Читать книгу Vernichten - Hansjörg Anderegg - Страница 5

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Kapitel 1

Sankt Petersburg, Russland

Vielleicht nicht die beste Idee des Jahres, der Lachs-Pfannkuchen in der Stolowaja gegenüber dem Hotel. Schnell sollte es gehen, billig musste es sein. Das traf zu. Jetzt spürte er die Folgen. Sein Magen erinnerte ihn daran, wie ein einheimischer Blogger solche Schnellimbisse in Sankt Petersburg bezeichnet hatte: Toschnilowka – Kotzbude.

»Du siehst Scheiße aus«, bemerkte seine Begleiterin.

»Danke, das hilft. Mach schon! Ich kotz gleich auf den Flur.«

»Reiß dich zusammen! Sie müssen gleich da sein.«

Sie schloss auf. Er rannte ins Bad, um den Pfannkuchen an den richtigen Ort zu befördern: in die Toilette. Während er sich wusch, hörte er gedämpfte Stimmen. Eine Tür schlug zu, dann blieb es still. Irritiert verließ er das Bad und trat ins Zimmer.

»Was haben Sie mit dem Kind gemacht?«, fragte er die Unbekannte auf Russisch, alarmiert.

Das Mädchen, acht, wenn die Angaben stimmten, lag reglos rücklings auf dem Bett, das blaue Kleid mit weißen Punkten hochgeschoben, sodass ihr Höschen freilag wie eine Aufforderung, es auszuziehen.

»Das wollten Sie doch, Herr Meier«, antwortete die Russin in gebrochenem Deutsch.

Auf den ersten Blick machte die Besucherin den Eindruck einer dürren Marktfrau: grauer Rock, graue Jacke, weißes Kopftuch. Das Gesicht aber war jung. Sie warf ihm einen stechenden Blick zu. Ein verächtliches Lächeln umspielte ihren Mund. Seine Begleiterin saß im Ohrensessel am Fenster, drehte ihnen den Rücken zu und gab keinen Ton von sich. Etwas begann hier fürchterlich zu stinken, schlimmer als die verdorbenen Magensäfte in seinem Rachen.

»Was hat die Kleine?«, fragte er nochmals mit belegter Stimme.

Er beugte sich über das Mädchen, um den Puls zu fühlen. Gott sei Dank, dachte er und atmete auf. Das Herz der Kleinen schlug normal. Es war sein allerletzter Gedanke.

Fünf Minuten später stopfte die Besucherin Jacke, Rock und Kopftuch in ihren Rucksack. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch einmal einen prüfenden Blick auf die Szene, dann wandte sie sich ab. Kurz danach verließ sie das Hotel durch den Lieferanteneingang, eine junge Frau in Jeans, Lederweste und Baseballmütze, die das Haus nie betreten hatte.

Das Zimmermädchen öffnete die Tür mit der Nummer 412, nachdem niemand auf ihr wiederholtes Klopfen geantwortet hatte, um die Betten abzudecken und das Zimmer für die Nacht vorzubereiten. Nach zwei Schritten stieß sie einen gellenden Schrei aus und rannte händeringend und alle Heiligen anrufend hinaus. Wie von Killern gehetzt stürmte sie die Treppe hinunter und ins Büro des Managers. Außer Atem versuchte sie dem Mann mit Handzeichen, Gebeten und schlimmen Wörtern zu schildern, was sie gesehen hatte. Er verstand immerhin zwei davon: 412 und Politsiya. Verstört wollte er mit ihr hochsteigen, doch sie weigerte sich, noch einen einzigen Schritt zu tun, sank auf den Boden und weinte leise wimmernd vor sich hin, an die Wand gelehnt, Gesicht in den Händen vergraben.

Colonel Gregori Makarov von der Polizei Sankt Petersburg war ein alter Hase. Nach der Polizeischule war er bei der Sitte gelandet. Nach fünf Jahren hatte er beschlossen, sich künftig lieber mit den Toten des Morddezernats zu befassen. Das lag auch schon zwanzig Jahre zurück. Er konnte sich gut vorstellen, dass er sich nicht vorstellen konnte, was ihn im Zimmer 412 des noblen Hotels erwartete. Innerlich fluchend versuchte er, dem Blick seiner Partnerin Sofia im engen Aufzug auszuweichen, vergeblich. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er musste seinem Ärger Luft verschaffen.

»Passt dir mein Hemd heute nicht?«, fuhr er sie an.

»Versuch doch, es wenigstens einmal im Monat zu wechseln.«

»Oho, Major Yeltsova macht Witze, originell.«

Er kannte seine Partnerin lange genug, um zu wissen, wie es um sie stand. Je zynischer die Sprüche, desto verletzter war sie, desto mehr graute ihr vor den dunklen Seiten des Jobs. Es gab eigentlich nur dunkle, schwarze Tage beim Mord, kaum je einen Lichtblick seit Jahren. Am schwersten waren die Tatorte mit Kindern zu ertragen.

»Kann es sein, dass dein Sohn wieder Mist gebaut hat?«, fragte er, um sie abzulenken.

Sie war zu angespannt, um zu antworten. Der Pathologe traf gleichzeitig mit ihnen beim Zimmer 412 ein. Der Hotelmanager und zwei seiner Mitarbeiter warteten auf dem Flur. Die Stimme des Direktors bebte, als er sie begrüßte.

»Ein Ehepaar Meier hat das Zimmer für eine Nacht gebucht«, berichtete er, »Martha und Tobias Meier aus Berlin. Das Mädchen hat nicht mit ihnen eingecheckt. Wir wissen nicht, woher es kommt und weshalb es im Zimmer ist.«

»Etwas müssen wir ja auch noch herausfinden«, brummte Gregori griesgrämig.

Seine Partnerin und der Mediziner befanden sich bereits im Zimmer. Er atmete tief durch und trat ein. Nach den ersten Informationen hatte er eine ähnliche Szene erwartet, allerdings nicht so drastisch. Der Mann, der sich Tobias Meier nannte, lag mit einem Loch im Kopf halb auf dem Bett, halb auf einem kleinen Mädchen. Ein Blutfleck, groß wie das Kopfkissen, hatte sich auf dem erdfarbenen Bettüberwurf ausgebreitet wie der Entwurf zu einem neuen, abstrakten Design. Daneben saß seine Frau am Boden, Martha Meier, den Rücken ans Bett gelehnt, den Revolver noch in der Rechten, mit dem sie erst ihrem Mann das Licht ausgeblasen und dann sich selbst mit einer Kugel in die Schläfe gerichtet hatte. So sah es jedenfalls aus auf den ersten Blick. Das Kleid des Mädchens war hoch gerutscht, das Höschen sichtbar. Hatte die Frau ihren Mann überrascht, als er sich über die Kleine hermachte? Die Erklärung drängte sich förmlich auf. Alles passte zu dieser Vorstellung. Es passte zu gut. Die schreckliche Szene wirkte zu perfekt, wie arrangiert.

Ein halberstickter Schrei ließ alle im Zimmer erstarren. Das Mädchen regte sich, sah das Blut, die toten Augen, die es anstarrten. Von panischer Angst ergriffen, schrie es lauter, strampelte verzweifelt, um sich von der Last zu befreien. Sofia reagierte als Erste.

»Sie lebt!«, entfuhr es ihr unwillkürlich.

Zusammen mit dem Arzt befreite sie die Kleine aus ihrer misslichen Lage, während sie ihr beruhigend ins Ohr flüsterte. Sie drückte sie sanft an ihre Brust, eine Hand schützend vor den Augen, damit sie die Leichen und das Blutbad nicht länger ansehen musste. Dann verließ sie mit ihr das Zimmer.

»Das Kind weist keine äußeren Verletzungen auf«, versicherte der Arzt.

Gregori brauchte die nächste Frage nicht zu stellen. Der Mediziner wusste ohnehin, was jedermann in dieser Situation auf der Zunge brannte. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Soweit ich ohne Untersuchung beurteilen kann, wurde sie nicht missbraucht.« Nach kurzer Pause fügte er leise hinzu: »Zumindest nicht dieses Mal.«

»Wurde sie betäubt?«

»Sieht ganz danach aus. Ohne Untersuchung kann ich allerdings nur spekulieren. Das ist nicht meine Baustelle. Ich bin Rechtsmediziner und beschäftige mich mit den Toten, wie Sie wissen, Colonel.«

Die Kleine war fürs Erste in guten Händen bei Sofia und den Kolleginnen von der Ambulanz. Jedenfalls hatte sie aufgehört zu schreien. Man hörte allerdings auch kein Wort von ihr. Sie schien eisern zu schweigen, was ihn nicht weiter erstaunte nach dem Schock.

»Was sagen die Toten?«, fragte er den Arzt, der gerade die Hände der Frau und den Revolver untersuchte.

»Es sind tatsächlich zwei Schüsse aus dieser Waffe abgefeuert worden, und die Hand der Frau weist Schmauchspuren auf.«

»Sie hat also erst ihren Mann und dann sich selbst erschossen?«

Gregori wollte trotz des Befundes nicht an diese Erklärung glauben. Weshalb wusste er selbst nicht. Das schiefe Grinsen auf dem Gesicht des Arztes erschien ihm daher wie ein Hoffnungsschimmer.

»Ich frage mich allerdings, wie die Frau das bewerkstelligt hat«, sagte der Arzt. Er schob das Haar am Hinterkopf der Leiche etwas auseinander. »Sehen Sie, was ich meine?«

Das blau angelaufene Hämatom war nicht zu übersehen.

»Wurde sie niedergeschlagen?«

Der Arzt nickte. »Und zwar mit einem harten, stumpfen Gegenstand und roher Gewalt, vermutlich mit einem Totschläger. Die Frau war kaum bei Bewusstsein, als sie die Kugel aus dem Revolver traf.«

»Mord, wusste ich‘s doch! Die ganze Szene ist gestellt, um einen Doppelmord zu vertuschen.«

Wieder nickte der Arzt und fügte an:

»Der Mann kann jedenfalls nicht geschossen haben, bevor er selbst von hinten erschossen worden ist. Es gab keinen Kampf. Der Schuss muss ihn völlig überrascht haben. Auch die Frau weist keinerlei Abwehrverletzungen auf.«

Das Team der Kriminaltechnik traf ein. Keine fünf Minuten vergingen, bis die beiden Geschosse sichergestellt waren. Beide tödlichen Schüsse stammten aus derselben Waffe, dem Revolver. Außer der Wunde am Hinterkopf der Frau gab es keine Spuren, die auf einen dritten Täter hindeuteten. Die Morde waren mit großer Präzision und Effizienz ausgeführt worden, eindeutig das Handwerk von Profis. Über Fingerabdrücke und DNA würden sie diesen Killer nicht identifizieren, war sich Gregori sicher. Ihre einzige Hoffnung ruhte im Moment auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras. Dumm nur, dass es auf dieser Etage keine gab. Kameras, die brauchbare Bilder lieferten, überwachten nur den Haupteingang, den Empfang und die Ein- und Ausfahrt der Tiefgarage. Die Befragung des Personals und der Zimmernachbarn auf der Etage ergab keine Hinweise auf Personen, die das Zimmer 412 betreten oder verlassen hatten. Alles andere hätte Gregori überrascht, Berufspessimist, der er war. Woher kam die Kleine? Irgendjemand musste sie hierher gebracht haben, denn sie hatte nicht mit den Meiers eingecheckt – der Mörder?

Die Pässe bestätigten die Identität des Ehepaars. Ausländer aus dem reichen Westen, die sich in Sankt Petersburg Kinder beschafften für illegale Adoptionen oder um ihre pädophilen Fantasien auszuleben, waren leider nichts Ungewöhnliches. Amerikaner und Deutsche gehörten zu den Spitzenreitern. Mit Dollar und Euro ließ sich alles problemlos kaufen in seinem Land, dachte Gregori bitter. Früher hatte er sich bei jedem neuen Fall maßlos darüber geärgert, bis ihn ein vorwitziger Praktikant, der sonst zu nichts taugte, mit einem weisen Spruch aufklärte: Es ist sinnlos, sich über etwas zu ärgern, das man nicht ändern kann. Seither war er bescheidener geworden, versuchte nicht mehr, die Welt zu verbessern. Er beschränkte sich darauf, seine Arbeit mit Anstand zu erledigen. So, dass er morgens in den Spiegel schauen konnte, ohne sich zu ekeln. Er war daher nicht sonderlich beliebt bei vielen Kollegen, die gerne mal die Hand aufhielten, aber auch darüber war er längst hinweg.

»Mir will nicht in den Kopf, dass niemand die Schüsse gehört hat«, sagte Sofia, die eben zur Tür hereinkam.

Da ihm keine passende Antwort einfiel, erkundigte er sich nach der Kleinen.

»Das Betreuungsteam kümmert sich jetzt um sie. Wie es aussieht, hat sie wohl Glück im Unglück gehabt und die Morde verschlafen.«

»Sagt sie etwas?«

Sofia schüttelte traurig den Kopf. »Kein Wort. Sie verschließt sich wie eine Auster. Es wird wohl dauern, bis wir sie identifizieren und befragen können.«

»Wir müssen die Leute im Hotel ausquetschen. Vielleicht kennt sie ja jemand.«

Sofia warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Was glaubst du, tue ich die ganze Zeit? Die Befragung ist längst im Gang, bisher ohne Ergebnis. Wir gehen auch an die Presse.«

Er nickte nachdenklich und brummte:

»Wenn es das ist, was ich vermute, werden sich die Verantwortlichen hüten, bei uns anzutanzen.«

»Wir müssen mit Berlin sprechen. Machst du das?«

Die Kollegin, die sich um die Überwachungskameras kümmerte, unterbrach sie:

»Wir haben sie!«

Sie zeigte eine Szene der Kamera am Haupteingang auf dem Laptop, aufgenommen vor einer guten Stunde. Die Kleine war deutlich zu erkennen in ihrem auffälligen Kleid. Eine ältere Frau, deren Gesicht ein weißes Kopftuch halb verdeckte, führte sie an der Hand.

»Die Fahndung nach der Frau läuft«, beeilte sich die Kollegin zu versichern. »Sonst ist sie nirgends auf einer Aufzeichnung zu sehen.«

Gregoris Puls schnellte in die Höhe.

»Sie ist noch im Haus?«, rief er elektrisiert.

»Vielleicht – wir brauchen aber mehr Leute für die Durchsuchung.«

Die Kollegin trug die Bemerkung leise vor, als äußerte sie einen unverschämten Wunsch. Wütend bellte er ins Funkgerät, um Verstärkung anzufordern. Das Hotel musste augenblicklich abgeschottet werden, dass keine Ratte mehr durchkam. Ein frommer Wunsch und wahrscheinlich zu spät. Er wusste es, aber versuchen musste er es trotzdem.

»Die Frage hat sich wohl erübrigt«, seufzte Sofia und wandte sich ab.

Er erinnerte sich an keine Frage.

»Wohin gehst du?«

»Zurück ins Büro, Berlin anrufen.«

»Nett von dir.«

»Haha – Colonel Makarov scheint heute auch seinen witzigen Tag zu haben.«

Nicht unbedingt, aber ihr Englisch war bedeutend besser als seins. Eine Stunde, nachdem sie gegangen war, brach auch er auf. Das Hotel war nicht allzu groß, die Durchsuchung bald abgeschlossen. Von der Frau mit dem weißen Kopftuch fehlte jede Spur, und es gab keinen Hinweis auf eine ähnliche Person, die das Hotel im fraglichen Zeitraum verlassen hätte. Solang die Kleine schwieg, tappten sie völlig im Dunkeln. So sah es aus.

Sofia hing am Telefon, als er ins Büro zurückkehrte. Sie sprach Englisch. Berlin war am Draht. Ihr Gesicht verriet, dass sie sich angenehmere Arten vorstellen konnte, sich die Zeit zu vertreiben. Missmutig schaltete sie auf Lautsprecher, damit er mithören konnte.

»Sie versuchen, einen Zuständigen zu finden«, murmelte sie achselzuckend.

»Kommt mir bekannt vor«, brummte er.

»Hauptkommissarin Monika Weber, LKA Berlin«, meldete sich eine tiefe Frauenstimme im Lautsprecher.

Sofia stellte sie vor und kam sofort zur Sache:

»Heute Abend sind in einem Hotelzimmer in Sankt Petersburg zwei Tote entdeckt worden, ein Mann und eine Frau. Sie trugen deutsche Pässe auf sich, die sie als Tobias und Martha Meier ausweisen. Beim Einchecken haben sie Berlin als Wohnsitz angegeben.«

Es blieb totenstill in der Leitung, als gäbe es kein Netz.

»You still there?«, fragte Sofia irritiert.

»Ja – natürlich – was ist geschehen?«

Sofia schilderte den Tathergang, vorerst ohne das Kind zu erwähnen. Wieder entstand eine lange Pause. Diesmal hörte man leise, aufgeregte Stimmen im Hintergrund. Endlich meldete sich die deutsche Kommissarin mit der Bitte, Bilder der Toten und Kopien der Pässe zu übermitteln. Kaum waren die Fotos der Opfer in Berlin, kam auch schon die Bestätigung der Kommissarin Weber:

»Wir haben das Ehepaar Meier identifiziert und kennen den Wohnsitz.«

Zum ersten Mal schaltete sich Gregori ein:

»Sind die beiden aktenkundig?«

»Nein, keine Akte.«

»Auch nicht bei der Sitte?«

»Keine Akte heißt keine Akte«, antwortete die deutsche Kommissarin unwirsch.

Der Ton störte ihn nicht, wohl aber die Tatsache, dass die Frage ausblieb, weshalb er ausgerechnet die Sitte erwähnte. Zu seiner Überraschung stellte die Deutsche eine andere Frage:

»War noch jemand beim Ehepaar Meier zur Tatzeit? Gibt es Zeugen?«

Sofia warf ihm einen vielsagenden Blick zu, bevor sie das Mädchen erwähnte.

»Mein Gott – ist das Kind verletzt?«

»Das Mädchen ist wohlauf, steht aber unter Schock«, antwortete Gregori. »Es gibt noch keine Aussage. Wir übermitteln Ihnen unsere Akten mit dem Foto des Mädchens. Sie halten uns bitte auf dem Laufenden über Ihre Ermittlungen in Berlin.«

Der Rest war Routine. Sankt Petersburg würde die Leichen nach der Obduktion und dem Abschluss der Beweisaufnahme nach Deutschland überstellen. Er und Sofia mussten den Killer oder die Killerin jagen, die Deutschen die Familie informieren und deren Umfeld untersuchen, was vielleicht zu einem brauchbaren Motiv führen würde. Ein grausamer Routinefall wie viele andere, wäre da nicht das kleine, namenlose Mädchen, das eben durch die Hölle gegangen war, die er sich als Erwachsener nicht vorstellen konnte.

Berlin

»Oh – mon – Dieu – je vais m’évanouir!«, rief Jeanne entsetzt und machte Anstalten, in Ohnmacht zu fallen.

»Ein Cognac für Jeanne«, sagte Chris lachend zur Azubiene, die ratlos danebenstand. Jeanne hieß eigentlich Hans, stammte aus der dunkelsten Ecke Neuköllns und lebte für den großen Auftritt als elegante Französin.

»Was habe ich denn Schlimmes gesagt?«, fragte sie ihre frankophile Hairstylistin.

»Mein Gott, Frau Doktor Roberts – schlimm ist gar kein Ausdruck!«

Weiter kam Jeanne nicht. Ihr Brustkorb mit den – zugegeben perfekt modellierten – Silikonimplantaten hob und senkte sich in gefährlich rascher Folge. Sie fächerte sich mit der flachen Hand Luft zu, wandte sich ab und alarmierte die Belegschaft des Salons. Die Angestellten ließen ihre Kundinnen im Stich und eilten mit besorgten Mienen herbei. Der Betrieb stand still. Chris wusste jetzt, wie sich Schimpansen im Zoo fühlten. Wenigstens trennte die eine Glasscheibe von den Gaffern. Die Chefin bahnte sich einen Weg durch die Menge. Jeanne versuchte zu erklären, was sie so erschütterte, doch ihre Stimme versagte. Zu tief saß der Schock.

»Ist etwas nicht in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin.

Chris spielte die Ahnungslose und zuckte die Achseln.

»Ich will mir nur den Zopf abschneiden lassen.«

»Nein!«, riefen die Umstehenden im Chor.

Die Aufregung war zu viel für Jeanne. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich in die Arme der Kolleginnen fallen. Selbst die Chefin fand die Sprache nicht sofort wieder.

»Aber – haben Sie sich diesen Schritt auch wirklich gründlich überlegt?«, stammelte sie.

Jeannes Vorstellung war noch nicht zu Ende. Sie warf sich Chris zu Füßen und flehte sie an:

»Chère madame commissaire – erbarmen Sie sich meiner! Lassen Sie diesen bitteren Kelch an mir vorüberziehen! Zwingen Sie mich nicht, das Undenkbare zu tun, das schönste, längste, wundervollste Haar Berlins – was sage ich: die schönste Haarpracht Deutschlands! – brutal abzuschneiden!«

Jedem Satz folgte ein deutlich hörbares Ausrufezeichen. Chris tätschelte ihr mitfühlend die Hand.

»Ma chère, beruhigen Sie sich. Haare wachsen nach. Es muss einfach sein.«

»Aber warum in Gottes Namen? Hach – es ist eine Sünde.«

Jeanne blickte sich Hilfe suchend um und stellte die rhetorische Frage mit ersterbender Stimme:

»Ist es nicht eine wahre Sünde?«

Chris entschloss sich zu einer drastischen Maßnahme, um das Verfahren abzukürzen. Sie flüsterte Jeanne ins Ohr:

»Wenn Sie mir schnell einen schicken Kurzhaarschnitt verpassen, verrate ich Ihnen ein Geheimnis, das noch niemand kennt.«

Jeanne traute ihren Ohren nicht und warf ihr einen leidenden Blick zu. Erst Chris‘ Augenaufschlag überzeugte sie. Mit einem tiefen Seufzer scheuchte sie die Zuschauerinnen weg.

»Husch, husch, meine Lieben, zurück an die Arbeit, oder habt ihr nichts zu tun?«

Sie wartete mit dem Blick der Kindergärtnerin bis alle ihren Platz gefunden hatten, bevor sie die längst fällige Frage stellte:

»Was haben Sie sich denn genau vorgestellt, Madame?«

»Der Zopf muss weg«, lag Chris auf der Zunge, doch sie hütete sich, die brutale Wahrheit nochmals auszusprechen. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie sich keinerlei Gedanken über den nächsten Schritt gemacht hatte, so fixiert war sie auf die Vorstellung, das strohblonde Teil loszuwerden, mit dem sie nicht zuletzt ihren Ehemann Jamie geangelt hatte. Jeanne erwartete glücklicherweise keine Antwort. Behände entflocht sie den dicken Zopf, der fast bis zum Po reichte, wickelte das lange Ende locker um einen Arm und rückte das Haar mit der andern Hand so zurecht, dass Chris eine Vorstellung davon bekommen sollte, was sie sich vorstellte.

»Passt!«, beeilte Chris sich zu versichern.

»Sie werden ein gaaanz neuer Mensch, Madame«, flüsterte die Hairstylistin ergriffen mit langgezogenem A. »Wir schneiden Ihnen ein luftiges Kurzhaarfrisürchen mit neckischer, schräger Ponypartie. Was halten Sie davon?«

Chris bekundete begeisterte Zustimmung, ohne zu verstehen, wovon die Gute sprach. Wenn Jeanne in den Pluralis Majestatis verfiel und die Sätze mit »Wir« begannen, blieb ohnehin wenig Spielraum für Diskussionen. Abgesehen davon hatte sie sich vorgenommen, im Laufe des Tages doch noch im BKA-Präsidium in den Treptowers aufzutauchen – bevor Staatsanwältin Winter die Fahndung auslösen würde. Jeanne hielt inne, bevor sie die Schere zum fatalen Schnitt ansetzte, und beugte sich mit ernster Miene zu ihr herunter.

»Vergessen Sie nicht, Sie haben mir etwas versprochen, Madame – das Geheimnis!«

»Sobald der Zopf ab ist.«

Jeanne begann seufzend mit der qualvollen Arbeit. Sorgsam reihte sie Strähne um Strähne des über fast zwei Jahrzehnte gewachsenen Haares auf dem Glastisch aneinander, als wären es kostbare Reliquien. Kolleginnen unterbrachen die Arbeit, fasziniert von einem Hochamt, wie es noch nie zelebriert worden war in diesem Salon. Die Chefin verließ ihren Arbeitsplatz ein weiteres Mal, um das Wunder aus der Nähe zu betrachten. Gedankenverloren ließ sie das Haar durch die Finger gleiten, bevor sie ohne ein Wort zu sagen an den Schreibtisch zurückkehrte.

»Sie ist scharf auf Ihr Haar«, flüsterte Jeanne aufgeregt. »Verkaufen Sie es ja nicht zu billig, mindestens fünfhundert.«

»Wie bitte?«

»Fünfhundert Euro mindestens für diese Länge und Qualität.«

Chris begann zu begreifen, dass sie das erste Mal im Leben etwas produziert hatte, was man verkaufen konnte. Während Jeanne den kümmerlichen Rest ihrer Haare wusch, um sie fürs Ausdünnen und Schneiden vorzubereiten, erfuhr sie mehr übers Geschäft, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte. Gesundes, langes Haar von Europäerinnen ist selten und gesucht. Es eignet sich besser für Perücken und Verlängerungen als Haar von Inderinnen, das zwar reichlich vorhanden ist aber erst aufwendig behandelt werden muss.

Vor dem Spülen legte Jeanne noch einmal eine Pause ein, begleitet von einem fragenden Blick. Chris winkte sie näher heran und flüsterte so leise, dass nur sie es hören konnte:

»Ich bin schwanger.«

»Neiiin!«

Jeannes Ausruf der Überraschung ließ den Salon erstarren. Für einen Augenblick stand die Zeit still. Beim nächsten Atemzug tauchte die Chefin bei ihnen auf.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie, ohne die Lippen zu bewegen.

Chris lächelte verträumt. Nie zuvor hatte sie den Satz ausgesprochen, der ihr Leben auf den Kopf stellte: Ich bin schwanger. Nicht einmal Jamie ahnte etwas von ihrem Glück. Vielleicht glaubte er etwas zu ahnen, weil er mit ihr hoffte nach vielen vergeblichen Versuchen, aus Solidarität und Zweckoptimismus. Gewissheit hatte nur sie.

»Alles in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin noch einmal, tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.

»Alles gut, es könnte nicht besser sein«, beruhigte sie.

Kaum waren sie wieder allein, begannen Jeannes Fragen auf sie einzuprasseln. Die neue Frisur entstand nebenbei aus dem Handgelenk. Wichtig war nur noch das eine Thema. Die Aufregung stand Jeanne ins Gesicht geschrieben, als wäre sie selbst schwanger geworden. Chris spielte eine Weile mit. Es tat ihr gut, mit jemandem darüber zu sprechen. Sie sonnte sich im Gefühl, es gäbe nichts anderes Wichtiges mehr auf der Welt, alles drehte sich einzig und allein um das winzige Lebewesen, das in ihrem Bauch heranwuchs.

»Sie werden doch jetzt nicht weiter Ganoven jagen«, sagte Jeanne unvermittelt, das nackte Entsetzen in den Augen.

Chris zuckte die Achseln. »Jemand muss es eben tun.«

»Aber – das Kind! Denken Sie an Ihr Kind! Was wird‘s denn, Junge oder Mädchen oder etwas dazwischen?«

Chris lachte laut auf. »Eine Überraschung. Es ist noch zu klein, um Farbe zu bekennen.«

Jeanne schnipselte und kämmte eine Weile schweigend weiter, bis sie innehielt und versonnen seufzte:

»Hach, ich beneide Sie.«

»Was glauben Sie, wie ich Sie manchmal beneide. Sie erschaffen Schönheit, machen Schönes noch schöner, können den ganzen Tag elegante Kleider und Schuhe tragen, ohne fürchten zu müssen, sie zu ruinieren, und haben erst noch geregelte Arbeitszeiten.«

Jeanne schüttelte traurig den Kopf. »Und was mache ich am Feierabend? Ich sitze einsam und verlassen in meiner tristen Einzimmerwohnung vor der Glotze.«

Chris musste dringend etwas Positives einfallen, damit sie sich wieder ihrem Kurzhaarschnitt mit schräger Ponypartie widmete.

»Gönnen Sie sich eine Reise – nach Paris zum Beispiel. Sammeln Sie schöne Erinnerungen. Die sind das Kostbarste, was es gibt.«

»Außer Kindern und einer Familie«, murmelte Jeanne fast unhörbar. Bevor Chris antworten konnte, fuhr sie mit bitterem Lächeln fort: »Paris war schon immer mein Traum.«

»Wollen Sie damit andeuten, noch nie dort gewesen zu sein?«

»Kann ich mir nicht leisten.«

»Ach was, Paris ist nicht teurer als Berlin, wenn man den Kaffee nicht gerade bei der Oper trinkt.«

Jeanne schüttelte entschieden den Kopf und drohte, die Arbeit an der Frisur ganz einzustellen.

»Sie haben ja keine Ahnung, Madame«, klagte sie. Die Hand auf der Brust, fügte sie an: »Die OP hat mich komplett ruiniert. Ich werde den Kredit wohl bis ans Lebensende abzahlen müssen. Nicht einmal die Farben der Saison kann ich mir leisten. Tragisch, nicht wahr?«

So melodramatisch sie sich ausdrückte, in ihrer Stimme und den Augen lag eine Traurigkeit, die Chris berührte. Jeanne war bei aller Exaltiertheit ein zutiefst unglücklicher und einsamer Mensch. Da ihr keine passende Antwort einfiel, endete die Unterhaltung abrupt. Jeanne widmete sich mit neuer Inbrunst dem Kunstwerk auf ihrem Kopf. Bisher hatte Chris den Blick in den Spiegel vermieden, doch jetzt, nachdem Jeanne eine letzte Strähne gebändigt hatte, musste sie in den sauren Apfel beißen. Eine fremde Frau sah sie an, deren Gesichtszüge sich langsam entspannten. Sie wagte gar ein Lächeln, denn was sie sah, gefiel ihr. Die neue Chris gefiel ihr so sehr, dass Jeanne sich heimlich eine Träne trocknen musste. Sie liebte die große Geste.

»Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt«, sagte sie, zufrieden mit ihrem Werk.

Sie sprach Chris aus der Seele.

Das schrille Geheul einer Polizeisirene drang durch die halb offene Tür in den Salon. Ein Rettungswagen raste auf der Straße am Fenster vorbei. Der Alltag hatte sie wieder. Sie griff automatisch zum Telefon, das sie stumm geschaltet und während der Verwandlung im Salon nicht beachtet hatte. Drei Anrufe aus dem Präsidium, eine SMS vom Kollegen Haase und eine Nachricht von Jamie. Der musste warten. Sie rief Haase an.

»Sie sollten sofort herkommen«, sagte er ruhig und emotionslos wie stets, wenn er nicht gerade Kaffee braute. »Es brennt.«

»Das Büro brennt?«

»Die Staatsanwaltschaft.«

»Besser.«

»Im Ernst, die Winter sucht sie schon eine ganze Weile. Sie hat ziemlich üble Laune.«

»Das ist ihr Normalzustand.«

Staatsanwältin Winter, die Eisprinzessin, hatte ihre Scheidung auch nach Jahren immer noch nicht überwunden, immerhin ein Zeichen, dass sie auch Gefühle besaß, negative zumindest.

»Ich muss leider zurück ins Büro«, entschuldigte sie sich bei Jeanne mit einem Seufzer.

Sie stand auf, betrachtete sich von allen Seiten im Spiegel und lobte das gelungene Meisterwerk. Ohne Zopf fühlte sie sich leicht, beschwingt gar und um Jahre jünger. Jeanne betrachtete sie in stiller Bewunderung ihrer Arbeit. Die Augen glänzten oder waren es Freudentränen?

»Was geschieht mit dem schönen Haar, Madame?«, fragte sie tonlos.

Chris hatte den alten Zopf beinahe vergessen. Die Zeit drängte, die beste Voraussetzung für gute Einfälle. Mit einem letzten Blick auf die verlorene Haarpracht sagte sie:

»Den Zopf schenke ich Ihnen.«

»Neiiin!«

Wieder hörte die Welt auf, sich zu drehen. Die Chefin materialisierte sich wie aus einer höheren Dimension. Bevor sie die Standard-Frage stellen konnte, bekräftigte Chris ihren Entschluss:

»Ich schenke den Zopf meiner Künstlerin Jeanne.«

Um deren drohende Ohnmacht zu verhindern, drängte sie zum Aufbruch. Zum Abschied flüsterte sie der Guten ins Ohr:

»Nicht zu billig verkaufen, Jeanne, mindestens fünfhundert – und grüßen Sie mir Paris.«

Jens Haase füllte neue Bohnen in seine Espressomaschine, als sie eintrat. Er blickte nur kurz auf.

»Sie wünschen?«

Danach widmete er sich wieder dem Kaffee, seiner großen Leidenschaft. Er kannte jede exotische Bohne und besaß sie auch.

»Herr Haase, Jens Haase?«, fragte sie lächelnd.

»Ja, was …«

Er stockte, starrte sie mit offenem Mund an, sprachlos. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Sprechen gehörte nicht zu seinen Leidenschaften. Er war der stille Schaffer im Präsidium, mit allen nützlichen Datenbanken per du und gehörte, seit sie sich erinnern konnte, zum Inventar wie das Mobiliar – mit vergleichbarer Präsenzzeit. Sie vermutete schon lange, er wohne im Büro, hatte allerdings sein Bett noch nicht gefunden. Vielleicht brauchte er keins bei dem Kaffeekonsum.

»Bekomme ich auch einen Ristretto?«, fragte sie, um den Bann zu brechen.

»Sie sind es wirklich – das ist ja …«

»Anders, wollten Sie sagen?«

»Praktisch.«

Sie brach in Gelächter aus. Ein besseres Urteil zu ihrer neuen Erscheinung war von seinem analytischen Verstand nicht zu erwarten. Sie nahm es als Kompliment, denn praktisch war die Kurzhaarfrisur allemal, viel praktischer als der Rapunzel-Zopf.

»Herr Haase, hat sie sich bei Ihnen gemeldet?«, fragte Staatsanwältin Winter hinter ihrem Rücken.

Sie drehte sich in Zeitlupe um. »Meinen Sie mich?«

Eine Schrecksekunde blieb es still. Winters Augen blitzten kurz auf, bevor sie in der üblichen, tiefgefrorenen Tonlage fragte:

»Wo stecken Sie die ganze Zeit? Ich habe mehrfach versucht, Sie anzurufen. Kommen Sie!«

Chris hatte eine ironische, ja zynische Bemerkung zur schrägen Ponypartie erwartet und sich auf den Schlagabtausch gefreut – aber nicht nichts. Enttäuscht nahm sie die Tasse, die Haase ihr reichte, murmelte etwas von »leerem Akku« und folgte Winter ins Büro der Staatsanwaltschaft. Sie versuchte, das eisige Schweigen mit der Versicherung zu brechen, der verlangte Abschlussbericht würde pünktlich bis Mittag auf ihrem Schreibtisch landen.

»Es geht nicht darum«, gab die Staatsanwältin nervös zurück.

Als sie sich gegenübersaßen, schob sie eine Akte über den Tisch.

»Das LKA hat Mist gebaut. Lesen Sie!«

Fälle, in denen sie Kollegen an den Karren fahren musste, hasste sie besonders, und Winter wusste es. Sollte das eine Art Strafaktion werden für häufige Alleingänge? Bevor sie die Akte aufschlug, suchte sie die Antwort in Winters Augen, doch da gab es nichts zu lesen.

Der Bericht begann wie einer von tausend Fällen, denen sie in der Abteilung für schwere und organisierte Kriminalität täglich begegnete. Das einzig Ungewöhnliche schien der Ort des Verbrechens zu sein, jedenfalls aus Sicht des Bundeskriminalamts. Zwei deutsche Staatsbürger, das Ehepaar Martha und Tobias Meier aus Berlin, waren in einem Hotelzimmer in Sankt Petersburg erschossen aufgefunden worden. Bei der Lektüre des zweiten Abschnitts konnte sie einen Ausruf der Überraschung nicht unterdrücken.

»Verdeckte Ermittlungen des LKA in Sankt Petersburg?«, murmelte sie ungläubig.

»Verstehen Sie jetzt, was ich mit Mist meine?«

»Allerdings.«

Martha und Tobias Meier waren unter falscher Identität nach Russland eingereist. In Wirklichkeit handelte es sich um die Kommissare Katharina Bach und Malte Friedmann vom LKA. Über den Grund des verdeckten Einsatzes blieb der kurze Bericht vage mit dem Verweis auf die Ermittlerin in Berlin, Hauptkommissarin Monika Weber vom LKA 4, zuständig für organisierte Kriminalität und Bandendelikte.

»Ich möchte, dass Sie diesen Fall übernehmen, Dr. Roberts«, sagte die Staatsanwältin. »Finden Sie die Täter von Sankt Petersburg, und finden Sie um Gottes willen heraus, was da im LKA falsch läuft.«

Es war eine Bitte, kein Befehl. In Winters Stimme schwang ein Hauch banger Hoffnung mit. Chris sparte sich die Diskussion um Zuständigkeiten. Sie wussten beide, dass dieser Doppelmord ein Fall für die russischen Behörden war. Aber die Tatsache, dass es sich bei den Opfern um deutsche Polizisten handelte, deren Identität und Aufgabe auf keinen Fall an die Russen durchsickern durften, barg erheblichen Sprengstoff.

»Da werden meine drei Lektionen Russisch nicht weiterhelfen«, versuchte sie zu scherzen.

Winter ignorierte die Bemerkung.

»Dank der grenzenlosen Dummheit der Kollegen vom LKA stehen wir unter einem enormen Druck. Das werden Sie verstehen. Die Sache erfordert äußerstes Fingerspitzengefühl. Der Fall ist Verschlusssache und streng geheim. Ich muss über jeden Schritt informiert sein und ich genehmige jeden Zugriff Dritter auf die Akten. Sonst haben Sie freie Hand. Haben wir uns verstanden?«

»Ich bin also auf mich allein gestellt«, fasste Chris nüchtern zusammen.

Winter versuchte zu lächeln. »So kann man es auch ausdrücken.«

Chris wandte sich zum Gehen. »Haben Sie die Kollegin Weber schon vorgeladen?«

Winter schüttelte den Kopf. Bevor sie das Büro verließ, wandte sie sich noch einmal an sie:

»Dr. Roberts …«

»Ja?«

»Sieht schick aus, die neue Frisur, gefällt mir.«

»Danke«, antwortete sie perplex, nach Hintergedanken forschend.

»Ich habe mir auch schon überlegt, so etwas machen zu lassen.«

Bloß nicht!, dachte sie erschrocken und zog die Tür hinter sich zu. Für einmal konnte sie den Ärger der Staatsanwältin über die Dilettanten im LKA nachvollziehen. Sie war versucht, die harte Tour zu fahren, Hauptkommissarin Weber wie eine Verdächtige vorzuladen und ihr erst einmal die Leviten zu lesen. Nachdem sie Haase mit den notwendigen Informationen über den Fall vertraut gemacht hatte, entschied sie sich für die wissenschaftliche Methode: beobachten, zuhören und erst dann Schlüsse ziehen.

Eine halbe Stunde später betrat sie das LKA-Gebäude am Tempelhofer Damm. Das Erste, was ihr an Monika Weber auffiel, war die tiefe, männliche Stimme. Sanft, angenehm, aber sie passte nicht zu den harten, fast abgehärmten Gesichtszügen. Die Frau, zwanzig Jahre älter als sie, erweckte den Eindruck, als wäre sie schon etliche Male durch die Hölle gegangen, zuletzt wohl am Vortag bei der Nachricht aus Sankt Petersburg. Im Besprechungszimmer wartete ein Mann um die vierzig in betont lässiger Pose.

»Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich meinen Partner zuziehe?« Ohne die Antwort abzuwarten, stellte Monika Weber ihn vor: »Oberkommissar Dieter Vogel, auch LKA 4.«

»Ganz ohne Staatsanwaltschaft?«, fragte er bissig.

Chris ließ sich nicht provozieren. An diesem schönen Tag schon gar nicht.

»Staatsanwältin Winter wird Sie nicht mehr belästigen«, sagte sie lächelnd, »dafür bin ich jetzt da.«

Der Scherz trug nicht zur Entspannung bei. Sie beeilte sich, ihren Auftrag sachlich zu schildern, wobei sie betonte, alle verfügbaren Ressourcen des BKA einzusetzen, um die Tat aufklären zu helfen. Kollege Vogel traute dem Frieden nicht, setzte zu einer Entgegnung an, hielt jedoch den Mund auf ein Zeichen seiner Partnerin.

»Am besten erzählen Sie mir alles, was Sie über die verdeckte Ermittlung der Opfer in Sankt Petersburg wissen«, schlug sie vor.

Monika Weber deutete auf eine Reihe Ordner im Regal an der Wand.

»Im Grunde genommen steht alles da drin. Das sind die Ergebnisse von sieben Jahren Ermittlungsarbeit. Es fällt mir nicht leicht, das Material zusammenzufassen. Das dürfen Sie mir glauben, Dr. Roberts.«

»Chris«, unterbrach sie. »Vergessen Sie den Doktor. Kollegen nennen mich Chris.«

»Also gut, Chris, ich versuch’s. Vielleicht ist es am besten, am Schluss anzufangen, bei der Katastrophe in Sankt Petersburg.«

Ihr Partner breitete schweigend Fotos auf dem Tisch aus, welche die russische Polizei am Tatort geschossen hatte.

»Sieht auf den ersten Blick wie eine fatale Abrechnung unter Eheleuten aus«, bemerkte Chris. »Wer ist das Mädchen?«

Monika Weber zuckte die Achseln. »Wir wissen es nicht, und die Kollegen der Kripo in Sankt Petersburg konnten ihre Identität bisher auch nicht feststellen.« Sie verstummte für kurze Zeit, bis sie mit einem Kloß im Hals sagte: »Ich weiß, wie das für Sie aussehen muss. Wir lassen zwei Leute undercover in Sankt Petersburg ermitteln, wozu wir gar nicht berechtigt sind, und tappen zudem im Dunkeln darüber, was die beiden im Hotelzimmer gewollt haben. Sie müssen glauben, wir hätten komplett den Verstand verloren.«

Chris hätte es nicht besser ausdrücken können. Laut sagte sie:

»Ich bin sicher, die Geschichte hört sich aus Ihrer Sicht ganz anders an.«

»Da haben Sie verdammt recht«, schaltete Kollege Vogel sich ein.

Die Erklärung überließ er wieder seiner Partnerin.

»Es begann wie gesagt vor rund sieben Jahren mit dem nächtlichen Brand einer Villa in Charlottenburg. Die Besitzer weilten zu der Zeit in der Oper und konnten erst ermittelt werden, nachdem das Haus fast bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Ein Unfall, ausgelöst durch einen Kurzschluss. In den Überresten fand man die verkohlten Leichen zweier Kinder, Knaben im Alter von sechs und sieben Jahren. Die Ermittlungen haben ergeben, dass sie sich zur Zeit des Unglücks allein im Haus befanden, eingesperrt in einem fensterlosen Kellerraum.«

Chris schauderte unwillkürlich. »Was für Eltern tun so etwas?«

»Das nette Ehepaar besaß gar keine Kinder«, warf Dieter Vogel düster ein. »Die Kleinen waren auch nicht zufällig zu Besuch im Haus.«

»Die Kinder lebten illegal in Berlin, gekauft von Kinderhändlern«, stellte seine Partnerin klar.

»Der reine Horror!«, war alles, was Chris dazu einfiel.

Sie begann zu begreifen, woher die verhärteten Gesichtszüge ihres Gegenübers stammten. Monika Weber schwieg eine Weile nachdenklich, bevor sie leise fortfuhr:

»Wir wissen nicht, was diese kleinen Jungen erdulden mussten während der zwei Jahre, die sie in der Villa verbrachten.« Wieder stockte sie, dann murmelte sie: »Ist wohl auch besser so. Der einzige Trost in dieser Tragödie ist, dass die beiden wahrscheinlich bewusstlos waren, als sie das Feuer erfasste. Kohlenmonoxid.«

»Was geschah mit ihren Peinigern?«

»Die bleiben auf unbestimmte Zeit verwahrt, schweigen aber bis heute.«

»Kinderhandel«, murmelte Chris bedrückt.

Die Galle kroch in ihr hoch. Abscheu und Ärger erfüllten sie angesichts der unbeschreiblichen Zustände, die sich hinter harmlosen, gutbürgerlichen Fassaden verbargen.

Monika Weber nickte. »Kinderhandel, Kinderprostitution, Pädophilie, Kinderpornographie – das ganze Programm. Jahrelang haben wir nach Hintermännern, Verbindungen und weiteren Fällen gesucht, auch im Ausland über Europol. Das Resultat finden Sie in diesen Ordnern.«

»Und wo ist der Link zu Sankt Petersburg?«

Kollege Vogel klärte sie auf:

»Die beiden Knaben stammten aus Sankt Petersburg. Zumindest müssen wir davon ausgehen, denn das saubere Pärchen hat sie dort gekauft, genauso wie Dutzende andere Opfer in Sankt Petersburg gekauft worden sind. Die Fälle sind alle im Detail dokumentiert. Wenn Sie wissen wollen, wie es in der Hölle zugeht, lesen Sie diese Akten.«

»Ich hoffe, Sie besitzen Nerven wie Drahtseile«, warf Monika Weber ein, »sonst rate ich Ihnen dringend von der Lektüre ab.«

»Sie vermuten eine kriminelle Organisation dahinter, die aus Sankt Petersburg heraus operiert?«

»Und zwar in ganz Europa mit Schwerpunkt Berlin. Nach unseren Ermittlungen gibt es keinen Zweifel daran. Die Bande kauft Kinder von Not leidenden Familien zu einem Spottpreis, meist unter dem Vorwand, sie an westliche Paare zur Adoption zu vermitteln, ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Das funktioniert ohne großen Druck. Noch einfacher geht es mit ein paar Rubel in Waisenhäusern. Die Empfänger im Westen zahlen Unsummen für die bedauernswerten Opfer.«

»Vielleicht gibt es ja nicht nur Opfer.«

»Sie meinen anständige Adoptiveltern? Klar gibt es die, aber vergessen Sie nicht, dass die Kinder illegal einreisen. Es ist schwierig bis unmöglich, die Adoption zu legalisieren. Wir müssen leider davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit der Kinder auf Nimmerwiedersehen im pädophilen Sumpf verschwindet.«

»Stimmt nicht ganz«, widersprach Kollege Vogel mit bitterem Lächeln. »Viele davon tauchen im Internet wieder auf. Möchten Sie eine Auswahl der Filmchen sehen?«

»Zynismus hilft auch nicht weiter«, murmelte Monika Weber.

»Das alles ist eine einzige Katastrophe«, seufzte Chris.

Bis vor einer Stunde hatte sie noch geglaubt, bei der Arbeit am BKA schon in jeden Abgrund geblickt zu haben. Was für ein Irrtum! Möglich, dass sie besonders empfindlich auf Kinder als Opfer reagierte, weil sie selbst eins erwartete. Sie ahnte noch vor dem ersten Blick in die Akten, dieser Fall würde sie fordern wie kaum einer zuvor.

»Was war der konkrete Anlass für den Einsatz in Sankt Petersburg?«

Die beiden Kollegen hätten das Risiko sicher nicht auf einen bloßen Verdacht hin auf sich genommen. Vogel antwortete:

»Malte ist es gelungen, in einem einschlägigen Internetforum Kontakt aufzunehmen. Die verwendeten Codes waren dieselben, die in mehreren unserer Fälle aufgetaucht sind.«

»Malte Friedmann alias Tobias Meier?«

»Genau der. Es war die erste gelungene Kontaktaufnahme seit Jahren.«

»Wir mussten schnell handeln«, warf Monika Weber ein. »Es blieb keine Zeit für den langen Dienstweg.« Nach einer kurzen Pause fügte sie leise hinzu: »Das wird die Hinterbliebenen allerdings kaum trösten.«

»Wer wusste von der Aktion?«

»Nur wir zwei, der Dienststellenleiter – und die Opfer.«

»Trotzdem sind die Kollegen in eine Falle getappt, wie es aussieht«, sagte Chris. »Sie haben sich sicher auch schon die Frage nach dem Leck gestellt …«

»Die ganze Zeit denke ich an nichts anderes«, unterbrach Vogel wütend.

Seine Partnerin schüttelte entschieden den Kopf und betonte:

»Wer in Gottes Namen sollte hier ein Motiv zu so einem Verrat haben?«

»Mir würden da schon einige Gründe einfallen«, gab Chris zu bedenken, »Geld, persönliche Konflikte, Rache, um nur die Üblichen zu nennen. Verstehen Sie mich richtig: Damit will ich nicht andeuten, dass mich diese Theorie überzeugt.«

»Das ist Blödsinn«, stimmte Vogel zu. »Die Kollegen waren allseits beliebt und geachtet, lebten in geordneten Verhältnissen. Wir kennen – kannten – beide auch privat seit vielen Jahren.«

Dieses Argument überzeugte zwar nicht, aber sie verzichtete auf Widerspruch. Es gab ein Dutzend andere Möglichkeiten, wie eine derart heikle Operation auffliegen konnte. Am wahrscheinlichsten erschien ihr ein tödlicher Fehler der Ermittler als Erklärung. Sie brauchte den Gedanken nicht auszusprechen. Monika Weber tat es für sie und provozierte eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem Partner, offenbar einem guten Freund des ermordeten Malte Friedmann.

»Wir alle machen Fehler«, warf sie ein, um die fruchtlose Diskussion zu beenden. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt mit dem Aktenstudium beginnen. Sie halten mich bitte auf dem Laufenden über die Entwicklung in Sankt Petersburg.«

Die beiden Kommissare erhoben sich. Vor dem Verlassen des Zimmers sagte Monika Weber düster:

»Ich habe Sie gewarnt.«

Der Tag hatte so gut begonnen.

Sankt Petersburg, Russland

Major Sofia Yeltsova von der Kripo Sankt Petersburg blieb mitten auf dem Flur des Betreuungszentrums stehen. Ihr Partner Gregori Makarov ging zwei Schritte weiter, bis er es bemerkte.

»Was ist jetzt schon wieder?«, brummte er ungehalten. »Wir sind so schon zu spät.«

»Ach was, ich glaube, du verkennst die Lage.«

»Welche Lage? Wir versuchen, die Kleine zum Sprechen zu bewegen. Was ist daran so schwer zu verstehen?«

»Genau das ist es. Du verstehst es nicht.«

»Verdammt, kannst du vielleicht Klartext reden, oder willst du mich nur ärgern? Das ist dir nämlich gelungen.«

»Ist ja auch nicht schwierig bei dir.«

Er drehte sich um und ging weiter. Es gab schon gute Gründe, weshalb er nach dem Tod seiner Frau Einsiedler geblieben war. Ihm fehlte das masochistische Gen, um eine wie Sofia auch noch außerdienstlich zu ertragen.

»Jetzt warte doch mal! Hör zu!«

Widerwillig blieb er stehen. Ihre Stimme klang besorgt, als sie weitersprach:

»Ich meine, es wäre besser, wenn ich mich erst einmal allein mit der Kleinen unterhalten würde, so von Frau zu Frau, verstehst du?«

»Was macht dich so sicher, dass sie weniger Angst vor Drachen als vor Drachentötern hat?«, fragte er giftig.

»Du willst es nicht kapieren, oder? Die Kleine ist total traumatisiert. Niemand weiß, was die Schweine mit ihr angestellt haben …«

»Schon klar, aber wer sagt uns, dass es männliche Schweine waren, dass sie Angst vor Männern haben soll?«

»Darum geht es doch nicht. Ich möchte es einfach so sanft und langsam wie möglich angehen. Wenn wir jetzt zu zweit einfahren, war‘s das vielleicht schon.«

Er verspürte ohnehin keine Lust auf die Psycho-Nummer, also gab er seinen Widerstand auf.

»Versuch‘s meinetwegen. Ich besorge mir etwas zu trinken.«

Er kehrte zum Kiosk zurück, der sich neben dem Eingang im Erdgeschoss befand. Nach kurzem Zögern nahm er ein ›Kvass‹ aus dem Regal. Das pasteurisierte, süße Zeug schmeckte ihm nicht, aber es schmeckte wenigstens nach etwas, nicht wie Wasser. Sein Großvater hatte ganz anderes ›Kvass‹ gebraut, das nach zwei Wochen Gärung am besten schmeckte. In einer Einrichtung für Seelenklempner konnte man natürlich keinen anständigen Drink erwarten. Mürrisch legte er die paar Münzen auf den Tisch bei der Kasse und wollte gehen, als ihm eine Schale mit ›Alenka‹-Riegeln auffiel. Er nahm zwei heraus, legte mangels Kleingeld einen Geldschein auf die Theke und wartete. Das Mütterchen an der Kasse rührte keinen Finger.

»Worauf warten Sie?«, fragte er nach einer Weile.

»Vielleicht fällt dem Herrn ja noch etwas ein«, keifte die Frau.

Russen genießen nicht, sie ertragen – er müsste es allmählich wissen.

»Wenn Sie keinen Wert auf mein Geld legen, konfisziere ich die Schokolade«, sagte er beiläufig und zeigte den Dienstausweis.

Der Geldschein verwandelte sich vor seinen staunenden Augen in ein paar Kopeken Wechselgeld. Das ging so schnell, dass er die Handbewegung des Mütterchens kaum wahrnahm.

»Spasibo.«

Er nickte ihr freundlich grinsend zu, steckte die Riegel ein und verließ ihr Königreich.

Sofias Methode schien nicht sehr erfolgreich zu sein. Er traf sie aufgeregt mit der Betreuerin diskutierend auf dem Flur vor dem Spielzimmer.

»Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, an die Kleine heranzukommen«, sagte sie händeringend.

Die Betreuerin, eine Kinderpsychologin, wie er auf dem Namensschild las, lächelte verständnisvoll.

»Ich weiß, es ist für Laien schwer zu verstehen, aber das Verhalten des Mädchens ist unter den gegebenen Umständen völlig normal. Es leidet unter einem schweren Schock. Darauf reagieren Kinder im Wesentlichen auf zwei verschiedene Arten. Die einen reden und hören nicht mehr auf, bis alles gesagt ist, was sie bedrückt. Andere schweigen wie ein Grab, weil sie nicht über das Erlebte sprechen können. Sie erinnern sich nicht, oder die Erinnerung ist so schmerzhaft, dass ihr Gehirn sie temporär verdrängt, ein Selbstschutzmechanismus.«

»Und wie lange dauert dieses Schweigen?«, wollte er wissen.

»Tage, Monate – ich weiß es nicht. Im Moment wären wir schon froh, sie würde wenigstens etwas essen. Wahrscheinlich verschwenden Sie nur Ihre Zeit. Sie können nichts erzwingen.«

Sofia schüttelte den Kopf. »Ich versuch‘s trotzdem noch einmal.«

Diesmal ließ er sich nicht abwimmeln. Sie betraten das Spielzimmer, argwöhnisch beobachtet von der Psychologin. Das Mädchen saß in einer Ecke am Boden, eine Stoffpuppe auf dem Schoß, mit der es aber nicht spielte. Apathisch sah es den andern drei Kindern zu, die mit einer Betreuerin den Kinderreim »Soroka, Soroka« – »Elster, Elster« übten und dazu klatschten.

»Gibt es ein Zimmer, wo wir sie allein sprechen können?«, fragte er leise.

Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Hier fühlt sie sich einigermaßen geborgen. Warten Sie, ich schicke die Gruppe weg.«

Nachdem sie einige Worte mit der andern Betreuerin gewechselt hatte, forderte die ihre Kinder auf, ihr zu folgen. »Polonez« war das Stichwort, worauf das Grüppchen klatschend und tanzend das Zimmer verließ. Die Kleine mit der Puppe folgte mit den Augen, regte sich aber nicht. Sofia näherte sich vorsichtig, ging in die Hocke und begann ruhig zu sprechen, ein warmes Lächeln im Gesicht, soweit es das zuließ. Sie fragte nach dem Befinden und stellte ihren Partner mit Vornamen vor. Das Mädchen hörte stumm zu. Die Blicke ruhten abwechselnd auf den drei Erwachsenen. Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, sie kehrten häufiger zu ihm zurück als zu den zwei Frauen. Sofia deutete auf die Puppe und fragte:

»Verrätst du mir, wie sie heißt?«

Der Blick des Mädchens wanderte wieder zu ihm, als wüsste er die Antwort. Einer Eingebung folgend, sagte er:

»Lass mich raten. Heißt sie – Anastasia?«

Es war der erste Name, der ihm einfiel, außer Sofia. Die Kleine schüttelte fast unmerklich den Kopf, die erste Reaktion auf eine Frage. Ihre Augen hingen an seinen Lippen. Es blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Während er tief in seiner Erinnerung nach andern, beliebten Mädchennamen forschte, versuchte es Sofia mit Vorschlägen, die allesamt unbeachtet verhallten. Er war am Zug. In seiner Not erinnerte er sich an die Schokoriegel. Sein Gesicht strahlte wie das Mädchen mit dem Kopftuch auf der Verpackung, als er einen davon aus der Tasche zog und fragte:

»Heißt sie vielleicht – Alenka?«

Die Reaktion überraschte alle. Die Kleine packte den Riegel, legte ihn mit der Puppe neben sich auf den Boden, sprang auf und begann, sich zu entkleiden. Er erschrak dermaßen, dass er unwillkürlich zwei Schritte rückwärts taumelte und dabei fast seine Partnerin zu Boden riss. Das Mädchen hielt verstört inne, ein Glück für alle Beteiligten. Die Psychologin schien als Einzige zu begreifen, was geschah. Im Nu ließ sie den ›Alenka‹-Riegel verschwinden, zog das Mädchen sanft zu sich und sprach beruhigend auf sie ein. Gleichzeitig bedeutete sie den Kommissaren mit energischen Handbewegungen, das Zimmer zu verlassen.

»Hat ja wunderbar geklappt«, fauchte Sofia ihn wütend an.

Noch immer perplex von der Reaktion des Kindes, hörte er nicht zu. Als Laie, der nicht einmal verstand, was in seinem eigenen Kopf vorging, begriff er nur, was offensichtlich war. Der Schokoriegel wirkte als Auslöser für das seltsame Verhalten, oder war es der Name Alenka?

»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«

Es konnte nichts Gutes sein, schloss er aus dem Wetterleuchten in ihren Augen. Er brauchte nicht zu antworten. Die Tür ging auf. Die Psychologin, das Mädchen an der Hand und sichtbar erleichtert, winkte sie herein. Kaum im Zimmer, hörten sie das erste Wort aus dem Mund der Kleinen: »Natascha«.

»Du heißt Natascha?«, fragte Sofia erfreut.

Das Mädchen schüttelte den Kopf, streckte die freie Hand aus und wiederholte den Namen: »Natascha.«

Es kommunizierte, wenn auch einigermaßen rätselhaft. Wieder war es die Psychologin, die das Mädchen verstand.

»Die Puppe!«, rief sie aus. »Du meinst die Puppe. Sie heißt Natascha, nicht wahr?«

Das Mädchen wand sich los, holte die Puppe und presste sie ans Herz. »Natascha«, flüsterte es wiederholt. Tränen traten in seine Augen. Das Kind begann leise zu schluchzen.

»Es ist besser, wenn Sie uns jetzt wieder allein lassen«, flüsterte die Psychologin.

Rein, raus – allmählich verlor er die Geduld. Die Situation überforderte ihn. Nicht nur ihn, wie ihm Sofias Achselzucken auf seine Frage nach dem »Wie weiter?« signalisierte.

Er zog den zweiten Riegel aus der Tasche und hielt ihn Sofia hin.

»Alenka?«

Sie nahm die Schokolade ohne Zögern und begann schweigend zu essen. Sekunden später hatte sie das süße Zeug verschlungen und reichte ihm die zerknüllte Verpackung. Er rang sich ein ironisches Lächeln ab.

»Spasibo. Fahren wir zurück ins Büro?«

Sie schüttelte den Kopf und fand endlich die Sprache wieder.

»Jetzt nicht. Ich habe das Gefühl, sie wird bald reden nach deiner Schokotherapie.«

»Die wirkt offenbar auch bei dir.«

»Nein im Ernst, Gregori. Was immer dein Schokoriegel ausgelöst hat, es wird uns weiterhelfen.«

»Toll, dass ich helfen konnte«, brummte er, ohne ihren Optimismus zu teilen.

Er glaubte nicht daran, dass das immer noch namenlose Mädchen selbst überhaupt wusste, woher es kam und wer es ins Hotelzimmer verschleppt hatte. Langsam aber sicher sehnte er sich zurück ins Büro, ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte.

»Was wird aus der Kleinen?«, fragte er.

Er kannte die Antwort, überließ es aber gerne seiner Partnerin, die brutale Wahrheit auszusprechen. Sie tat es ohne Wenn und Aber:

»Sie wird in ein Waisenhaus gesteckt, wo man sie bei nächster Gelegenheit an eine andere Bande verkauft – oder an dieselbe.«

»Das dürfen wir nicht zulassen.«

»Nein.«

Damit war das Thema vorerst erledigt. Keiner kannte ein Rezept, um die Zustände zu ändern. Wie Angehörige vor dem OP gingen sie schweigend auf dem Flur auf und ab, bis sich die Tür zum Spielzimmer wieder öffnete. Die Psychologin trat heraus, zufrieden lächelnd.

»Jelena zeichnet.«

»Jelena?«, riefen sie wie aus einem Mund.

Die Psychologin nickte. »Sie heißt Jelena, einfach nur Jelena. An einen Nachnamen erinnert sie sich nicht. Natascha heißt übrigens ihre Freundin.«

»Die Puppe.«

»Auch, aber die heißt nur so wegen ihrer echten Freundin. Sie vermisst sie und will sie suchen. Sie kennt ihre Adresse nicht, aber ich habe ihr vorgeschlagen, das Haus zu zeichnen.«

»Sie sollten bei der Polizei arbeiten«, sagte er mit breitem Grinsen.

Die Hoffnung kehrte zurück. Der Ausflug in die Tiefen der Kinderseele war womöglich doch nicht ganz sinnlos. Erstaunt stellte er fest, dass Jelena an seinem Schokoriegel knabberte, während sie mit Farbstiften malte. Sie verhielt sich wie ein normales Kind, als hätte sie auf einen Schlag alles Schreckliche vergessen, was sie erlebt hatte. Sie antwortete auf Sofias vorsichtige Fragen, ohne von der Zeichnung aufzublicken.

Nicht nur ihr Bild, auch das Bild vor seinem geistigen Auge nahm Konturen an. Jelena und ihre etwas ältere Freundin Natascha hatten offenbar nicht in einem Waisenhaus gelebt, eher in einer Art Wohngemeinschaft, zusammen mit fünf weiteren Mädchen und einer wechselnden Gruppe Erwachsener. Aus Angst vor einem Rückfall wagten sie nicht zu fragen, was diese Leute mit ihnen angestellt hätten. Wichtig war zuerst einmal, das Haus zu finden. Seine Hoffnung schwand ein gutes Stück, als er erfuhr, dass die Kinder dort nur im Dvor, im Innenhof, spielen durften. Jelena hatte das Haus nur einmal kurz von außen gesehen, als sie zum Hotel gefahren wurde.

Die Zeichnung war fertig. Sie zeigte eine rote Fassade mit winzigen Fenstern, vier Stockwerke hoch, die unterste Reihe der Fenster vergittert. In der Mitte der Fassade befand sich ein schwarzes Loch, das offenbar das geschlossene Tor zur Straße darstellte. Im Hof standen sieben Strichmännchen, die sieben Kinder. Von den Erwachsenen fehlte jede Spur. Jelena blendete sie aus. Gregori konnte es ihr nicht verdenken. Ein vierstöckiges rotes Haus mit Innenhof – davon gab es Dutzende, wenn nicht Hunderte in Sankt Petersburg.

»Gibt es noch etwas, was du am Haus oder in der Nähe gesehen hast, Jelena?«, fragte er.

Sie schluckte den Rest der Schokolade hinunter, leckte sich die Finger und dachte nach. Plötzlich griff sie zum schwarzen Stift und zeichnete etwas neben den Fenstern auf die Fassade. Es sah aus wie ein großes Strichmännchen, aber es besaß Hörner.

»Dyavol«, erklärte sie dazu. »Jemand hat den Teufel an die Wand gemalt.«

Ein Graffiti – im Innenhof, auch nicht gerade selten und nicht eben hilfreich, um das Haus zu finden.

»Erinnerst du dich sonst noch an etwas? Liegt das Haus vielleicht an einer großen Straße, an einer Kreuzung, fährt die Bahn vorbei?«

»Nein, nein, die Straße liegt an einem Kanal. Wir sind über eine Brücke gefahren.«

»Gibt es außen am Haus auch solche Graffiti wie der Dyavol?«

»Nicht wie der Dyavol, nur schwarze Striche.«

Die Kleine hatte eine Menge beobachtet, obwohl sie wahrscheinlich die ganze Zeit im roten Haus gefangen gehalten worden war.

»Danke, Jelena, du hast du uns sehr geholfen«, sagte Sofia.

Die Erleichterung war ihr anzuhören. Mit etwas Glück würden sie das Haus mit diesen Angaben finden. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Rotes Haus, Graffiti, Kanal – die Kombination weckte Erinnerungen. Im Moment, als ihm einfiel, woran er sich erinnerte, fragte Jelena:

»Gehen wir jetzt Natascha suchen?«

»Genau das machen wir«, platzte er heraus, bevor die beiden Damen etwas entgegnen konnten. Er streckte die Hand aus. »Kommst du mit? Wir brauchen deine Hilfe.«

Völlig überrumpelt, bearbeitete Sofia ihn mit strafenden Blicken.

»Ich glaube, ich weiß, wo wir suchen müssen«, beruhigte er.

»Das geht nicht!«, wehrte sich die Psychologin, sobald sie die Sprache wiedergefunden hatte.

»Doch, das geht«, widersprach er lächelnd. »Jelena möchte es so, und wir sind die Polizei.«

»Ich muss verrückt sein«, murmelte Sofia, bevor sie in den Dienstwagen stieg.

»Es ist unsere einzige Chance«, gab er ebenso leise zu bedenken.

Jelena saß angeschnallt auf dem Rücksitz und sollte nichts von Unmut und Zweifel bemerken. Optimismus war jetzt angesagt.

»Wir werden deine Natascha finden«, behauptete er und lächelte dem Rückspiegel zuversichtlich zu, als er sich ans Steuer setzte.

Sofia saß eine Weile schweigend neben ihm, bis er nach rechts abbog, Richtung Neva.

»Wo fährst du hin?«

»Jedenfalls nicht auf den Newski-Prospekt, nicht jetzt, am Vorabend der weißen Nächte. Ich habe keine Lust auf ein Touristenmassaker.«

»Pass auf, was du sagst, wir sind nicht allein!«, zischte sie.

»Entschuldigung – aber es ist doch wahr. In diesen Tagen könnte man glauben, es gäbe keine andere Straße als den Newski-Prospekt in unserer Stadt.«

»Ist ja gut, fahr einfach weiter und halt die Klappe.«

»Achtung, wir sind nicht allein«, echote er grinsend.

Jelena kümmerte sich nicht um ihr Geplänkel. Sie war vollauf damit beschäftigt, das ihr unbekannte Treiben auf den Straßen an diesem Nachmittag zu beobachten. Nach dem Stau auf der Brücke schafften sie den Rest der Strecke bis zur Ulitsa Nalichnaya in zwanzig Minuten. Das alte Haus aus rotem Sandstein versteckte sich hier zwischen Blöcken aus rohem Beton. Deshalb war es ihm seinerzeit aufgefallen. Jelena hatte aufgehört, aufgeregt nach allen Seiten zu gucken und die Nase am Seitenfenster platt zu drücken. Sie saß merkwürdig still auf dem Sitz, mit eingezogenen Schultern, als erwartete sie Schläge. Weckte die Gegend unangenehme Erinnerungen? Er fuhr langsam am Kanal entlang, unsicher, in welcher Richtung sich das Haus befand.

»Suchen wir überhaupt auf der richtigen Insel?«, flüsterte Sofia so leise, dass er es kaum verstand.

»Zwei Uhr«, antwortete er, ohne den Kopf zu bewegen.

Er hatte das rote Haus vorne rechts jenseits der kleinen Brücke entdeckt. Es war auch Jelena nicht entgangen.

»Natascha!«, schrie sie und versuchte aufzuspringen. Mit beiden Händen zeigte sie auf das Haus am andern Ufer.

»Da wohnt ihr, du und Natascha – bist du sicher?«, fragte Sofia, immer noch skeptisch.

»Da, da, Natascha!«

Hätte der Gurt sie nicht zurückgehalten, sie wäre stracks aus dem Auto gesprungen.

»Wir müssen jetzt ganz vorsichtig sein«, versuchte er ihre Begeisterung zu dämpfen.

Jelena ließ sich nicht beeindrucken. Sie zerrte am Gurt, wollte ihn öffnen. Es gelang ihr nicht, also schlüpfte sie kurzerhand unter dem Gurt hindurch. Die Tür stand schon einen Spalt offen, bevor er anhielt. Sein Wagen, ein Lada Samara, der sein zehnjähriges Dienstjubiläum auch schon hinter sich hatte, war nicht für den sicheren Transport von Kindern ausgerüstet. Im letzten Moment gelang es Sofia, das Energiebündel aufzuhalten. Jelena kratzte und keifte. Plötzlich begann sie zu weinen und ließ sich auf den Rücksitz fallen. Sofia setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Er rieb sich die Schweißperlen von der Stirn. Der Dienstwagen war nicht der Einzige, der sich nicht für Kinder eignete.

Langsam fuhr er weiter auf die Brücke zu, nach einer geeigneten Stelle Ausschau haltend, wo er parken konnte, ohne vom roten Haus aus gesehen zu werden. Der Lada war zwar nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichnet, aber Ganoven besaßen besondere Nasen, um Bullen zu riechen.

»Ihr beiden Damen müsst mir jetzt versprechen, ganz lieb zu sein und im Wagen zu warten«, sagte er, nachdem er den Motor abgestellt hatte. »Ich werde mich erst mal umsehen.«

Er nahm die Dienstwaffe aus dem Handschuhfach, kontrollierte sie, lud durch und steckte sie ein, bevor er ausstieg. Jelena in Sofias Armen machte keine Anstalten zu fliehen.

Die paar Schritte zur Straße lagen noch nicht hinter ihm, als wie aus dem Nichts drei ›GAZ Tigr‹, schwere, gepanzerte 4 × 4 der Polizei, auftauchten. Aus beiden Richtungen der Straße und von der Brücke her rasten sie mit heulenden Sirenen auf das rote Haus zu. Der vorderste Einsatzwagen durchbrach kurzerhand das Holztor zum Innenhof. Die beiden andern Fahrzeuge hielten vor dem Haus, versperrten so die Zugänge und blockierten die Straße. Jeder Tigr spie neun oder zehn Mann in grau-blauen Kampfanzügen aus, die Gesichter unter schwarzen Sturmmasken verborgen, ›Bizon‹ Maschinenpistolen schussbereit im Hüftanschlag. ›OMOH‹ (OMON) stand in großen, gelben Lettern auf dem Rücken.

Gregori rettete sich mit einem Fluch in den Schutz des staubigen Haselstrauchs an der Straße und dankte im Stillen der kleinen Jelena. Hätte sie ihn nicht ein paar Minuten aufgehalten, wäre er der OMON direkt in die Arme gelaufen. Die OMON als mobile Einheit mit besonderen Aufgaben gehörte zwar auch zur Polizei wie die Kripo, aber sie unterstand direkt dem Innenministerium. Die Typen der OMON lebten und wirkten in einer anderen Welt, die er bisher erfolgreich gemieden hatte. So sollte es auch bleiben, verdammt noch mal, sagte er sich und beschränkte sich aufs Beobachten. Er hoffte inständig, Sofia käme nicht auf dumme Gedanken. Es wäre nicht das erste Mal, würde sie sich unnötig exponieren. Seine Hoffnung ruhte wieder auf Jelena. Die Kleine hatte Sofias Mutterinstinkt geweckt, und das war gut so.

Das Sirenengeheul verstummte so plötzlich, wie es angefangen hatte. Außer vereinzelten scharfen Befehlen verlief die Aktion in beinahe unheimlicher Stille. Umso überraschter war er, als unvermittelt ein Motorrad aus dem Dvor auf die Brücke zu schoss. Eine Frau mit wehenden Haaren klammerte sich auf dem Rücksitz an den Fahrer. Sie reagierten nicht auf die lauten Rufe des SWAT-Teams, versuchten offensichtlich verzweifelt zu fliehen. Die Fahrt endete noch vor der Brücke. Eine Gewehrsalve schleuderte die Frau vom Rücksitz auf die Straße und streckte den Fahrer nieder. Das Motorrad prallte gegen einen Kandelaber, überschlug sich und schlitterte jammernd die Böschung hinunter in den Kanal. Fahrer und Passagierin blieben reglos im Staub liegen.

Es war kaltblütiger Mord. Jedenfalls schätzte er die Chance aufs Überleben der beiden auf ziemlich genau null ein. Die Projektile aus den ›Bizons‹ durchschlugen auf diese Entfernung auch Schutzwesten, und die beiden sahen nicht danach aus, als trügen sie welche. Er griff mechanisch nach seinem Handy, um die Rettung zu rufen. Ein leises Zittern seiner Hand kündete die Schockreaktion an. Er kannte das Gefühl zur Genüge. Was wollte er noch mal? Der Notarzt!

Ein Rettungswagen näherte sich mit Sirene und Blaulicht von der Innenstadt her, bevor er eine Taste gedrückt hatte. Das Handy verschwand in seiner Tasche. Abgelenkt durch Notarzt und Sanitäter, die sich um die leblosen Körper kümmerten, bemerkte er erst im letzten Moment, wie ein Kleinbus mit schwarzen Scheiben, ähnlich einem Leichenwagen, in den Hof des roten Hauses fuhr. Was zum Teufel ging hier vor? Er konnte nicht länger tatenlos zusehen, verließ seine Deckung und näherte sich mit gezücktem Dienstausweis der nächsten Gruppe OMON, die den Haupteingang sicherte.

»Colonel Gregori Makarov«, rief er von Weitem. »Ich muss den Kommandanten sprechen.«

Vier MPs zielten auf seinen Brustkorb. Die Gewehrläufe senkten sich erst, als er nah genug getreten war, dass die Männer den Ausweis lesen konnten.

»Was wollen Sie?«, fragte einer unwirsch.

»Den Kommandanten sprechen, sagte ich schon.«

Der Sprecher des Teams blitzte ihn aus jugendlichen Augen an. Der Kerl war bestimmt keine dreißig und noch grün hinter den Ohren, was die Diensterfahrung betraf. Dennoch oder gerade deswegen war äußerste Vorsicht angesagt. Um in die OMON aufgenommen zu werden, taten diese jungen Wilden alles. Die Durchfallquote bei der Aufnahmeprüfung betrug achtzig Prozent, wurde gemunkelt. Das wussten die erfolgreichen zwanzig Prozent und führten sich entsprechend als unbezwingbare Meister des Universums auf. Widerwillig sprach der junge Mann nach kurzer Denkpause ins Funkgerät. Eine Minute später stand ein Riese vor ihm, der sich zackig und viel zu laut als Colonel Igor Zorin vorstellte.

»Ich kam zufällig vorbei«, log Gregori. »Was für ein Einsatz ist das?«

»Warum interessiert Sie das?«

Er versuchte, überlegen zu grinsen, was ihm nur schlecht gelang.

»Ich bin bei der Kripo, schon vergessen? Bei uns weiß niemand etwas von einem solchen Einsatz, also …?«

»Ist auch besser so. Das hier geht niemanden etwas an, auch nicht die Kripo. Anordnung vom Government.«

Der Ärger war nicht mehr zu unterdrücken. Zudem sorgte er sich zunehmend um die Kinder, so sie denn in diesem Haus lebten.

»Lassen wir doch den Scheiß. Ihr Government ist auch mein verdammtes Government!«

Der Funkverkehr des SWAT-Teams aus Zorins Walkie-Talkie steigerte sich für kurze Zeit zu einem Stakkato zackiger Meldungen und Antworten, wie er sie zuletzt in der Polizeischule gehört und gleich wieder vergessen hatte. Der Kleinbus fuhr durch das zertrümmerte Tor auf die Straße, beschleunigte und verschmolz bald mit dem Horizont. Der Krankenwagen folgte mit den beiden Opfern. Zurück blieben nur zwei riesige Blutflecke und das Motorrad im Kanal, das niemanden interessierte. Auf einen Schlag zogen sich Zorins Männer in die 4 × 4 zurück.

»Wir sind hier fertig«, sagte der Kommandant ohne weiteren Kommentar.

Er drehte ihm den Rücken zu, sprang in den dritten ›Tigr‹, der gerade aus dem Hof fuhr, dann machten sich die OMON-Fahrzeuge ebenso schnell aus dem Staub, wie sie gekommen waren.

»Du mich auch, Arschloch«, rief er ihnen nach.

Jeder andere, der ihn wie Zorin behandelt hätte, liefe jetzt mindestens mit einem blauen Auge herum, sagte er sich zum Trost. Er stapfte zum Dienstwagen zurück, wo Sofia ihn mit einem Gesicht erwartete, das Zorin sofort in die Flucht geschlagen hätte. Sie sprang aus dem Wagen, sobald sie ihn bemerkte, knallte die Tür hinter sich zu, dass die arme Jelena auf dem Rücksitz sich duckte. Die nächsten zwanzig Sekunden benutzte Major Yeltsova, um zu beweisen, dass ihr Wortschatz ebenso reich an wüsten Flüchen war wie seiner. Sie musste sich Luft verschaffen. Er verstand es. Russen benutzten Schimpfwörter im Grunde genommen nicht zum Fluchen, sondern zum Sprechen, wie ein russischer Dichter schon vor hundert Jahren erkannt hatte.

»Bist du fertig?«, fragte er, als sie endlich Atem schöpfen musste.

»Was in drei Teufels Namen denkst du dir dabei, uns hier allein zu lassen, während da vorne der Krieg ausbricht?«

»Der Krieg ist vorbei, und ich wüsste selbst verdammt gerne, wer ihn angezettelt hat und weshalb.«

Allmählich beruhigte sie sich. Vom Standort des Wagens aus konnten die beiden den Doppelmord oder was immer es war nicht gesehen haben. Gut so. Er ließ es dabei bewenden, vorläufig.

»Was wollte die OMON im roten Haus?«, fragte sie ruhiger.

»Der Kommandant, ein Baumstamm namens Colonel Zorin, hat den Taubstummen gemimt. So lang ich auch darüber nachdenke, mir fällt nur eine Erklärung ein: Das war eine Säuberungsaktion. Ich fürchte, wir werden nicht mehr viel vorfinden im Haus.«

Sofia erschrak. »Und die Kinder?«

Er zuckte die Achseln. »Gesehen habe ich sie nicht, aber die sind mit einem Kleinbus in den Hof gefahren und bald danach wieder verduftet. Ich nehme an, sie haben damit eher jemanden abtransportiert als hergebracht.«

»Mein Gott, die armen Kinder. Hast du dir wenigstens das Kennzeichen gemerkt?«

»Selbstverständlich, Major, ich bin ja auch Polizist.«

Er gab ihr die Information zusammen mit den Angaben zu Zorin, damit sie die Daten durch den Polizeicomputer jagen konnte.

»Wie geht es Jelena?«

»Den Umständen entsprechend, aber die Sirenen haben ihr Angst eingejagt, und sie wird langsam ungeduldig. Sie will zu Natascha.«

»Bloß nicht! Wenn die OMON das getan hat, was ich vermute, wird sie Natascha so schnell nicht wiedersehen, fürchte ich.«

Sofia stampfte wütend auf den Boden.

»So eine elende Schweinerei! Das kann doch alles kein Zufall sein.«

Er lachte bitter auf. »Du meinst die Kommandoaktion zur Räumung des Hauses genau zum Zeitpunkt, als wir hier aufkreuzen? Wenn das ein Zufall ist, fresse ich meinen Lada.«

»Elende Schweinerei«, wiederholte sie zerknirscht.

Jelena wurde unruhig. Sie wollte aussteigen.

»Du solltest dich um sie kümmern – und um den Computer«, sagte er und entfernte sich rasch. »Ich sehe mich jetzt im Haus um«, rief er über die Schulter zurück.

Es war ihm schon während der OMON Aktion aufgefallen: Das Haus wirkte von außen unbewohnt. Im Dvor sprang ihm als erstes der überdimensionierte, schwarze Teufel an der roten Fassade ins Auge. Er stand zweifellos im Hof, den Jelena gezeichnet hatte. Es herrschte Totenstille. Nichts bewegte sich, nicht einmal die vertrockneten Blätter des Strauchs neben den Trümmern des Tors. Er betrat das Haus durch die einzige Tür zum Hof, die nicht mit Brettern verbarrikadiert war. Es roch nach Kohlsuppe und Urin – und Kindern. Er konnte sich den Eindruck nicht erklären, aber es roch definitiv nach Kindern. Vielleicht erinnerte ihn der Geruch ans Schulhaus seiner eigenen Kindheit. Offenbar war nur der von der Straße abgewandte Seitenflügel des Hauses bewohnt gewesen und da nur das Erdgeschoss mit den vergitterten Fenstern und einige Zimmer im ersten Stock. Bauschutt und Bretter versperrten die Zugänge zum Rest des Hauses.

Niemand befand sich im Erdgeschoss, soweit er im spärlichen Tageslicht, das durch die kleinen Fenster und offenen Türen in den Flur schimmerte, erkennen konnte. Eine Blitzsuche bestätigte den Eindruck. Oben an der Treppe brannte Licht. Die Pistole schussbereit in der Rechten, stieg er auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Das Holz knarrte trotzdem unter seinem Gewicht. Auf den ersten Blick gab es auch im oberen Stock keine Anzeichen von Bewohnern, aber der Lichtschein aus dem Zimmer am Ende des Gangs jagte seinen Puls augenblicklich in die Höhe. Die Tür stand halb offen. Er versetzte ihr einen Tritt, damit er das ganze Zimmer überblicken konnte. Niemand zu Hause. Die Waffe glitt ins Halfter zurück. Es sah aus, als hätten die Bewohner in aller Eile Regale, Schränke und Schubladen geleert, bevor sie in Panik flüchteten. So sollte es zumindest aussehen, allein, der große Fleck frischen Blutes auf dem Teppich vor dem Fernseher und die zwei Einschusslöcher, die er auf Anhieb entdeckte, erzählten eine andere Geschichte. Leise fluchend zog er das Handy aus der Tasche, um die Kollegen von der Kriminaltechnik zu rufen. Er glaubte, einigermaßen sicher beurteilen zu können, dass hier kein Kind geschlachtet worden war. Zu viel Blut war geflossen. Wozu immer dieses Zimmer mit den leeren Regalen, dem fleckigen Sofa, den vier Stühlen und dem großen Flachbildschirm gedient hatte, es war ein Zimmer für Erwachsene gewesen. Diese Erkenntnis beruhigte seinen Puls einigermaßen. Außer den offensichtlichen Spuren würden die Kollegen vermutlich nicht viel mehr finden, denn das Räumungskommando hatte gründliche Arbeit geleistet in der kurzen Zeit. Sogar die DVD im Abspielgerät hatten sie nicht vergessen.

Drei weitere Zimmer, die wohl als Schlafzimmer gedient hatten, fand er ebenfalls leer vor. Die Aschenbecher stanken zwar nach heftigem Gebrauch, enthielten aber keine Kippen. Schnell und gründlich – das Markenzeichen der OMON Einsätze. Allerdings waren auch diese Elitepolizisten nicht perfekt. Nach kurzer Suche fand er doch noch einen Zigarettenstummel unter einem Bett. Vielleicht hatten sie ausnahmsweise Glück mit dem DNA-Abgleich. In der Küche fand er die Kohlsuppe. Das Räumungskommando hatte es nicht für nötig befunden, sie in den Ausguss zu schütten. Der Topf war noch warm. Sonst hatten sie auch hier alles fast klinisch sauber hinterlassen. Das zuletzt benutzte Geschirr und Besteck befand sich frisch gewaschen im noch handwarmen Geschirrspüler. Die Spurensicherung würde ihm danken für diesen sinnlosen Einsatz.

Mit einem Gesicht wie beim Betrachten der leeren Wodkaflasche, die er sich zu Hause aufhob, um nach dem Entzug trocken zu bleiben, stapfte er die Treppe hinunter zu den Zimmern, in denen offenbar die Kinder gehaust hatten. Er begann mit dem Raum am Ende des Flurs, einem Schlafzimmer mit vier Pritschen, das außer durchwühlten Bettlaken nichts hergab. Gegenüber der Tür stand ein Schrank, der einzige im Flur. Auf den ersten Blick wirkte das Möbelstück ziemlich deplatziert. Als er die Schranktür am Knauf aufziehen wollte, stürzte ihm das Ungetüm entgegen, als hätte es nur darauf gewartet, ihn zu erschlagen. Fluchend und keuchend stieß er den Schrank an die Wand zurück. Dabei bemerkte er, wie leicht er sich verschieben ließ. Seine Flüche wurden lauter. Die Kratzer am Boden verrieten, dass er nicht der Erste war, der das Möbel verschob. Er brauchte es nur wenige Zentimeter zur Seite zu schieben, bis er die Tür dahinter entdeckte.

Er schob den Schrank ganz beiseite, zog die Pistole aus dem Halfter, drückte die Türklinke hinunter und stieß sie auf. Sie bildete den Anfang einer Treppe, die steil nach unten führte. Jedenfalls vermutete er es, denn sehen konnte er nur die ersten drei Stufen. Alles war schwarz angemalt, Treppe, Wände, Decke. Er hatte das Gefühl, in den Einstieg einer Kohlenzeche zu blicken. Mangels Taschenlampe versuchte er es mit dem Lichtschalter.

»Jemand da?«, rief er, sich vorsichtig in Deckung haltend.

Es blieb still. Er stieg hinunter. Der süßliche Geruch, der ihm sofort aufgefallen war, verstärkte sich mit jeder Stufe. Nicht unangenehm, nur zu süß für seinen Geschmack, der Geruch, der einem beim Öffnen einer Bonbonniere in die Nase strömt. Das schwarze Treppenhaus mündete in einen ebensolchen Gang, der in ein großes Gewölbe führte. Ein rundes, rosa Bett stand in der Mitte. Primitiv bemalte Kulissen an den Wänden sollten das Innere einer Waldhütte und eine Reihe weiterer kleiner Betten darstellen. Sieben Bettchen für die sieben Zwerge. Im Unterschied zum Märchen besaß Schneewittchen hier ihr eigenes Bett, groß genug für allerhand weiteres Personal, wie er leise fluchend feststellte.

»Ein verdammtes Filmstudio«, brummte er, wobei ihn schauderte beim Gedanken, welche Art Filme hier wohl gedreht worden waren.

Ob Jelena auch auf diesem Bett … Er wandte sich ab, um den Rest nicht denken zu müssen. Ein Geräusch aus dem schwarzen Gang ließ ihn herumwirbeln. Mit einem Satz suchte er Deckung hinter einem Baum aus Sperrholz.

»Polizei! Ist da jemand?«

Die Antwort waren hastige Tritte auf der Treppe. Jemand rannte hinauf, leichtfüßig, nicht polternd wie er.

»Halt, Polizei!«, rief er keuchend, Puls auf 180.

Oben angekommen sah er den Zipfel eines weißen Rocks oder Kleides und Füße in kleinen Sandalen durch die Tür zum Hof verschwinden. Die Flüchtige war ein Kind wie Jelena und flink wie ein scheues Reh. Er sparte sich weitere Rufe, um keine Panik zu schüren, versuchte, das Mädchen mit den schwarzen Zöpfchen im weißen Nachthemd einzuholen. Dabei stolperte er über die Schwelle, fiel der Länge nach aufs Kies. Die spitzen Steine rissen Wunden in die Handflächen, dass beide Hände zu bluten begannen. Er sah gerade noch, wie Schneewittchen durchs Tor auf die Straße rannte. Kaum stand er mit rotem Kopf wieder auf den Beinen, quietschten Bremsen. Ein spitzer Schrei, gefolgt von einem dumpfen Aufprall ließ das Blut in seinen Adern gefrieren, dann herrschte Totenstille.

»Nein!«, krächzte er heiser.

Mit weichen Knien rannte er ihr hinterher. Schneewittchen lag auf der Straße und bewegte sich nicht mehr. Ein silbergrauer VW-Polo stand wenige Meter entfernt, der Fahrer festgefroren am Lenkrad. Auch der regte sich nicht. Das Telefon am Ohr, rannte er zum Mädchen. Ein Meer aus Vorwürfen stürzte auf ihn ein, als er die Finger an die Halsschlagader legte, um den Puls zu fühlen. Sie lebte, hatte durch den Aufprall das Bewusstsein verloren. Äußerlich war keine Verletzung festzustellen. Brüche, innere Blutungen und Schädel-Hirn-Trauma konnte er nur vermuten und hoffen, dass er sich irrte. Während er Ambulanz und Verkehrspolizei alarmierte und den zur Salzsäule erstarrten Fahrer des VW im Auge behielt, näherte sich sein Dienstwagen mit Sofia am Steuer. Er bemerkte ihn erst, als Jelena noch bevor er stoppte heraussprang. Schreiend rannte sie auf ihn zu.

»Natascha! Natascha!«

Sie wollte sich weinend auf das reglos am Boden liegende Schneewittchen werfen. Er fing sie auf, um Worte ringend. Er brauchte Nachhilfe im Umgang mit Kindern.

»Natascha lebt …«, war alles, was er der verzweifelten Jelena ins Ohr flüstern konnte.

Sofia verjagte die Gaffer, die angehalten hatten und im Begriff waren, auszusteigen. Ihr Dienstausweis wirkte Wunder. Niemand war sonderlich erpicht auf Kontakt mit der Kripo. Endlich stand sie bei ihm und nahm Jelena in die Arme.

»Das ist Natascha«, sagte er. »Sie hat sich im Keller versteckt und ist geflüchtet, als ich … Verfluchte Scheiße!«

Er riss sich vom Anblick des unglücklichen Mädchens los und rannte zum VW-Polo. In der Ferne ertönten die Sirenen der Ambulanz und Polizei, als er die Tür des VW aufzog, dem Fahrer den Dienstausweis unter die Nase hielt und ihm befahl, auszusteigen. Ein junger Mann, um einen Kopf kleiner als er, stand ihm zitternd gegenüber. Falls der Junge überhaupt schon einen Führerausweis besaß, konnte der noch nicht alt sein.

»Sie – ist mir – einfach vors Auto gelaufen«, stammelte er heiser.

Das Elend des jungen Fahrers passte zu seiner eigenen Verfassung. Es stimmte ihn versöhnlich.

»Ich weiß«, sagte er und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

Der Junge knickte ein, als hätte er den Solarplexus getroffen, würgte, hustete und kotzte ihm auf die Schuhe, das einzige wasserdichte Paar mit intakten Nähten, das er besaß. Er spürte, wie die Adern an den Schläfen anschwollen, schluckte aber die Schimpfwörter hinunter. Dem jungen Mann ging es beschissen, das musste genügen. Er übergab ihn der Streife, die gleichzeitig mit der Ambulanz eintraf.

»Passen Sie auf, er hat schlecht gegessen«, murmelte er, nachdem er den Kollegen seine Version zu Protokoll gegeben hatte.

Die Notärztin hatte Natascha versorgt. Die Ambulanz fuhr ab, da trafen endlich die Kollegen der Spurensicherung ein. Er hielt das Briefing kurz, denn Sofia drängte zum Aufbruch. Jelena war kaum mehr zu bändigen. Hysterisch »Natascha« rufend wollte sie dem Krankenwagen nachrennen. Sofias beruhigende Worte prallten ungehört am Kind ab, das offensichtlich unter Schock stand. Die Beruhigungsspritze der Notärztin wirkte erst Minuten später. »Natascha« war das letzte Wort aus ihrem Mund, bevor sie die Augen schloss und gar nichts mehr sagte. Er versuchte vergeblich, sie aufzumuntern:

»Wir haben deine Natascha gefunden wie versprochen, was sagst du dazu?«

Sie sagte gar nichts. Er war nicht sicher, ob sie ihn überhaupt hörte. Dennoch setzte er noch einen drauf:

»Sie wird wieder gesund werden, ganz bestimmt.«

Die Notärztin war da weniger sicher gewesen. Während der Fahrt zurück zum Betreuungszentrum berichtete er Sofia leise, was er im Haus gesehen hatte.

»Ein Freudenhaus für Pädophile«, fasste sie zähneknirschend zusammen.

»Und ein einträgliches Kinderporno-Studio, das die User im Internet vermissen werden«, ergänzte er bissig.

»Du meinst, die OMON habe die andern Kinder abtransportiert?«

Er nickte stumm. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, bis Sofia herausplatzte:

»Das passt überhaupt nicht zu denen.«

»Ich weiß.«

Der Gedanke beschäftigte ihn auch, seit er das Haus betreten hatte. Die OMON war eine Spezialeinheit für die Bekämpfung der ganz bösen Buben, Gewaltverbrecher, Terroristen. Das rote Haus aber war ein klarer Fall für die Sitte.

»Es passt ganz und gar nicht zusammen«, murmelte er nachdenklich.

Sofia rümpfte die Nase. »Und es stinkt zum Himmel. Dieses Räumungskommando, die verdammte Geheimniskrämerei des Colonels, der Abtransport und möglicherweise die Eliminierung von Zeugen – das alles weckt ganz böse Erinnerungen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Er verstand sie sehr gut.

»Nos?«, fragte er nur.

Sie nickte stumm. Nos, die Nase, war der Spitzname des Pakhan, des unbekannten obersten Bosses des mächtigen Tambowskaja Kartells in Sankt Petersburg, das sich neuerdings sehr aktiv mit Internet Pornographie der ganz harten Sorte beschäftigte.

»Fragen wir unseren Freund Colonel Zorin«, brummte er mit bitterem Grinsen.

Dahlem

Chris zögerte auszusteigen, obwohl sie eigentlich leichten Herzens hätte aus dem Auto ins Haus und in Jamies Arme springen müssen. Hier in Dahlem war alles perfekt. Das hoffentlich nicht mehr lange kinderlose Ehepaar Roberts bewohnte eine der schönsten Villen im vornehmen Viertel, einen Prunkbau aus der Jahrhundertwende, um den sie jeder Yuppie Investmentbanker beneiden würde. Ein alter Freund mit Verbindungen zum preußischen Hochadel überließ ihnen das Haus mit der einzigen Auflage, es zu bewohnen – zu einem lächerlich niedrigen Mietpreis, den zu zahlen sie sich fast schämte.

Im Gegensatz zu ihr besaß Jamie, Engländer und Arzt in der medizinischen Forschung, gleich zwei grüne Daumen. Der ehemals wild wuchernde Garten hinter dem Haus hatte sich daher in ein naturnahes Paradies verwandelt mit einem Kräutergarten, der jedem Kloster wohl anstünde. Eine Stunde bei gutem Wetter in diesem Garten war die bessere Medizin, um den Dreck loszuwerden, dem sie bei ihren Ermittlungen begegnete, und wieder herunterzukommen, als eine Dosis Benzodiazepin. Sogar der Pavillon unter der alten Buche sah jetzt, frisch gestrichen, einladend aus.

Im Dachgeschoss befand sich das Musikzimmer mit einem Oberlicht, das ihr das Gefühl gab, auf Wolken zu schweben. Das war ihr Reich. Jamies Epizentrum befand sich im Erdgeschoss. Seine Küche mit Fenstern zum Garten diente nicht nur als Labor für raffinierte kulinarische Experimente. Der gemütliche Raum beherbergte auch den längsten Küchentisch, den sie je gesehen hatte, und war Mittelpunkt nächtelanger Diskussionen und leider allzu seltener Treffen mit Freunden.

Jetzt hatte auch sie sich erneuert und trug ein Geheimnis in sich, das ihrer beider Glück nochmals steigern würde. Besser ging es nicht. Warum also zögerte sie?

Das Aktenstudium im LKA hatte ihr plastisch vor Augen geführt, was sie zwar schon immer gewusst aber bisher stets erfolgreich verdrängt hatte: Sie lebten in einer Welt, in der man Kinder missbraucht und wegwirft, wenn sie zu alt werden – wie seelenloses Spielzeug, dem man entwächst. Wie konnte sie da glücklich sein in ihrem Paradies in Dahlem? Vor dem Rückspiegel übte sie das entspannte Lächeln, mit dem dieser wichtige Tag enden sollte, bevor sie ausstieg.

Jamie befand sich nicht im Haus. Sie ging in die Küche. Die Tränen zuvorderst, betrachtete sie die Leckereien, die ihr Kochkünstler als Requiem für den verlorenen Zopf aufgetürmt hatte. Gambas an scharfer Weißweinsauce, Datteln im Speckmantel, marinierte Paprika, Champignons mit Chorizo und natürlich die spanische Version von Bruschetta mit Jamón: Häppchen, die sie auf Anhieb erkannte. Die andere Hälfte der festlichen Tafel bestand aus neuen Kreationen, die sie noch nie gekostet hatte. Im Kühlschrank warteten bestimmt die Förmchen mit Jamies legendärer Crème brûlée, denn der Bunsenbrenner stand schon bereit. Der Gute hatte sich selbst übertroffen und war nun dabei, den Pavillon zu schmücken, wie sie beim Blick aus dem Fenster bemerkte. Warum konnte sie die quälenden Bilder in ihrem Kopf nicht einfach einen Abend lang vergessen und sich dieser Orgie hingeben? Ärger über ihre Unfähigkeit, einfach nur glücklich zu sein, gesellte sich zur Trauer über die verlorenen Kinder im Aktenberg des LKA.

Er trat aus dem Pavillon, sah sie im Küchenfenster und erstarrte. Ihr gezwungenes Lächeln mochte auf die Entfernung ganz entspannt wirken. Nach dem ersten Schreck grinste er breit, warf ihr eine Kusshand zu, griff sich ans Herz, verbeugte sich und dankte pantomimisch dem Himmel, bevor er in großen Sätzen aufs Haus zu rannte. Sein Theater rührte sie noch mehr zu Tränen. Er stürmte in die Küche, während sie die feuchten Augen abtupfte, was er als Zeichen überbordender Freude interpretierte. Er küsste sie lange, bevor er sein Urteil abgab. »Scharf«, lautete das erste Adjektiv zur neuen Frisur.

»Gib schon zu, es gefällt dir nicht«, jammerte sie scheinbar enttäuscht, ohne ihn anzusehen.

»Was meinst du?«

Dabei grinste er so unverschämt, dass sie wider Erwarten lachen musste.

»Ich wusste es!«, rief sie aus. »Du hast nur meinen Zopf geliebt.«

Zu ihrer Überraschung stimmte er zu, immer noch grinsend.

»Das war so bei der alten Chris. Die neue Mrs. Roberts aber würde ich auf der Stelle heiraten, wäre ich noch zu haben.«

Da ihr die angemessene Antwort nicht sogleich einfiel, presste er sie an seine Brust und wiederholte das erste Adjektiv, dem sogleich weitere aus derselben Kategorie folgten, wobei die Stimme immer tiefer in den Keller sank:

»Entzückend, bezaubernd, hinreißend, verführerisch, unwiderstehlich – bloody sexy!«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

Ein gezwungenes Lächeln begleitete den kläglichen Versuch, britisch cool zu wirken. Er spürte, dass sie lieber weinen statt lachen wollte.

»Stimmt etwas nicht, Liebling? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Sein betroffenes Gesicht verdiente einen weiteren Kuss. Sie schüttelte traurig den Kopf.

»Es hat nichts mit dir zu tun. Ich – hatte einfach einen schlechten Tag. Es tut mir leid, Liebster. Du hast dir solche Mühe gegeben … Ach, es ist zum Heulen.«

Diesmal tupfte er ihr die feuchten Augen ab.

»Deine Arbeit frisst dich noch auf«, murmelte er. »Aber setzen wir uns doch, essen ein Häppchen, trinken ein schönes Glas Rioja dazu und reden darüber.«

Sie versuchte es, doch selbst die zarten Paprikastücke blieben ihr im Halse stecken. Sie trank einen winzigen Schluck Rotwein und sah ihm eine Weile beim Essen zu. Dann gab sie sich einen Ruck, räusperte sich und wollte die wichtigste Neuigkeit des Tages verkünden. Mitten im Satz stockte sie und entschuldigte sich.

»Was wolltest du mir sagen?«, fragte er beunruhigt.

»Ach nichts – nicht jetzt.«

Es war kein Tag für gute Nachrichten. Sie sah ihm tief in die Augen und hoffte, er würde ihr ehrliches Bedauern spüren.

»Es tut mir leid, Jamie. Heute ist einfach nicht mein Tag. Bitte entschuldige mich.«

Er blickte ihr kauend nach, wie sie auf leisen Sohlen die Küche verließ. Lange stand sie unter der Dusche, doch die Bilder in ihrem Kopf ließen sich nicht abwaschen. Er verstand, dass sie jetzt Zeit für sich alleine brauchte. Erst viel später, als er glaubte, sie schliefe, trat er kurz an ihr Bett, streichelte über die neue Haarpracht, hauchte einen Kuss auf ihre Wange und verließ das Zimmer, um unten auf der Couch zu schlafen. »Du hast diesen Mann nicht verdient«, war der letzte Vorwurf, mit dem sie sich diesen schönen Tag versaute, bevor sie einnickte.

Sie erwachte schweißgebadet. Der Albtraum lastete auf ihr, als säße ein Nachtmahr auf ihrer Brust und hinderte sie am Atmen. Sie hatte geträumt, das stand fest. Geblieben waren nur Erinnerungsfetzen, genug, um ihr Angst einzujagen. Sie hatte auf der falschen Seite gestanden, sich so intensiv um ihr eigenes Kind gekümmert, um es vor der bösen, bösen Welt zu beschützen, wie die Perversen in den Akten. Und sie hatte Lust dabei empfunden. Es war das Schlimmste, woran sie sich erinnerte.

Ächzend erhob sie sich und dankte der Vorsehung, dass Jamie nicht neben ihr lag. Der Magen fühlte sich leer an, als hätte sie tagelang gefastet. Sie wünschte, es gäbe eine verlässliche Methode, um so etwas mit dem Kopf anzustellen. Lust auf pädophile Handlungen! Wie widerlich war das. War sie auch so eine? Steckte der schlimme Keim in allen Erwachsenen? Kleine, wehrlose Kinder zum eigenen Lustgewinn zu missbrauchen ist doch die abscheulichste Form von Kindesmisshandlung, weil sie die Seele zerstört. Solche Wunden heilen nie. Sie ekelte sich vor sich selbst und mied den Blick in den Spiegel, bis sie heiß geduscht hatte. Sie musste dringend etwas unternehmen, um den Kopf freizukriegen. Es war erst sieben Uhr früh, Jamie vielleicht noch im Haus.

»Jamie?«, rief sie auf der Treppe zum Wohnzimmer. »Wir müssen reden.«

Statt einer Antwort hörte sie ihr Handy klingeln.

»Sie sollten herkommen«, sagte Hauptkommissarin Monika Weber vom LKA. »Wir haben den Bericht aus Sankt Petersburg erhalten.«

»Schon unterwegs.«

Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Jamie: Wir holen das nach. Ich liebe die neue Chris. Lächelnd steckte sie ihn ein wie eine wertvolle Trophäe. Sie aß in aller Eile zwei Brote mit Jamón, um den Magen zu beruhigen, bevor sie zum Präsidium fuhr. Ein leerer Magen eignete sich nicht für diesen ekelhaften Fall. Zudem musste sie sich allmählich angewöhnen, für zwei zu essen, selbst wenn ihr wegen der Bilder im Kopf ganz und gar nicht danach war.

Monika Weber und ihr Partner Dieter Vogel standen vor der Pinnwand im Besprechungszimmer, wo sie die Akten studiert hatte. Der fensterlose und meist abgeschlossene Raum diente als diskrete Operationsbasis für die kleine Truppe, die den Doppelmord in Sankt Petersburg untersuchte. Die spärlichen Informationen an der Wand bedeuteten nichts Gutes. Die beiden waren offenbar noch keinen Schritt weiter bei der Ermittlung der russischen Kontakte ihrer ermordeten Kollegen. Vogel blätterte in einer Akte und schüttelte den Kopf, dann knallte er die Mappe schimpfend auf den Tisch.

»So eine Scheiße! Entweder sind diese Russen lausige Ermittler, oder sie halten absichtlich Informationen zurück. Ich finde keinen verdammten Hinweis auf ein Handy der Opfer, noch nicht einmal die Info, man habe gesucht und keins gefunden. Das gibt‘s doch nicht.«

»Vielleicht liegt es an der Übersetzung«, gab Chris zu bedenken.

Monika Weber schüttelte energisch den Kopf. »Auf die Übersetzerin ist Verlass. Wir arbeiten schon jahrelang mit ihr zusammen. Für sie lege ich die Hand ins Feuer.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Ich möchte trotzdem eine Kopie des russischen Originals.«

»Kein Problem. Im Moment können wir sowieso nur Daumen drehen, bis wir weitere Informationen aus Sankt Petersburg erhalten.«

Der Bericht bestätigte die ersten Aussagen der russischen Kollegen. Das falsche Ehepaar Meier war ermordet worden, ein Doppelmord, der nur dank der Aufmerksamkeit des russischen Pathologen nicht als tragische Abrechnung unter Eheleuten durchging. Chris betrachtete das Bild der Tatwaffe, eines Revolvers ›Smith & Wesson‹ Modell 19, Kaliber .357, nicht gerade die gängigste Handfeuerwaffe in Russland. Die Täter hatten an alles gedacht. Es sollte wohl so aussehen, als hätten die Meiers den Revolver aus Deutschland mitgebracht.

»Sind das Blutflecke auf dem Holzgriff?«, fragte sie unvermittelt.

Die Kopie in der übersetzten Akte ließ keine eindeutige Interpretation zu. Monika Weber reichte ihr das Original aus dem russischen Bericht und stutzte.

»Das sind Farbtupfer, rote Farbtupfer.«

»Moment!«, warf ihr Partner ein. »Eine ›Smith & Wesson‹ mit roten Flecken auf dem Griff? Warum ist mir das nicht früher aufgefallen?«

Chris hütete sich, ihm die Frage zu beantworten.

»Sag nicht, du kennst den Revolver«, brummte Monika Weber.

»Vielleicht«, antwortete er nachdenklich, schon an der Tür. »Augenblick.«

Nach zehn Minuten kehrte er mit einer Fotokopie zurück, auf der ein Revolver abgebildet war, der ihrer Tatwaffe glich wie ein eineiiger Zwilling. Das Foto war nicht besonders scharf, da offenbar aus einem Schnappschuss vergrößert, aber die Farbflecke befanden sich an exakt denselben Stellen. Es konnte kein Zufall sein. Zwei fragende Augenpaare richteten sich auf Dieter Vogel.

»Ja, es tut mir leid, dass ich nicht sofort geschaltet habe. Ein solcher Revolver ist vor einem Jahr bei einem Einbruch gestohlen worden.«

»Seit wann beschäftigst du dich mit Einbrüchen?«, fragte seine Partnerin eingeschnappt.

»Es war ein Einbruch in eine Galerie am Oranienburger Tor. Der Besitzer hat den Täter überrascht, wollte ihn mit so einem Revolver stellen, hat ihn sogar angeschossen, ist aber niedergeschlagen worden. Als er wieder zu sich kam, war die Waffe verschwunden. Man hat den Einbrecher nie geschnappt, den Revolver auch nicht – bis jetzt.«

Monika Webers Gesicht verfinsterte sich um mindestens zwei Stufen.

»Warum weiß ich nichts davon?«

»Du warst damals im Urlaub, und der Fall nicht gerade weltbewegend. Er ist schnell zu den Akten gelegt worden.«

»Offenbar zu schnell«, murmelte sie laut genug, damit er es hörte.

»Was für eine Galerie war das?«, fragte Chris.

»Die Galerie Matulis. Der Besitzer heißt so, Lukas Matulis.«

»Der Matulis?«, fuhr seine Partnerin auf mit der Betonung auf »der«.

Er nickte. Chris lebte offensichtlich noch nicht lange genug in Berlin oder verkehrte in den falschen Kreisen.

»Muss man den Herrn Matulis kennen?«

Vogel lachte verächtlich auf. »Er glaubt es jedenfalls. Der feine Herr verkehrt in den besten Kreisen der Stadt, spielt sich als der große Wohltäter und Kunstmäzen auf. Ich will gar nicht wissen, wie viele seiner Schinken im Regierungsviertel an den Wänden hängen.«

»Das macht ihn noch nicht zum Verbrecher.«

»Nein, aber diese aalglatten Anzug-Typen gehen mir einfach auf den Wecker.«

»War seine Aussage denn glaubhaft?«

»Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Er besaß sogar einen ordentlichen Waffenschein für den Revolver.«

»Na also«, sagte Monika Weber. »Und wie kommt diese Waffe ins Hotelzimmer in Sankt Petersburg?«

»Falls es tatsächlich dieselbe Waffe ist. Ist es denkbar, dass sie inzwischen doch aufgetaucht ist und die Kollegen sie aus Berlin mitgenommen haben?«

Dieter Vogel verneinte entschieden. »Ausgeschlossen!«

»Wir werden den Herrn Matulis noch einmal befragen«, entschied seine Partnerin.

Chris versprach sich nicht allzu viel davon. Falls Matulis damals die Wahrheit ausgesagt hatte, würde er an der Geschichte festhalten. Andernfalls auch. Es sei denn …«

»Ist Matulis erkennungsdienstlich erfasst worden?«, fragte sie.

Vogel nickte. »Wir haben seine Fingerabdrücke erfasst. Sie werden uns allerdings nicht weiterbringen. Auf dem Revolver sind nur die Abdrücke der ermordeten Kathi Bach sichergestellt worden.«

»Und auf den Patronenhülsen?«

Davon stand nichts im Bericht aus Sankt Petersburg. Es war nur von Abdrücken auf der Tatwaffe die Rede, was immer die russischen Kollegen darunter verstanden. Monika Weber ging zum Telefon mit der Spinne für Konferenzgespräche.

»Schadet nicht, wenn wir danach fragen«, bemerkte sie, während sie die Schaltung nach Sankt Petersburg vorbereitete.

Sobald die Verbindung zu Colonel Gregori Makarov stand, fragte sie zuerst nach dem Befinden des Mädchens.

»Es geht ihr gut, den Umständen entsprechend«, versicherte Makarov. »Wir haben inzwischen ihren Namen erfahren. Sie heißt Jelena. Einen Nachnamen kennt sie nicht, und wir tappen weiterhin im Dunkeln darüber, woher sie kommt.«

Er berichtete mit monotoner Stimme, als läse er den Text ab. Chris konnte nicht beurteilen, wie offen er informierte, oder ob er Informationen zurückhielt. Dass beide Seiten sich in der Fremdsprache Englisch unterhalten mussten, trug auch nicht zur besseren Verständigung bei. Weitere Fragen zu Jelena beantwortete Makarov kurz und ausweichend.

»Was geschieht jetzt mit dem Mädchen?«, fragte Monika Weber, bevor sie das Thema wechselte.

Makarovs Partnerin, Sofia Yeltsova, schaltete sich ein:

»Wir sind dabei, einen Platz in einer bekannten Familie für Jelena zu organisieren. Ich werde ein Auge auf sie haben.«

Eine gute Nachricht, endlich, dachte Chris.

»Wunderbar«, sagte auch Monika Weber. »Gibt es neue Erkenntnisse aus Ihren Ermittlungen?«

Makarov antwortete:

»Ja, zwei Dinge. Nach Aussage des Mädchens ist Jelena von einer ihr unbekannten Frau, wahrscheinlich zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, mittelgroß mit grünen Augen, ins Hotel gebracht worden. Sonst hat sie nichts vom Gesicht der Unbekannten gesehen. Kurz vor dem Betreten des Zimmers hat ihr die Frau Wasser aus einer Flasche zu trinken gegeben. Danach erinnert sie sich an nichts mehr. Wir nehmen an, dass diese Frau die Tat begangen hat.«

»Eine Killerin!«, murmelte Monika Weber. »Das riecht nach organisiertem Verbrechen.«

»Davon gehen wir aus. Es war sicher keine Zufallstat. Die Fahndung nach der Verdächtigen ist bisher leider ergebnislos verlaufen.«

Das überraschte niemanden im Zimmer des LKA. Professionelle Killer hinterließen kaum Spuren, wenn sie etwas taugten.

»O. K.«, sagte Monika Weber gedehnt, »und weiter?«

»Im Schließfach des Hotels ist ein Handy sichergestellt worden, welches das deutsche Ehepaar dort deponiert hat, obwohl es auch einen Safe im Zimmer gibt.«

Dieter Vogel grinste breit. Bevor jemand eine Frage stellen konnte, sprach Makarov weiter:

»Wir haben es bereits ausgewertet. Neben privaten Anrufen nach Deutschland ist zuletzt, vierzig Minuten vor der Tat, ein Anschluss in Sankt Petersburg angerufen worden. Dort befindet sich allerdings nur ein Festnetzapparat, der die Anrufe auf eine deutsche Prepaid-Nummer umleitet. Wir können daher den Besitzer dieser Nummer nicht ausfindig machen.«

Als er schwieg, herrschte eine Weile Totenstille. Die Kommissare vom LKA sahen sich an, als erwarteten sie jeden Augenblick, Makarov ließe nach dieser Enthüllung die ganz große Bombe platzen. Falls die Anrufliste des Handys eine Nummer enthielte, welche die falschen Meiers mit dem LKA in Verbindung brachte, wäre die Katastrophe perfekt. Alle warteten mit angehaltenem Atem, doch Makarov sagte nur:

»Entschuldigen Sie uns einen Augenblick.«

Im Hintergrund hörte man gedämpfte Stimmen. Die auf Russisch geführte Unterhaltung wurde schnell lauter, dann schlug eine Tür zu und es kehrte Ruhe ein.

»Die sind sich nicht einig, was für Bären sie uns noch aufbinden wollen«, brummte Vogel, die Hand auf dem Mikrofon.

Monika Weber entspannte sich allmählich. Die Bombe war nicht detoniert. Das gab Hoffnung. Sie zuckte dennoch kaum merklich zusammen, als Makarovs Stimme wieder aus dem Lautsprecher sprach. Sie hatte sich verändert. Er hörte sich verärgert an.

»Es gibt eine Änderung«, sagte er ohne weitere Erklärung. »Unser Vorgesetzter, Generalmajor Petrov, hat Ihnen etwas zu sagen.«

Perplex hörten sie Petrov zu. Er sprach ein miserables Englisch, aber was er sagte, hatte es in sich.

»Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass das deutsche Ehepaar Meier Opfer eines Konflikts zwischen rivalisierenden Banden des organisierten Verbrechens geworden ist. Das Ehepaar stand offenbar mit einem Pädophilen-Ring in Kontakt, der mit dem Geschäft des Tambowskaja Kartells konkurriert, das zurzeit den Menschenhandel zu kontrollieren versucht. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Da der Fall das landesweit organisierte Verbrechen betrifft, mussten wir ihn an die zuständige Behörde abgeben.«

»Was heißt zuständige Behörde?«, brauste Monika Weber auf. »Ich denke, Sie sind zuständig.«

»Die Angelegenheit ist von nationaler Bedeutung. Zuständig ist jetzt das Innenministerium. Für weitere Fragen wenden Sie sich bitte direkt ans Ministerium.«

Damit endete die Telefonkonferenz abrupt.

»Nicht zu fassen – hält der sich für den verdammten Putin oder was?«, rief Vogel aus.

Monika Weber schüttelte nur stumm den Kopf, während Chris sich die Reaktion von Staatsanwältin Winter ausmalte. Die Begeisterung über den in Rekordzeit und ohne außenpolitische Komplikationen abgeschlossenen Fall würde ihr womöglich gar ein Lächeln abringen. Sie selbst sah allerdings keinen Grund zu übereilter Freude, so gerne sie den Fall lieber heute als morgen zu den Akten gelegt hätte. Das unbestimmte Gefühl beschlich sie, hinter dem Horizont erwarte sie ein Unwetter, auf das sie in keiner Weise vorbereitet war.

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