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9 Wertlose Halskettchen

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Eine Weile beherrschte das verschwundene Mädchen die Medien, dann wurden andere Dinge wichtiger: Corinna las in der Courier Gazette von einem Tanklastwagen, der auf der Interstate 95 gekippt war und Feuer gefangen hatte, sah im Fernsehen den Beitrag über ein Crystal-Meth-Labor in Bangor, das in die Luft geflogen war, ohne dass die zwei Drogenköche ums Leben gekommen waren. Darüber wurde geredet, Jane Libby war nicht länger das Thema, auf das man automatisch zu sprechen kam, ohne dass man es eigentlich wollte; ganz vergessen wurde sie zwar nicht, doch der Alltag mit seinen Sorgen, Nöten und Freuden drängte sie allmählich in den Hintergrund. Nur nachts dachte Corinna manchmal an Jane, wenn sie nicht einschlafen konnte und sich vorzustellen versuchte, was wohl aus ihr geworden war. Auch der erschossene Lagerangestellte Rick Cole von Norwood Lobster fiel ihr selten ein, obwohl der Mord nicht aufgeklärt worden war.

Sie blieb mehrere Tage und Nächte bei Jake, las, hörte Musik, faulenzte, kochte, während er die Mandoline fertigbaute und sich mit dem Korpus einer Gitarre beschäftige. Dass sie beinahe ertrunken war, behielt sie für sich, genauso die Schmerzen in ihrer Schulter; Geheimnisse dieser Art gehörten ihrer Meinung nach zu einer funktionierenden Beziehung. Sie sahen Natalie Merchant, die ehemalige Sängerin der 10,000 Maniacs im Strand Theatre in Rockland, stöberten einen langen verregneten Nachmittag im Bella Books in Belfast in gebrauchten Büchern und teilten sich danach im Delvino’s Grill & Pasta House, keine Fußminute entfernt, Muscheln und Lachsravioli.

Sie traf sich mit Maggie zum Kaffee im Miranda in Rockland und führte ein langes Skype-Gespräch mit ihrem Sohn Thomas und seiner Freundin Charlotte. Sie taufte die Katze auf den Namen Teaser und zeigte ihr die Zeichnung der Feuerkatze auf dem Cover der Langspielplatte von Cat Stevens.

Mitte Oktober schlug das Wetter nach einem außergewöhnlich warmen Wochenende um. Die Tage blieben klar, wurden jedoch deutlich kürzer, die Farben der Laubbäume erloschen, die Nächte waren kalt, im Radio wurde vor Frost gewarnt, Schnee lag in der Luft. Corinna machte Haus und Garten winterfest, mähte das Gras, band empfindliche Pflanzen zusammen und packte sie in Schutzfolie, stellte hölzerne Schutzgauben gegen Schnee und Schmelzwasser vor die drei Kellerfenster, drehte das Wasser für den Garten und die Garage ab und hängte den Wärmequilt ins Fenster des Windfangs.

An ihre frühere Arbeit als Kriminalpolizistin dachte sie nie, fast nie. Die Zeit verging langsam, doch sie verging, und sie war zufrieden, manchmal gar glücklich, selbst wenn sie alleine war.

Am 19. Oktober lag sie nach dem Abendessen dösend auf dem Sofa, die Katze Teaser schlief eingerollt neben ihr, Jake traf Freunde in Camden, als ihr Smartphone läutete. Erst wollte sie den Anruf mit unterdrückter Nummer ignorieren, aber die Neugier war stärker. Sie stand auf, trat an die Glastür zum Deck und drückte auf Annehmen.

»Hast du dein Handy wieder mal verlegt?«

Betsys Stimme klang hohl und gedämpft, als rede sie durch ein Tuch, im Hintergrund war das Krächzen ihres Papageis Doktor John zu hören.

»Ich nehm keine Anrufe mit unterdrückten Nummern entgegen.«

»Doch, tust du. Wie geht es dir?«

Sie unterhielten sich über das Wetter, den bevorstehenden Winter, ob es nicht doch klüger wäre, Betsys Riverside Café an einem oder vielleicht gar zwei weiteren Tagen pro Woche offen zu halten und ob Corinna sich vorstellen könne, an diesen Tagen zu arbeiten.

»Komm doch morgen zum Abendessen, dann besprechen wir alles.«

»Gerne, Betsy.«

»Übrigens wohnt mein Bruder Ty seit ein paar Wochen bei mir. Vielleicht isst er mit uns. Mal sehen.«

»Er ist raus aus der Klinik? Für immer?«

»Wenn ich das wüsste. Vorerst vorläufig, denk ich.«

»Und wie geht es ihm?«

»Besser. Aber er ist immer noch ein Ex-Soldat. Wenn du weißt, was ich damit sagen will.«

»Arbeitet er?«

»Er hat den Fußboden im Café abgezogen und neu gestrichen. Nächste Woche will er die Toilette auf Vordermann bringen.«

»Klingt gut.«

Sie verabredeten sich für 19 Uhr. Corinna warf ihr Handy aufs Sofa und schreckte Teaser auf, die zu Boden sprang und ihr so lange mauzend um die Beine strich, bis sie ihr in der Küche eine Portion Trockenfutter in ihren Napf schüttete. Sie machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich auf das Deck in die Dunkelheit und sah Wolkenschiffen zu, die meerwärts über den Abendhimmel glitten, bis ihr kalt wurde.

Sie badete ausgiebig, brennende Kerzen auf dem Fenstersims des Bades, trocknete sich die Haare mit dem Fön, ohne in den Spiegel zu sehen, und legte sich früh schlafen, die Katze auf Michaels früherer Seite neben sich. Das eingeschaltete Handy legte sie auf das Nachttischchen, um die SMS nicht zu verpassen, die Jake ihr ziemlich sicher schrieb, wenn er wieder zu Hause war. Der Wind rüttelte an den Regenrinnen, Bäume rauschten, irgendwo in der Nachbarschaft klapperte eine Tür oder ein Fenster. Der Himmel war jetzt ein finsteres wolkenloses Gewölbe voller Sterne.

Den nächsten Tag vertrödelte sie mit unnötigen Hausarbeiten, räumte Schubladen aus und wieder ein, hängte Sommerkleider in den Schrank im Keller, trug Winterkleider ins Schlafzimmer, warf sie aufs Bett und hielt sich lange damit auf, Stücke für den Thrift Shop in Rockland oder den Secondhandladen in Camden auszusortieren.

Sie verzichtete aufs Mittagessen, aß bloß einen Apfel, putzte Küchen- und Wohnzimmerfenster. Später löschte sie alte Mails auf dem Laptop und besuchte Webseiten für Vermisste, obwohl sie sich vorgenommen hatte, es auf keinen Fall zu tun: 18-Wheel-Angels. Hope Network. Bring Joe Home. Sie klickte sich durch Galerien verschwundener Mädchen und Jungen, verlor sich in der Betrachtung unsicherer Teenagergesichter, las Botschaften verzweifelter Eltern, Verwandter und Freunde, las Aufrufe, Beschwörungen, Vermutungen und Hinweise. Etliche Jugendliche wurden seit Jahren vermisst, andere seit wenigen Tagen. Sie studierte Fotos wertloser Halsketten und Ringe, klickte sich durch Aufnahmen von Haarclips, Armbanduhren, Tops mit Spaghettiträgern, Sweatshirts mit Aufschriften, Schuhen, Unterwäsche. Sie bekam Kopfschmerzen, hatte ein unangenehmes Sirren im Kopf, und doch konnte sie sich nicht vom Bildschirm losreißen. In Begleitung eines männlichen Erwachsenen gesehen. Im Wald hinter dem BurgerKing verscharrt. Verbrannt am Rand der Interstate 95. In einer Gefriertruhe. Ehemalige Top-Leichtathletin. In Plastikfolie verpackt. Verschnürt wie ein Paket. In einem Teich versenkt. Enthauptet. Cheerleaderin. An eine Birke gefesselt, zerstückelt. Als ihr schlecht wurde, gelang es ihr, sich von den Seiten zu lösen, auszuloggen und den Laptop zuzuklappen. Sie duschte heiß und lange, hörte Paolo Contes Aguaplano, um sich abzulenken, und rauchte auf dem Deck im eiskalten Niesel zwei Zigaretten hintereinander.

Es war kühl im Haus, aber statt sich wärmer anzuziehen, drehte sie den Thermostat höher. Am späten Nachmittag erhielt sie eine SMS von Jake; es sei spät geworden gestern, sehr spät, er habe lange geschlafen wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Wartete sie eine halbe Stunde mit ihrer Antwort, weil sie enttäuscht war, dass er sich nicht früher gemeldet hatte? War sie etwa tatsächlich eifersüchtig? Mit wem hatte Jake sich getroffen? Teaser hockte auf Michaels Musiksessel und beobachtete misstrauisch jede ihrer Bewegungen, als traue sie ihr nicht.

Gegen halb sechs fuhr sie los, obwohl sie so viel zu früh ankommen würde; sie hielt es nicht länger aus in ihrem Haus und wollte in Warren im Auto warten, um nicht vor 19 Uhr an Betsys Tür zu klingeln.

Im Schatten der Flügel

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