Читать книгу 1989 oder Wie ich die Revolution verpasste - Hanskarl Hoerning - Страница 6

JANUAR: WIE ICH DIE GRENZE ÜBERSCHREITEN DURFTE

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Kaum hatte ich mich ins neue Jahr hineingesoffen, ging die Aufregung schon los. Die 15,00 DM (West) als „Reisezahlungsmittel“ in der BRD sowie meinen Reisepass mit eingestempeltem Visum und der weißen „Zählkarte“ hatte ich gegen eine „Verwaltungsgebühr“ von 5,00 M (Ost) noch im alten Jahr bei der Volkspolizei-Behörde abgeholt. Die an der Grenze abzugebende und inzwischen ausgefüllte Zählkarte sollte den DDR-Statistikern als Beweis dafür dienen, welche Massen von Bürgern der souveräne Staat unter Führung der sogenannten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in seiner unermesslichen Großzügigkeit täglich die Grenzen passieren ließ. Beim Grenzwechsel von Ostberlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), nach Westberlin wurden statt weißer gelbe Zählkarten verteilt.

Ich bestieg im Leipziger Hauptbahnhof einen der „Interzonenzüge“, wie die Deutsche Reichsbahn (DR) sie nannte. Vom gemeinen Volk war so ein Monstrum bis dahin als „Mumienexpress“ deklariert worden.

Das sollte aber die längste Zeit so gewesen sein. Schon jetzt schien es für einen DDR-Bürger wie mich völlig abstrus zu sein. Mit meinem gerade begonnenen achtundfünfzigsten Jahr fühlte ich mich alles andere als mumienhaft. Nicht einmal in meinem schon erwähnten Cousin, den ich zu besuchen gedachte, konnte ich eine Mumie erkennen. Der würde nämlich in wenigen Tagen seinen Fünfundsechzigsten feiern.

Ein Anlass, der nach den neuesten Bestimmungen in der Gesetzgebung der DDR seinen Bürgern gestattete, nach entsprechender Antragstellung Verwandte ersten (und jetzt auch zweiten Grades!) in der BRD zu besuchen. Also „in den Westen zu machen“, wie man im Osten sagte. Wenn auch nur „besuchsweise“, und nicht ausreiseweise. Also für immer. Und diese Gnade, auch ohne das „Mumienalter“ schon erreicht zu haben. Das war durchaus ein Fortschritt gegenüber früheren Zeiten. Schon bei Verwandten ersten Grades ist 65 kein Anlass gewesen, geschweige denn bei denen zweiten Grades, worunter ja Cousins und Cousinen nicht nur in den Augen der Gesetzeshüter zählten.

Dieser „Express“ setzte sich Richtung Hansestadt Lübeck in Bewegung. Am Grenzübergang Schwanheide gab es den an solchen „Übergängen“ üblichen etwa einstündigen Aufenthalt zwecks Kontrolle jedes einzelnen Fahrgastes, seines Gepäcks und seiner Dokumente. Personen, die den „Organen“ in irgendeiner Weise verdächtig erschienen, mussten den Zug zeitweilig verlassen und sich in der Zollbaracke einer Leibesvisitation unterziehen. Spürhunde krochen unter die Waggons, aber nicht, um nach Rauschgift zu schnuppern (sowas war in der DDR so gut wie ein Fremdwort), sondern nach blinden Passagieren, die illegal „in den Westen machen“ wollten. Meine Person erschien unverdächtig. Mein Koffer offenbar auch. Auf einer Autofahrt über die Grenze nach Marienbad, und von dort wieder zurück nach Bad Elster, wo ich mich einmal zur Kur befunden hatte, nahm ein Zöllner mein Auto auseinander, weil er mehr als eine mitgebrachte Dose Ölsardinen bei dem Wochenendausflügler vermutete. Konservierte Ölsardinen waren (wie auch Dorschleber) Mangelware im Staate DDR.

Auf der langen Fahrt nach Lübeck hatte ich genügend Gelegenheit, über meinen ersten legalen Grenzübertritt nach dem Bau der Berliner Mauer nachzudenken. Der vollzog sich Ende April 1980, nachdem meine Mutter verstorben war. Sie hatte während der Nazizeit den Kontakt zu ihrer Jugendfreundin Trudchen und deren kleinem Sohn Ronny aufrecht erhalten, obwohl Trudchen mit einem im Internierungslager seines Hamburger Arbeitgebers eingesperrten Juden verheiratet war. Dass er nicht ins KZ abgeschoben wurde, hatte er jenem Arbeitgeber zu verdanken, offenbar einem Mann vom Schlage des Oskar Schindler.

Als die Freundin mit Mann und Kind nach dem Kriege in die USA umsiedelte, folgte ihr (nachdem Trudchen alles Organisatorische vorbereitet hatte) meine Schwester Klara, eine gelernte Herrenfriseuse. Nach „Republikflucht“, einjähriger Tätigkeit in dem zur Region Würzburg gehörenden Ort Eußenheim und ohne ein Wort Englisch zu beherrschen, durfte sie in die Staaten ausreisen. Trudchen kümmerte sich um Klara, die bei der Familie wohnen durfte. Die Sprache erlernte sie per Fernsehen und Abendschule. In Chicago bewarb sie sich als Stewardess, wurde angenommen und bewährte sich nach entsprechender Lehrzeit auf verschiedenen Inlandfluglinien. Als Klara heimlich geheiratet hatte und schwanger wurde, kündigte sie, ehe man ihr gekündigt hätte; denn die Vorschriften ließen bei Dienstleistungen über den Wolken so etwas nicht zu – so streng waren dort die Bräuche.

Sie kehrte nach Deutschland zurück, fortan beim Bodenpersonal des Flugwesens tätig. Dabei machte sie die Bekanntschaft mit Sven Sobantge, der wie sie in der Verkehrsabteilung beschäftigt, aber eigentlich Schauspieler gewesen war. Jedes Jahr zur Leipziger Messe besuchte Klara mich und meine Familie, und da sie nicht gern allein die Reise antrat, brachte sie immer eine Begleitperson mit. Eines Tages auch Sven Sobantge. Das war relativ einfach, denn zu den Messen konnte quasi jeder ohne Antragstellung und Einladung aus dem Westen einreisen. Hauptsache, er erwarb einen Messeausweis (den gab es in jedem Reisebüro), ließ sich registrieren und legte sein „Eintrittsgeld“ in harter Währung den staatlich Beamteten auf den Tisch. Später reiste Sven auch ohne Klara ein und brachte Frau und Sohn gleich mit.

Inzwischen hatte Klara unsere Mutter nach deren Eintritt ins Rentenalter „nach drüben“ kommen lassen. Ein Jahr lebten sie mit Klaras Töchterchen in England, danach in Bayern. Im Alter von Fünfundsiebzig ließ „Oma“ die beiden nach einer Infusion und eintretender Gehirnblutung allein, und ich erhielt die Erlaubnis, den Bestattungsfeierlichkeiten beizuwohnen. Allerdings erst, nachdem es die Behörde abgelehnt hatte und ein Genosse Kulturfunktionär (später letzter Kulturminister der DDR!) sich für mich eingesetzt und über eine interne Telefonleitung interveniert hatte. Obwohl ich nur ein unsicherer Kandidat und Mitglied einer der dienernden Blockparteien war. Aber ich genoss Vertrauen als kabarettelndes Mitglied der „Pfeffermühle“.

Ich wurde am Lübecker Hauptbahnhof von meinem Cousin Horst abgeholt. Horst war nach Abitur an der Nikolaischule, kurzem Dienst bei der Wehrmacht und amerikanischer Kriegsgefangenschaft schon in jungen Jahren von seiner Heimatstadt Leipzig nach Westberlin übergesiedelt, hatte an der Freien Universität studiert, geheiratet und sich mit Familie in Husum niedergelassen. Er übte den Beruf eines Lehrers aus, der zum Oberstudienrat aufstieg. Den Kontakt zur Verwandtschaft in der Messestadt hatte er nie verloren und besonders in den achtziger Jahren durch fast regelmäßige Besuche zu den Messen verstärkt.

Horst war eng befreundet mit dem 1994 verstorbenen Schriftsteller und Journalisten Bernt Engelmann und dessen Lebensgefährtin. Er schenkte mir auf Anhieb Engelmanns „Schwarzbuch Helmut Kohl“. Ebenso schwärmte Horst für den Autor, Publizisten und Kabarettisten Erich Mühsam. Dessen Lied vom „Revoluzzer“ hatte ich 1966 in einem Programm vorgetragen, das aus Kabarett-Texten der zwanziger Jahre bestand; zu einer Zeit also, in der Horst noch gar nicht mit Mühsam vertraut war. Horst beteuerte, der Erich-Mühsam-Gesellschaft beizutreten, die für den 6. April 1989 geplant war.

Gleich am zweiten Tage machte Horst mit mir eine Stadtführung. Außer dem Wahrzeichen der Stadt, dem Holstentor, zeigte er mir unter anderem das Buddenbrookhaus in der Mengstraße, das in verschiedenen Baustilen erbaute und zu verschiedenen Zeiten erweiterte Rathaus, und das nach dem Hersteller des Marzipans benannte Café Niederegger. Zum Mittagessen lud er mich in das durch den typischen Backstein-Treppengiebel unverkennbare Haus der Schiffergesellschaft ein. Es gab eine köstliche Kartoffelsuppe.

Dem dritten Tage blieb ein Besuch Hamburgs vorbehalten. Wer noch nie in Hamburg gewesen ist, was will der sehen? Das, was weltweit in aller Munde ist, also – außer der im Volksmund „Michel“ genannten, unübersehbaren St.-Michaelis-Kirche – die Reeperbahn und den Fischmarkt in St. Pauli. Für den Fischmarkt war es zu spät, da hätte man sonntags kommen müssen, wenn der Woche für Woche stattfindet, und nicht erst am Dienstag, wenn sich ein Lübecker mit seinem Gast auf die Socken macht. Für die Reeperbahn wiederum war es zu früh. Die erwacht zwar täglich zum Leben, aber da geht das rotbelichtete Remmidemmi ja erst nach Einbruch der Dunkelheit los, wenn sich der Lübecker mit Gast schon längst wieder auf den Heimweg begeben hatte. So musste sich der Gast mit einem Apfelstrudel und einem Becher Kaffee bei McDonalds zufriedengeben. Das hätte er natürlich auch in Lübeck haben können. Auf der Rückfahrt gab es noch einen Kurzbesuch bei Rainer, einem Pharmavertreter, ständigen Leipziger Messegast sowie Freund und Kollege des Helmut D. aus Wien, von dem noch die Rede sein wird. Rainer lud mich ein paar Tage später bei einer Lübeck-Visite im Steakhouse zum Essen ein. Dass wir „Pfeffermüller“ in den Folgejahren mit konstanter Regelmäßigkeit Gastspiele mit dem jeweils aktuellsten Programm in Hamburg haben würden, und zwar in Deutschlands größtem privat geführten Theater mit 744 Sitzplätzen, nämlich dem Ernst-Deutsch-Theater, und das jeweils gleich zweimal an einem Tag, war noch nicht abzusehen und wird erst im März 1992 spruchreif werden.

Am vierten Tage fuhr Horst mit seinem Verwandten zweiten Grades nach Travemünde. Auf Anhieb wurde ich an das mir durch sechzehn Jahre Zelturlaub im nahe gelegenen Graal-Müritz bestens bekannte Warnemünde erinnert. Erstens war es ja – ähnlich wie Travemünde der Hansestadt Hamburg – der Hansestadt Rostock seewärts vorgelagert. Zweitens ragte auch hier ein riesiger Betonklotz hervor, dessen Anblick Ähnlichkeit mit dem in Warnemünde hervorragenden Hotel Neptun aufwies. Allerdings hatte das Travemünder Maritim-Hochhaus auf einer Höhe von 119 Metern auf zehn Etagen Hotelzimmer und auf den darüber gelegenen 22 Etagen private Wohnungen. Ganz oben befand sich noch ein Restaurant. Dagegen war das Neptun mit seinen 68 Metern Höhe und 18 Etagen freilich ein Zwerg, aber dennoch weithin sichtbar. Und ganz oben, also in der 19. Etage, gab es gleichfalls ein Restaurant, die „Sky-Bar“, nach obenhin offen mit Blick auf den Sternenhimmel. Natürlich nur an regenlosen und klaren Nächten. In einem Nachtprogramm, das die sogenannte Konzert- und Gastspieldirektion den Gästen in der Sky-Bar bot, war ich sogar schon mit meinem Kabarett-Kollegen Hans-Jürgen aufgetreten. Während das Neptun 1971 in Betrieb ging, kann man das Maritim bösartig als aufgemotzten Abklatsch bezeichnen, denn es wurde erst drei Jahre später, 1974, fertig.

Am fünften Tage stieß auch Cousine Anita zu uns beiden Herren. Sie war mit ihrer Mutter in Memmingen ansässig, und vor ihrer Flucht aus der DDR eine hoch angesehene Leipziger Kindergärtnerin. Ihr Tätigkeitsfeld erstreckte sich auf die erste Etage eines Eckhauses zwischen Torgauer- und Eisenbahnstraße in Sellerhausen, hinter dem sich in grauer Vorzeit die Ausflugsgaststätte „Rheingold“ befunden hatte. Unten drin war eine Geschäftsstelle der „Volkspolizei“ stationiert, und somit Anitas Kinderchen bestens behütet. Damals hätte man die Einrichtung „Kiga“ (für Kindergarten) abkürzen können, denn „Kitas“ (Kindertagesstätten) gab es da noch lange nicht.

Der fünfte Marzipanstadt-Tag bescherte uns den Besuch des Lübecker Theaters. Cousin Horst hatte nämlich Karten für eine Aufführung des sehr sozialkritischen Musicals „Linie 1“ besorgt, das 1986 vom Berliner Grips-Theater uraufgeführt worden war. Wir unterhielten uns königlich. Nicht absehbar war zu diesem Zeitpunkt – ähnlich wie in Hamburg –, dass unser Kabarett auch hier für ständige Gastspiele vorgemerkt wird, anfangs noch im „Colosseum“ mit 680 Plätzen, und einem mit azurblauer Decke, braunroten Wänden und Kristalllüstern ausgestalteten Saal. Erste später wird das Theater seine Bühne für die Aufführung unserer Programme öffnen.

Wenn in den Beziehungen beider deutscher Staaten zueinander Normalität geherrscht hätte, wäre ich am sechsten Tage noch in Lübeck verblieben und am siebenten nach Hannover gefahren, was etwa die Hälfte der Strecke nach Leipzig gewesen wäre. Denn in Hannover sollte ich zusammen mit einem Teil unseres Ensembles, der „Pfeffermühle“, in Dietrich Kittners „Theater am Küchengarten“ (TAK) mit dem letzten aktuellen und weitgehend tabulosen Programm vor der Wende auftreten. Der Titel erinnerte an den von Friedrich II. stammenden Slogan von der „Verdammten Pflicht und Schuldigkeit“, die jedoch hier zur „Schludrigkeit“ wurde. Die andere Hälfte des Ensembles spielte indessen zu Hause ein Parallelprogramm; im folgenden soll diesbezüglich nur die Rede von dem Ensembleteil sein, bei dem ich beschäftigt war.

Einen Reisepass hatte ich ja. Aber es war ein privater Reisepass, und der hätte mir nach den Gastspielen auf der Rückreise im Tourneebus nichts genutzt. Da brauchte ich für die Grenzkontrolle – wie meine Kollegen schon bei der Einreise – einen Dienstreisepass. Und der wurde in Leipzig erst kurz vor Antritt der Reise vom begleitenden SED-Funktionär ausgegeben. So begab es sich, dass ich mich am sechsten Tage mit Privatpass auf die Heimreise nach Leipzig machte und Hannover links liegen ließ, um am siebenten Tage wieder von Leipzig aufzubrechen (diesmal mit Dienstpass!) und in Hannover Station zu machen. Ein kaum zu überbietendes Beispiel von Bürokratismus im Sozialismus. Wobei man bei aller Bürokratie mit Antragstellungen, Laufereien et cetera froh sein musste, überhaupt einen Anlass zu finden, um (west)reisen zu dürfen.

Was mir von diesem Hannover-Aufenthalt in Erinnerung blieb, ist die Tatsache, dass ich bei einem Bummel durch das dem TAK nahegelegene Viertel überrascht war, wie viele Häuserwände hier mit undefinierbaren Klecksereien besprüht waren, eine Unsitte, die sich unter dem Namen „Graffiti“ erst in den neunziger Jahren im Osten auszubreiten beginnt.

Unvergessen blieb auch, dass Familie Kittner sehr besorgt um das leibliche Wohl der Müllerinnen und Müller, aber gleichzeitig auf Sparsamkeit bedacht war. Frau Kittner (Christel) bekochte sie mit Hausmannskost. War auch nötig, denn mit 46,50 DM Tagegeld konnten die Kabarettisten keine großen Sprünge tun. In die Steingutteller, auf deren Boden in der Mitte neckischer Dekors ein Häuschen im Walde zu sehen war, wurde reichlich Kartoffelsuppe gefüllt, die richtig gut schmeckte und satt machte. Jeder kriegte sogar noch einen Nachschlag. Ich schaffte ihn kaum und stöhnte, als sich der Teller zu leeren begann: „Bin ich froh, das Häuschen wieder zu sehen!“

Ansonsten blieb erinnerlich, dass einige der meist links ausgerichteten Besucher Bauklötzer staunten, was in der DDR auf Brettlbühnen wie der unseren freimütig alles gesagt werden durfte und so gar nicht dem Ideal entsprach, das ihnen vom Honeckerstaat vorschwebte. Und ferner, dass ein Pharmakologe, ständiger Besucher der Messen in Leipzig und Kabarettfreak, der im Hannoverschen lebte und der unser Gastspiel bei Kittner besucht hatte, mich und meinen Kollegen Günter zu einer Fahrt nach Hameln in seinem Mercedes einlud. Unbeeindruckt von der Rattenfängerstadt war Günter darauf aus, seiner Frau einen Römertopf und eine Pfefferspraydose mitzubringen, weil so was daheim schwer oder gar nicht zu bekommen war. Er bekam es und brachte es unbeschadet auf der Rückreise durch den Zoll. Übrigens verstirbt der „Einzelkämpfer und Partisan“, wie Günter Wallraff Kittner einmal nannte, am 15. Februar 2013 in Dedenitz/Steiermark, wo er die letzten Jahre verbracht hatte.

Ergänzend bleibt zu sagen, dass die allerersten „West“-Gastspiele nach dem Mauerbau bereits 1983 stattfinden durften, und zwar auf Initiative von Werner Schneyder und seine Fürsprache bei Altbundeskanzler Bruno Kreisky in Salzburg, Linz und Wien, und durch Oskar Lafontaines günstigen Einfluss auf Landsmann Erich Honecker in Saarbrücken.

In der letzten Januarwoche ließ ich mich wieder mal per Bahn mit anderen Mitgliedern des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Kunst im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) nach (Ost-)Berlin fahren, um dort an einer Tagung teilzunehmen. Mir war die „Ehre“ zuteil geworden, als Vertreter der Leipziger Kabaretts in diesen Zentralvorstand nominiert worden zu sein. Vor Beginn der Tagung setzten sich erst mal die SED-Genossen hinter verschlossenen Türen zusammen, um Dinge zu besprechen und zu beschließen, die die parteilosen Kollegen oder Mitglieder der Blockparteien nicht zu wissen brauchten. Sie legten „die Linie“ fest. Diesmal aber wagte es ein junger Gewandhausmusiker in einer der folgenden Referate, alltägliche Mängel, Verfall und Umweltbelastung an den Pranger zu stellen. Prompt fingen einige linientreue Genossen Gewerkschafter an, lauthals zu murren über derart unsachliche Bemängelungen. Übers Murren kamen sie jedoch nicht hinaus.

Nachdem dieser „Diskussionsbeitrag“ und das vorangegangene Hauptreferat abgehakt werden konnten, nahm ich noch was zum Frühstück ein. Weiteres Blablabla ersparte ich mir, da ich ja (angeblich) abends in einer Vorstellung mitwirken musste, schlich mich klammheimlich davon, kaufte noch rasch im „Delikat“-laden in der Leipziger Straße das ein, was es in Leipzig nicht zu kaufen gab, wie zum Beispiel in dieser Jahreszeit Grüne Gurken, und fuhr dann mit dem nächstmöglichen Zug wieder heim.

Für die Jüngeren unter uns, die nicht die Gnade der frühe(re)n (DDR-)Geburt hatten: Das Pendant zu den Delikatläden waren die Exquisitläden, in denen es überteuerte, aber edle Klamotten wie Schuhe, Hemden, Kleider, Mäntel et cetera zu kaufen gab. Man wollte mit dieser Art Geschäften ein Zuviel an umlaufendem Geld bei den Wohlhabenden „abschöpfen“. Hinzu kamen noch die für Westgeld (also D-Mark) verkaufenden „Intershops“. Manchmal handelte es sich bei den Westprodukten auch nur um eine „Gestattungsproduktion“, das heißt, eine zwar im Osten produzierte, aber im Westauftrag hergestellte Ware. Zum Beispiel Parfum. Da aber nicht gerne gesehen wurde, dass in der Bevölkerung Westgeld in Umlauf war, führte der Staat sogenannte „Forumschecks“ im Verhältnis 1:1 ein. „Spielgeld“, wie man sagte, was jedoch lediglich neben der D-Mark in solchen „Shops“ angenommen wurde. Von mir hatte zum Beispiel der Südwestfunk Baden-Baden einen Text gesendet. Vom Entgelt musste ich dem Staat die Hälfte als Provision „spenden“. Von der anderen Hälfte bekam ich 20 Prozent in DDR-Mark und 30 Prozent in Forumschecks ausgehändigt. Die 30 Prozent aber nur, wenn ich es zuvor formlos beantragt hatte. Ergänzend müssen noch die „Genex“-Verkaufsstellen genannt werden, in denen man sogar Autos östlicher und westlicher Produktion gegen harte Währung erwerben konnte. Normale Sterbliche mussten auf die östlichen nach entsprechender Vorbestellung bis zu zehn und mehr Jahren warten. Westliche wurden nur gegen Vitamin B (B = Beziehung) verschachert. Im sozialistischen Alltag durfte sich die Bevölkerung mit Läden der Volkseigenen Handelsorganisation HO, mit dem Konsum und vereinzelten Privatgeschäften wie Bäcker, Fleischer und Gemüsefritzen zufrieden geben. An gemütlichen Kneipen gab es etliche private, meist nur „mit staatlicher Beteiligung“. Da es viel zu wenige gab, waren sie ständig ausgebucht, und um Sitzplätze zu bekommen, musste man oft stundenlang warten. Vorm Eingang stand dann immer eine Tafel, wo draufstand: „Sie werden platziert“. HO und Konsum betrieben auch Hotels und Warenhäuser.

Diesmal hätte ich mir das Anstehen nach Treibhausgurken im Delikat ersparen können, da am nächsten Tage Freunde aus dem Westen erwartet wurden, nämlich die Sobantges, die nicht nur Gurken, sondern auch kistenweise Bananen, Apfelsinen und andere Köstlichkeiten mitbrachten, die hierzulande zu den nur sporadisch auftauchenden Raritäten gehörten. Während des einwöchigen „West“-Besuches wurde unter anderem das Vorhaben von unserer jüngeren Tochter Annelies und dem Sohn der Freunde ausgiebig beraten. Dieser hatte sich bereit erklärt, die Tochter „rauszuheiraten“. War die Scheinehe vollzogen, die Tochter ausgereist und „drüben“ ansässig geworden, sollte im beidseitigen Einverständnis die Scheidung eingeleitet werden.

All das war natürlich streng geheim. In Vorbereitung der verruchten Tat existierte schon seit längerem ein intensiver Briefaustausch mit heißen Liebesschwüren zwischen Tochter und Freundessohn, der denjenigen Stasileuten in die Hände fallen sollte, die solche Korrespondenz gar zu gern einer Brieföffnung oder Durchleuchtung unterzogen. Was dabei einen fast komischen Effekt erzielte, war die Tatsache, dass der Scheingatte Legastheniker war und dementsprechende Schwierigkeiten hatte, die Romanze fehlerfrei aufs Papier zu bringen.

1989 oder Wie ich die Revolution verpasste

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