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3 Zehn Minuten für Keith Richards

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Die Wimpern von Jakes rechtem Auge strichen ihr über die Wange, ein Schmetterlingskuss, der sie weckte. Ohne sich zu rühren sah sie, wie der Wind Regengarben gegen die Bogenfenster trieb, hörte sie, wie Tropfen über ihren Köpfen auf das Dach von Jakes Turm prasselten, in dem sich sein Schlafzimmer und darunter seine Gitarrenwerkstatt befanden. Das Licht des frühen Morgens fiel flach und ohne Kraft über das Meer, das als undurchdringliche schwarze Fläche in der Bucht vor ihr lag. Von der Brandung war bis auf ein verschämtes Rauschen, das sie sich vielleicht bloß einbildete, nichts zu hören. Unten am Strand, der zu Jakes Grund gehörte, war das Donnern so gewaltig, dass es unmöglich war, sich in normaler Lautstärke zu unterhalten. Bei ihrem letzten Strandspaziergang hatten sie Treibholz für die Windspiele gesammelt, die sie seit einigen Wochen machte, und Muscheln aus Seetangmatten geklaubt, aus denen Wolken schwarzer Fliegen aufstiegen. Angespülte Schaumfetzen hatten in der Sonne geglitzert. Der hinterste Abschnitt des Strandes diente als Rastplatz für Zugvögel, die Felsen waren weiß von ihrem Kot.

Jake schmatzte im Schlaf, lächelnd, das Gesicht schutzlos entspannt. Sie betrachtete die Krähenfüße um seine Augen, die grauen Haare an den Schläfen und die winzige Narbe am Kinn, von der sie noch immer nicht wusste, woher sie stammte. Seine Blechgitarre stand bedenklich schräg in ihrem Gestell, und sie fragte sich, wann er zuletzt darauf gespielt hatte. Langsam wurde das Licht über der Bucht gespenstisch gelb, sie sah, wie aufgewühlt der Atlantik war und wo er aufhörte und wo der Himmel anfing. Es war kühl im Raum, fröstelnd ließ sie ihren Blick über die Tonfigur auf der Kommode, den Stapel Langspielplatten an der Wand, ihre Schuhe und Jakes Bikerstiefel auf dem weiß gestrichenen Bretterboden gleiten. Gestern Abend hatte sie auch im Southend Grocery Store keine Zitronen erhalten und darum im Hannaford vor Camden haltmachen müssen; Jake hatte kein Wort darüber verloren, dass sie beinahe eine halbe Stunde zu spät gekommen war. Gemeinsam hatten sie die Muscheln und einen Salat zubereitet und sich später auf dem Sofa im Wohnzimmer seines Cottages Mud mit Matthew McConaughey in der Hauptrolle auf DVD angesehen, in dem Sam Shepard eine seiner letzten Filmrollen spielte.

Das Laken war kühl, das Bettzeug duftete nach Jasmin. Sie spürte ihren Pulsschlag in der Schläfe, den Anflug von Kopfschmerzen; das Wetter schlug um, der Sommer war wohl vorbei. Nach dem Film hatte Jake von einem Flug von Boston nach Seattle erzählt, auf dem die unbekannte Frau, die neben ihm saß, ihn fragte, ob sie während der Landung seine Hand halten dürfte. Nachdem die Maschine sicher auf der Landebahn aufgesetzt hatte, waren sie schweigend Hand in Hand sitzen geblieben; nach einer Weile hatte sie ihren Sicherheitsgurt gelöst und war ohne sich zu verabschieden ausgestiegen.

Corinna verspürte den Wunsch, Jake über Wangen und Kinn zu streichen, wie sie es machte, wenn sie ihm das Sägemehl des Holzes, aus dem er seine Gitarren baute, aus den Bartstoppeln wischte, doch sie wollte ihn nicht wecken und stieg vorsichtig aus dem aus Eisenbahnschwellen gezimmerten Bett, schlich auf Zehenspitzen ins kleine Bad, setzte sich auf die Toilette, löste mit angehaltenem Atem Wasser, als mache das ihr Plätschern unhörbar, und sah dabei aufs Meer hinaus. Die Wellen trugen Silberkronen, weit, weit draußen glitt eine Fähre vorbei, ein Koloss im dunklen Wasser, undeutlich wie ein Geisterschiff in einem Traum.

Bevor sie sich hinlegte, warf sie einen Blick aus dem Fenster hinter dem Bett: Die Straße glänzte im Regen, sie hörte das Geräusch von Reifen auf nassem Asphalt, ohne irgendwo ein Auto zu sehen. Obschon kein Sonnenlicht die Bäume traf, schien der Wald jenseits der Straße vor lauter Farben zu explodieren. Das Rot war von unglaublicher Intensität und leuchtete, als stehe es unter Strom. Noch vor wenigen Tagen waren die Blätter grün gewesen, nun war der Wald ein endloses Meer in satten Bunttönen, Rot, Gelb und Orange, das im Wind hin und her wogte.

»Steht ihr Schweizer immer so früh auf?«

Sie hatte nicht bemerkt, dass Jake erwacht war; er lag auf dem Rücken, die Finger hinter dem Kopf verschränkt. Seine Stimme klang schläfrig, sein Silberblick war so irritierend und aufregend wie am Tag, an dem sie sich in der Buchhandlung Owl & Turtle in Camden begegnet waren. Sie kroch zu ihm unter die Decke und presste sich an ihn.

»Steht ihr Schweizer immer so früh auf?«, fragte er noch einmal.

»Nur die Frauen.«

»Genau wie bei uns.«

»Es regnet.«

»Dann ist es am gemütlichsten hier oben.«

»Wie in einem Zelt.«

»Wird der Wind stärker, ist das da unten bald ein Kessel aus brodelndem Weißwasser«, sagte er und zeigte auf die Bucht. »Die Dünung wühlt den Schlamm auf, und du siehst nicht mal mehr den Grund.«

»Futter für die Fische«, sagte sie.

Er nickte, berührte sie am Schlüsselbein und legte ihr die Hand auf den Arm; seine Finger rochen nach Zitrone, sein Silberarmband auf ihrer Haut war warm und schwer.

»Glaubst du, der Mann ist tot, Co?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber du bist dir sicher, dass er angeschossen wurde?«

»Ganz sicher. Wieso sollten sie sonst alle Wagen kontrollieren, die die Insel verließen?«

Sie hatte ihm ausführlich beschrieben, was am vergangenen Abend auf Spruce Head Island passiert war, und die Reifenspuren und das Loch im Kies erwähnt, das ziemlich sicher von einem Motorradständer stammte.

»In der Schweiz ist es bestimmt nicht so einfach, an eine Schusswaffe zu kommen wie bei uns, richtig?«

»Allzu schwierig ist es nicht. An die 800000 sind registriert, dabei gibt es geschätzte drei Millionen. Hast du eine Waffe?«

»Früher hatte ich eine, ja.«

»Und heute?«

»Nicht mehr.«

»Eine Pistole oder ein Gewehr?«

»Ist doch egal. Und du, Co?«

»Ich hab meine Pistole abgegeben, als ich den Dienst quittierte.«

Sie fragte sich, ob sie ihm erzählen solle, wie gern und gut sie geschossen hatte, war sich aber nicht sicher, was das für ein Licht auf sie warf, und verschwieg es.

»Meine Tochter Patti Lee hat uns zu Thanksgiving eingeladen.«

»Die Ärztin?«, fragte sie.

»Amy ist die Ärztin. Die Jüngere. Patti Lee ist Violinistin.«

»In welchem Orchester spielt sie noch mal?«

»Boston Symphony Orchestra.«

Er strich ihr mit dem Zeigefinger über die Nasenkuppe und die Brauen, als wolle er sich versichern, dass sie tatsächlich neben ihm in seinem Bett lag.

»Wie alt ist Patti Lee?«

»Vierunddreißig. Sie möchte dich gern kennenlernen. Begleitest du mich?«

»Gerne, Jake. Wann ist Thanksgiving?«

»Am letzten Donnerstag im November. Am 28.«

Ihr Sohn Thomas und seine schwangere Freundin Charlotte hatten im Juli zwei Wochen Ferien in Maine gemacht, und sie waren zwei Mal mit Jake zum Abendessen zusammengekommen; an einem wolkenlosen Tag waren sie frühmorgens mit dem Segelboot eines seiner Freunde in See gestochen und hatten einen unbeschwerten Tag auf der Künstlerinsel Moneghan verbracht.

»Als Kind hat Tom es geliebt, Löcher zu graben.«

»Das tun alle Jungen.«

»Er war fasziniert, wie schnell sich seine Fußspuren im Sand mit Wasser füllten, und hat mit dem Schäufelchen unermüdlich ein Loch nach dem anderen gegraben, nur um zuzusehen, wie sie volllaufen.«

»Amy hat nie Sandburgen gebaut, immer nur Türme, Türme, Türme. Je höher, desto besser. Wer weiß, vielleicht hab ich das hier«, er zeigte mit dem Zeigefinger um sich, »auch wegen ihr gebaut. Meinen Turm.«

»Tom hat mich gefragt, ob Dinge genau wie Menschen Wünsche haben.«

»Möchte Schnee schwitzen?«, fragte er lachend. »So was?«

»Genau. Wäre Salz gern süß?«

»Will eine Kugel aus der Pistole fliegen? Wie alt war er da?«

»Sieben. Will der Spiegel, dass man sich in ihm betrachtet!«

»Großartig! Soll ich Musik anmachen?«

Sie nickte und sah zu, wie er die Beine aus dem Bett schwang, auf allen vieren zu den LPs hinüberkroch, als wolle er sie auf den Arm nehmen, den Plattenstapel durchblätterte, eine herauszog und sie auflegte. Neben dem Namen Daniel Lanois war auf der Hülle das Schwarz-Weiß-Foto eines gut aussehenden, geheimnisvoll lächelnden Mannes abgebildet, der sie an einen Indianer erinnerte.

»Weißt du, was meine Frau nach ihrer letzten Affäre zu mir sagte? ›Ich habe es für uns getan!‹«

»Ich habe es für uns getan? Ernsthaft?«

Daniel Lanois Stimme löste Bilder in ihr aus, die sie ablenkten, Bilder, die sie irritierten; sie sah einen breiten dunklen Strom, der träge an ihr vorbeifloss, sah ein Floß, auf dem sie saß, dabei stand sie doch am Ufer.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jake.

»Die Musik gefällt mir. Ich habe es für uns getan? Hat sie das wirklich gesagt?«

»Ich hab die idiotische Ausrede in jedem Streit gebraucht. Wenn ich besoffen war: Ich habe es für uns getan! Wenn ich die Nerven verlor: Ich habe es für uns getan! Als ich unser Auto zu Schrott fuhr: Ich habe es für uns getan!«

»In den zwei Wochen vor seinem Unfall hat Michael die Zahnpastatube nicht mehr zugemacht, in Zimmern das Licht brennen lassen, dauernd seine Schlüssel verlegt und gelächelt, immer nur gelächelt. Als wüsste er was, was ich nicht weiß.«

»Entschuldige bitte, wenn ich das frage, Co, aber war es ganz bestimmt ein Unfall?«

»Weißt du, wie oft ich mich das gefragt habe?«

»Und? War es ein Unfall?«

»Ich denke schon, ja. Die erste Zeit danach habe ich mich gefühlt wie der Schatten, den mein toter Michael wirft.«

Offenbar war Ebbe, jedenfalls bemerkte sie Fels- und Sandbänke, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, an denen sich die hereinrollenden Wellen brachen. Die aufspritzende Gischt wirkte, als sei sie in der Bewegung erstarrt und in der Luft festgefroren, so dicht folgten die Sets der Wellen aufeinander.

»Gibt es Sturm?«

Jake schüttelte den Kopf, räusperte sich und schob die Decke von sich; er roch nach Holz und ganz leicht nach Schweiß.

»Auflaufende Flut, kaum Wind, kein Grund zur Sorge. Vor einem Sturm sieht’s anders aus.«

Die Wellen bauten sich aus dem Nichts auf und krachten mit dumpfem Knallen auf die Felsbänke. Die Fähre war verschwunden, dafür kämpfte sich ein Zodiak durch die kabbelige See.

»Seit wann rauchst du eigentlich wieder?«, fragte Jake leichthin.

»Rauch ich?«

»Ach komm, Co! Für jede Zigarette, die du rauchst, nimmt Gott dir zehn Minuten weg.«

»Eine, manchmal zwei am Tag, mehr nicht, Herr Lehrer.«

»Zehn Minuten, die er Keith Richards gibt.«

»Ich glaube nicht an Gott, Jake.«

»Und an die Stones?«

»Ich bin Beatles-Fan!«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Paul McCartney raucht. Du?«

Sie schüttelte den Kopf und strich ihm mit der flachen Hand über den nackten Rücken.

»Was hast du damals eigentlich in Seattle gemacht, Jake?«

»Einen Musiker besucht, für den ich eine Zwölfsaitige baute.«

»Berühmt?«

»Ein Studiomusiker und großartiger Gitarrist, den keiner kennt. Er hat mir erklärt, was für ihn die wichtigsten Werte sind: Mut. Tapferkeit. Und Sanftheit. Mutig alles in die Hand nehmen, tapfer das Scheitern ertragen und sanft sein zu Mensch und Tier. Ein halbes Jahr später war er tot. Herzinfarkt.«

Auf einen Schlag wurde es hell im Zimmer, und sie hoben gleichzeitig die Köpfe und sahen aus dem Fenster: Die Morgensonne stand jetzt hoch genug, um das Wasser zu treffen und in eine grell blitzende Fläche zu verwandeln.

»Hungrig?«, fragte Jake.

»Allerdings.«

Sie strampelte die Decke zum Fußende des Bettes, setzte sich auf ihn und zog sich das T-Shirt über den Kopf.

Kurz nach zehn traten sie aus Jakes Cottage; sie hatten gefrühstückt, nun wollte er an die Arbeit: Die Gitarre für einen Musiker aus Boston musste fertig werden. Sie umarmten und küssten sich im dichten Nieselregen vor der Werkstatttür und vereinbarten, abends zu telefonieren.

Im knöchelhohen Gras der Wiese neben ihrem Auto lag ein Ast, geschält von Wind und Wetter, dessen eigenartige Form ihr gefiel. Als sie sich danach bückte, fing es sturzbachartig an zu regnen, und sie ließ den Ast liegen und setzte sich ins Auto, ohne den Motor zu starten, um mit dem Geräusch des Regens auf dem Dach alleine zu sein. Doch sie musste den Ast mitnehmen, er passte in eines ihrer Windspiele, die der Grasshopper Shop in Rockland zu ihrer Überraschung in sein Sortiment aufgenommen hatte. Sie fädelte papierdünne Bruchstücke von Wespennestern, Bündel von Schafgarbe, getrockneten Seetang, Zweige, Äste, Muscheln und Treibholz auf dünnen Draht.

Zwei Vögel strichen dicht über die Baumwipfel auf der anderen Seite der Straße, Schwinge an Schwinge, Saatkrähen, wie sie vermutete. Schmale, vorgeschichtliche Schatten unter dem Regenhimmel, die ohne einen Ton ins Landesinnere flogen.

Im Schatten der Flügel

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