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Kapitel 2

Berlin

Hauptkommissarin Monika Weber druckte die wenigen Seiten Information über Lukas Matulis und seine Galerie aus und meldete sich vom System ab. 14 Uhr war vorbei, ihr Partner Dieter Vogel immer noch nicht zurück vom Mittagessen, das normalerweise aus Currywurst am Platz der Luftbrücke oder Cheeseburger to go beim Burger King bestand, damit die Ernährung nicht allzu einseitig ausfiel.

»Hat jemand Dieter gesehen?«, fragte sie in die Runde.

»Raucht Parkplatz«, antwortete der alte Postbote im Telegrammstil, der zufällig am Fenster stand.

»Seit wann raucht der wieder?«

Mindestens ein Jahr lang hatte er zu ihrer Verblüffung keine Zigarette mehr angerührt. So viel Selbstdisziplin passte einfach nicht zu ihrem Partner. Sie ging ans Fenster. Es war tatsächlich Dieter Vogel, der, Zigarette im Mund, einen Parkplatz besetzte und in einen heftigen, pantomimischen Streit mit dem Fahrer des schwarzen Audi verwickelt schien, der partout auf dem letzten freien Platz parken wollte. Sie sah eine Weile kopfschüttelnd zu. Der Streit eskalierte. Dieter Vogel stapfte gesenkten Hauptes auf den Wagen zu wie der Stier aufs rote Tuch und versetzte der Stoßstange einen kräftigen Tritt. Der Fahrer sprang aus dem Auto. Sie schrien sich an, dann wandte ihr Partner sich unvermittelt ab.

»Was hat er vor?«, fragte der Postbote neben ihr, der das Schauspiel zusammen mit fünf weiteren Kollegen gespannt verfolgte. Dieter Vogel beantwortete die Frage, indem er den nahen Mülleimer aus der Halterung riss, in hochhob und damit auf den Fahrer losging.

»Der ist total übergeschnappt«, murmelte sie erschrocken.

Unter dem Gelächter der Kollegen rannte sie zum Lift. Unten angekommen sah sie ihren Partner mitten auf dem Parkplatz auf dem Eimer sitzen. Er zündete sich die nächste Zigarette an und schien wieder mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Der Audi war verschwunden.

»Dem hast du‘s aber gezeigt«, sagte sie.

Er drehte sich langsam zu ihr um, sah sie an, als nähme er Maß für den nächsten Angriff, bevor er sich entspannte und brummte:

»Warum kann mich dieses Arschloch nicht einfach in Ruhe lassen?«

»Vielleicht weil du auf dem letzten freien Platz sitzt?«

Nach zwei langen Zügen, begleitet von trockenem Husten, schnippte er die Zigarette angewidert weg, klaubte eine neue aus der Packung und versuchte, sie anzuzünden. Die Hand mit dem Streichholz zitterte. Zudem blies der Wind in die falsche Richtung. Schließlich warf er das Streichholzbriefchen mit einem undeutlichen Fluch der Kippe hinterher. Die jungfräuliche Zigarette im Mund, hockte er auf den Mülleimer und starrte stumm ins Leere. Sie spürte, wie aufgewühlt er war, was sicher nicht am Audi-Fahrer lag. Daher verzichtete sie auf ironische Kommentare und fragte nur:

»Willst du darüber reden?«

Der gequälte Blick war nicht gespielt, als er antwortete:

»Hast du dir mal überlegt, was für einen beschissenen Job wir eigentlich machen?«

Er verstand es nicht als Klischee-Frage wie im Fernsehkrimi. Er erwartete eine ernsthafte Antwort, die ihr gerade nicht einfiel. Sie konnte nur vermuten, woher sein Zustand rührte.

»Du warst bei Marion, nicht wahr?«

Marion, die junge Witwe des ermordeten Kollegen Malte Friedmann. Dieter war seit langer Zeit eng mit der Familie Friedmann befreundet, der Sohn Patrick sein Patenkind.

»Es ist – unfassbar – ich kann dich verstehen«, fügte sie stockend hinzu. »Der arme Kleine …«

»Patrick weiß es noch nicht!«, unterbrach er heftig. »Wie erklärst du einem Fünfjährigen, dass eine Psychopathin seinen Vater abknallt wie ein krankes Schwein, nur weil er seinen verschissenen Job macht? Marion kann es jedenfalls nicht – ich auch nicht.«

Auch darauf wusste sie keine Antwort, außer dem eiskalt klingenden Hinweis auf »professionelle Hilfe«, was er mit einem verächtlichen Lacher quittierte. Sie wechselte abrupt das Thema:

»Wir müssen los: Matulis.«

»Noch so ein sinnloser Einsatz«, knurrte er.

Immerhin erhob er sich, versetzte dem Eimer einen Fußtritt, dass er an den Rand des Parkplatzes rollte, und folgte ihr zum Dienstwagen.

»Was versprichst du dir von dieser Übung?«, fragte er unterwegs.

»Darum geht es nicht. Wir müssen Matulis nochmals zur Waffe befragen. Das weißt du.«

Er fuhr schweigend weiter. An der nächsten roten Ampel bekräftigte er seinen Vorbehalt gegen Lukas Matulis. Er wandte sich ihr zu und sagte:

»Ich traue diesem Typen nicht.«

»Du traust keinem Schlipsträger.«

Die Ampel wechselte auf Grün. Der Hintermann hupte. Dieter Vogel blickte sich um und dachte nicht daran, weiterzufahren.

»Suchst du einen Mülleimer?«

Es war ihr einfach so entschlüpft. Zu ihrer Verblüffung brach er in Gelächter aus und fragte:

»Hast du einen gesehen?«

Dann trat er aufs Gas. Die Ampel stand auf Orange und wechselte auf Rot, bevor er sie hinter sich gelassen hatte. Der Hintermann musste eine Runde länger warten. Ihr Partner grinste zufrieden.

»Na, wie habe ich das gemacht?«

»Du bist unschlagbar«, versicherte sie trocken, da er wieder im Normalmodus operierte. »Woher stammt eigentlich deine besondere Abneigung gegen Lukas Matulis?«

Er lachte verächtlich. »Ich bitte dich! Ein Typ, der sogar zu Hause in seiner Festung in Charlottenburg in Anzug, weißem Hemd und blauem Schlips herumläuft – mit dem stimmt doch etwas nicht.«

»Da ist er wieder, der Schlips«, lachte sie. »Matulis ist ein litauischer Geschäftsmann mit einem Tick. Das ist alles.«

Er schüttelte entschieden den Kopf. »Da steckt mehr dahinter, garantiert. Du wirst es erkennen, wenn du ihm ins Gesicht schaust. Er fixiert dich mit eiskalten Augen aus der Visage eines Kickboxers oder Stasioffiziers. Das ist nicht das Gesicht des biederen Geschäftsmannes, als den er sich ausgibt.«

»Dann ist er eben ein knallharter litauischer Geschäftsmann mit einem Tick. Davon gibt‘s sicher viele.«

»Du wirst schon sehen.«

Das Haus am Oranienburger Tor besaß zwar einen kleinen Kundenparkplatz, doch der war an diesem Nachmittag besetzt durch Nobelkarossen, die wohl zum Preis der Kunst in der Galerie passten. Bei einer schwarzen Limousine war das Fenster auf der Fahrerseite heruntergelassen. Eine Hand mit brennender Zigarette hing heraus. Die Herrschaften leisteten sich einen Chauffeur. Vor dem Haupteingang war ein roter Teppich ausgerollt. Schlag auf Schlag trafen weitere Limousinen ein, meist mit getönten Scheiben, die keinen Blick ins Innere gestatteten. Die Wagen spien festlich gekleidete Damen und Herren im Smoking aus und entfernten sich rasch wieder.

»Was zum Teufel ist hier los?«, brummte Dieter Vogel, während er auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Parkverbot eine Lücke suchte. »Das ist ein Aufmarsch wie bei einer verdammten Oper.«

In Zeitungen und im Netz hatte sie nichts von einer solchen Veranstaltung gelesen. Es musste wohl ein sehr exklusiver Event sein.

»Geschlossene Gesellschaft«, beschied denn auch der Sicherheits-Bulle mit dem Knopf im Ohr am Eingang.

Er gab den Tarif durch, bevor sie ein Wort gesagt hatten. Kleidung und Aussehen genügten als Filter. Sie gehörten nicht dazu. Das sah ein Blinder. Dieter Vogel schenkte dem Zerberus ein schiefes Grinsen und sagte:

»Wenn Sie so weitermachen, könnten Sie schneller recht bekommen, als Ihnen lieb ist, junger Mann.«

Bevor der andere seine Muskeln in Bewegung setzte, beruhigte er ihn mit dem Dienstausweis.

»Oberkommissar Dieter Vogel vom LKA. Das ist meine Kollegin, Hauptkommissarin Monika Weber. Wir müssen den Chef sprechen, den Herrn Lukas Matulis.«

Der Türsteher im Maßanzug überlegte nur kurz, bevor er leise ins verborgene Mikro sprach. Eine Sekunde später erschien ein anderer Maßanzug, wohl der Security-Chef, um mit bedauerndem Lächeln zu verkünden:

»Tut mir leid, meine Herrschaften. Sie kommen zur falschen Zeit. Herr Matulis ist auf Geschäftsreise.«

»Wann kommt der denn zurück?«, fragte sie.

Der Anzug zuckte mit den Achseln. »Ich fürchte, da müsste ich die Geschäftsführerin fragen. Sie ist aber gerade sehr beschäftigt, wie Sie sehen.«

»Die Mühe können Sie sich sparen. Wir sprechen gerne selbst mit der Geschäftsführerin. Wie heißt die Dame denn?«

»Roze Matulis. Sie ist die Tochter von Herrn Matulis.«

Roze Matulis mochte um die dreißig sein, kleidete sich wie zwanzig und empfing sie sichtlich nervös. Sie geleitete sie ins Büro im Erdgeschoss, bemüht, möglichst wenig Aufsehen bei der feinen Gesellschaft zu erregen.

»Wir führen gerade die sehr wichtige Sommer-Auktion zugunsten unserer Stiftung durch. Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn sie sich kurzfassen könnten.«

Monika Weber hatte kein Problem damit. Ihr Partner schon gar nicht. Sich kurz zu fassen war seine Spezialität.

»Wo ist ihr Vater, Lukas Matulis?«, fragte er.

»Auf Geschäftsreise in Holland. Hat man Ihnen das nicht ausgerichtet?«

»Seit wann, und wann kehrt er zurück?«

»Vorgestern ist er nach Den Haag geflogen. Wir erwarten ihn am Wochenende zurück. Was wollen Sie von meinem Vater? Worum geht es?«

Monika Weber schaltete sich ein.

»Es geht um den Einbruch vor einem Jahr. Sind Sie darüber im Bilde?«

Roze nickte, abwartend.

»Damals wurde ein Revolver gestohlen, der Ihrem Vater gehört hat. Wir vermuten, die Waffe sei wieder aufgetaucht. Können Sie sich an den Revolver erinnern?«

»Ja sicher. Er lag immer hier im Schreibtisch – für den Notfall.«

»Ich möchte Ihnen ein Foto zeigen.«

Während sie das Foto der Tatwaffe von Sankt Petersburg in der Tasche suchte, fragte ihr Partner nach der Toilette. Der älteste Trick, sich in einem Haus umzusehen ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Roze überlegte kurz, dann schickte sie den unliebsamen Besucher ein Stockwerk höher, weg von den feinen Herrschaften.

Dieter Vogel dachte nicht daran, den Weg über die Hintertreppe zu benutzen. Beim Betreten der Galerie war ihm im hinteren Teil des lang gestreckten Raums ein Balkon mit Balustrade aufgefallen, von dem aus man die Gäste, die an der Auktion teilnahmen, unauffällig beobachten konnte. Er war allerdings nur über eine leicht einsehbare, frei schwebende Treppe zu erreichen. In unregelmäßigen Abständen stiegen einzelne, meist ältere Herren hinauf und verschwanden im Dunkel des Flurs der oberen Etage. Der Weg zu den feinen Toiletten? Er schlenderte an Ikonen und vergoldeten Holzskulpturen vorbei, die niemand beachtete und eigentlich in ein abgelegenes russisches Kloster gehörten. An den Wänden hingen moderne, abstrakte Malereien, die seiner Meinung nach gar nirgends hingehörten, nicht wenige davon mit einem diskreten roten Punkt gekennzeichnet: verkauft. Die Gäste interessierten sich auch nicht für die Moderne. Er fragte sich, was hier wohl versteigert würde, oder ging es am Ende nur ums Geld, nicht um Kunst?

Der Blick vom Balkon schaffte Klarheit. Hier wurden keine teuren Kunstwerke versteigert, sondern niedliche Kinderzeichnungen. Ein Banner an der Wand hinter dem Pult des Auktionators präsentierte unter dem Logo der Stiftung deren Leitmotiv: Wir helfen bedürftigen Kindern. Nobel, dachte er, fast ein wenig enttäuscht. Die Zeichnungen, oft nicht viel mehr als einige Strichmännchen mit einer gelben Sonne, gingen für bis zu fünfhundert Euro über den Tisch. Die Herrschaften zeigten sich großzügig zum Wohl der Kinder, ein eklatanter Widerspruch zu seinem gefestigten Vorurteil. Außer der Tatsache, dass da offenbar viel Geld zusammenkam, gab es nichts zu entdecken.

Nach ein paar Minuten auf dem Beobachtungsposten fiel ihm auf, dass keiner der älteren Herren aus der oberen Etage zurückkehrte. Der nächste Herr kam die Treppe herauf. Obwohl er das Gesicht nur für einen Sekundenbruchteil sah, glaubte er, ihn zu erkennen. Er erinnerte sich nicht an den Namen, war sich aber sicher, den Herrn in letzter Zeit öfter im Fernsehen gesehen zu haben, in den Nachrichten, wo er sein Saubermann-Image pflegte. Der Mann arbeitete im Innen- oder Außenministerium, war aber kein Minister. Wenigstens so weit kannte er sich in der hohen Politik im Regierungsviertel aus.

Er wartete, bis der andere im Flur verschwand, dann folgte er ihm. Der Gang führte an einer Reihe geschlossener Zimmer vorbei, erstreckte sich über die ganze Länge des Hauses und endete vermutlich an der Hintertreppe. Das hohe Tier aus dem Regierungsviertel war nirgends zu sehen. Leise fluchend überlegte er sich, hinter welcher Tür der Mann wohl verschwunden war. Es musste eine der Ersten sein. Am wahrscheinlichsten schien ihm die Tür neben dem Bild mit den Dollarzeichen. Dort stand eine antike Kommode, auf der einige Herren ihre halb leeren Sektgläser abgestellt hatten. Er ging auf die mit Zahlenschloss gesicherte Tür zu, entschlossen, anzuklopfen. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Der angegraute Herr trat aus dem Zimmer gegenüber, das offenbar tatsächlich Kundentoiletten enthielt. Dieter Vogel starrte ihm wohl eine Sekunde zu lang ins Gesicht, denn der Schlipsträger zeigte mit finsterer Miene auf die Kommode und herrschte ihn an:

»Worauf warten Sie, junger Mann? Räumen Sie das ab, oder brauchen Sie eine schriftliche Einladung?«

Ohne ihn weiter zu beachten, klopfte er an die Tür neben der Kommode: einmal lang, zweimal kurz, einmal lang. Der Sesam öffnete sich. Er verschwand im Zimmer. Die Tür schlug zu.

Dieter Vogel erwachte aus seiner Starre. Allzu gern hätte er einen Blick ins geheimnisvolle Zimmer geworfen. Die primitive Methode, einzutreten und nach der Toilette zu fragen, funktionierte nicht mehr. Sollte er einfach verschwinden? Was hinter dieser Tür verhandelt wurde, ging ihn nichts an. Es hatte nichts mit seinem Fall zu tun, also Abgang. Das professionelle Misstrauen war stärker. Vorsichtig drückte er die Klinke der Tür zum Nebenzimmer hinunter und stürzte beinahe hinein. Bis auf einen staubigen Schrank befand sich nichts im Raum, der offenbar schon lang nicht mehr benutzt wurde. Der Schrank interessierte ihn nicht, wohl aber das schlecht schließende Fenster, durch das die Geräusche des Nebenzimmers hereindrangen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ging ans Fenster und öffnete es. Hinauszulehnen und einen vorsichtigen Blick durchs offene Fenster des Nebenzimmers zu werfen, erwies sich als einfache Übung.

Das hohe Tier verhandelte mit einer älteren Dame, die er sich eher im Laden einer Tankstelle als in der vornehmen Galerie Matulis vorstellen konnte. Im Hintergrund neben der Tür stand ein weiterer Maßanzug mit Knopf im Ohr. Alle Alarmglocken des Kommissars schrillten gleichzeitig, ohne dass er sich erklären konnte, weshalb. Normale Geschäfte wurden hier nicht abgewickelt, da hätte er so ziemlich alles darauf gewettet, mit Ausnahme der Mütze mit Rummenigges Autogramm vielleicht.

Der Handel ging flott vonstatten. Das hohe Tier zückte die Brieftasche, legte zwei Fünfhunderteuroscheine auf den Tisch der seltsamen Kassiererin und erhielt dafür einen niedlichen Teddy mit goldenem Schleifchen. Ohne ein weiteres Wort verließ der Herr mit dem Teddy den Raum und zog sich wohl über die Hintertreppe zurück. Dieter Vogel schüttelte seufzend den Kopf. Es gab auch in seiner Stadt noch Dinge, die er nicht verstand, und damit meinte er nicht den Flughafen.

Seine Partnerin saß bereits im Auto, als er das Haus verließ.

»Probleme beim Wasser lösen?«, fragte sie gereizt.

Er berichtete haarklein, was er beobachtet hatte, worauf sie nur mit den Achseln zuckte.

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

»Das kann doch alles Mögliche bedeuten – und was hat der Teddy mit unserem Fall zu tun?«

Er sparte sich die Antwort, steckte den Zündschlüssel ein und fuhr ab.

»Der Strafzettel steckt im Handschuhfach«, sagte sie.

Er war nicht der einzige. Einmal im Monat räumte er das Fach und warf die Zettel in den Müll.

»Hat deine Unterhaltung mit Madame Matulis wenigstens etwas mit dem Fall zu tun?«, fragte er schnippisch.

»Sie ist sich nicht ganz sicher, ob es dieselbe Waffe ist. Jedenfalls bleibt sie bei der Geschichte, die wir von Lukas Matulis kennen. Damals wurden sechs wertvolle Ikonen gestohlen, was die Versicherung eine Stange Geld gekostet haben muss.«

»Ich weiß, aber er besitzt ja noch genug von dem Zeugs, wie ich gesehen habe.«

Nachdem sie eine Weile schweigend weitergefahren waren, nahm er einen neuen Anlauf:

»In dieser Galerie stinkt etwas gewaltig. Wir sollten irgendwie an Matulis dranbleiben.«

»Wie denn? Was glaubst du, würde die Staatsanwaltschaft dazu sagen oder unser lieber Chef? Willst du unbedingt Streife fahren?«

Sie hatte ja recht – aber tausend Euro für einen kleinen Teddybären?

Sankt Petersburg, Russland

Vladimir Lukov trat ungeduldig von einem Fuß auf den andern. Die Warteschlange vor der Kasse der einzigen vernünftigen Stolowaja im weiten Umkreis wuchs schneller als er zählen konnte, dem Internet sei Dank. Die ganze Bande der Touristen schien sich in diesem einen Lokal mit hundert ›Likes‹ zu versammeln, um sich vor einer weiteren langen Nacht den Bauch für ein paar Rubel vollzuschlagen. Er dachte fast ein wenig wehmütig an die Zeit des Eisernen Vorhangs zurück, die er nur vom Hörensagen kannte. Damals gab es wenigstens keine Touristen – sonst auch nichts, aber das war eine andere Geschichte.

Die Blondine vor ihm klaubte umständlich ihr letztes Kleingeld zusammen für den Salat, der schon zu welken begann. Wozu sich ärgern? Sein Schaschlik war bereits auf dem halben Weg zur Kasse kalt geworden. Selbst das Glas mit dem Tschai fühlte sich nur noch handwarm an. Eine warme Mahlzeit innerhalb von 24 Stunden, das war eigentlich das Ziel, vor allem eine Mahlzeit, zu der man die Zähne benötigte. Ihn schauderte beim Gedanken an die faden Suppen, von denen sich seine kranke Mutter zu Hause ernährte. Sie lebte nur noch von Suppe und Papirossi, den unsäglichen russischen Zigaretten mit dem Kartonröhrchen anstelle eines anständigen Filters. Für Mamotschka spielte das leider keine Rolle mehr. Ihre Lunge musste längst schwarz sein wie eine Kohlengrube, und jetzt war auch noch Krebs im Endstadium diagnostiziert worden. Sie hustete und rauchte und fluchte nur noch in den dreißig Quadratmetern im Plattenbau, schlürfte hin und wieder etwas Suppe, die auch nach Papirossi stank, und trank Wodka, wenn sie Durst bekam. In Situationen wie dieser erinnerte er sich gerne an die trostlosen Zustände zu Hause. Das wirkte wie eine rosa Brille, durch die selbst eine hoffnungslos überfüllte Stolowaja mit kaltem Schaschlik ihren Charme versprühte.

Das Fleisch am Spieß beschäftigte seine Zähne länger als geplant. Er musste sich beeilen, um die Apotheke noch vor Ladenschluss zu erreichen. Die starken Schmerzmittel bekam er nur dort, auf Rezept und dank dem sanften Druck seines Ersatzvaters Sergei Churkin. Die Familie Churkin, für die seine Mutter jahrelang geputzt hatte, bis es nicht mehr ging, hatte ihn wie einen Sohn aufgenommen, nicht zuletzt als Kameraden für den eigenen Sohn Andrei, mit dem niemand sonst spielen wollte. Vater Churkin war ein einflussreicher und daher gefürchteter Apparatschik mit Verbindungen in höchste Regierungskreise. Das machte ihn in den Augen vieler Leute äußerst verdächtig. Man mied die Familie. Dennoch florierte sein Handelsgeschäft mit Büros an bester Lage am Petrogradskaya Damm. Jedenfalls schwamm Churkin im Geld, hatte seine Ausbildung bezahlt, kam jetzt für die Kosten der teuren Medikamente auf und war für ihn der beste Vater, den er je gehabt hatte – auch der einzige.

Die Apothekerin war dabei, das Geschäft abzuschließen, als er auftauchte. Sie gab ihm die drei Schachteln im Beutel mit dem üblichen Seufzer:

»Ihre Mutter gehört in ein Krankenhaus.«

»Ich weiß, aber auf diesem Ohr ist sie taub.«

Seine übliche Antwort. Mamotschka war noch nicht alt, viel zu jung zum Sterben, aber keine zehn Pferde würden sie in ein Krankenhaus bringen oder überhaupt aus den dreißig Quadratmetern im Plattenbau vertreiben. Sie hätte längst komfortabel und umsonst in Churkins Datscha wohnen können, aber sie hörte gar nicht hin, wenn er davon anfing. Sie hauste lieber in ihrem Loch, umgeben von den wenigen Freunden, die ihr geblieben waren.

Die Metro fuhr nicht einmal in die Nähe der Siedlung aus der Sowjetzeit. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit gefühlten hundert anderen bedauernswerten Passagieren in den Bus pferchen zu lassen. In Sekundenschnelle schwamm er im eigenen Schweiß. Möglicherweise war es der Schweiß der anderen, so genau konnte man das nicht unterscheiden. Es war Hochsommer in Sankt Petersburg und in diesen verdammten Dingern herrschte drinnen wie draußen stets dieselbe Temperatur, als hätte noch niemand Klimaanlagen erfunden. Er hatte vergessen oder verdrängt, wie schlimm die Busfahrt zur Siedlung in der heißen Jahreszeit sein konnte, denn seit er volljährig war, fuhr er mit dem alten Lada zur Arbeit, den sein Freund Andrei Churkin gegen die Mercedes S-Klasse eingetauscht hatte. Leider war das Vehikel nun an den Spätfolgen von Andreis Rennen im holprigen Gelände um die Datscha krepiert. Er musste sich dringend um Ersatz kümmern.

Das Hemd klebte am Körper, nasse Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht wie nach einem Bad in der Newa, als er in der Siedlung ankam. Lautlos wie ein Schatten huschte er an der Tür der Nachbarin vorbei. Er hatte die Wohnung schon fast erreicht, als er den gefürchteten Klick hinter seinem Rücken hörte. Nachbarin Milena war wie stets auf der Lauer und stand eine Sekunde später bei ihm.

»Sie hat heute wieder gar nichts gegessen, Wowotschka«, sagte sie vorwurfsvoll, als hätte er die Suppe verweigert.

Milena und seine Mutter waren die einzigen Menschen, die ihn so nennen durften, schließlich kannten sie ihn seit der Geburt.

»So geht es nicht weiter, mein Junge. Sie muss ins Krankenhaus.«

»Du weißt ja, wie sie reagiert. Sie ist stur wie eine Achtzigjährige.«

»Wem sagst du das, aber so wird sie sterben.«

Er war es überdrüssig, darüber zu reden, solang er doch nichts ändern konnte.

»Sterben müssen wir alle«, antwortete er unwirsch und betrat die Wohnung.

»Bist du das, Wowotschka?«, rief die Mutter, begleitet von trockenem Husten.

Ihrer schleppenden Ausdrucksweise entnahm er, dass die gute Marinka Lukova ziemlich durstig gewesen sein musste. Auch dagegen war er machtlos. Das gute Salär ermöglichte ihm wenigstens, dafür zu sorgen, dass sie anständigen Wodka soff. Statt zu antworten, eilte er ans Fenster, um den abgestandenen Rauch hinauszulassen.

»Willst du mich umbringen?«

Sie schaltete den Ton des Fernsehers aus und betrachtete ihn mit wässrigen Augen.

»Komm her, mein Junge, gib deiner Mamotschka ein Küsschen.«

Er tat ihr den Gefallen, löste sich aber sofort wieder aus ihrer Umarmung.

»Ich bin doch kein kleiner Junge mehr«, sagte er ärgerlich.

»Wo warst du denn die ganze Zeit? Und wie du aussiehst! Ganz verschwitzt.«

»Danke für den Hinweis. Ich war arbeiten. Dein Wowotschka hat einen Job, schon vergessen? Manchmal kann man den Computer nicht einfach um fünf abschalten in meinem Beruf. Das würde Sergei gar nicht gefallen.«

»Ach, Papa Churkin«, seufzte sie und führte die Flasche zum Mund, »ein guter Mann. Weißt du, was er für dich getan hat? Das werde ich ihm nie vergessen.«

Natürlich wusste er es. Er war ja selbst dabei gewesen, sozusagen. Die Antwort sparte er sich. Sie wollte die Geschichte sowieso ungefähr jeden Tag einmal erzählen.

»Weißt du«, begann sie, um sogleich eine Pause einzulegen und die nächste Papirossi anzuzünden. »Weißt du, als ich damals deinen Marschbefehl für Tschetschenien gesehen habe, ist mein Herz stehengeblieben. Ich habe sofort Sergei angerufen, und weißt du, was er gesagt hat?«

Er versuchte, am Fenster etwas frische Luft aufzuschnappen und wartete.

»Keine Sekunde hat er gezögert, der gute Papa Churkin, nicht eine Sekunde. Sein Andrei ist nämlich auch eingezogen worden. Er hat mir nur gesagt: Machen Sie sich keine Sorgen, Marinka. Ich kümmere mich darum.« Sie nahm einen tiefen Zug, bevor sie versonnen lächelnd fortfuhr: »Von da an haben wir kein Wort mehr von der Armiya gehört. Stimmt‘s, Wowotschka? Es hat noch Suppe auf dem Herd, brauchst sie nur zu wärmen.«

»Vielen Dank.«

Sie schaltete den Ton wieder ein. Gleichzeitig klingelte sein Handy. Andrei Churkin war am Apparat.

»Wir müssen sofort in den Bunker.«

Er war der Chef, dem man besser nicht widersprach. Dennoch wagte er, wegen des Horrors im Bus einzuwenden:

»Jetzt noch? Muss das sein?«

»Bist du zu Hause?«

»Ja.«

»Ich hole dich ab. Gib mir zwanzig Minuten.«

Der futuristische Bau aus Metall und Glas am Petrogradskaya Damm strahlte nachts noch mehr selbstzufriedene Zuversicht aus als am Tag. Das halbe Viertel darum herum gehörte der Churkin Handelsgesellschaft. Obwohl er nun schon fast fünf Jahre als Programmierer für Papa Churkin arbeitete, hatte er nur eine vage Vorstellung davon, womit der eigentlich sein Geld verdiente. Sicher, der Handel mit hochwertigen Maschinen und Ersatzteilen vor allem aus Westeuropa war ein einträgliches Geschäft, doch wurde er den Verdacht nicht los, die ganz große Kohle stamme von den geheimen Regierungsaufträgen, die sie im Bunker im achten Stock, unmittelbar unter der Chefetage, ausführten. Mit Handel hatte ihre Arbeit nicht viel zu tun. Eher mit Spionage, oder wie es politisch korrekt heißt: IT Security. Sie produzierten Sicherheitssoftware und veranstalteten Hackerangriffe, um die Sicherheit der Systeme des weitverzweigten Churkin Imperiums, von Regierungsstellen und der Armee zu überprüfen. Bei jedem Hit rollten Köpfe und flossen fette Prämien. Er konnte sich nicht beklagen.

Andrei hatte während der ganzen Fahrt geschwiegen, was sonst kaum je der Fall war. Sichtlich nervös sprang er aus dem Wagen, kaum stand er auf dem Parkplatz in der Tiefgarage, der mit goldener Schrift für ihn reserviert war.

»Willst du mir nicht endlich verraten, was Sache ist?«

»Sitzung mit Gott«, antwortete er nur, hielt seine Karte an den Sensor des Lifts und gab die PIN ein.

Eine Sitzung mit Sergei Churkin persönlich. Kein Wunder war sein Sohn nervös. Der alte Churkin verlangte viel und konnte sehr ungehalten werden, wenn man ihn enttäuschte. Das galt auch für Familienmitglieder. Im Lift gab es keinen Hinweis darauf, dass die Etagen acht und neun überhaupt existierten, obwohl der Zugang nur über den Aufzug möglich war. Panzertüren versperrten die Sicherheitstreppen. Türen, die sich nur im Katastrophenfall automatisch öffneten – wurde zumindest behauptet. Die Bezeichnung Bunker für ihr Büro lag also auf der Hand.

»Na endlich!«, begrüßte sie Fisik, die Physikerin, ungehalten. »Ich wollte schon wieder abhauen. Was gibt es denn so Wichtiges?«

»Abwarten«, murmelte Andrei und gab ihr einen Kuss, den sie nur flüchtig erwiderte.

»Vielleicht klärt uns das Visel auf, wenn der Lider schweigt«, brummte Vanya, der ältere der Brüder Melnikov, den alle nur Ekspert nannten, weil er jeden Fehler in jedem Programm entdeckte.

Vladimir fand seinen Spitznamen Visel ziemlich daneben. So flink wie ein Wiesel war er gar nicht oder tickten die andern einfach zu langsam? Andrei hingegen liebte seinen Titel Lider, der Leader. Er war der Boss, und das musste auch der Spitzname widerspiegeln.

Normalerweise herrschte eine gelöste Atmosphäre in Bunker, so hart sie auch arbeiteten. Andrei, der am wenigsten von Hard- und Software verstand, sorgte gerne mit einem lockeren Spruch oder anzüglichen Witzen für Gelächter. Nicht an diesem Abend. Er saß an seinem Pult und starrte abwesend mit eingezogenen Schultern auf sein Smartphone, ängstlich beobachtet von Fedor, dem jüngeren der Brüder Melnikov. Fedor, der Architektor, war das genaue Gegenteil seines extravertierten Bruders Vanya. Er war der stille Konstrukteur, hörte gut zu und entwarf die raffinierteste Systemarchitektur aus dem Nichts, während Vanya lauthals jede Schwachstelle kommentierte und die Software gnadenlos in ihre Bestandteile zerlegte, bis kein unerklärter Befehl und keine dubiose Konstante mehr übrig blieben.

Fisik rückte näher zu ihm, so nah, bis sie ihm ins Ohr flüstern konnte:

»Haben wir etwas falsch gemacht?«

Er zuckte die Achseln, rückte etwas ab. Sie rückte nach. Andrei schien es nicht zu kümmern. Drei kurze, durchdringende Summtöne und der Blinker über dem Eingang kündeten Besuch an.

»Sie sind da!«, rief Lider Andrei wie erlöst und sprang auf.

»Sie?«, flüsterte Fisik ihm mit großen Augen ins Ohr.

Sergei Churkin oder Gott, wie ihn sein Sohn nannte, trat ein, gefolgt von einem Unbekannten. Gott grüßte freundlich und stellte dem Unbekannten seine Elitetruppe mit sichtlichem Stolz vor. Der hörte sich alles mit unbeweglicher Miene an. Trotz der Hitze draußen trug er Hut und Mantel, die er auch jetzt nicht ablegte, genauso wie seine undurchsichtige Sonnenbrille. Das verblüffendste Merkmal aber war, dass er offenbar keinen Namen besaß. Churkin stellte ihn nicht vor, und trotzdem schien sich an diesem Abend alles um den Unbekannten zu drehen.

Papa Churkin kam zur Sache und sagte:

»Mein Freund hier hat einen Auftrag für euch.«

Dann wandte er sich an seinen Begleiter:

»Wenn überhaupt jemand dein Problem lösen kann, dann meine Spezialisten.«

Der Unbekannte ignorierte die gewagte Behauptung. Zum ersten Mal öffnete er den Mund:

»Was Sie heute Abend hören und sehen, verlässt diesen Raum nicht, und diese Besprechung hat nie stattgefunden. Haben wir uns verstanden?«

Gott nickte für alle. Seine Spezialisten hüteten sich, etwas zu erwidern. Die Aufforderung des Unbekannten war sowieso überflüssig. Nichts, was im Bunker passierte oder gesprochen wurde, drang je nach draußen. Zu Vladimirs Überraschung zog der Unbekannte ein Mini-Tablet aus der Manteltasche, presste ein paar Buttons und legte es auf den nächsten Schreibtisch.

»Informationen von höchster Brisanz sind in falsche Hände geraten«, bemerkte er dazu. »Hier ist Ihr Auftrag.«

Die Truppe drängte sich um den kleinen Bildschirm wie die Touristen um Raffaels Heilige Familie in der Eremitage. Er musste den Text zweimal lesen, um zu glauben, was er sah. Die Worte blieben ihm im Halse stecken. Sie trauten sich einiges zu. An Selbstvertrauen mangelte es ihnen nicht – aber das konnte nur ein Verrückter geschrieben haben. Die Freunde schwiegen ähnlich betroffen.

»Können Sie das?«, fragte der Unbekannte, als ginge es um eine simple Datenbankabfrage.

Vladimir fragte sich wohl nicht als Einziger, ob der Kerl sie einfach vor Gott in die Pfanne hauen wollte. Das Gesicht des Mannes gab nichts her und Churkin wartete mit zusammengepressten Lippen auf eine Antwort. Fisik brach den Bann. Nüchtern stellte sie fest:

»Das geht nicht ohne Unterstützung vor Ort.«

»Die haben Sie«, antwortete der Unbekannte wie aus der Pistole geschossen.

»Was soll das heißen?«, fuhr Vladimir auf, immer noch nicht überzeugt vom Ernst der Sache.

Der Unbekannte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er antwortete sachlich und emotionslos wie sein Gesicht:

»Sagen Sie uns, was Sie vor Ort brauchen.«

»Heißt das, Sie haben lokalen Zugriff auf die Systeme?«

»Wenn Sie den Zugriff benötigen, bekommen Sie ihn.«

Was der Typ behauptete war schlicht undenkbar. Der Mann wusste nicht, was er sagte. Vladimir warf seinem Boss Andrei einen warnenden Blick zu und murmelte laut genug, damit es auch der Unbekannte hörte:

»Wir brauchen Zeit.«

Wieder kam die Antwort des Unbekannten blitzschnell, als hätte er auf den Einwand gewartet:

»Zeit ist das Einzige, was wir nicht haben. Es gibt ein Fenster von zehn Tagen. Dann ist es zu spät.«

Der Kerl musste total verrückt sein. Wahrscheinlich brauchten sie nur schon zehn Tage, um einen Zugang zum System zu finden, der sich für ihre Zwecke eignete. Die ganze Truppe begann aufgeregt zu diskutieren, bis Andrei Einhalt gebot. Vorsichtshalber wandte er sich an Gott, seinen Vater:

»Wir müssen das seriös analysieren, um endgültig zu entscheiden.«

»Bis wann?«

»Vierundzwanzig Stunden«, behauptete Andrei.

Es klang überzeugend, obwohl er wie alle andern keine Ahnung haben konnte, wie lang sie tatsächlich brauchen würden, um die Machbarkeit zu untersuchen. Der Unbekannte nickte.

»Vierundzwanzig Stunden«, bestätigte er und wandte sich zum Gehen. »Auf dem Tablet finden Sie alle notwendigen Informationen zum Auftrag.«

Gott folgte ihm zur Tür. Bevor sie den Bunker verließen, wandte er sich nochmals an seine Elitetruppe:

»Ich bin sicher, ihr werdet mich nicht enttäuschen – und denkt daran: Was immer ihr braucht, um den Auftrag meines Freundes auszuführen, ihr bekommt es.«

Vanyas Mund klappte zu.

»Was war das denn?«, fragte er ratlos, sonst nie um einen bissigen Kommentar verlegen.

Fisik schüttelte ungläubig den Kopf. »Hat der Allmächtige irgendeine Vorstellung davon, was er gerade gesagt hat? Was immer ihr braucht – wie wär‘s mit einer neuen Serverfarm, damit wir endlich anständig Bitcoins fördern können? Von mir kriegt der eine Wunschliste länger als der Newski-Prospekt.«

»Dein Einsatz in Ehren, meine Liebe, aber so wird es nicht funktionieren«, entgegnete Andrei.

»Aha, und das sagt der Hardwarespezialist.«

Vladimir versuchte, die Wogen zu glätten. Das Gezänk hinderte ihn am Denken.

»Leute, haltet mal die Klappe. Wir haben nicht viel Zeit, also machen wir uns an die Arbeit. Überlegen wir, was wir wirklich brauchen, falls wir den Auftrag annehmen.«

Andrei lachte ihn aus und versicherte:

»Die Option nicht anzunehmen gibt es nicht, Freunde. Falls ihr es nicht kapiert habt: Neinsagen bedeutet Kopf ab für den Alten, und das wollt ihr nicht erleben, glaubt mir.«

Der stille Architektor Fedor unterbrach das betroffene Schweigen, das Andreis Drohung folgte:

»Fisik hat recht. Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, die starke Verschlüsselung zu knacken, mit der wir rechnen müssen, brauchen wir die Leistung eines Supercomputers.«

»Die sollen uns den Lomonosov zur Verfügung stellen«, schlug Vladimir vor.

Der Supercomputer in Moskau war vor ein paar Jahren immerhin einer der schnellsten in Europa gewesen.

Fisik schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Die 30‘000 Xeons sind ja ganz niedlich, aber ich glaube, es gibt Besseres. Augenblick.«

Sie hüpfte an ihren Arbeitsplatz. Die Finger spielten eine Weile Rachmaninow auf der Tastatur, dann verkündete sie mit breitem Grinsen:

»Ich wusste es. T-Platforms hat das Monster in Testbetrieb genommen. Zehnfache CPU-Leistung gegenüber Lomonosov. Wir müssen nur aufspringen.«

»Das Monster ist eine Legende«, behauptete Vanya mit einer abschätzigen Handbewegung.

Vladimir kannte wie alle in der Szene die Gerüchte über den neuen, wassergekühlten Supercomputer, aber eben nur Gerüchte.

»Bist du sicher?«

»Euch ist nicht zu helfen. Überzeugt euch doch selbst.«

Sie wandte sich beleidigt ab und widmete sich ihrem Smartphone. Auf dem mittleren der drei Bildschirme, die aus dem Chaos der Platinen, Chips, Trafos und Kabel auf ihrem Pult herausragten, konnten sie es lesen. Irgendwie war es ihr gelungen, in den geheimen Bereich des Armeenetzwerks einzudringen, wo die Pläne, Protokolle und aktuellen Berichte über die Inbetriebnahme des Supercomputers der nächsten Generation verwaltet wurden. Die Spezifikationen der Anlage rechtfertigten durchaus den Spitznamen Monster. Wenn irgendeine Maschine moderne Verschlüsselungen in nützlicher Frist knacken konnte, dann wohl dieses Monster. Andrei klopfte seiner Freundin anerkennend auf die Schulter.

»Gut gemacht, Kleines. Wir werden freien Zugang zum Monster fordern. Da kann der Freund des Alten beweisen, wozu er fähig ist.«

Während der Diskussion über den Supercomputer hatte der Systemarchitekt Fedor am Whiteboard begonnen, einen Lösungsansatz zu skizzieren. Obwohl auch er die genauen Voraussetzungen und Randbedingungen für den Auftrag noch nicht kannte, folgte seine Skizze einer zwingenden Logik. Es war nicht das erste Mal, dass sie in ein gut gesichertes System eindringen mussten. Das Vorgehen war grundsätzlich bekannt. Dieser Auftrag aber verlangte viel mehr als das simple Kopieren fremder Daten oder die Lähmung des Systems durch ›denial of service‹ Attacken. Diesmal mussten sie die Kontrolle über das ganze Peripherie-Subsystem übernehmen, das die Daten verwaltete. Nur so war es möglich, den Auftrag des Unbekannten auszuführen. Fedors Skizze zeigte wie immer klar und ohne unnötigen Schnickschnack einen plausiblen Weg auf, wie sie dieses Ziel erreichen könnten. Andrei nickte zufrieden.

»Khorosho! Nehmen wir das als Arbeitshypothese.«

Er benutzte die Skizze, um die Aufgaben zuzuordnen, eine Arbeitsteilung, die sowieso aufgrund ihrer unterschiedlichen Fertigkeiten auf der Hand lag.

»Ganz zentral ist der Trojaner, der lang genug unentdeckt bleiben muss«, fuhr er fort. »Visel?«

Vladimir nickte. »Hab‘s begriffen.«

Trojaner gehörten zu seinen Spezialitäten. Er besaß eine ansehnliche Sammlung solcher Softwarekomponenten für alle möglichen Betriebssysteme. Sein Design erlaubte es ihm, die Schadsoftware mit wenigen Parametern für den jeweiligen Zweck umzuprogrammieren. Er war ein professioneller Hacker, der Software produzierte, um ein Ziel zu erreichen, kein Bastler, der zum Zeitvertreib an Spaghetti-Code herumschraubte.

Andrei kopierte die Information aus dem Tablet auf den Datenserver, damit sie arbeiten konnten. Bis spät nachts sprachen sie kaum mehr ein Wort miteinander, dann verließen zuerst die Brüder Melnikov den Bunker. Andrei folgte. Er versuchte vergeblich, seine Freundin Fisik zu überzeugen, ihn zu begleiten, um über die Angelegenheit zu schlafen. Beischlafen sollte es wohl besser heißen. Gegen Mitternacht stellte Vladimir verblüfft fest, dass er fast allein im Bunker saß. Fisik schien vor ihren Bildschirmen eingenickt zu sein. Den Kopf auf einer Kabelrolle, hing sie in ihrem Sessel und rührte sich nicht. Nur die Brust hob und senkte sich regelmäßig. Er beachtete sie nicht weiter.

Eine Minute vor der Geisterstunde zog er sein zweites Handy aus dem Geheimfach und begann zu tippen. Der auf Englisch abgefasste Text war kurz wie jede SMS an die heimliche Geliebte, die so unerreichbar weit entfernt lebte.

Ganz herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Liebste. Ich denke jeden Tag an unsere Nacht in Sankt Petersburg.

Jene Nacht im Hotel war nicht nur die schönste, sondern vor allem die einzige Erinnerung an sie, die Bezeichnung Geliebte also eine ziemlich unverschämte Übertreibung. Aber sie hatte bisher alle seine Kosenamen ohne Weiteres akzeptiert und stets rasch und warmherzig auf die etwas hölzernen Texte reagiert. Das fachte die Flamme in seinem Herzen jedes Mal aufs Neue an. Kaum war die SMS abgeschickt, stand Fisik sozusagen auf seinen Füßen. Mit einem anzüglichen Lächeln fragte sie:

»Du vögelst doch nicht etwa mit einer heimlichen Geliebten?«

Sie ahnte nicht, wie nah sie an der Wahrheit vorbeischrammte. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es lag nicht an Fisiks aufgeladener Weiblichkeit. Das Handy war sein Problem. Es musste unter allen Umständen geheim bleiben, denn es war sein einziger privater Draht nach draußen, der nicht von den Kollegen gehackt werden konnte. Das Telefon schien sie nicht weiter zu interessieren. Er steckte es mit einem stillen Seufzer ein und beglückwünschte sich einmal mehr für die weise Voraussicht, zwei identische Handys angeschafft zu haben.

»Mir kannst du es ruhig verraten«, flüsterte sie und rückte noch einige Zentimeter näher. »Ich sag‘s bestimmt nicht weiter.«

Was führte sie im Schilde? Die körperliche Nähe brachte ihn unwillkürlich ins Schwitzen. Fisik war der Hardwareguru im Bunker, nichts weiter – bisher.

»Ich denke, du solltest dich ein wenig entspannen«, sagte sie.

Ihr T-Shirt löste sich vor seinen Augen in nichts auf. Die nackten Brüste bekräftigten ihre Bemerkung auf eine Weise, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Gedanken immer noch um die ferne Geliebte kreisten. Jedenfalls fiel die Antwort seines Körpers auf den unerwarteten Striptease zu ihrer vollen Entzückung aus. Die CPU der Großhirnrinde fuhr herunter. Der Autopilot des Stammhirns übernahm die Kontrolle. Das genügte vollkommen für den Rest der Nacht. Im letzten Moment hinderte ihn der Klingelton des offiziellen Handys daran, in ihren Mund zu entladen.

»Verdammt, weißt du, wo Fisik steckt?«, fragte Andrei gereizt.

Ahnungslos, was er antworten sollte, da sein Großhirn ausgeschaltet war, ließ er sich das Telefon aus der Hand nehmen. Fisik unterbrach die Arbeit am steifen Glied und sprach ins Handy:

»Hallo?«

»Verdammt, wo steckst du? Warum ist dein Telefon ausgeschaltet?«

Andrei sprach so laut, dass sein Stammhirn jedes Wort hörte.

»Ich bin beschäftigt. Dringender Auftrag von Gott persönlich, schon vergessen?«

»Du kommst heute nicht mehr?«

»Blöde Frage, und überdies ist es schon morgen.«

Sie unterbrach die Verbindung und schaltete sein Handy vorsichtshalber aus. Ein kurzer Zungeneinsatz brachte seinen Schwanz wieder in Stellung.

»Jetzt aber richtig, mein Lieber!«, rief sie aus und saß auch schon auf seinem Schoß.

Mehr als ein paar wenige rhythmische Stöße hielt sein Stammhirn nicht aus. Das System kollabierte gleichzeitig mit dem Samenerguss. Reboot. Sie war noch nicht soweit, presste die Hinterbacken zusammen, um den lahmenden Schwellkörper im Schoß zu halten, während sie masturbierte wie auf Speed, bis sie mit einem Aufschrei über ihm zusammenklappte.

»Andrei!«, war der erste müde Gedanke, den das wiedererwachte Großhirn an sein Bewusstsein sandte.

Fisik zog sich ohne ein weiteres Wort in die Dusche zurück. Zur Not diente der Bunker auch als Wohnung. Bei ihren Projekten war die erforderliche Präsenzzeit kaum abschätzbar. Es würde nicht auffallen, wenn sie zwei hier übernachteten, falls Andrei nicht schon misstrauisch geworden war. Seine Gedanken drehten sich im Kreis oder besser: kreisten in einer Achterbahn um zwei Frauen. Computerprogramme und Betriebssysteme oder Papirossi im Plattenbau kamen nicht vor. Er fühlte sich plötzlich hundemüde. Nach kurzer Toilette legte er sich unter seinem Pult auf dem harten Betonboden schlafen. Jacke und Tasche dienten als Bettzeug.

Vanyas Stimme weckte ihn am frühen Morgen.

»Hat sich die Nacht wenigstens gelohnt?«, wollte er von Fisik wissen.

Sie stand wie aus dem Ei gepellt in frischen Kleidern vor ihrem Gemischtwarenladen, Lötpistole in der Hand.

»Ich kann mich nicht beklagen«, murmelte sie und beugte sich über ein Werkstück, das einem gewöhnlichen Netzwerkkabel von der Stange glich.

»Was bastelst du da?«

Sie versteifte sich, drehte sich langsam zu Vanya um, die Lötpistole gefährlich nah an seinem Auge.

»Ich bastle nicht«, zischte sie.

Vladimir fürchtete, sie würde zustechen und zuckte unwillkürlich zusammen.

»Ich löse Probleme«, fuhr sie weiter, »während du auf deinem Hausboot die Sau rauslässt. Du stinkst.«

Vanya grinste. Er verstand die Schelte als Bestätigung seiner rauen Männlichkeit.

»Die Nacht war wohl doch nicht so erfolgreich«, sagte er lachend und setzte sich an seinen Arbeitsplatz.

Vladimir fiel es schwer, sich auf den Programmcode zu konzentrieren. Immer wieder schweifte sein Blick verstohlen zu Fisik hinüber. Sie reagierte nicht, konzentrierte sich auf ihre Arbeit, als erinnerte sie sich nicht an die Nacht. Er verstand diese Frau nicht, wollte sie im Grunde auch nicht verstehen. Im Übrigen war er damit beschäftigt, seinen Kater mit Tee aus dem Samowar zu lindern. Er fühlte sich wie nach einer Flasche Wodka, übel und leer.

Andrei traf erst gegen Mittag ein. Er warf ein paar bedruckte Seiten auf Vanyas Schreibtisch, die dem Ekspert einen verwunderten Ausruf entlockten.

»Wer zum Teufel verwendet denn heute noch Faxe?«

»Die glorreiche russische Armee«, grinste Andrei.

»Die mit dem modernsten verdammten Supercomputer? Betreiben die den noch mit Dampf?«

Fisik hatte das Fax schon gelesen. Sie strahlte.

»Sieh dir lieber an, was da drin steht. Wir haben das Monster!«

Jubel brach aus im Bunker, in den sogar der stille Fedor einstimmte. Andrei sah auf die Uhr.

»O. K., Leute, uns bleiben noch genau sechs Stunden, um die Machbarkeit zu verifizieren. Schaffen wir das?«

Er erhielt keine Antwort, erwartete auch keine. Es gibt Fragen, die kann man erst im Nachhinein beantworten, also schenkt man sich die Antwort.

»Countdown läuft«, sagte er nur.

Von nun an zählte die große Digitaluhr an der Wand rückwärts: 6:00:00, 5:59:59, 5:59:58 … Sechs Stunden bedeuteten für einen Computer eine halbe Ewigkeit, für einen Programmierer leider nur einen Wimpernschlag. Es war die Aufgabe der Brüder Melnikov, das Monster in die Architektur ihres Systems einzubinden und die benötigten Funktionen zu testen. Sie planten, den Supercomputer als Zahlenfresser zu benutzen, um die Verschlüsselung des Zielsystems zu knacken. Für alle andern Arbeiten trauten sie nur ihren eigenen Systemen. Vladimir sah, wie die beiden schwitzten, und hätte ihnen gerne geholfen, wäre er nicht selbst in Verzug geraten mit der Arbeit am Trojaner. Es bereitete ihm immer noch Mühe, sich zu konzentrieren. Dass Fisik jetzt in aufreizender Pose vor ihm stand, machte die Sache nicht leichter.

»Was liegt an?«

Sein Blick schweifte überallhin, um nicht an den Brustwarzen haften zu bleiben, die sich unter der Bluse abzeichneten. Sie gab ihm das Werkstück, das Vanya als Bastelei interpretiert hatte.

»Das ist unser kleiner Helfer«, sagte sie. »Du brauchst ihm nur noch Leben einzuhauchen.«

Das Ding war nicht zu unterscheiden von einem Kabelende, wie es dutzendweise in jedem Netzwerkserver steckte. Es würde im Kabelgewirr keines Computerraums auffallen. Ihr Design und die Ausführung konnte er nur als genial bezeichnen. Das Gehirn des kleinen Helfers befand sich unsichtbar im Stecker. Das Stück Kabel diente nur als Tarnung. Ein Stecker ohne Kabel würde jedem Techniker sofort auffallen. Nüchtern gab sie die Spezifikationen des nicht einmal Fingernagel großen integrierten Schaltkreises bekannt:

»1 GHz ARM Prozessor, 512 MB RAM, 8 GB Flash Speicher. Du hast ein voll funktionsfähiges Linux System zur Verfügung, mein Lieber.«

»Genial«, wiederholte er laut.

Er steckte das Wunderding in einen freien Port an seinem Computer. Nach wenigen Befehlen öffnete sich ein Fenster mit der bekannten Linux Oberfläche auf seinem Hauptmonitor. Der Zwerg lebte. Er brauchte ihn nur noch für seine Zwecke zu konfigurieren.

»Khorosho«, murmelte sie.

Sie kehrte zu ihrer Werkstatt zurück, um baugleiche Chips in weitere Typen von Steckern einzubauen, wie er vermutete. Da sie nicht genau wussten, was sie vor Ort erwartete, mussten sie für alle gängigen Anschlüsse vorbereitet sein.

Nachdem auch der Tarnanzug des Trojaners zu seiner Zufriedenheit funktionierte, baute er die Schadsoftware zum ersten Mal in Fisiks Zwerg ein, ein trivialer Kopiervorgang. Etwas mehr Mühe bereitete der Probelauf. Der Zwerg musste automatisch anspringen, sobald er eingesteckt wurde. Das klappte erst nach einem Eingriff der Schöpferin, deren Hinterteil ihm dabei gefährlich nahe kam.

Der Countdown stand bei 2:47:23 als Vanya fluchend aufsprang.

»So funktioniert das nicht!«, rief er wütend.

Sein Bruder beschrieb das Problem. Die Rechenleistung des Monsters betrug nicht viel mehr als das Doppelte ihres eigenen schnellen Servers. So müssten sie hundert Jahre rechnen, um eine starke Verschlüsselung zu knacken. Andrei riss sich von seinem Computerspiel los, las den Countdown-Zähler des Todes laut ab und sagte:

»Visel, sieh mal nach.«

Seine Arbeit am Trojaner war zwar noch nicht erledigt, aber das Problem mit dem Monster hatte Priorität. Sie mussten es unter allen Umständen rasch lösen, sonst konnten sie einpacken. Die Bildschirme der Melnikovs glichen den Monitoren früher PCs: Shell Scripts mit kryptischen Befehlen ans Betriebssystem, endlose Logfiles mit den Antworten des Monsters und Zahlenfriedhöfe. Er benötigte einige Minuten, um zu begreifen, was Vanya dermaßen ärgerte.

»Gibt es keine Auswertung über die Auslastung der Prozessoren?«, fragte er.

Fedor deutete stumm auf das kleine Fenster mit der Ausgabe des ›top‹ Befehls, der Übersicht über die wichtigsten Durchsatzzahlen des Monsters. Vladimir schüttelte den Kopf.

»Das meine ich nicht. Ich brauche die genaue Auswertung über den Grad der Parallelverarbeitung. Wie viele Prozessoren waren aktiv in welcher Phase des Tests – so etwas.«

Die Brüder Melnikov sahen sich ratlos an. Wie sich bald herausstellte, wusste niemand im Bunker, wie man eine solche Auswertung aus dem Monster herauskitzelte.

»Das darf doch nicht wahr sein«, rief er aus. »Ohne diese Statistik fliegen wir im Blindflug.«

»Zwei Stunden«, meldete Andrei, nicht eben hilfreich.

»Statt auf die tickende Zeitbombe zu starren, solltest du besser deine Freunde bei der glorreichen Armee anrufen«, fuhr Vanya ihn an.

»Es sind nicht meine Freunde«, gab Andrei mürrisch zurück und bequemte sich endlich, sich aus dem Sessel zu erheben und zu ihnen ans Pult zu treten.

»Wo liegt das Problem?«

Vladimir antwortete, um Vanya Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen.

»Ich will wissen, auf wie viele Prozessoren die Rechenarbeit unseres Testprogramms verteilt wird. Das ist ja wohl das Mindeste, was man von einem Supercomputer verlangen kann.«

Unsicher, ob Andrei sein Anliegen überhaupt verstanden hatte, verfolgte er skeptisch, wie Andrei sich hartnäckig durchfragte, bis er endlich die richtige Person am Draht hatte.

»Moment«, sagte er und gab ihm den Hörer.

Die Person am andern Ende der Verbindung erwies sich als kompetente Frau. Sekunden später erfuhren sie die erschütternde Tatsache: Ihr Testprogramm war von einem einzigen Prozessor ausgeführt worden, keine Spur von Parallelverarbeitung. Die Frau am Draht gab gleich den entscheidenden Hinweis dazu:

»Sie sollten die Option ›openmp‹ nicht vergessen, wenn Sie mehr Rechenleistung benötigen.«

Er dankte und legte auf.

»Wir sind Idioten«, murmelte er, passte den Ausführungsbefehl fürs Testprogramm an und startete es erneut.

»49 Minuten«, verkündete Andrei.

Dann schwieg auch er. Alle warteten angespannt auf das Ende der Verarbeitung. Fedor brach schließlich das Schweigen:

»Es hat längst terminiert.«

Vladimir traute seinen Augen nicht, glaubte zuerst an einen Fehler. Erst nach eingehender Kontrolle entspannte er sich. Das Monster hatte keine Minute gebraucht, um den aufwendigen Test auszuführen.

»37 Minuten«, verkündete Vanya lachend.

»Heißt das …«

Weiter brauchte Andrei nicht zu fragen. Fisik klärte ihn auf:

»Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass unser Monster sich wahrscheinlich für das Codeknacken eignet.«

Fedor, der Architektor, fasste den Stand der Arbeiten anhand seiner Systemskizze zusammen. Alle Komponenten, die sie für den Angriff brauchten, lagen nun bereit – bis auf seinen Trojaner, das wichtigste Stück Software. Der Countdown stand bei 21 Minuten. Er würde es nicht schaffen, die Konfiguration und alle notwendigen Tests in der verbleibenden Zeit durchzuführen. Andererseits wusste nur er das, und er erwartete keine Überraschungen mehr, also gab er grünes Licht. Die Machbarkeit des Auftrags war erwiesen. Niemand im Bunker zweifelte mehr daran. Der namenlose Unbekannte konnte kommen.

Er erschrak, als Fisik sich von hinten über ihn beugte.

»Kannst du das bitte in korrektes Englisch übersetzen?«, hauchte sie, wobei die Lippen sein Ohr berührten, dass 100‘000 Volt stracks in seinen Schritt fuhren. »Dein Englisch ist viel besser als meins.«

Sie presste die Daumen in seinen Nacken, bevor sie sich abstieß, um zu Andrei hinüber zu schweben. Ein stilles Gewitter entlud sich unter seinem Schreibtisch, während er ihren Zettel las. Er enthielt die knappe aber präzise Anweisung an den unbekannten Helfer vor Ort, was mit den intelligenten Steckern zu tun sei.

Berlin

Chris hatte es wieder nicht geschafft, Jamie die Freudenbotschaft zu überbringen. Der falsche Zeitpunkt, die falsche Stimmung: Ausreden gab es genug. Es blieb ja noch etwas Zeit, bis er es merken musste, tröstete sie sich und hob den Hörer ab. KHK Monika Weber vom LKA war am Apparat.

»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass wir die Ermittlungen einstellen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Einstellen mussten.«

Chris hatte so etwas erwartet. Sie verstand Monika Webers Vorgesetzte sogar ein Stück weit. Man wollte den tragischen verdeckten Einsatz in Sankt Petersburg möglichst schnell vom Tisch haben und gab sich mit der fragwürdigen Erklärung der russischen Behörden zufrieden. Das deutsche Ehepaar Meier war zwischen die Fronten zweier Banden von Kinderhändlern geraten und hatte das leider mit dem Leben bezahlt. Klappe zu. Es war nicht die erste Vertuschungsaktion, der sie in ihrer Zeit beim BKA begegnete. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Akte zum Doppelmord auch in Sankt Petersburg längst geschlossen worden war. Zwecklos, beim russischen Innenministerium nachzuhaken. In dieser Beziehung herrschte für einmal Einigkeit mit Staatsanwältin Winter. Für die war der Fall, der so gefährlich heikel begonnen hatte, schon fast vergessen, während die Bilder und Berichte über misshandelte und missbrauchte Kinder noch frisch in ihrem Kopf herumgeisterten. Leere Augen ohne Hoffnung in Kindergesichtern, Jungen und Mädchen, die ihr Gesicht in den Händen verbargen, als hätten sie keins, bildgewordene seelische Grausamkeit, schlimmer als offene Wunden.

»Verstehe«, sagte sie wie zu sich selbst. »Hat die Spur zum Galeristen Matulis etwas gebracht?«

»Nicht wirklich. Die Mordwaffe ist zwar wahrscheinlich sein Revolver, aber es besteht kein Grund, an seiner Geschichte zu zweifeln. Der Revolver ist ihm bei einem Raub russischer Ikonen gestohlen worden. Es ist also durchaus plausibel, dass die Waffe jetzt in Sankt Petersburg auftaucht. Na ja – jedenfalls nicht ausgeschlossen.«

Sie musste ihr zustimmen. Warum sollte eine Bande von Kinderhändlern nicht auch Verbindungen zur Kunstmafia haben? Die Tentakel der Russenmafia reichten weit. Aus einem Bauchgefühl heraus sagte sie:

»Ich wäre Ihnen dankbar für die Unterlagen zu Lukas Matulis, falls es keine Umstände macht.«

Monika Weber lachte bitter auf. »Viel ist es leider nicht. Wir haben versucht, seine Geschäftsreisen und die Art der Geschäfte nachzuvollziehen, stoßen aber überall ins Leere. Der Mann scheint ein unbeschriebenes Blatt zu sein, und jetzt ist die Akte geschlossen.«

Das Dossier, das sie kurz nach dem Gespräch per E-Mail erhielt, verdiente diesen Namen tatsächlich nicht. Sie leitete es an den Kollegen Haase weiter. Wenn jemand in nützlicher Frist einen Menschen wie Lukas Matulis durchleuchten konnte, dann er.

Beim nächsten Stopp an seiner Kaffeemaschine war das Dossier immerhin schon auf zwanzig Seiten angewachsen. Der Galerist wohnte in einer zur Festung ausgebauten Villa in Charlottenburg. Zwei Bodyguards, ein Mann und eine Frau, wichen seit Jahren nicht von seiner Seite. Die meiste Zeit befand er sich allerdings auf Geschäftsreisen, über die Haase bisher nichts herausgefunden hatte. Matulis besaß ein Flugzeug, eine Turbo-Prop-Maschine, die er oft selbst pilotierte. Ohne richterlichen Beschluss gab es deshalb keine Möglichkeit, ein genaues Bewegungsprofil zu erstellen. Es blieb nur die Vermutung, Matulis betreibe Geschäfte in ganz Europa, inklusive Oststaaten und Russland. Für die Tatzeit in Sankt Petersburg hatte ihm die Tochter Roze ein hieb- und stichfestes Alibi verschafft. Matulis blieb ein – zwar undurchsichtiger – Geschäftsmann.

»Etwas ist seltsam«, sagte Haase, während sie die Nase der Arabica-Bohnen prüfte wie bei einem teuren Whisky. »Die Geschichte des Herrn Matulis und seiner Tochter lässt sich fast lückenlos etwa zwanzig Jahre zurückverfolgen, doch dann verliert sie sich im Nebel, als hätte es ihn vorher nicht gegeben.«

»Er stammt aus dem ehemaligen Ostblock«, erwiderte sie, »der Eiserne Vorhang … Die damaligen Behörden waren nicht gerade für ihre offene Informationspolitik bekannt.«

»Stimmt, aber der Eiserne Vorhang und die Abschottung des Ostens endeten 1989, einige Jahre früher. Warum finde ich keine Hinweise auf Matulis aus jener Zeit? Auch nicht in Litauen, notabene.«

»Weil unsere Datenbanken Löcher aufweisen?«

Haase lachte. »Oh ja, Sie sagen es, klaffende Lücken. Falls Matulis doch in pädophile Aktivitäten verstrickt ist, haben wir ohnehin Pech.«

»Wie darf ich das verstehen?«

Haase war nicht nur ein wandelndes Lexikon, wenn es um Polizeiarbeit ging. Er recherchierte auch überaus gründlich und hatte sich in kürzester Zeit mit den Themen Menschenhandel und Pädophilie vertraut gemacht, die eher die Sitte zu interessieren hatten als ihre Abteilung.

»Die professionellen Kinderhändler operieren natürlich international«, erklärte er. »Unsere nationale INPOL-Datenbank nützt da wenig bis gar nichts, da sie kaum Informationen über Beziehungen, Strohmänner, Scheinfirmen etc. über die Landesgrenzen hinaus enthält. Es ist nahezu unmöglich, Personen oder Organisationen miteinander in Verbindung zu bringen, die in verschiedenen Ländern unter verschiedenen Namen operieren. Manchmal gelingt es über die Spur der Opfer, aber das ist eher Glückssache.«

»Warum erstaunt mich das alles nicht?«, fragte sie die Kaffeetasse.

»Das ist bekannt, ich weiß, aber es gibt neue Hoffnung – oder vielmehr: Es gab sie. Ich meine das neue Informationssystem von Europol in Den Haag. Das IS ist zwar immer noch im Aufbau, aber es hat schon im Testbetrieb wertvolle Dienste geleistet beim Aufdecken von Verknüpfungen zwischen Daten und Personen. Das IS umfasst verschiedene Datenbanken, und jetzt wird‘s interessant.«

Er wartete, bis sie ihren zweiten Ristretto in der Tasse hatte, dann fuhr er fort:

»Diese Woche hätte eine neue Datenbank aufgeschaltet werden müssen. Seit zehn Jahren läuft das Geheimprojekt. Offiziell gibt es keine Information darüber, aber die Spatzen pfeifen es von den einschlägigen Dächern. Der Codename der neuen Datenbank lautet PD-27. Fragen Sie mich nicht, wie ich an die Information gelangt bin.«

Sie lachte. »Ich will es nicht wissen.«

»Also – PD-27 fasst zum ersten Mal alle Falldaten in den Bereichen Menschenhandel, Kinderhandel insbesondere, Kinderprostitution, Kindesmisshandlung und Pädophilie europaweit zusammen.«

»Und dafür brauchen die bei Europol zehn Jahre?«

»So ist es. Der Grund ist einfach. PD-27 ist nicht nur eine Sammlung von AWFs …«

»AWF?«

»Analysis Work Files, Analysedaten zu den Fällen, wie sie in den bei Europol angeschlossenen Ländern anfallen. PD-27 ist viel mehr. Zu jedem Fall, zu jedem AWF sind Unmengen von standardisierten sogenannten Tags erfasst worden, die es nur auf dieser Datenbank gibt. Erst durch diese in mühsamer Handarbeit erfassten Tags werden die Falldaten überhaupt maschinell verwertbar. Sie ermöglichen es, Muster zu erkennen und Verbindungen aufzuzeigen, die bisher verborgen blieben.«

»Werden es ermöglichen«, korrigierte sie.

»Wie bitte?«

»Sie sagten doch, PD-27 sei noch nicht im Einsatz.«

»Ach so, ja, aber das soll sich jetzt rasch ändern. Allerdings …«

»Ich höre.«

»Im Moment ist sogar der Zugang zu unseren eigenen Daten im IS blockiert.«

»Wieso denn das?«

»Eine Vorsichtsmaßnahme. Europol vermutet einen Hackerangriff und hat alle Zugänge dichtgemacht. Sie haben das EC3 eingeschaltet.«

»Das European Cybercrime Center in Den Haag? Ist das überhaupt schon in Betrieb?«

»Schon seit mehr als zwei Jahren. Allerdings glaube ich nicht, dass die Kollegen vom EC3 viel ausrichten können – mit vierzig Mitarbeitern und einem Budget, das gerade mal einem Prozent von unserem entspricht.«

»Keine Konkurrenz für die NSA«, bemerkte sie lachend. »Vielleicht sollte Europol die Amis einschalten.«

Staatsanwältin Winter ging am Büro vorbei und schnappte ihre Bemerkung auf.

»Was sollen die Amis?«

Sie wiegelte ab: »Kleiner Scherz«, und ging an ihren Arbeitsplatz zurück, nicht ohne vorher Haase zuzurufen: »Schicken Sie mir die Daten für den Schlussbericht bitte bis Mittag.«

»Gute Arbeit«, bemerkte Winter mit dem seltenen Anflug eines Lächelns.

Chris beneidete die Staatsanwältin manchmal für ihr schnörkelloses Weltbild. Es bestand im Wesentlichen aus geschlossenen Akten. Für sie selbst sorgte Haases Bemerkung über die Cyberattacke kurz vor der Aufschaltung der so wichtigen neuen Datenbank zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch im großen Stil für eine gewisse Unruhe. Sie musste wissen, was dahinter steckte und rief den IT-Guru an, den sie in Wiesbaden kennengelernt hatte.

Es war schwierig, Uwe Wolf ans Telefon zu bekommen, schon immer gewesen. Der IT-Experte war ebenso verschlossen wie genial, zeigte autistische Züge. Erst als sie die Kollegin am andern Ende bat, ihn vom Zopf zu grüßen, nahm er den Anruf entgegen.

»Chris Hegel, wir kennen uns«, sagte er.

Normalerweise grüßte er gar nicht, erinnerte sie sich. Sie verzichtete auf die Richtigstellung des Namens und kam gleich zur Sache:

»Ja, ist schon eine Weile her. Uwe, ich habe nur eine kurze Frage. Der Zugriff aufs Europol IS scheint unterbrochen zu sein. Wissen Sie etwas über die Hintergründe?«

»Die offizielle Version …«

»Nicht die offizielle Version bitte«, unterbrach sie. »Ich will die Wahrheit.«

»Inkompetenz.«

Diese Antwort fand selbst sie allzu sparsam formuliert.

»Wie muss ich das verstehen?«

»Letzte Nacht hat sich ein remote User in den IS-Cluster eingeloggt, der schon seit zwei Monaten gesperrt sein müsste. Der ehemalige Mitarbeiter, dem der Account gehörte, befand sich zu der Zeit nachweislich im Flugzeug nach Tokio.«

»Jemand hat seine Identität gestohlen?«

»Ja. Der Zugriff ist übrigens nur zufällig entdeckt worden, weil ein Servicetechniker, der den Ex-Mitarbeiter kannte, im System unterwegs war.«

»Weiß man, woher der Angriff kam?«

»Eben nicht. Die Verantwortlichen haben sofort alle remote Logins gesperrt, und das, bevor man den Angreifer lokalisieren konnte. Inkompetenz, wie gesagt.«

»Was hat der Eindringling gewollt?«

»Er hat sich offenbar für die Systemkonfiguration interessiert.«

»Für die Datenbanken?«

»Auch.«

Sie überlegte sich, die Frage nach PD-27 zu stellen, verzichtete jedoch darauf. Stattdessen fragte sie nach den Konsequenzen für die Arbeit mit dem IS.

»Dank der Inkompetenz der Betreiber wird es wohl keine Konsequenzen geben. Sie werden das System in Kürze wieder öffnen und hoffen, den nächsten Angriff zufällig zu entdecken.«

»Das klingt ziemlich resigniert, Uwe. So kenne ich Sie gar nicht.«

»Inkompetenz kann ich nicht ausstehen. Ich bin nicht für das IS verantwortlich, aber ich habe einen Trap installiert, damit der nächste Angriff wenigstens rechtzeitig registriert wird.«

»Wie – installiert – ich denke, die Zugänge zum System sind blockiert.«

»Nicht alle.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Ich fürchte, die Angreifer wissen das auch, falls es ernstzunehmende Hacker sind.«

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