Читать книгу Die Fast Food Falle - Harald Sükar - Страница 7
ОглавлениеDas Geständnis, das keines sein sollte:
»Wir sind Teil des Problems … ähm, der Lösung.«
Zuerst reift die Selbsterkenntnis. Im Stillen. Danach folgt die Selbstkritik. Laut und vielleicht sogar öffentlich. Sind das nicht menschliche Tugenden, die wir schätzen? Vor allem, wenn sie ehrlichen Ursprungs sind, wenn sie zur rechten Zeit am rechten Ort in Erscheinung treten?
Spitzenmanager globaler Konzerne besitzen diese menschlichen Tugenden in der Regel nicht. Wenn doch, so halten sie sich sehr bedeckt damit. Sie tragen weder Selbsterkenntnis noch Selbstkritik einfach so nach außen. Schon gar nicht, wenn sie massiv unter Beschuss stehen. Schon gar nicht in der Fast-Food-Industrie. Und schon dreimal nicht vor laufender Kamera. Wenn überhaupt, dann unter ihresgleichen. Bei einem launigen Treffen hinter verschlossenen Türen etwa. Mit dem dritten Glas Whisky in der einen und einer Havanna in der anderen Hand.
Wer beschmutzt schon gerne das eigene Nest? Und doch hat Gene Grabowski genau das getan. Ohne es zu wollen. Es ist ihm herausgerutscht. Denn er hat, mit sichtbaren Schweißperlen auf der Stirn, diesen einen Satz in die Kamera gesagt:
»Wir sind Teil des Problems …«
Als dem fünfzig Jahre alten Grabowski dieser verräterische Sager entfährt, ist er längst nicht mehr der kleine Reporter bei der Washington Times mit Spezialgebiet Weißes Haus, der er irgendwann einmal gewesen war. Grabowski hat große Karriere gemacht, ist nunmehr Vize-Präsident der GMA. Und zugleich ihr Sprecher.
Was das ist, die GMA?
Damals, im Jahr 2004, steht das Kürzel noch für Grocery Manufacturers of America. Später (und bis zum heutigen Tag) wird GMA nach einer Fusion mit der Food Products Association (FPA) dafür stehen:
Grocery Manufacturers Association.
Ein Fachverband der Lebensmittelindustrie. Aber nicht irgendwelcher Kleinkrämer oder der halbwegs potenten Gewerbetreibenden nur eines einzigen Landes, sondern der weltweit größten Markenartikel-Unternehmen für Lebensmittel, Getränke und Konsumgüter. Eine Vereinigung, der vorübergehend auch die vormalige First Lady Michelle Obama beitrat, um mit ihrer Let’s move-Kampagne gegen die ausufernde Epidemie fettleibiger US-amerikanischer Kinder anzutreten. Dass diese Epidemie längst den ganzen Globus erfasst und sich damit zu einer Pandemie ausgeweitet hat, ist mittlerweile nicht mehr von der Hand zu weisen.
Offiziell ist die GMA eine Non-Profit-Organisation. Vor allem aber ist sie eine unfassbar mächtige Lobby. Ein tausendarmiger Krake der Industrie, dessen Tentakel überallhin reichen. Bis in den letzten Winkel des kleinsten Hinterzimmers politischer Entscheidungsträger. Rund um den Erdball. Von Z wie Zypern bis A wie Afghanistan. McDonald’s gibt es schließlich auch in Kabul.
Aber was kann einen Medienprofi wie Gene Grabowski so sehr aus der Fassung bringen, dass ihm dieser Lapsus widerfährt? Diese Peinlichkeit? Unabsichtlich einzugestehen, was niemals eingestanden werden darf?
Ursprünglich (so viel kann ich Ihnen schon verraten) hat Grabowski die alte Leier abspulen wollen. Einen Text, den jemand wie er immer und überall runterbeten kann, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Einen Standardtext zur Verantwortung der Lebensmittel-Konzerne, den er so selbstverständlich intus hat, wie jeder Geistliche das Vaterunser. Sätze wie:
»Die Lösung muss im Bildungssystem liegen.«
Oder:
»Man muss den Sportunterricht fördern.«
Oder auch, was er tatsächlich gesagt hat, angesprochen auf die Rolle der Lebensmittel-Giganten im Allgemeinen und der Fast-Food-Industrie im Speziellen. Wie es in punkto Verantwortung für die Gesundheit von zig Millionen Menschen in seinem Heimatland steht. Und von Milliarden in aller Welt.
Gene Grabowski im Originalton: »Wir werden weiterhin gutes Marketing betreiben, Bildungsprogramme finanzieren, was wir ja schon im großen Stil tun. Wir informieren Eltern, um Probleme zu lösen. Das tut die Nahrungsindustrie. Wir spielen eine verantwortungsvolle, wichtige Rolle.«
Diese angesprochene Co-Finanzierung von Bildungsprogrammen bedeutet: Zwar werden Hunderttausende Kinder in den USA alphabetisiert, lernen endlich einigermaßen Lesen und Schreiben, doch um den Preis, dass die ohnehin verschwindend geringe Wochenstunden-Zahl für Sport in den Schulen weiter schrumpft. Mit dem Ergebnis, eventuell um einen Hauch gebildetere, aber mit Garantie um Längen fettere Kinder in den Bänken sitzen zu haben. Unter anderem auch, weil die Softdrink-Hersteller ihre Automaten weiterhin in den Schulgängen aufstellen und befüllen dürfen.
Das weiß ein Mann wie Gene Grabowski selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich kommt ihm aber nichts dergleichen über die Lippen. Stattdessen sagt er in die Kamera:
»Wir sind keine Polizei oder Behörde. Wir stellen günstige Lebensmittel in Mengen her, wie nie zuvor. Die Industrie übernimmt Verantwortung. Wir wollen mehr tun, weil wir erkennen: Wir haben eine Aufgabe. Wir sind Teil der Lösung.«
Und dann passiert’s eben. Weil an diesem Tag irgendetwas anders ist. Weil der ausgebuffte Medienprofi Grabowski auf dem falschen Fuß erwischt wird. Vielleicht hat er einfach nur schlecht geschlafen. Vielleicht liegt es aber doch an den verstörenden Fakten, mit denen man ihn in der Lobby der GMA konfrontiert. Ausgesprochen von diesem lästigen Ex-Kollegen, der mit allen Wassern gewaschen ist:
Morgan Spurlock.
Regisseur. Dokumentarfilmemacher. Drehbuchautor. Produzent. Versuchskaninchen im eigenen Auftrag. Und auf gewisse Weise auch Journalist wie früher Grabowski. Einer der, hat er erst einmal Fährte aufgenommen, sich verbeißt, wie ein von der Leine gelassener Kampfhund. Mit seinen nervenden Fragen, die er obendrein mit jeder Menge Hintergrundwissen unterbuttert.
Und so stottert Gene Grabowski, Vize-Präsident der großen GMA, in die Kamera:
„Wir sind Teil der Lösung
… Wir sind Teil des Problems
… ähm, Teil der Lösung.“
Monate später flimmert der fertige Film (samt Grabowskis peinlichem Versprecher) über die Leinwand: Super Size Me. Vorerst beim Sundance Festival, einem renommierten, alljährlichen US-Film-Event, das als bedeutende Plattform für unabhängige Produktionen gilt. Seien es amerikanische, seien es internationale.
Es ist Jänner 2004. Beim Sundance Festival streift der Film gleich seinen ersten Preis ein, den für die beste Regie. Eine Reihe weiterer Auszeichnungen wird folgen. Im Mai desselben Jahres kommt der Streifen in die US-amerikanischen Kinos.
In den vier Monaten zwischen Festival und Leinwandstart rumort es gewaltig hinter den Kulissen. Offiziell wird das später nie jemand bestätigen, doch die einhundert bitterbösen Minuten, die Morgan Spurlock für seine satirische Gesellschafts-Doku abgedreht hat, haben es in sich. Und sie haben Folgen. Auch wenn bis zum heutigen Tage behauptet wird, dass die Änderungen im kulinarischen Programm bei McDonald’s, die im Anschluss folgen sollten, schon lange vorher geplant waren.
Wie es sich wirklich abgespielt hat, habe ich selbst miterlebt. Damals war ich, nach knapp zweijähriger Unterbrechung, zum zweiten Mal bei McDonald’s. Nicht nur als Geschäftsführer und Chef über die damals bereits 174 Filialen in ganz Österreich, sondern obendrein als Vize-Präsident für Personalangelegenheiten in Zentraleuropa. Das bedeutete, dass ich, rein konzeptionell betrachtet, für 140.000 Mitarbeiter zuständig war.
Dann kam der Film. Im Mai in den USA. Mitte Juli in Deutschland. Ende Oktober in Österreich. Bestimmt erinnern sich viele von Ihnen noch an die eine oder andere Szene. Nein? Nur bruchstückhaft?
So begleiten Sie mich auf dieser kleinen Reise in die Vergangenheit. Fünfzehn Jahre zurück. Das erscheint im ersten Moment wie eine sehr lange Zeit. Dabei sind fünfzehn Jahre so gut wie nichts. Nicht bei diesem Film, denn er hat bis heute nicht nur keinen Funken Aktualität eingebüßt, sondern in seiner Dramatik im Gegenteil um Dimensionen zugelegt. Nichts, was mit Fast Food zu tun hat, hat sich seither zum Besseren gewandelt, alles nur noch wesentlich verschärft.
Erstaunlich war und ist dieser Film in vielerlei Hinsicht. Einmal, weil er so symptomatisch ist für den Umgang der Fast-Food-Branche mit handfesten Krisen. Dann wieder, weil es ein einzelner Mensch war, der einen Riesen der Branche ordentlich ins Schwitzen gebracht hat. Ein absoluter Low-Budget-Streifen, hergestellt für fast lachhafte 300.000 US-Dollar, was schon an der Liste der Mitarbeiter abzulesen ist:
Regie: Morgan Spurlock.
Drehbuch: Morgan Spurlock.
Produktion: Morgan Spurlock.
Kamera: Scott Ambrozy.
Schnitt: Stela Georgieva, Julie Bob Lombardi.
Besetzung: Morgan Spurlock.
Das war’s dann schon wieder. Drei für Kamera und Technik, schauspielerisch eine One-Man-Show, sieht man von Spurlocks Interview-Partnern ab. Aber die haben alle ohne Gage mitgemacht. Mehr ist da nicht an Aufwand. Minimale Mittel, die eine weltweit maximale Wirkung zeitigen.
Werfen wir also im Zeitraffer einen Blick hinein in:
»Super Size Me« – Fressen bis zum Anschlag
»Ich glaube an Gott, die Familie und an McDonald’s. Und im Büro ist diese Reihenfolge umgekehrt.«
Das ist auch eines der vielen, fast legendären Zitate von Ray Kroc. Auch wenn er 2004 schon seit 20 Jahren tot ist. Ich selbst stieg 1993 bei McDonald’s ein, erlebte Kroc als Big Boss also nicht mehr. Dennoch war seine eiserne Hand, sein Generalkonzept, weder die Auswahl der Produkte, noch die Vermarktung und überhaupt keinen einzigen Handgriff eines Mitarbeiters dem Zufall zu überlassen, auch für mich von Anbeginn spürbar. Jederzeit. Das war immer schon so. Und das hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert. In jeder der knapp 37.000 Filialen. Für jeden der rund 1,8 Millionen McDonaldianer.
Überhaupt sind viele von Krocs Philosophien und Vorgaben bei McDonald’s so etwas wie ungeschriebene und zugleich eherne Gesetze. Unantastbare Fixpunkte, Maximen, an denen nicht zu rütteln ist. Weltweit heilige Kühe. Selbst wenn sie nicht mehr zeitgemäß sein mögen, oder hinderlich, weil eben die Betriebsabläufe im 21. Jahrhundert andere sind. Ich komme noch darauf zurück.
Der Film Super Size Me präsentiert zu Beginn allerdings ein anderes Zitat. Eines, das uns bereits begegnet ist:
»Kümmere dich um die Kunden,
und das Geschäft wird sich um sich
selbst kümmern.«
Zuvor werden wir noch für ein paar Sekunden auf eine Weise in die Materie eingestimmt, sodass uns zum ersten Mal der Atem wegbleibt. Weil die allerersten Bilder diese sind: eine Schar von Schulkindern, im Freien aufgefädelt, in mehreren Reihen sitzend. Fröhliche Buben und Mädchen, die ein Lied singen. Nicht irgendeines. Der Text geht so:
»A Pizza Hut …A Pizza Hut.
Kentucky Fried Chicken and a Pizza Hut.
McDonald’s …McDonald’s!
Kentucky Fried Chicken and a Pizza Hut.
I like food … I like food …
Kentucky Fried Chicken and a Pizza Hut.«
Die Worte werden ergänzt durch ausladende Gesten der Kinder, die auf einfachste Weise die angesprochenen Fast-Food-Riesen darstellen sollen. Die Schülerinnen und Schüler sind allesamt etwa zehn bis zwölf Jahre alt, und viele mit deutlich zu viel Gewicht an den Rippen. Sehr viele sogar. Einige richtiggehend fett, sodass einem das Herz stockt in einer Mischung aus Schock und Mitgefühl.
Dann, schwarz unterlegt, das erwähnte Zitat mit den Kunden.
Jetzt erst, zu Bildern einer wehenden US-Flagge, setzt die Stimme des Sprechers ein. Wir bekommen zu hören, was wir ohnedies wissen: dass die USA das Land der Superlative ist, weil alles um einen Tick größer ist als anderswo. Autos. Häuser. Von da bis dort. Bis hin zu den Portionen auf den Tellern.
Dann: »Die USA sind heute die fetteste Nation der Welt. Herzlichen Glückwunsch.«
Ein Filmprofi wie Spurlock weiß natürlich genau, an welchen Schrauben er drehen muss. Doch um billige Effekthascherei geht es letzten Endes gar nicht, weil das, was danach kommt, ohnedies für sich spricht.
Wir erfahren, dass sechzig Prozent aller US-Amerikaner übergewichtig oder stark übergewichtig sind, sprich: fettleibig. Halten wir an dieser Stelle den Film kurz an.