Читать книгу 1989 oder Wie ich die Revolution verpasste - Hanskarl Hoerning - Страница 5
ОглавлениеLeipzig, nach 25 Jahren
VORBEMERKUNG
In Anspielung auf den Titel des Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge beabsichtigte ich ursprünglich, die vorliegenden Texte „In Zeiten des zunehmenden Tons“ zu überschreiben. Solche Abwandlungen des Originaltitels haben ja Tradition. Man denke zum Beispiel an eine „Wach-und Schließgesellschaft“, aus der einst Münchner Kabarettisten die „Lach- und Schießgesellschaft“ machten. Von ihr wird noch mehrfach die Rede sein.
Für meine geplante Abwandlung gab es sogar einen stichhaltigen Grund. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass „der zunehmende Ton“, also die Rufe nach Veränderungen in der DDR, im Laufe der letzten ihrer 40 Jahre nicht mehr hinter vorgehaltener Hand oder im kleinen Kreis, sondern öffentlich frei von der Leber weg zu hören waren und immer lauter wurden. So laut, dass die Firma „Horch und Guck“ alias Stasi ihre Mit-Hörgeräte getrost abschalten konnte. 1989 erreichte der zunehmende Ton seinen Höhepunkt. Selbst überzeugte SED-Genossen aus meinem Umfeld hatten den Kanal gründlich voll. Sie erwogen zwar weiterhin einen Sozialismus, aber einen „mit menschlichem Antlitz“, also ohne staatsführende Betonköpfe und Phrasendrusch von Apparatschiks.
Erinnern wir uns: Schon 1968 war diese Art Sozialismus mit der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ zum Scheitern verurteilt. Die Verbände der Warschauer-Pakt-Staaten machten aus Frühlingserwachen Winterstarre. Unsere DDR-Volksarmisten allerdings rückten nicht mit ein. Die drangen weisungsgemäß nur bis zur Grenze vor. Warum? Naja, 1939 hatten deutsche Truppen nicht vor der Grenze haltgemacht. Dass sich jetzt statt der Wehrmacht die Volksarmee in Prag herumtrieb, hätte wohl kein so gutes Bild abgegeben.
Ein erneuter Versuch, diese Art Sozialismus zu etablieren, keimte hierzulande zwar mit dem heißen Herbst ’89 auf, sollte jedoch spätestens mit den ersten freien, demokratischen und geheimen (Volkskammer-)Wahlen der DDR im März 1990 Utopie bleiben. Weder die aus der SED hervorgegangene PDS mit 16,4 Prozent, noch die am 7. Oktober 1989 als Sozialdemokratische Partei gegründete SDP mit 21,9 Prozent der Stimmen würde diese Wahlen gewinnen, nicht mal, wenn sie sich zusammentaten (was sie natürlich nie getan hätten!). Da wären auch bloß 38,3 Prozent herausgekommen. Nein, Gewinner wurde die blockflötende Ost-CDU im Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ mit entscheidenden 40,8 Prozent! Nicht nur mein extra aus Lübeck angereister Cousin war zutiefst enttäuscht bei der Stimmauszählung. Wir alle in unserem Umkreis waren es. Peter Ensikat wird es in dem 2012 geführten Gespräch mit Dieter Hildebrandt so kommentieren: „Der Osten hatte die Banane gewählt.“ („Wie haben wir gelacht“, Ansichten zweier Clowns, Aufbau Verlag 2013)
Wenn auch eine Transparentparole auf den montäglichen Demos „Nie wieder Sozialismus“ lautete, hieß das doch noch lange nicht, rechts zu wählen – oder doch? Doch: Der Bogen war überspannt und zog das Gegenteil nach sich. Das Pendel schlug von rot auf schwarz um. Außerdem wollten die Leute nicht nur Bananen, die natürlich symbolisch gemeint waren. Sie wollten reisen, vor allem gen Westen. Dazu brauchten sie Westgeld, und zwar mehr als einen Hunderter per Einmalzahlung zur Begrüßung. Dieses Westgeld hatte man ja bisher – falls man in westliche Gefilde vordringen durfte – zum „Schwindelkurs“ 1:8 für sein Häppchen DDR-Mark bekommen. Ab dem 1. Juli des Folgejahres würde man sein Barguthaben bis zu einer Höhe von 4.000 Ost-Mark offiziell 1:1 in D-Mark tauschen dürfen; 60-jährige und Ältere sogar bis zu 6.000. Sparguthaben wurden 2:1 umgewechselt. 12 Jahre später wird eine weitere Umwechslung erfolgen, diesmal in Euro, der anfangs im Volksmund „Teuro“ heißt. Allmählich ist Umwechslung Gewohnheitssache.
Schließlich fand ich den Titel mit dem zunehmenden Ton doch etwas hochgestochen und beschloss, ihn durch die Jahreszahl zu ersetzen. Unter Hinzufügung der Tatsache, dass ich beim Höhepunkt der schon seit Monaten andauernden Unruhen, dem sogenannten „Wunder von Leipzig“, nicht dabei sein konnte. Sowie in der Pflicht, auf Ereignisse und Fakten aus zurückliegenden oder – je nachdem – aus bevorstehenden Zeiten einzugehen, sofern sie einen Bezug zu den Ereignissen des Jahres 1989 haben.
Von „friedlicher Revolution“ ist immer die Rede, und von „Wende“, wenn es um den Herbst des Jahres 1989 geht. Und obwohl ich, wie gesagt, den entscheidenden 9. Oktober dieser Revolution verpasst habe, weiß ich doch: so friedlich war es gar nicht. Die uniformierten Einsatzkräfte standen bis an die Zähne bewaffnet im Hintergrund, und die kommunistischen Hardliner würden liebend gern noch zwanzig Jahre später ihre Kriegsbeile ausgraben. In der Sprache eben dieser Hardliner hießen die Demonstrationen damals „nicht genehmigte Zusammenrottungen von Rowdys und Elementen“.
Und eins sollte man nicht vergessen: Von der bereits 1985 eingeleiteten Reformbewegung Gorbatschows mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion distanzierten sich die Genossen des SED-Politbüros mit Vehemenz. 1987 hatte SED-Chefideologe Kurt Hager gefragt: „Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung auch neu zu tapezieren?“ Demagogie in Reinkultur. Sowas hatten sie drauf, die sozialistischen Einheitsparteiler. Ohne einen Gorbatschow und nur dadurch, dass die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen nicht wie am 17. Juni 1953 eingriffen, wäre die ganze Sache blutig und vielleicht so ausgegangen, wie kurz zuvor die (von Egon Krenz goutierte) Protestbewegung auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking. Oder wie der schon erwähnte hoffnungsvoll begonnene Prager Frühling vor 21 Jahren. Oder wie die Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 in Ungarn. All diese Aufstände wurden ja bekanntermaßen unter Ulbricht und Honecker als „Konterrevolution“ bezeichnet.
Ich denke noch heute mit Schrecken: Mensch, was wäre passiert, wenn auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre, vielleicht nicht mal absichtlich, vielleicht aus Versehen – nicht auszudenken. Das Wort „Wunder“ scheint hier echt am Platze. Und korrekter wäre wohl „friedlich gebliebene“ oder „friedlich ausgegangene“ Revolution.
Mir scheint auch der Begriff „Wende“ (obwohl allgemein gängig) etwas unzutreffend zu sein. Ich sehe Wende als Zeitpunkt der Entstehung von etwas Neuem. Aber wir hatten es doch vorwiegend mit Umkehr zu Altem zu tun! Wer hätte gedacht, dass die Berliner Mauer, die laut Honecker noch in hundert Jahren stehen würde, stückchenweise abgetragen werden konnte, und dass damit Berlin nicht länger in Sektoren, noch zweigeteilt blieb, sondern wieder ein Ganzes wurde – wie es früher gewesen war? Ja, dass es Jahre später sogar wieder (gesamt)deutsche Hauptstadt werden sollte? Wer hätte gedacht, dass sich aus zwei deutschen Staaten wieder einer bildete – wie früher? Wer hätte gedacht, dass der laut DDR-Ideologen offiziell im Untergang begriffene Kapitalismus mit einer sozial sein sollenden Marktwirtschaft Auferstehung feierte? Und dass die sozialistische Planwirtschaft infolgedessen in der Versenkung und die volkseigenen Betriebe unter Dirigat der sogenannten „Treuhand“ verschwanden? Wie sagte doch in einem Programm des Kabaretts „Leipziger Pfeffermühle“ 1975 der vom „Westbesuch“ zurückkehrende Opa scheinheilig?
„Ich hab’n sterbenden Kapitalismus gesehen. Ein schöner Tod!“
Wer hätte gedacht, dass die mächtige Sowjetunion nach 70 Jahren zusammenbrach und auseinanderfiel? Und danach peu á peu der ganze Ostblock? Dass etliche annektierte Staaten von der SU abfielen und (wieder) ihre Eigenständigkeit erlangten – wie früher? Dass Leningrad, 1914 bis 24 Petrograd, wieder zu St. Petersburg wurde? Wer hätte gedacht, dass Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz, in Leipzig der Karl-Marx-Platz wieder Augustusplatz und die Ernst-Thälmann-Straße wieder Eisenbahnstraße heißen würden – wie früher? All diese Tatsachen erinnern doch wohl eher an die Herstellung eines Zustandes, der überwunden und längst der Vergangenheit anzugehören schien. Wäre da der Begriff „Kehrtwende“ nicht viel angebrachter? Nun gut, es wurde nicht alles ganz so, wie es vor 40 oder 70 Jahren gewesen war. Es blieb aber auch nicht so, wie es bis kurz vorm Mauerfall gewesen ist. Nach westlichem Vorbild würde sich das Altenheim alsbald in eine Seniorenresidenz verwandeln, das Flugzeug in einen Flieger, das Krankenhaus in ein Klinikum, der Lehrling in einen Azubi, Kinder in Kids, Straßenbahnen in Trams, und Strafzettel unterm Scheibenwischer eines Autos würden jetzt „Knöllchen“ heißen. Niedlich, nicht wahr? Nach jedem Einkauf würde man an der Kasse mit „Schönen Tag noch!“ in den Scheißalltag verabschiedet. Und jede Institution, die was zum Verkauf anzubieten hat, frohlockt schamlos mit: „Wir freuen uns auf Sie!“ Die als Freundlichkeit drapierten Floskeln grassierten allerorten. Auf Neudeutsch: es menschelte.
Noch etwas anderes. Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es im Programm der „Pfeffermühle“ einen Sketch, in dem es um die Vorbereitung eines Balles der freiwilligen Feuerwehr ging. Der Ausdruck „Sketch“ ist wohl schlecht gewählt, man sollte eher „Klamotte“ sagen, oder nach heutigem Verständnis „Comedy“. Da kam beispielsweise auf der Tagung des Festkomitees zur Vorbereitung eines Feuerwehrballes der Anruf eines Nebenstraßenbewohners. Der meldete, ein Brand sei in seinem Haus ausgebrochen. Worauf der Vorsitzende ihm riet, den Brand bis zur Hauptstraße vor brennen zu lassen, da käme man besser ran, und dort sei außerdem die Berufsfeuerwehr zuständig. „Lassen wir den Brüdern auch mal ’n hübsches Knäckerchen zukommen!“ Hahahaha. Politische Satire anno 1960?
Einer der vier Feuerwehrleute des Komitees war ein Lispler (was komisch sein sollte). Er wurde „Blasius“ genannt. Den spielte ich. Dieser Name übertrug sich als Spitzname ins tägliche Leben. Die damals blutjunge Anfängerin Helga Hahnemann, genannt „die Henne“, machte auf Schritt und Tritt von „Blasius“ Gebrauch. Da ich vorhatte, im Vorliegenden von mir in der dritten Person zu berichten, hätte sich „Blasius“ angeboten. Das klang mir aber auf Dauer zu blöd. Ich habe die Urfassung verändert und bin zum Ich zurückgekehrt. Soll die 1991 verstorbene „Big Helga“ mit dem nach ihr benannten Publikums- und Medienpreis „Goldene Henne“ weiter leben. Für die Vergabe des „Silbernen Blasius“ würde es wohl kaum kommen. Die Stasi – um dieses leidige Thema nochmal anzuschneiden – hat mir weder „Blasius“ noch einen anderen Decknamen verpasst. Bei Einsicht in meine „Opferakte“ taucht nur mein Klarname auf, und eine „Täterakte“ gibt es nicht. Der unliebsame Titel „IM“ blieb mir nebst inoffizieller Mitarbeit erspart. Ich war wahrscheinlich für das System so unwesentlich, dass sich keiner die Mühe machte, mich für den Geheimdienst anzuwerben.
Die Staatssicherheit der DDR hatte ja auch ihre lächerlichen Seiten. Da gab es zum Beispiel einen Schauspieler und Rundfunksprecher, der bei der „Pfeffermühle“ Regie führte. Der soll laut FAZ vom 30.10.2000 „IM Romeo“ gewesen sein, und seine Ehefrau, eine seinerzeit bekannte und beliebte Funkmitarbeiterin, „IM Julia“. Beide sollten „über die Ansichten von Westbesuchern auf der Leipziger Messe“ berichten.
Ich fürchte, es stellt sich nachträglich heraus, dass ihr Führungsoffizier der Genosse Oberleutnant William Shakespeare gewesen ist. Und an der späteren Scheidung unseres Paares sei die Nachtigall schuld gewesen, und nicht die Lerche.