blauer Fleck aufgefallen, am Rücken unter dem rechten Schulterblatt. Den konnte er unmöglich sehen.
»Richter hat ganz aufgeregt nach dir gefragt. Es gab einen Verkehrsunfall?«
»So kann man es auch sehen«, lachte sie. »Wollte der Staatsanwalt etwas von mir?«
»Du möchtest dich bitte bei ihm melden, sobald es die Umstände zulassen. Seine Worte.«
»Du meine Güte! Das sind ja ganz neue Töne.«
Oberstaatsanwalt Richter gab sich im Normalfall keine Mühe, besonders höflich zu sein. Woher wusste er überhaupt Bescheid über den nächtlichen Zwischenfall? Andererseits – er war einer der Mächtigen beim BKA, und das besaß große Ohren. Sein Büro stand offen. Er kam ihr freudestrahlend entgegen, sobald er sie entdeckte.
»Dr. Hegel, Gott sei Dank. Wie fühlen Sie sich?«
Nicht besonders wohl in meiner Haut, dachte sie beunruhigt. Sie kannte nur zwei Gründe, die ihn bewogen, sie mit dem akademischen Titel anzureden: Entweder drohte eine Standpauke, oder er wollte etwas Unangenehmes von ihr.
»Es geht mir gut«, log sie. »Warum fragen Sie?«
»Na hören Sie mal. Ich fürchtete schon, sie würden zur Verkehrspolizei abwandern.«
»Die Leute dort sind wirklich nett. Ich werd’s mir überlegen.«
Er schüttelte schmunzelnd den Kopf und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.
»Sie sind also wieder voll einsatzfähig? Keine Nachwirkungen? Mein Gott, Sie könnten tot sein!«
Dreimal ja. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis sein Mitgefühl erlosch:
»Gut, gut, dann wollen wir – in medias res, sozusagen.«
Er nahm ein Blatt aus der Aktenmappe, die vor ihm lag, und überreichte es ihr.
»Interpol braucht unsere Unterstützung«, bemerkte er dazu.
Sie las die in umständlichem Amtsenglisch verfasste Anfrage. Irritiert legte sie den Zettel schließlich auf den Tisch.
»Ein Dolchstoß ins Herz in einem Kaff in Suffolk – was hat das mit uns zu tun?«
»Drehen Sie das Blatt um.«
»Ach so, Entschuldigung.«
Widerwillig las sie weiter. Offenbar bestand der Verdacht, es könnte sich um einen deutschen Täter handeln. Ziemlich an den Haaren herbeigezogen, fand sie. Vor allem verstand sie immer noch nicht, warum Richter ausgerechnet ihr diese Anfrage zeigte. Es arbeitete in ihrem Gesicht, was ihn zu belustigen schien.
»Sie fragen sich, warum ich die Sache nicht an die Zentralen Dienste leite. Das hatte ich vor, doch dann erinnerte ich mich an diese Meldung aus dem LKA Stuttgart.«
Er schob ihr ein zweites Blatt hin. Es war die Nachricht vom Mord an einem Schwarzen in Tübingen, die sie im Radio gehört hatte. Tod durch einen einzigen Dolchstoß ins Herz, genau wie im Fall aus England.
»Das könnte ein Zufall sein«, sagte sie.
Er nickte. »Genau, darum möchte ich, dass Sie das schnell bestätigen, damit wir die Sache vom Tisch haben.«
Das Damoklesschwert sauste mit voller Wucht auf sie herunter. Das war also der Grund für die akademische Anrede. Noch ein lästiger Auftrag. Sie, ihr Partner und ein paar andere Leute konnten sich ja nicht gerade über Arbeitslosigkeit beklagen, was Richter bestens bekannt war. Sie suchte hastig nach der besten Ausrede, als ihr Blick auf die Information über die zuständige englische Dienststelle fiel. Sie entspannte sich augenblicklich, nahm die Akte an sich und verabschiedete sich vom verdatterten Staatsanwalt mit einem Lächeln.
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«