Читать книгу Das letzte Steak - Hansjörg Anderegg - Страница 7
ОглавлениеKapitel 3
Tübingen
Professor Lorenz war ein hoch geachteter Biologe, der sein halbes Leben lang an der Universität Tübingen gelehrt und geforscht hatte. Es gab keine weißen Flecke und keine dunklen Kapitel in seiner Biografie, soweit Chris in der kurzen Zeit herausfinden konnte. Worüber mochte er mit dem Reporter aus Namibia gesprochen haben? Bald würden Sie es wissen. Sven fuhr langsam die ruhige Quartierstraße entlang. Die schwarze Silhouette des Schlosses zeichnete sich wie ein drohender Schatten vor dem Nachthimmel ab. Einzig im Haus der Studentenverbindung, das selbst wie ein Schloss aussah, brannte Licht.
»Der wird doch nicht schon pennen«, spottete Sven.
»Er ist ein alter Mann, so wie du in einigen Jahren.«
Es tat ihr leid, den Mann wecken zu müssen, aber bei ihrer Arbeit war Rücksicht die falsche Strategie. Sie drückte lange auf die Klingel an der Tür, zweimal, dreimal. Im Haus blieb es dunkel und ruhig.
»Ausgeflogen«, vermutete Sven. »Wir sollten die Eierköpfe nebenan befragen.«
Sie drückte vorsichtig auf die Klinke. Die Tür war verschlossen.
»Ich sehe mal hinten nach«, sagte sie und ging ums Haus.
Licht schimmerte auf die Terrasse und in den Garten. Die Terrassentür stand offen. Im nächsten Augenblick sprang sie aus dem Licht in Deckung, zog die Waffe und entsicherte sie. Das Haus des Professors war ein Tatort. Der alte Mann lag reglos auf dem Rücken in der Türöffnung. Eine Blutlache hatte sich um seinen Oberkörper gebildet. Das Blut schien weitgehend eingetrocknet zu sein. Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd, näherte sie sich dem Körper. Professor Lorenz starrte sie aus toten Augen an. Sie fühlte den Puls, obwohl sie wusste, dass jede Hilfe zu spät kam. Im Haus blieb es totenstill. Dennoch sprach sie leise ins Telefon, als sie ihren Partner alarmierte.
»Ein Stich ins Herz, kommt mir irgendwie bekannt vor«, murmelte er betroffen, als er den Leichnam sah.
»Dieselbe Vorgehensweise«, stimmte sie zu. »Der Täter hat ein einziges Mal zugestochen und eine breite, tiefe Wunde hinterlassen. Ich schätze, der Mann ist seit etwa vierundzwanzig Stunden tot.«
Sven alarmierte die Stadtpolizei, dann begannen sie, das Haus systematisch zu durchkämmen. Soweit sie durch bloße Beobachtung feststellen konnte, gab es keine Einbruchspuren. Entweder war die Terrassentür offen gewesen, oder er hatte den Täter selbst hereingelassen. Nichts deutete auf die Anwesenheit einer dritten Person hin.
»Sieht aus, als hätten sie sich gekannt«, sagte Sven.
»Oder er hat den Täter mit einem Bekannten verwechselt«, entgegnete sie nachdenklich.
Sie deutete auf die Brille, die dem Professor beim Sturz vom Kopf gerutscht war.
»Ziemlich dicke Gläser.«
Sie suchten weiter nach Spuren im Haus, ohne die spätere Arbeit der KT allzu sehr zu beeinträchtigen. Der Professor führte einen gepflegten Single-Haushalt. Alles hatte seine Ordnung, ohne pedantisch zu wirken. Nichts im Haus deutete auf Gewaltanwendung oder auch nur auf eine Durchsuchung hin. Sein Handy lag offen neben einer antiken chinesischen Vase auf dem Bücherregal. Vielleicht war es nur eine billige Nachahmung. Sie kannte sich nicht aus, aber die mindestens fünfhundert Euro in der Geldbörse auf dem Lesetisch waren bestimmt echt. Raubmord konnten sie ausschließen. Wie der Mord am Journalisten war auch dies keine Tat im Affekt. Es war kaltblütig geplanter Mord.
»Der Täter kam hierher, um den Professor zum Schweigen zu bringen«, folgerte sie.
Sven nickte. »Er wusste zu viel. Sieht so aus, als gäbe es einen Zusammenhang mit dem Gespräch im ›Hades‹. Zwei fast identische Morde in dieser Stadt und so kurz hintereinander. Das ist sicher kein Zufall. Vielleicht sind die Recherchen des Journalisten der Schlüssel.«
Unvermittelt legte sie den Finger auf die Lippen und deutete zum Flur. An der Haustür kratzte etwas. Das Schloss knackte. Chris wartete hinter der Tür. Sven sicherte aus einer dunklen Ecke im Flur. Die Tür ging auf.
»Herr Professor, sind Sie da?«, rief eine hohe Stimme.
Sie gehörte einer älteren Frau. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter. Sie drückte ihn und zuckte erschrocken zusammen.
»Keine Angst«, beruhigte Chris, während sie ihren Ausweis zeigte. »Wir sind von der Polizei. Kriminaloberkommissarin Hegel, mein Kollege Hoffmann. Wer sind Sie und was tun Sie hier?«
Es dauerte eine Weile, bis sich die Frau vom Schock erholte.
»Kriminalpolizei, um Himmels willen, was ist geschehen?«, flüsterte sie schließlich ängstlich.
Sie war eine Nachbarin und alte Bekannte des Professors, die sich gelegentlich ums Haus kümmerte. Sie machte sich Sorgen, weil sie ihn den ganzen Tag nicht gesehen hatte.
»Das ist nicht normal, müssen Sie wissen«, betonte sie. »Wir sprechen jeden Tag miteinander, außer wenn er auf Reise ist, und das hätte er mir gesagt.«
«Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit ihm?«
»Das muss gestern so um halb vier gewesen sein. Er war auf dem Weg zur Uni. Dort hatte er einen Termin um vier. Was ist mit ihm?«
Chris brachte ihr die Nachricht vom Tod ihres Nachbarn schonend bei. Die Erschütterung der Frau war nicht gespielt. Man würde ihr Alibi überprüfen, doch Chris war überzeugt, dass sie nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte.
»Haben Sie seither jemanden am Haus gesehen, einen Fremden vielleicht, ein Auto, das Ihnen aufgefallen ist?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Darf ich ihn sehen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Tut mir leid, das geht leider nicht. Das Haus ist ein Tatort. Es wird versiegelt. Ich muss Sie bitten, nach Hause zu gehen. Wir werden uns bei Ihnen melden, wenn wir weitere Fragen haben.«
Die Frau zog sich mit Tränen in den Augen zurück. Chris begleitete sie bis zur Straße. Sie wollte sie nicht allein lassen, doch die sich nähernden Blaulichter drängten sie ins Haus zurück. Ihr Handy klingelte, da überließ sie es ihrem Partner, den Arzt und die Kriminaltechniker einzuweisen. Sie drückte auf Empfang. Caro war am Apparat.
»Immer noch im Büro?«, fragte Chris müde.
»Bin schon unter der Tür. Habt ihr den Professor gefunden?«
»Allerdings. Er ist tot, erstochen, genau wie der Reporter.«
»Mein Gott – derselbe Täter?«
»Einiges deutet darauf hin.«
»Hatte der Professor Verbindungen nach Namibia?«
»Wir wissen es noch nicht. Das wird jetzt untersucht. Warum fragst du?«
»Mir ist da etwas aufgefallen, was vielleicht wichtig sein könnte.«
»Im Zusammenhang mit dem Professor?«
»Vielleicht auch. Es geht um den Mord an Mwilima. Wir haben jetzt endlich den Obduktionsbericht. Da werden Eintrittswunde und Stichkanal genau beschrieben. Wie wir von Anfang an vermuteten, handelt es sich bei der Tatwaffe um eine Art Dolch: zweischneidig mit breiter, dicker und langer, gerader Klinge.«
»Ist nicht überraschend.«
»Nein, aber jetzt kommt’s: Solche Dolche, die genau zur beschriebenen Wunde passen, wurden früher von afrikanischen Stämmen für die Jagd und bei Stammeskriegen benutzt. Bekannt und berüchtigt sind die Dolche der Owambo. Das ist der größte Volksstamm in Namibia.«
Chris brauchte einige Sekunden, um diese Nachricht zu verarbeiten, dann fragte sie:
»Wie verbreitet sind diese Dolche?«
Caro lachte. »Ich dachte, du würdest das fragen. Soweit ich bis jetzt herausgefunden habe, werden die Owambo-Dolche von Sammlern als Antiquitäten gekauft. Der Handel ist allerdings eher bescheiden. Es dürften nicht allzu viele Exemplare im Umlauf sein. Sonst ist die Waffe traditioneller Familienbesitz der Owambo.«
»Du meinst, der Täter stamme aus diesem Umfeld?«
»Spekulieren ist nicht meine Aufgabe.«
»Ich weiß, aber wenn die Tatwaffe ein solcher Dolch ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter ein Schwarzer aus Namibia ist. Welcher Volksgruppe gehört das Opfer an? Steht das im Obduktionsbericht?«
»Nein, aber in den Unterlagen, die du von mir bekommen hast. Mwilima stammt aus dem Volk der Herero.«
»Wir werden es hier doch nicht mit einem Stammeskrieg zu tun haben«, murmelte Chris nachdenklich.
»Kaum, außer Professor Lorenz hätte auch eine namibische Vergangenheit.«
Lag der Stadtstreicher am Ende doch richtig? Redete er sich nicht nur ein, einen Schwarzen mit dem Opfer streiten gehört zu haben? Schmitz’ Erscheinung und sein Verhalten machten aus ihm nicht gerade einen glaubwürdigen Zeugen. Andererseits entsprachen seine nachprüfbaren Aussagen den Tatsachen. Ein Namibier als Täter in einem Doppelmord in Deutschland, das hörte sich immer weniger nach einer Routineuntersuchung an, die sie rasch nebenbei erledigen konnten.
»Richter geht durch die Decke, wenn er das hört«, grinste Sven böse, als sie ihm Caros Vermutung schilderte.
Zwei Helfer transportierten den Leichnam des Professors zum Wagen.
»Geht er in die Pathologie nach Stuttgart?«, fragte sie den Arzt, der dabei stand.
Er nickte. »Wenn es so weitergeht, können die hier bald eine Filiale eröffnen.«
Seine Einschätzung des Tathergangs, des Todeszeitpunkts und der Art der verwendeten Waffe deckte sich mit ihrer Vorstellung.
»Derselbe Täter, derselbe Dolch?«, fragte sie.
»Einiges spricht dafür, aber das zu beweisen ist Sache des Pathologen und der Technik.«
Der Rettungswagen wendete. Seine Scheinwerfer streiften die beim Schloss geparkten Autos und die hochgewachsene, schwarze Gestalt am Straßenrand.
»Hast du den Schwarzen gesehen?«, zischte Sven elektrisiert.
Sie rannten los. Der Unbekannte floh in Riesensätzen. Er steuerte auf den kleinen Parkplatz zu, doch Sven schnitt ihm den Weg ab.
»Halt, Polizei«, rief sie, »bleiben Sie stehen!«
Der Schwarze jagte mit seinen langen Beinen elegant wie eine Gazelle in Richtung Park. Er verschwand zwischen den Büschen bei der Treppe zum Neckar. Zu ihrer Überraschung rannte er weiter auf dem Pfad, der um den Rundturm herum zum Hintereingang des Schlosses führte. Sie drosselte das Tempo, um Atem zu schöpfen. Der Weg, den er einschlug, war eine Sackgasse. Sie wusste, dass das Gitter um diese Zeit geschlossen war. Der Fußweg endete dort.
»Das hat keinen Sinn. Sie kommen hier nicht weiter. Geben Sie auf!«, rief sie erst auf Deutsch, dann auf Englisch.
Sie zog die Pistole und entsicherte, während sie sich vorsichtig an der Mauer entlang dem Tor näherte. Der Flüchtige mochte sich schnell und geräuschlos durch die Nacht bewegen, doch er saß in der Falle. Einen Schritt noch, dann musste sie ihn sehen.
»Geben Sie auf«, rief sie nochmals. »Treten Sie langsam hervor mit erhobenen …«
Im nächsten Moment lag sie am Boden. Ihr wurde kurz schwarz vor den Augen. Stiche durchzuckten die rechte Schulter. Die Brust schmerzte. Sie bekam kaum Luft, als hätten sie schwere Reifen überrollt und die Lunge zerquetscht. Ächzend rappelte sie sich auf. Der Schwarze war verschwunden. Ihre ›Glock‹ auch – geladen und entsichert.
»Achtung, er hat meine Waffe!«, versuchte sie zu schreien, doch mehr als ein tonloses Flüstern gelang ihr nicht.
Sie wankte unsicher auf dem Weg zurück, den sie gekommen war. Am Fuß der kurzen Treppe hielt sie an. Sie atmete vorsichtig durch. Der Druck auf der Brust wich allmählich. Gott sei Dank schien sie nicht ernsthaft verletzt zu sein. Nur die Stiche in der Schulter sorgten weiter dafür, dass der Arm wie leblos herunterhing.
»Chris! Verdammt, was ist passiert? Wo steckt der Kerl?«
Sven stürmte die Treppe herunter auf sie zu.
»Er hat meine Waffe«, keuchte sie.
Ihr Partner stieß einen wüsten Fluch aus, bevor er ihr schmerzverzerrtes Gesicht bemerkte.
»Bist du verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir brauchen Verstärkung. Über die Straße kann er nicht fliehen. Auf der Treppe zum Neckar hättest du ihn sehen müssen. Ich glaube, er versucht, auf dem Fußweg zur Haaggasse hinunter zu entwischen.«
Sie hetzte die Treppe hinauf, so schnell es ging.
»Los, komm, zum Wagen. Wir schneiden ihm den Weg ab.«
Sie dirigierte ihn die Schlossbergstraße hinunter bis zur Kreuzung, dann wieder rechts zurück zur Altstadt. Obwohl sie mit Blaulicht und hoher Geschwindigkeit durchs nächtliche Tübingen rasten, dauerte es zu lang, bis sie die Stelle erreichten, wo der Weg zum Schloss in die Haaggasse mündete.
»Verflucht, der ist längst weg«, schimpfte Sven.
»Er kommt nicht weit«, murmelte sie ohne Überzeugung.
Eine Streife war vom andern Ende der Stadt her Richtung Marktplatz unterwegs. Dem Flüchtigen blieb also nur der Ausweg in die Unterstadt oder wieder hoch zur Burgsteige auf der Vorderseite des Schlosses.
»Genau da rennt er hoch«, rief sie aufgeregt.
Oben am Rathaus standen drei oder vier junge Leute, die sich händeringend unterhielten und dabei immer wieder auf die Treppe zur Burgsteige zeigten.
»Lass mich raus«, sagte sie hastig. »Du fährst am besten weiter, am Marktplatz vorbei, rechts hinauf, da geht’s zum Schloss.«
»Deine Pistole …«, rief er ihr nach, doch sie jagte schon die Stufen hinauf.
Möglicherweise wohnte er im Schlosshotel und wollte dorthin zurück. Die steile, schmale Straße war menschenleer. Sie blieb unschlüssig stehen, da tauchte der Porsche unten an der Ecke auf. Sven musste den Flüchtigen bemerkt haben, denn sein Wagen brach beinahe aus, als er am Faulen Eck um die Kurve schlitterte. Der Wagen verschwand in der Gasse, die zum Holzmarkt hinunter führte. Schwer atmend hetzte sie über die groben Pflastersteine hinter ihm her. Sven wartete mit grimmiger Miene am Anfang der Gasse auf sie.
»Der verdammte Idiot rannte die Treppe hinunter zurück zum Marktplatz. Dort verschwand er rechts um die Ecke. Wo zum Teufel bleibt die Streife?«
Die Antwort kam aus dem Lautsprecher des Funkgeräts:
»Sichtkontakt. Der Verdächtige flüchtet die Lange Gasse hinunter Richtung Hafengasse. Nehmen Verfolgung auf.«
»Endlich«, seufzte Sven erleichtert.
»Freu dich nicht zu früh«, warnte sie. »Dort gibt es überall enge Seitengassen, die kein Fahrzeug passieren kann.«
»Wo will er eigentlich hin? Müsste er nicht eher über den Neckar, wenn er aus der Stadt verschwinden will?«
»Nicht unbedingt«, antwortete sie in Gedanken versunken. »Ich kann mir vorstellen, was er vorhat. Angenommen, er ist nicht in Tübingen abgestiegen, dann wird er wohl mit dem Auto hergekommen sein. Unten am Stadtgraben gibt’s ein Parkhaus. Vielleicht sollten wir dort auf ihn warten.«
Sie beschrieb ihm den Weg und gab den Verdacht über Funk weiter.
»Klein hier, wir sind in der Nähe. Gehen in Stellung.«
Sven grinste. »Polizeimeister Klein«, murmelte er, »das ist wohl eine Nummer zu groß für ihn.« Laut sprach er ins Mikrofon: »Achtung! Der Verdächtige trägt eine schussbereite Pistole. Nur unauffällig beobachten. Wir sind in fünf Minuten vor Ort.«
Kleins Streife hielt sich an die Anweisung. Als sie sich der Einfahrt zum Parkhaus näherten, war nirgends ein Streifenwagen zu entdecken. Sie fuhren ein Stück weiter, hielten an und stiegen aus. Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein Uniformierter neben ihnen.
»Klein«, grüßte Sven erfreut.
»Bis jetzt alles ruhig«, meldete der Polizist zackig. »Mein Partner ist im Haus. Keine verdächtige Bewegung. Ein silbergrauer Audi hat vor zwei Minuten das Parkhaus verlassen. Frau am Steuer, weiß.«
»Kennzeichen?«, fragte Chris aus reiner Boshaftigkeit, da die Schulter immer noch höllisch brannte.
Zu ihrer Verblüffung las Klein das Kennzeichen ungerührt von seinem Notizblock ab. Minuten vergingen, ohne dass sich etwas regte. Hin und wieder fuhr ein Auto auf der Hauptstraße vorbei. Aus Kleins Funksprechgerät tönten leise kurze Meldungen. Der Flüchtige verstand es offenbar geschickt, sich unsichtbar zu machen. Seit der Flucht durch die Lange Gasse hatte ihn niemand mehr gesehen.
Es knackte im Funkgerät.
»Kalle, er ist da«, flüsterte eine Stimme im Lautsprecher.
Es ging los. Sie nickte Sven zu, mehr brauchte es nicht, damit jeder wusste, was zu tun war. Ihr Partner rannte zur Ausfahrt, durch die der Flüchtige ins Parkhaus eingedrungen sein musste. Sie blieb mit Klein draußen, um die Personenausgänge zu überwachen. Mit dem Funkgerät hörten sie, was drinnen vorging. Eine Weile blieb es ruhig, bis ein kurzer Piepser verriet, dass jemand eine Autotür öffnete. Das Schloss klickte.
»Halt, Polizei!«, rief Sven. »Hände aufs Dach und keine Bewegung!«
Die nächtliche Stille im Parkhaus verwandelte sich augenblicklich in ein Durcheinander aus hallenden Schritten, Türenschlagen, lauten Befehlen und Flüchen.
»Achtung, er flieht durch das Treppenhaus«, rief Sven.
Die schwarze Gestalt stürzte aus der Tür direkt vor Chris’ Füße. Kleins Partner hatte dem Flüchtenden im richtigen Moment ein Bein gestellt. Im selben Augenblick kniete sie auf dem Mann, drückte ihm das Gesicht auf den Boden und drehte ihm trotz der Stiche in der Schulter die Arme mit aller Kraft auf den Rücken, dass er laut aufstöhnte. Klein half ihr dabei, ihn zu fesseln, während sie seine Arme etwas weiter verdrehte, um zu prüfen, wie laut er werden konnte. Sie zog ihre Waffe aus seiner Hosentasche, dann erst ließ sie von ihm ab.
»Sie sind vorläufig festgenommen«, schnauzte sie ihn an. »Aufstehen!«
Ihre Schulter drohte zu explodieren, doch was sie viel mehr irritierte, war der attraktive Geruch des Scheißkerls.
Wiesbaden
Die elegante Gestalt im Verhörraum nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Mit dem Handy am Ohr beobachtete Chris verwirrt, wie der Schwarze seine Hände peinlich genau untersuchte und die Nägel ausgiebig überprüfte, als säße er im Nagelstudio der unerbittlichen Rosy. Er erhob sich, näherte sich der undurchsichtigen Scheibe, beugte sich vornüber, dass nur das Glas ihre Nasenspitzen trennte. Kritisch betrachtete er sein Gesicht von allen Seiten, fletschte die Zähne, die in makellos weißer Uniform und preußisch präzis ausgerichtet wie die Ehregarde des Alten Fritz auf sie warteten. Jamie am andern Ende der Leitung bekundete Mühe, auf ihre letzte Frage zu antworten, an die sie sich schon nicht mehr erinnerte.
»Ja, ja, ich muss jetzt Schluss machen, bis später«, sagte sie und legte auf.
Sie ließ den Verdächtigen noch zehn Minuten schmoren, bevor sie den Verhörraum betrat. Aus seinen Papieren kannte sie seine Identität. Er hieß Leonard Nuuyoma, stammte aus Namibia und arbeitete als Journalist bei der Zeitung ›Namibian‹ in Windhoek, genau wie das Opfer. »Können die ihren Arbeitskonflikt nicht zu Hause austragen?«, hatte Sven gefragt. Ein mögliches Motiv für die erste Tat wäre es immerhin, musste sie zugeben, wenn auch ein schwaches. Arbeitskonflikte endeten selten tödlich, und wenn, dann mit Schusswaffen. Zudem blieb völlig unklar, wie der bedauernswerte Professor Lorenz ins Bild passte. Sie vermutete eher, dass Lorenz und seine Arbeit an der Uni eine Schlüsselrolle spielten. Nuuyoma erhob sich sofort, als sie eintrat. Mit wachsamen Augen beobachtete er, wie sie ihm gegenüber Platz nahm, die Akten vor sich bereitlegte und das Aufzeichnungsgerät startete. Er wich ihrem forschenden Blick nicht aus. Im Gegenteil: Er schien sich in ihrer Aufmerksamkeit zu sonnen, dass sie fürchtete, er würde jeden Augenblick wieder die, zugegeben schönen, Zähne fletschen. Sie stellte sich vor, worauf er die Hand ausstreckte und mit freundlichem Lächeln sagte:
»Leonard Nuuyoma, nennen Sie mich Leon. Es tut mir leid wegen Ihrer Schulter. Ich wünschte, wir hätten uns unter andern Umständen kennengelernt.«
Sie ignorierte die Hand. »Setzen Sie sich, Mr. Nuuyoma.«
Er gehorchte zögernd, wobei ihm die Enttäuschung so deutlich vom Gesicht abzulesen war wie Jamies Betroffenheit, wenn er ihrem Humor nicht folgen konnte.
»Steht Ihnen ausgezeichnet, der V-Ausschnitt«, murmelte er laut genug, dass sie jedes Wort verstand.
Er sprach ein überraschend sauber artikuliertes Englisch, als gäbe er sich besondere Mühe, gepflegt und gebildet zu wirken. Offensichtlich litt er an narzisstischer Selbstüberschätzung – und er redete Müll.
»Wenn das eine Art Entschuldigung sein soll, dann sagen sie es«, wies sie ihn unwirsch zurecht, »aber lassen Sie meine Brüste in Ruhe.«
Kaum war es ausgesprochen, fühlte sie, wie sie errötete. Was war in sie gefahren? Seine elegante Erscheinung und das selbstbewusste Auftreten verwirrten sie komplett. Sie hatte einen ungehobelten Rüpel erwartet, nun saß sie einem schwarzen Dandy gegenüber, der versuchte, sie sanft um den Finger zu wickeln. Manchmal wünschte sie sich, etwas hässlicher auszusehen. Es würde diese Arbeit um einiges erleichtern. Er zeigte so viel Anstand, nicht auf ihren Ausrutscher zu reagieren, was den Ärger über sich selbst noch verstärkte. Ihre erste Frage klang daher wie eine Anklage:
»Was hatten Sie auf dem Schlossberg zu suchen?«
»Darf ich erfahren, weshalb Sie mich festhalten? Was werfen Sie mir vor?«
»Die Fragen stelle ich, Mister. Aber was halten Sie fürs Erste von Widerstand gegen die Polizei, Diebstahl und Tragen einer Pistole ohne Waffenschein, mal abgesehen von der wilden Flucht durch Tübingen mit geladener Schusswaffe? Wir hätten Sie erschießen können, verstehen Sie?«
Er lächelte verbindlich. »Danke, dass Sie es nicht getan haben.«
»Also?«
»Ich wollte Professor Lorenz sprechen.«
»Nachts um zehn?«
»Ich bin aufgehalten worden, und ich weiß, dass der Professor abends am besten zu Hause zu erreichen ist.«
»Klingt ganz nach Ausrede. Was wollten Sie von Professor Lorenz?«
»Fragen stellen. Ich bin Journalist, wie Sie wissen.«
»Sie leben und arbeiten in Namibia, und da reisen Sie nach Deutschland, um dem Professor ein paar Fragen zu stellen? Gibt es keine Telefone in Ihren Büros?«
»Ich erfuhr erst auf dem Weg nach Deutschland von ihm, hatte aber nicht vor, ihn zu besuchen bis ….«
»Bis was?«
»Bis ich feststellte, dass mein Kontakt wie vom Erdboden verschwunden ist.«
»Klingt nicht sehr überzeugend«, spottete sie.
»Es ist mein voller Ernst. Ich mache mir große Sorgen. Er schickte mir eine Mail, dass er Professor Lorenz treffen wolle. Das war sein letztes Lebenszeichen.«
»Von wem sprechen Sie?«
»Von einem Kollegen aus der Redaktion. Er recherchiert für eine heiße Story in Deutschland, wie er sagte.«
Die Nebel begannen sich zu lichten. Sie glaubte, die Antwort auf die nächste Frage zu kennen.
»Wie heißt der Kollege?«
»Ist es verboten, als Journalist in Ihrem Land Nachforschungen anzustellen? Ich möchte ihn da heraushalten, das verstehen Sie doch.«
»Heraushalten?«
Er zuckte nur mit den Schultern und deutete mit einer ausladenden Handbewegung an, dass er die ungemütliche Umgebung damit meinte.
»Es ist besser, Sie arbeiten mit uns zusammen, glauben Sie mir. Wenn Ihr Kollege nichts verbrochen hat, hat er auch nichts zu befürchten.«
Da er weiter schwieg, beschloss sie, es mit der Schocktherapie zu versuchen. Sie zog eine der Porträtaufnahmen der Leiche aus dem Ammerkanal aus der Akte und schob sie ihm hin.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Foto an. Der Mund öffnete sich leicht, die Oberlippe zitterte fast unmerklich. Es war nicht bloße Überraschung, die sein Gesicht ausdrückte. Angst und Entsetzen sprachen aus seinen Augen.
»Was – ist mit Usko – ist er …«
Seine Stimme versagte. Er räusperte sich, bemühte sich, Haltung zu bewahren.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte sie leise, während sie ihn weiter genau beobachtete.
Er nickte stumm. Als sie ihm das Wasser reichte, schimmerten seine Augen, als hätte er geweint. Das Foto lag umgekehrt auf dem Tisch.
»Das ist Ihr Kollege, nicht wahr? Usko Mwilima.«
»Ist er tot?«, fragte er tonlos.
Die Spannung wich aus seinem Gesicht. Die Wangen schienen zu erschlaffen, die Mundwinkel zeigten nach unten. Er blickte sie unendlich traurig an. Der Tote musste ein enger Freund gewesen sein. Anders konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären. Überraschung und Trauer waren nicht gespielt. Dennoch musste sie ihm weiter auf den Zahn fühlen, um sicher zu sein.
»Das haben Sie nicht gewusst?«, fragte sie hart zurück.
Er sprang entsetzt auf. »Nein!«, rief er. »Ich habe so etwas Schreckliches geahnt. Hier drin in meinem Herzen habe ich es gespürt.« Er schlug sich erregt an die Brust. »Seit Tagen hat er sich nicht gemeldet, und im Hotel hat man ihn auch nicht gesehen.«
»Setzen Sie sich bitte.«
Er sank auf den Stuhl, als hätte ihn alle Kraft verlassen. Sie wartete, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte, dann forderte sie ihn auf, zu reden:
»Sie sollten mir jetzt alles erzählen, was Sie über Mr. Mwilimas Aufenthalt in Deutschland wissen.«
Eine Pause entstand, während er abwesend durch sie hindurchblickte.
»Wie ist er gestorben?«, fragte er schließlich.
»Ihr Kollege ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.«
»Warum?«
»Das wissen wir nicht, noch nicht. Erzählen Sie uns, was Sie über seine Recherche hier in Deutschland wissen. Vielleicht hilft uns das bei der Aufklärung.«
Er begann, stockend zu berichten. Mwilima arbeitete normalerweise als Einzelgänger, wie er selbst auch. Er war bekannt dafür, nichts über seine Stories zu enthüllen, bis er sie ›im Kasten hatte‹. Noch bis Montag letzter Woche wusste niemand in der Redaktion, dass er in Deutschland recherchierte. Dann kam sein Anruf, er brauche Unterstützung.
»Hat er Sie direkt angerufen, nicht die Redaktion?«
Nuuyoma nickte. »Wir sind – waren gute Freunde. Er vertraute mir mehr als allen andern. Aber darum ging es nicht. Ich glaube, er brauchte mich für Nachforschungen an der Uni. Er sagte, es ginge um Nahrungsmittel.«
»In Deutschland?«
»Das weiß ich nicht, aber die Uni hat damit zu tun. Ich nehme an, er hat eine Spur zu diesem Professor verfolgt. Den sollten Sie befragen.«
»Das geht leider nicht mehr. Jemand hat ihn vorher zum Schweigen gebracht.«
Ruhig und gefasst wartete er auf eine Erklärung.
»Die Nachricht scheint Sie nicht zu überraschen.«
Die Mundwinkel rutschten nach oben. »Ach – Sie glauben, ich hätte ihn umgebracht? Warum sollte ich einen wichtigen Informanten töten?«
»Ich glaube gar nichts. Ich stelle nur Fakten fest. Wir werden Ihre Alibis gründlich überprüfen, und wenn Sie etwas mit einem oder beiden Verbrechen zu tun haben, werden wir das zweifelsfrei feststellen. Davon können Sie ausgehen.«
»Mit deutscher Gründlichkeit, hoffe ich«, murmelte er ohne Ironie.
»Können wir weitermachen? Wie sollte Ihre Unterstützung denn aussehen?«
»Ich habe ursprünglich Agronomie studiert. Das ist die Wissenschaft von …«
»Von der Landwirtschaft. Bei uns gibt’s auch Schulen.«
»Sorry, ich wollte Sie nicht … Also, weil ich mich einigermaßen gut auskenne in der Nahrungsmittelproduktion, habe ich schon etliche Reportagen über kleine und größere Skandale in Namibia geschrieben. Wahrscheinlich brauchte er meine Hintergrundinformationen. Spezialwissen ist manchmal ganz nützlich, um die richtigen Fragen zu stellen.«
»Was Sie nicht sagen.«
Seine Geschichte klang bisher plausibel, doch er schaffte es immer wieder, sie mit solchen Bemerkungen zu reizen. Seltsam nur, dass sie es widerstandslos geschehen ließ.
»Ich möchte ihn sehen«, sagte er unvermittelt.
»Ihren Freund?«
»Ja, Usko.«
Sie nickte. »Ich werde sehen, was sich machen lässt. Hatte Mr. Mwilima Familie, Angehörige, die wir benachrichtigen müssen?«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich war seine Familie.«
Sein Blick wirkte verloren, wie der des Jungen, der Rat bei der Mutter sucht. Sie wandte sich ab, blätterte scheinbar konzentriert in den Akten, bis er unsicher fragte:
»Sind wir fertig? Kann ich gehen?«
»Sie werden uns noch eine Weile Gesellschaft leisten müssen. Sie bleiben in Untersuchungshaft, bis wir Ihre Angaben überprüft haben. Ach ja – eine Speichelprobe brauchen wir noch.«
Rasch verließ sie das Zimmer, bevor er ihren Verstand mit einer neuen Variante von Betroffenheit vernebelte. Sven empfing sie mit besorgter Miene. Er hatte die Einvernahme durch die Scheibe verfolgt und schien nicht glücklich zu sein über das Ergebnis.
»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte sie gereizt.
»Nein – und wenn, dann würde ich niemals wagen …«
»Lass das, du brauchst mich nicht aufzuheitern. Verrate mir lieber, was du von seiner Geschichte hältst.«
Er rümpfte die Nase. »Das ist es ja. Vieles deutet darauf hin, dass er die Wahrheit sagt und nichts mit den Morden zu tun hat. Ich habe seine Angaben laufend überprüfen lassen. Er ist tatsächlich wie angegeben direkt von Windhoek nach Frankfurt geflogen und dort im selben Hotel abgestiegen wie Mwilima. Zum Zeitpunkt der Tat am Ammerkanal will ihn ein Zimmerkellner in Frankfurt gesehen haben. Das müssen wir allerdings noch überprüfen. Für den Mord am Professor hat er bis jetzt kein Alibi, aber ich sehe auch weit und breit kein Motiv.«
»Was nicht heißt, dass es keins gibt.«
»Schon klar, und übrigens: Nach übereinstimmenden Aussagen aus Windhoek ist das seine erste Auslandreise seit zwei Jahren. Er kommt also für die Tat in England wohl nicht infrage.«
Oberstaatsanwalt Richter trat aus dem Lift. Er musste Svens letzte Bemerkung gehört haben, denn er eilte mit Riesenschritten auf sie zu, statt den Flur hinunter zur Führungssitzung.
»Die Tübinger Fälle hängen nicht mit dem Delikt in England zusammen?«, fragte er hastig mit einem Blick auf die Uhr. »Wir können die Interpol-Akte schließen und die Fälle nach Stuttgart abgeben, wo sie hingehören?«
»Das steht noch keineswegs fest«, antwortete Sven. »Wir wissen nur, dass der Verdächtige höchst wahrscheinlich nicht als Täter in England infrage kommt.«
»Auf so ein Ergebnis können Sie ja mächtig stolz sein«, knurrte Richter.
Er war in Kampfstimmung. Chris bereitete sich sofort auf einen scharfen Gegenangriff vor. Ihr Chef bemerkte jedoch, dass die Zeit drängte. Er drehte sich angewidert um und hetzte den Korridor hinunter zum nächsten Schlachtfeld. Sven verfolgte ihn mit giftigen Blicken.
»Ich fürchte, ihm steht bald echter Ärger ins Haus«, schmunzelte Chris.
»Hoffentlich.«
Während sie ins Büro zurückgingen, schaltete sie das Handy wieder ein. Das Display zeigte einen verpassten Anruf und vier neue Nachrichten an, alle von ihrer Mutter aus Potsdam. Ihr alter Vater lag mit Fieber im Bett. »Vater geht es nicht gut«, lautete die letzte Meldung. Vater geht es seit Langem nicht gut!, dachte sie bitter. Seit seine Demenz nicht mehr zu verbergen war, mussten sie seinem Zerfall tatenlos zusehen. Sein Umzug ins Heim hatte wenigstens das Leben ihrer überforderten Mutter erträglicher gemacht, aber seither fürchtete sich Chris vor Anrufen aus Potsdam. Jede Nachricht von Vater weckte neue Schuldgefühle. Sie müsste für ihn da sein und für Mama. Die meiste Zeit jedoch blendete sie Potsdam aus und lebte ihr eigenes Leben, als könnte der Mensch das Nest für immer verlassen und wegfliegen wie ein Vogel.
»Scheiße«, murmelte sie bedrückt.
»Ärger mit Jamie?«
»Schlimmer. Vater liegt im Bett.«
»Das – tut mir leid. Ich kann deine Ermittlungen übernehmen, wenn du ihn besuchen willst.«
Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ist nicht nötig. Kümmere dich um Nuuyomas Alibis und die Fremd-DNA an den Opfern wie besprochen. Ich versuche inzwischen, so viel wie möglich über das Umfeld in Namibia zu erfahren, und ich werde mir die Autopsieberichte vornehmen.«
Unschlüssig starrte sie auf das Handy, dann rief sie ihren Geliebten an. Während der nächsten zehn Minuten begrüßte sie dreimal Jamies Anrufbeantworter. Enttäuscht gab sie auf. Sie fühlte sich einsam, verlassen, leer. Sie verdiente nichts anderes, fand sie, als sie Mutters Nummer wählte.
Mariental, Namibia
Thula nahm den Topf vom Feuer. Der Mealie-Pap war etwas dick geraten, zuviel Maismehl, doch das schadete nicht. Ihre Patientin hatte beim letzten Besuch beängstigend schwach gewirkt. Sie zeigte deutliche Zeichen von Unterernährung. Da war sie nicht die Einzige unter ihren Bekannten, doch das Mädchen stand unmittelbar vor ihrer ersten Niederkunft. Thula rührte eine Weile weiter, kostete, dann goss sie einen kleinen Teil für sich in eine Schale und stellte den Topf bereit für den Besuch. Sie mischte zwei Löffel Orangenkompott in ihre Schale und trat damit vor die Tür. Die Sonne stand erst kurz am Himmel. Noch war es angenehm kühl. Keine fünfundzwanzig Grad, schätzte sie. Das trockene Gras der Savanne leuchtete golden wie jeden Morgen. Der Köcherbaum am Fluss warf seinen langen Schatten über ihre Hütte. Für sie waren das die schönsten Minuten des Tages. Sie genoss die Ruhe vor der Arbeit und das süße, nahrhafte Frühstück.
Sie hatte nicht damit gerechnet, die ganze Nacht schlafen zu können. Babys hielten sich nicht an feste Arbeitszeiten. Bald dürfte es vorbei sein mit der Ruhe. Sie schlenderte zum Fluss, der kaum mehr zu erkennen war. Nur einzelne flache Tümpel markierten das Bett des Fish River. Beim traurigen Anblick schüttelte sie den Kopf. Moses hatte ihr erzählt, dieses Rinnsal hätte nur eine Tagereise weiter südlich die größte Schlucht Afrikas ins Gestein gewaschen. Sie glaubte solche Märchen nicht, aber eines Tages würde sie dorthin reisen, um nachzusehen. Eines Tages, wenn der liebe Gott eine zweite Hebamme oder gar einen Arzt hierher schicken würde, damit sie sich nicht mehr allein um all die Armen kümmern müsste.
»Thula, Thula!«, rief eine Kinderstimme.
Sie hörte David, bevor er aus den Büschen sprang und auf seinen dünnen Beinen schnell, wie eine Antilope auf sie zuschoss.
»Es geht los«, keuchte er.
Sie nickte lächelnd, denn der Zehnjährige machte ein Gesicht wie ein erfahrener Geburtshelfer, der diesen Satz jeden Tag ein paar Mal aussprach. Sie winkte ihn ins Haus, gab ihm die Bereitschaftstasche und deutete auf den Topf mit dem Mealie-Pap.
»Kannst du den auch tragen?«
»Klar, was denkst du denn.«
Sie nahm die zweite Tasche aus dem Schrank. Der Behälter aus dem Kühlhaus der Schlachterei fühlte sich immer noch eiskalt an, obwohl sie ihn zur Sicherheit schon am Abend zuvor geholt hatte. Sie stellte noch eine Flasche mit dem Kräutertee dazu. Es war ihre eigene geheime Mischung, die sie über die Jahre perfektioniert hatte. Der Tee regte den Kreislauf an und stärkte ihn, weshalb die Leute ihn als Zaubertrank und sie als gute Hexe verehrten.
»Wie geht es Alexia?«, fragte sie auf dem Weg zum Haus des Farmers.
»Sie schreit.«
»Das sind die Wehen.«
»Ich weiß, aber Dad sagt, sie ist noch trocken.«
»Dad ist bei ihr?«, fragte sie erschrocken. »Das ist nicht gut, es bringt Unglück, das sollte er wissen. Und die Schwester, ist sie da?«
David nickte eifrig. »Mehr als das: Auch ihre Mutter ist gekommen.«
Nangolo Kawana wohnte mit seinen zwei Kindern aus erster Ehe und Alexia in einer einfachen Holzhütte mit Wellblechdach, wie die meisten Kleinbauern in der Gegend. Zwei Schafe, zwei Ziegen, ein paar Hühner, etwas Mais, Spinat und eine Bananenstaude lieferten das Nötigste, um den Hunger zu stillen. Geld gab es nur, wenn Nangolo Glück hatte und für kurze Zeit im Schlachthof aushelfen durfte, oder wenn man ihn bei der Ernte auf den Feldern am Stausee brauchte. Sie ging davon aus, dass sich zurzeit kein Cent im Haus befand. Die Leute bezahlten ihre Dienste mit Eiern und Gebeten, was wollte sie mehr? Auch sie betete für Alexia, die fast noch ein Kind war. Der Herrgott möge ihr Komplikationen ersparen, denn teure Medikamente konnte sich niemand leisten.
Vor dem Haus graste nur ein Schaf.
»Wo ist das Zweite?«, fragte sie.
David warf ihr einen traurigen Blick zu. »Es ist vorgestern gestorben, aber Dad will nicht darüber reden.«
»Tut mir leid, David.«
Die Zuversicht schwand schnell, als sie ans Bett trat, das nur aus einer Matratze am Boden bestand. Sie bedeutete Nangolo, die Hütte zu verlassen, dann fühlte sie Alexias Puls. Ihr Herz schlug schnell, aber immerhin regelmäßig. Die junge Frau sah sie aus angstvoll geweiteten Augen an.
»Muss ich sterben?«, flüsterte sie.
Thula redete ihr beruhigend zu. Sie tat es nicht nur für Alexia. Die andern beiden Frauen brauchten den Trost ebenso, wie es schien. Die Wehen setzten alle fünf Minuten ein, eine Zerreißprobe für die junge Mutter, aber ein gutes Zeichen. Die Fruchtblase platzte. Alexia schrie aus Leibeskräften bei der ersten Presswehe, dennoch befolgte sie die Anweisungen der Hebamme vorbildlich, jetzt, da sie das Ende ihrer Leiden kommen sah. Das Kind lag richtig, nur der Kopf musste ein wenig bewegt werden, damit sich der Muttermund weiter öffnete. Mithilfe der Frauen hob sie Alexia auf einen Stuhl, gepolstert mit Kissen und Tüchern, damit sie sitzend gebären konnte. Die Stellung linderte ihre Schmerzen und beschleunigte den Prozess.
Eine halbe Stunde später hielt Thula den winzigen Wicht in den Armen und legte ihn an Alexias Brust.
»Ein Knabe«, verkündete sie lächelnd.
Die Ankunft des neuen Erdenbewohners verwandelte die düstere Hütte in einen Ort ausgelassener Freude. Lachen und fröhliches Schwatzen erfüllten den Raum und es schien, als weiteten sich die kleinen Fenster, damit mehr warmes Sonnenlicht den Kleinen streicheln konnte. Alexia hielt ihren Sohn mit Tränen in den Augen in den Armen und fand keine Worte für ihr Glück. Vergessen waren die Schmerzen und die Todesangst. Ihr Herz beruhigte sich. Das Neugeborene machte einen gesunden Eindruck, das sah Thula mit ihrem geübten Auge, auch ohne es mit Stethoskop und Thermometer zu untersuchen. Der liebe Gott hatte ihre Gebete erhört. Sie war überzeugt, Komplikationen würden nun auch im letzten Akt ausbleiben.
»Lasst uns jetzt bitte allein«, sagte sie zu den zwei Frauen.
Sie wartete, bis sich die Tür hinter ihnen schloss, dann setzte sie die zwei Klemmen und durchtrennte die Nabelschnur. Der Blutkreislauf des Kindes brauchte diese Unterstützung nicht mehr. Behutsam legte sie den Kleinen wieder an Alexias Brust.
»Ich massiere dich jetzt, damit sich die Nachgeburt ablöst. Keine Angst, du wirst kaum etwas spüren dabei.«
Sie fühlte, wie sich die Fruchtblase verlagerte. Der junge Körper, so schwach er schien, löste auch diese Aufgabe hervorragend. Er schied die Nachgeburt unversehrt und vollständig aus. Alexia blieben gefährliche Blutungen erspart. Thula legte das kostbare Gewebe sorgfältig in den bereitstehenden Behälter.
»Ich bringe euch das Geld am Sonntag nach der Messe«, sagte sie.
Alexia nickte. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
»Danke, Thula.«