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Der Eiswolf

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Es war einer jener bitterkalten Tage im Januar, als Kurt, der Waidmann, am Sonnabend bereits am Nachmittag seine Jagdkleidung anlegte. Nach langer Unterwäsche, Hemd und Pullover schloss den ganzen Mann dann außen jener Watteanzug ab, der eigentlich militärischen Ursprungs war und in der Ansicht aus lauter kleinen Strichen bestand. Vor der großen politischen Wende hatten recht viele Waidleute diese Sachen, bei besonders tiefen Temperaturen, getragen und kein Mensch fand etwas dabei oder man hatte sich daran gewöhnt. Jetzt wurden sie immer weniger und abgesehen von den Exemplaren, die tatsächlich den Weg alles Irdischen gegangen und verschlissen waren, wollte wohl niemand an die verflossenen Verhältnisse erinnert werden, auch nicht äußerlich. Kurt war das gleichgültig. Im Sommer schlüpfte er in den jahrzehntealten Lodenanorak oder Lodenmantel und zum Winteransitz in den besagten Watteanzug mit dem allerliebsten Strichdesign. Ein Jäger, der ihn ein bisschen von oben herab fragte, wie lange er die »Klamotten« denn noch anzuziehen gedenke, bekam nur die kurze Antwort: »Solange sie warm halten!«.

Die ortsansässigen Jäger und ein paar Gäste hatten sich wie alle Jahre zusammengefunden, um möglichst flächendeckend auf den Fuchs zu passen. Dieser lief und schnürte in diesen Wochen, als bekäme er Kilometergeld, und überall war sein heißeres, kehliges Bellen zu vernehmen. Dem Rotrock galt es also in erster Linie, aber freilich waren Waschbär, Marderhund und Co. auch freigegeben und wenn dann zufällig eine passende Sau kam, so war diese eben zur falschen Zeit am falschen Ort. Das Revier dankte es und wies einen kleinen, aber stabilen Fasanenbesatz auf.

Kurt freute sich immer, wenn er dann im Frühjahr hier und da die Gesperre, die hudernde Henne oder den aufgeregten Hahn mit den leuchtenden Rosen beobachten konnte. Auch ein Volk der selten gewordenen Rebhühner fand sich immer mal wieder ein und der Waidmann lächelte still und zufrieden in sich hinein, wenn er beim weiten Abglasen über die Flur die markanten, kleinen runden Hügelchen auf der schneebedeckten Fläche ins Okular bekam.

Der Zusammenhalt unter den Jägern war noch groß in jenen Jahren und so kamen alle gern, auch deshalb, weil nach drei bis vier Stunden das Ganze beim gemeinschaftlichen Schüsseltreiben im Dorfkrug mit Wildgulasch und Glühwein endete.

Nach kurzer Einweisung beim Treffpunkt am Rand des Dorfes ging es also los und jeder strebte seinem im Vorfeld festgelegten Ansitz zu. Die Jagd fand im Wesentlichen auf dem weitläufigen Wiesen- und Schilfgelände, das am Grenzfluss von Deutschland und Polen, der Oder, verlief, statt. Kurt hatte sich einen der am weitesten abseits gelegenen Ansitzplätze, auf einer kleinen Leiter an einer Kopfweide neben einem Graben ausgesucht und musste dazu geländebedingt eine recht lange Strecke zu Fuß zurücklegen. Nach mehreren hundert Metern merkte er dann sehr körperlich, dass er tatsächlich nach dem »Zwiebelprinzip« bekleidet war. Zum einen war ihm doch recht warm geworden durch die zügigen Schritte – zum anderen aber kam ihm unwillkürlich der Gedanke, dass er nun eigentlich auch eine dem nützlichen Würzgemüße angemessene Form der Fortbewegung wählen könnte – rollend nämlich. Bei dem Gedanken, dass er nach einer oder anderthalb Stunden auf dem Ansitz um so mehr frieren würde, je weiter er sich jetzt »aufheizen« werde, mäßigte er die Schrittgeschwindigkeit und verhielt, um zu verschnaufen und das Gelände abzuglasen.

Ruhe, tiefe Ruhe strahlte die verschneite Landschaft mit ihren weitläufigen Wiesen und Koppeln aus. Die großen, ebenen Flächen erstrahlten unter der fahlen, tiefstehenden Wintersonne, welche behutsam einen zarten, rötlichen Schimmer auf die Schneedecke ergoss. Es war eine jener seltenen Stimmungen, die Kurt immer wieder aufs Neue berührten. Das große, weite Rund wurde nur unterbrochen von vereinzelten Kopfweiden. Aber auch jene hatten sich weitgehend weiß eingehüllt. Auf jedem noch so kleinen Ast und Zweig lag ein Häubchen Schnee und selbst in die Ritzen der Rinde, die Richtung Osten zeigten, war die weiße Pracht durch einen Schneesturm sibirischer Dimension hineingepresst worden. Es war, als wollte die Natur das Regiment des Winters in diesen Tagen im Januar ausdrücklich anerkennen. Kein Laut war zu hören, und auch am makellos blauen Himmel ließ sich kein Mitglied der gefiederten Gesellschaft hören oder sehen. Nur an einem Graben, der nicht allzu weit vor Kurt verlief und der schütter mit Schilf bewachsen war, schimpften ein paar kleinere Vögel. Aber warum eigentlich waren die kleinen Kerle so aufgeregt, fuhr es dem Waidmann durch den Kopf.

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, glaubte er für einen Augenblick einen roten Wisch im Graben gesehen zu haben. Ganz sicher war er sich nicht. Aber die Erfahrung ließ ihn dennoch sofort hinter einem der Weidenstämme Deckung suchen – gerade noch rechtzeitig, wie sich sofort zeigen sollte! Kaum war er hinter dem Baum verschwunden und hatte den Drilling von der Schulter genommen, tauchte Reinekes spitzbübisches Gesicht am Grabenrand auf. Etwa achtzig Schritt, schätze der Waidmann die Entfernung ein und visierte, um dem Rotrock, sollte der noch ein oder zwei Fluchten aus dem Graben herauskommen, die Kugel anzutragen. Dieser aber hatte wohl den sprichwörtlichen sechsten Sinn und tauchte sofort wieder in Richtung Grabensohle ab. Verdutzt und auch ein wenig ärgerlich setzte Kurt die Waffe ab und war für den Moment ratlos. Doch als er da so stand und über die bekannte, oft gerühmte »Schlauheit« der Füchse sinnierte, keimte plötzlich neue Hoffnung auf und unser Waidmann war hellwach.

Über dem Grabenrand war die Luntenspitze des roten Freibeuters zu sehen, verschwand und tauchte erneut auf. Das Ganze kam immer dichter, da der Graben etwa zwanzig Meter neben dem Standort des Jägers im spitzen Winkel vorbeiführte. Als sich die steil aufragende, keck hin- und her winkende Standarte schließlich nur noch 30, vielleicht 40 Schritt entfernt zeigte, schob unser Jäger den Hebel auf dem Kolbenhals seines alten Drilling mit dem Daumen nach hinten und hatte so die beiden oben auf der Waffe liegenden Schrotläufe scharf gemacht. Nicht weit hatte der Wind einen starken Weidenast, beinahe eine halbe Baumkrone, über den Graben geworfen. Freilich konnte Gevatter Reineke unter bzw. zwischen den Zweigen durchkriechen, aber Kurt kalkulierte, dass für einen Fuchs an so einem Ort immer etwas Interessantes zu untersuchen wäre. Und richtig: Kaum war die Standarte vor den ersten Zweigen zu sehen, verhielt der Rote, aber nur, um Sekunden später auf dem Grabenrand aufzutauchen. Sofort fixierte er den Stamm, hinter dem Kurt stand. Jener war sich sicher, dass Reineke keinen Wind bekommen haben konnte und er auch keine Bewegung vollzogen hatte. Dennoch wendete der schlaue Rotrock blitzartig, um wieder im Graben zu verschwinden. Nun war ja der Waidmann längst im Anschlag und schickte also sofort eine Hagelgarbe in der Körnung von 3,5 mm hinüber. Welche Wirkung dies zeitigte, war für den Moment nicht genau zu erkennen, aber der Jäger glaubte wahrgenommen zu haben, der Fuchs sei zurück in den Graben geworfen worden. Immerhin war Kurt nun geistesgegenwärtig genug, um – so schnell es ging und der hohe Schnee es zuließ – hinüber an den Grabenrand zu eilen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass sich die begehrte Beute irgendwo unterschob oder eine Röhre fand, in der sie für den Jäger, zumindest vorerst, verloren war. Als er den Grabenrand erreichte fand er sofort einige rote Spritzer auf dem ansonsten makellos »weißen Leithund« und sah dann auch gleich Reineke wenige Meter weiter in der Grabensohle verendet liegen. Dumpf, sehr dumpf hatte der Schuss geklungen und war wohl trotz der Stille im weiten Rund auf größere Entfernung kaum zu hören gewesen.

Der hohe Schnee hatte den Schall weitgehend gedämpft und so war unser Waidmann guten Mutes, noch weiteres Wild in Anblick zu bekommen. Also befestigte er seine unverhoffte, frühe Beute, einen kräftigen Rüden, mit einer Schnur, die er aus dem Rucksack kramte, an einem tiefhängenden Ast der Weide, hinter welcher er gestanden hatte. Auf dem Rückweg würde er Reineke »einsammeln«. Nun setzte er, gut gelaunt, seinen Weg zum eigentlichen Ansitz fort.

An der kleinen Leiter, die geschickt und unauffällig an einer uralten Kopfweide platziert war, stieg er die wenigen Sprossen hinauf und befreite zunächst das Sitzbrett vom Schnee. Er versuchte, dies möglichst geräuscharm zu tun. Vor ihm lag ein Graben, dessen Mündung in den großen Fluss er in weniger als fünfzig Metern Entfernung sehen konnte. Ein anderer Teil des Flussufers war mit einem Schilfgürtel bewachsen, in welchem sich vermutlich Wild eingestellt hatte. Das Fährtenbild, das unser Waidmann beim Anwechseln flüchtig untersucht hatte, wies neben Fuchs- und Niederwildspuren auch Saufährten aus, deshalb die Vorsicht beim Erklimmen der Leiter. Auf das nun zwar schneefreie, ansonsten aber gefrorene, kalte Sitzbrett legte er sein zusammenfaltbares Sitzkissen und musste einen Moment daran denken, wie er als junger Mann törichterweise die Warnungen älterer Waidkameraden stets ignoriert hatte, sich nicht auf kalte, nasse Unterlagen zu setzen. Die Quittung bekam er prompt im fortgeschrittenen Alter, als sich eine sattsam bekannte, unangenehme und mitunter schmerzhafte Krankheit in der Mitte des Spiegels einstellte …

Als er nun endlich saß, ließ der Waidmann die seltene, beinahe absolute Ruhe auf sich wirken. Jeder Grashalm und jeder noch so kleine Zweig der Weidenbäume war von Frost erstarrt und oft noch mit Schnee bedeckt. Da auch absolute Windstille herrschte, war beinahe nichts zu hören. Nur von ganz weit weg waren leise die melodischen Laute der seltenen Singschwäne zu hören, die irgendwo in unmittelbarer Nähe des großen Flusses ihr Nachtlager bezogen. Mittlerweile schickte sich die Sonne an, ihren flachen Lauf an diesem Wintertag zu beenden und berührte mit dem unteren Rand ihrer großen, rötlichen Scheibe die Wipfel des dunklen Waldes am fernen Horizont.

Kurt, unser Waidmann, beobachtete mit einem stillen Glücksgefühl dieses allabendliche Schauspiel, dass er wohl schon tausende Male gesehen hatte. Es war aber jedes mal auch ein bisschen anders, je nach Perspektive, der Landschaft, dem Wetter usw. Und so hatte er sich über all die Jahre keinesfalls an irgendeine Art Gleichgültigkeit hinsichtlich dieser vermeintlich simplen Naturschauspiele gewöhnt. Immer noch bemächtigte sich ein Gefühl seines Inneren, das einem tiefen Frieden gleichkam und die täglichen Probleme und Konflikte in den Hintergrund treten ließ. Der große Fluss war von beiden Ufern her weitgehend zugefroren, nur in der Mitte war noch offenes Wasser zu sehen.

Als der Waidmann beim ruhigen Abglasen des Geländes diese Stelle ins Okular bekam, blieb sein Blick dort wie gebannt haften. Durch das noch fließende Wasser und die viel kältere Umgebung war jenes wunderschöne, seltene Phänomen zu sehen, das sehr zutreffend Eisnebel heißt. Durch den starken Temperaturunterschied zwischen Wasser und Umgebungsluft bilden sich winzige Eiskristalle, die als feiner Nebel schweben und makellos glitzern. Die jetzt tiefstehende, im Untergehen begriffene Sonne schickte für ein paar Minuten ein letztes, horizontales Licht herüber, das eine rötliche Grundfärbung hatte und – um dem Ganzen die Krone aufzusetzen – für einen schwachen Regen- bzw. Eisnebelbogen sorgte. Welch eine Symphonie von Schönheit und Anmut, ging es Kurt durch den Kopf. Ach wäre ich doch ein Maler, sinnierte er, ein Gedanke, der ihm bei besonders schönen Anblicken in der Mutter Natur immer mal wieder kam. Und so ließ der Waidmann die eindrucksvolle Stimmung auf sich wirken und registrierte nur drei-, viermal ein weit entferntes, entsprechend leises Geräusch, das einem kurzen, trockenen Husten ähnelte und mit etwas Phantasie und gutem Willen als Schüsse interpretiert werden konnte. Kurt frohlockte nun im Stillen, dass auch anderen Jägern Waidmannsheil beschieden war und der eigentliche Zweck des gemeinsamen Ansitzes erreicht werden würde.

Nach einer Weile – die Sonne war gerade hinter dem Horizont verschwunden – meinte er ein anderes, leises Geräusch aus dem Schilf zu hören. Es war aber nicht jenes markante Wispern, wenn die trockenen Schilfblätter aneinander rieben – dazu hätte es ein wenig Luftbewegung, eines leichten Windhauchs bedurft. Nein, auch stetig war es nicht, nur ab und zu vernehmbar. Trotzdem war unser erfahrener Waidmann sofort aufmerksam und hochkonzentriert. Er schob alle anderen Betrachtungen beiseite – der auf Beute hoffende Jäger war erwacht! Nun versuchte er, von dem Geräusch auf eine bestimmte Wildart zu schließen, kam jedoch zu keiner eindeutigen Zuordnung. So sehr er sich auch mühte und im Kopf alle möglichen Geräuschszenarien aus jahrzehntelangem waidmännischem Tun repetierte – hier kam er zu keinem eindeutigen Ergebnis.

Angestrengt versuchte er mit dem Fernglas neue Erkenntnisse zu gewinnen – vergeblich. Endlich, nach Minuten intensiven Abglasens meinte er eine Bewegung im Schilf gesehen zu haben. Da ihm aber ausgerechnet jetzt – der praktizierende Waidmann kennt das sicher aus eigenem Erleben – die Augen tränten, war er gezwungen, das Glas abzusetzen, um wieder, im buchstäblichen Sinne, den klaren Durchblick zu bekommen.

Als er die Augen trocken gewischt und das Glas erneut angesetzt hat, sah er unmittelbar hinter den ersten Schilfstängel etwas, dessen Anblick ihn augenblicklich in höchste Aufregung versetzte! Ein Wolf, durchfuhr es unseren Waidmann siedend heiß! Der Isegrim stand ganz still, ohne die geringste Bewegung, sicherte aber unentwegt zu Kurt hinauf. Sicher hatte der mit den denkbar schärfsten Sinnesorganen ausgestattete Räuber die geringen Bewegungen des Jägers beim Ab- und Ansetzen des Fernglases bzw. das Trocknen der Augen registriert. Kurt war von dem Anblick ganz gefangen, zwang sich zur Ruhe und betrachtete das Tier hinsichtlich seiner spezifischen Merkmale. Nun war unser Waidmann kein »Wolfskenner« – wie auch?! Aber immerhin traute er sich einzuschätzen, dass dies hier kein Jährling mehr war, der etwa auf der Suche nach einem eigenen Revier war. Dieser Wolf war schon etwas älter, darin war sich unser Kurt immerhin sicher. Die Zeichnung und Färbung war eine Melange aus grauen, weißen und wenig dunkleren Tönen in fließenden Übergängen. Gerade hier mit der Kulisse der trockenen Schilfpflanzen und des Schnees hob sich das imposante Tier kaum von der Umgebung ab. Schließlich wendete Isegrim, äugte noch einmal zurück und verschwand kaum hörbar im Schilfgürtel. Ein paar Augenblicke später sah der Waidmann den Wolf noch einmal kurz auf dem Eis der Oder im flotten Troll weiter wechseln. Kurt atmete tief durch und stellte fest, dass er die beißende Kälte gar nicht mehr spürte!


Als er sich bequem auf seiner Leiter zurücklehnte und das seltene Erlebnis noch einmal verinnerlichte, fiel ihm ein wie viele Forstorte oder Flurnamen im Umkreis auf den Wolf Bezug nahmen: Wolfsschlucht, Wolfskuhle, Wolfsfurt usw. Ob Isegrim nun bei seiner Rückkehr und Neuetablierung wohl instinktiv jene uralten Wechsel wieder zu begehen versuchte, die schon vor langer Zeit von seinen Ahnen angenommen wurden?

Schließlich baumte er ab, holte unterwegs den Rüden von der Weide ab und erreichte den Dorfkrug. Insgesamt waren fünf Füchse und ein Marderhund zur Strecke gekommen – ein durchaus zufrieden stellendes Ergebnis. Dann erzählte Kurt von seinem Erlebnis mit Isegrim und plötzlich hörten alle anderen Gespräche auf, kein Teller oder Besteck klapperte mehr und alle lauschten gespannt Kurts Erzählung. Dies war eine der ersten Sichtungen eines der grauen Räuber und keiner ahnte, wie sehr das Thema »Wolf« die Hubertusjünger in der Zukunft noch beschäftigen sollte. Wenn aber später an jenen Abend im Januar erinnert wurde, so sprach bald jeder wie selbstverständlich von jenem grauen Gesellen als dem »Eiswolf«.

Neue Fährten auf alten Wechseln

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