Читать книгу Kinder - Harald Winter - Страница 5

Kapitel 4

Оглавление

Odort richtete sich schweißgebadet auf. Er war aus dem Schlaf geschreckt. Ein unruhiger Schlaf begleitet von bösen Träumen. Er konnte sich kaum erinnern, wann er das letzte Mal schlecht geschlafen hatte. Jahrhunderte mussten seitdem vergangen sein. Wenn er sich recht erinnerte, war er damals noch Schüler gewesen. Zu dieser Zeit war der Orden nicht annähernd so mächtig wie heute. Feinde und Bedrohungen waren den Magiern nicht fremd gewesen. Bedeuteten die Träume etwa … nein. Das konnte nicht sein. Wo sollte eine echte Bedrohung für den Orden und ihn selbst, den Meister entstanden sein? Sicher. Abtrünnige gab es immer. Er selbst hatte Leros zu deren Bekämpfung im Norden ausgesandt. Sie stellten aber keine echte Gefahr dar. Man wies sie in die Schranken, vernichtete sie wenn es notwendig war. Sie konnten die Macht des Ordens kaum erschüttern. Was also hatte ihm den Schlaf geraubt? Er war zu alt und zu erfahren um diese Warnung zu ignorieren. Alpträume waren etwas das Bauern grundlos heimsuchte. Wahrscheinlich auch den Adel und gar die Lords, die über Städte und Länder herrschten. Wenn ein Magier träumte, so gab es immer einen Grund dafür. Ganz besonders dann, wenn es böse Träume waren. Odort stand auf und begann in seinem Gemach auf und ab zu gehen. Seine Finger malträtierten seinen Bart. Auch etwas, was er seit Jahrhunderten nicht mehr getan hatte. Ein wahrer Meister kontrollierte Körper und Geist. Unbedachte Bewegungen gab es nicht. Odort bemerkte nicht, dass seine Finger dieses eherne Gesetz, das er sich selbst auferlegt hatte brachen. Namen und Gesichter tauchten vor seinem inneren Auge auf und versanken wieder im Nebel der Vergangenheit. Alle Feinde die er gehabt hatte. Jeder, dem er etwas genommen hatte. Sie alle waren tot oder hatten sich seiner Macht gebeugt. Seit Jahren hatte ihn niemand mehr angegriffen. Genau wie der Orden selbst war auch er über all jene hinausgewachsen, die eine Gefahr darstellen mochten. „Marius“ murmelte Odort. Ein Mann war noch übrig, der es wagte ihm die Stirn zu bieten. Möglich, dass er irgendetwas wusste, was ihn glauben ließ, sich gewisse Frechheiten erlauben zu können. „Nicht allein … „ Auch wenn Marius über geheimes Wissen verfügte. Die Gefahr selbst ging sicher nicht von ihm aus. Jemand wie er brachte Odort nicht um den Schlaf. Der Meister trat an das große Fenster, das die Dunkelheit der Nacht in sein Gemach dringen ließ. Minutenlang sah er hinaus in die Finsternis. Schließlich wandte er sich um und ließ sich auf seinem Bett nieder. Er brauchte den Schlaf. Es galt den Grund für sein unsanftes Erwachen zu finden. Eine Gefährdung seiner Position und der Macht des Ordens war undenkbar. Unmöglich.

Etwas kicherte. Selbst das Licht floh vor den schrecklichen Lauten. „Schweig“ sagte eine dunkle Stimme. Das Licht schien seine Anstrengungen den körperlosen Ungeheuern zu entkommen noch zu verstärken. Etwas wurde über eine raue Oberfläche geschleift. Ein … Ding schien von einem anderen Ding zu fallen. Das klackende Geräusch hallte durch das Nirgendwo. Abrupt brach das Kichern ab, das erneut aufgeklungen war. Stille breitete sich aus und blieb. Zaghaft kroch das Licht zurück in die Finsternis. Die Finsternis wich.

Leros legte das Buch weg in dem er gelesen hatte. Die Sonne war hinter dem Horizont versunken und zeigte ihm durch ihre Abwesenheit, dass es Zeit war an die Arbeit zu gehen. Er würde sich am Haupttor der Stadt mit Rastan treffen und das weitere Vorgehen mit ihm absprechen. Hauptsächlich wollte Leros dafür sorgen, dass die Stadtwache ihm nicht in die Quere kam. Die Soldaten konnten ihm nicht helfen. Zumindest wenn es wirklich Abtrünnige waren, die es zu fassen galt. Rastan würde nicht erfreut sein. Zumal er dahinter kommen mochte dass es mehr als einen Grund für den Magier gab, die Soldaten des Kriegsherren auf Distanz zu halten. Leros wollte herausfinden, was an der Geschichte die ihm Baron Gordo aufgetischt hatte nicht stimmte. Er musste mit den angeblichen Dieben und Mördern sprechen. Vielleicht gelang es ihm so, der Wahrheit näher zu kommen. Wenn nicht … nun auch für diesen Fall hatte er schon einen Plan. Seynfried, der Sohn des Barons hatte sich bei ihrem Zusammentreffen seltsam gebärdet. Leros schätzte den Mann als Schwächling ein. Seine Widerstandskraft würde, so hoffte der junge Meister, geringer ausfallen als die des Vaters.

Leros straffte sich. Es half nichts wenn er hier ausharrte und sich den Kopf zerbrach. Ein letztes Mal verspritzte er etwas Wasser auf seinem Gesicht. Der erwartete Effekt blieb fast vollständig aus. Das Wasser in der Waschschüssel war bereits abgestanden und viel wärmer als am Morgen. Leros hatte den Raum an diesem Tag nicht verlassen. Ein Bote hatte seine Nachricht an Rastan überbracht. Der Kriegsherr hatte den Boten zurückgeschickt, um das Treffen zu bestätigen. Sonst hatte der Magier niemanden in das Gemach gelassen. „Nun gut. Dann geht es eben nicht ohne“ dachte er und bewegte die rechte Hand. Für einen Augenblick umgab ihn ein Glitzern. Als es wieder verschwunden war, fühlte Leros erfrischt und wesentlich wacher. Manchmal musste die Magie eben die anderen Mittel ersetzen, wenn diese nicht halfen. Schwungvoll öffnete er die Tür und verließ sein Gemach. Schnelle Schritte trugen ihn durch die dunklen Flure des Schlosses und schließlich hinaus auf die Straße. In den Mauern war es trügerisch ruhig gewesen. Hier draußen waren die Geräusche des Tages noch nicht verstummt. Händler verkauften die letzten Stücke, bevor sie ihre Stände für die Nacht schlossen. Ritter führten Pferde zu den Stallungen. Dazwischen eilten Bedienstete und Bauern geschäftig umher. Es würde noch ein Wenig dauern, bis sich das Leben in die Tavernen zurückzog und die Nachtruhe die Straßen leerfegte.

Leros zügelte sein Tempo und ging langsam in die Richtung, in der das Stadttor lag. Rastan würde ein wenig länger warten müssen. Er erwiderte das Nicken eines Adeligen. Manch andere starrten ihn nur an wie ein fremdartiges Tier. Irgendwie war er das auch. In den Norden waren selten Magier entsandt worden. Es gab hier kaum etwas von strategischem Wert. Zum ersten Mal dachte Leros ohne Verklärung über seinen Auftrag nach. Odort hatte ihn loswerden wollen. Wahrscheinlich wollte er seine unerwartete Macht aus dem Weg haben, bis er eine langfristige Lösung für das Problem ersonnen hatte. Leros musste grinsen, als er daran dachte, wie sehr sie ihren Lehrer überrascht hatten. Laris vielleicht weniger als er. Auch seine Schwester war überrascht gewesen, ob seiner Fähigkeiten, die plötzlich aus einem langen Schlummer erwacht waren. Er selbst … nun … er hatte so etwas geahnt. Hatte immer irgendetwas tief in sich gespürt das hervorzubrechen versuchte. Er ließ die Finger durch seine Haare gleiten und straffte die Schultern. Wenn er den Auftrag erledigt hatte konnte er sich Gedanken über seine Zukunft machen. Er ging schneller, als er sah, dass sein Ziel schon hinter der nächsten Ecke lag. Er überwand die letzten Meter und trat vor Rastan hin, der ihn bereits ungeduldig erwartete. Ein gutes Dutzend Soldaten hielten sich im Schatten des Tores verborgen. „Da seid ihr ja endlich!“ zischte der Kriegsherr. Der anmaßende Ton des Kriegers machte den jungen Magier wütend. Er war es nicht gewohnt, dass jemand so mit ihm sprach. „Mäßigt euch, Rastan!“ sagte er. „In euren Augen mag ich jung und unerfahren sein. Aber vergesst nicht, wer mich geschickt hat. Die Robe, die ich trage sollte euch zu mehr Höflichkeit gemahnen.“ In Rastans Augen glitzerte etwas, das durchaus Mordlust hätte sein können. Leros fragte sich, worauf sich der Hass des Mannes begründete. War er es, den der Kriegsherr verachtete, oder war es der Orden? „Verzeihung Herr!“ stieß Rastan hervor. Der Kriegsherr wandte sich ab. „Kommt. Gehen wir.“ Leros war froh, dass es zu keiner Konfrontation zwischen ihm und dem Kriegsherren gekommen war. Er fürchtete den Mann nicht. Wenn er ihn aber in die Schranken weisen musste, mochte Rastans Verbündete gegen ihn aufbringen. Männer wie der Kriegsherr hatten niemals viele Freunde. Sie besaßen Macht. Eine Macht, die sie durch Rücksichtslosigkeit und Gewalt aufrecht hielten. Der Krieger schritt schnell aus. Leros folgte mit einigen Schritten Abstand und sah sich aufmerksam um. Sie bewegten sich auf die ärmlich aussehenden Gebiete der Stadt zu. Die Hütten sahen in zunehmendem Maße aus wie Überreste, die ein Bauherr während der Errichtung einfach vergessen hatte. Hinter sich hörte Leros die Geräusche, die die Soldaten verursachten. Es war unmöglich sich in einer Rüstung lautlos zu bewegen. Und sei diese Rüstung noch so leicht. Trotz alledem nötigte die Disziplin der Männer Leros Respekt ab. Niemand sprach. Niemand fluchte. Der Kriegsherr hatte offenbar seine Garde zu ihrem nächtlichen Rundgang mitgebracht. Der junge Magier zerbrach sich den Kopf darüber, was der Grund dafür sein mochte. Entweder war die Gefahr größer als angenommen, oder Rastan brauchte tatkräftige Unterstützung, um ihn von irgend etwas abzulenken. Misstrauen war eines der ersten Konzepte, die Mitgliedern des Ordens während der Ausbildung nähergebracht wurden. Magier waren gefährliche Feinde. Sie konnten in vielerlei Gestalt auftreten und ihre wahren Beweggründe verbergen. Es galt immer auf der Hut zu sein. Leros schloss ein wenig zu Rastan auf. Seine feinen Sinne hatten etwas wahrgenommen. Plötzlich glomm ein helles Licht in der Dunkelheit auf. Eine Stimme rief etwas unverständliches. Eine Welle bewegte sich auf den Magier und seine Begleiter zu. Die Luft schien wie ein Ozean zu wogen. „Runter“ schrie Leros und errichtete einen magischen Schild. Rastan und seine Männer warfen sich in den Schmutz. Einige der Soldaten lösten im Liegen die Armbrüste vom Rücken und legten gefährlich aussehende Bolzen ein. „Nicht schießen“ rief Leros ihnen zu. Metallische Schnalzlaute erklangen um ihn herum. Die Soldaten hatten seinen Befehl ignoriert und ihre Waffen abgefeuert. Vor ihren noch immer hinter dem grellen Licht verborgenen Gegnern erschienen grün schimmernde Blitze, die sofort wieder verloschen. So etwas hatte Leros noch nicht gesehen. Geschosse prallten von einem magischen Schild ab, wie von einer Wand. Woher kam das grüne Leuchten? Womit schossen seine Begleiter? Der junge Meister erhielt keine Möglichkeit, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Eine glühende Kugel flog auf ihn zu und prallte an seinem Schild ab. Die Energie, die dabei frei wurde, war nicht zu verachten. Er stand einem, oder mehreren starken Magiern gegenüber. Wie diese sich vor dem Orden verborgen gehalten hatten war ihm unbegreiflich. Odort und der Rat duldeten keine Mächtigen, die nicht ihrem Orden angehörten. Entweder, sie schlossen sich dem Obersten Meister an, oder sie erklärten sich bereit, für immer ihrer Fähigkeiten beraubt zu werden. Wer beides ablehnte verlor den Kampf. Immer.

Leros formte die Energie, die ihn durchströmte und schleuderte einen Blitz in Richtung des Lichts. Es war an der Zeit, diese Auseinandersetzung zu beenden. Er hatte nicht bemerkt, dass Rastan seiner Garde während der ganzen Zeit mittels Handzeichen Befehle erteilt hatte. So entgingen ihm auch die Armbrustbolzen, die die Männer fast gleichzeitig mit seinem Energiestoß abfeuerten. Der Blitz traf den Schild der Gegner und schwächte ihn für einige Augenblicke. Ein gurgelnder Schrei erklang und das Licht, dass die Gasse bisher erleuchtet hatte verlosch. Jemand schrie. Es klang zornig. Schnelle Schritte entfernten sich. Als Leros seine Überraschung überwand und endlich ein magisches Licht erzeugt hatte war es still geworden. Er hatte nicht damit gerechnet, den Gegner mit einem einzigen Schlag auszuschalten. Rastan erhob sich und bedeutete seinen Männern es ihm gleichzutun. Der Kriegsherr zog sein Schwert und wollte zu der Stelle eilen, an der das grelle Licht geleuchtet hatte. Der junge Magier hörte ein leises Seufzen, das seinen Ursprung an eben diesem Ort zu haben schien. Ruckartig hob er die Hand. „Bleibt! Ich sehe nach.“ sagte er und sah Rastan in die Augen. Für einen kurzen Moment dachte er, der Kriegsherr würde es nun doch auf ein Kräftemessen ankommen lassen. Leros formte etwas Energie und spannte sich. Rastan ließ das Schwert sinken und vollführte eine winkende Geste. „Geht. Wir wachen von hier aus über euch“. In den Augen des Kriegsherren funkelte wieder diese unbändige Wut. Leros wandte sich um und ging auf den wahrscheinlich verletzten Gegner zu. Seinen Schild hielt er dabei aufrecht. Besonders den Bereich in seinem Rücken versorgte er konzentriert mit Energie. Er traute Rastan nicht. Und was für den Kriegsherren galt, betraf auch dessen Soldaten. Sie sollten keine Gelegenheit bekommen ihm einen Bolzen in den Rücken zu jagen. Langsam bewegte er sich auf einen umgestürzten Transportwagen zu. Als er ihn erreicht hatte schob er sich vorsichtig daran entlang und versuchte in der Dunkelheit zu erkennen was sich dahinter verbarg. Die letzten Zentimeter legte er mit angehaltenem Atem und in verkrampfter Haltung zurück. Auch ein Meister des Ordens war nicht vor unliebsamen Überraschungen gefeit. Vor allem seitdem er wusste, dass es Geschosse gab, die einen magischen Schild durchdringen konnten. Unter gewissen Umständen zumindest. Ein Gesicht schimmerte im schwachen Licht des Mondes. Leros sah langes Haar. Ein Mädchen oder eine Frau krümmte sich auf dem Boden hinter dem Wagen. Der junge Magier lauschte mit all seinen Sinnen, konnte aber niemanden außer der verletzten Fremden und ihm selbst spüren. Er straffte die Schultern und ging neben der vermeintlichen Abtrünnigen in die Knie. Aus der Nähe sah er, dass einer der Armbrustbolzen, die von Rastans Männern abgefeuert worden waren aus ihrem Oberschenkel ragte. Leros fragte sich, warum man sie zurückgelassen hatte. Die Verletzung durfte eigentlich nicht allzu schwer sein. Es sei denn, der Bolzen hatte eine der Adern getroffen, die den Lebenssaft eines Menschen transportierte. Der Magier schob die Haare der Abtrünnigen zur Seite. Sie war ganz sicher nicht älter als 18. Die Augen des Mädchens waren geschlossen. Die Lider zuckten nervös. Es schien als träumte sie einen bösen Traum. Der junge Meister legte eine Hand auf ihre Stirn und horchte in sich hinein. Er erschrak, als er die Verletzung spürte. Ein schwarzes, pulsierendes Etwas erschien vor seinem inneren Auge. Was waren das nur für Waffen, die Rastans Männer mit sich führten? Leros verdrängte diesen Gedanken. Darum konnte er sich später kümmern. Er konzentrierte sich und versuchte die Wunde, die der Armbrustbolzen verursacht hatte zu heilen. Es kostete ihn viel mehr Kraft, als er vermutet hatte, aber er schaffte es. Der Bolzen fiel zu Boden. Noch einmal ließ Leros etwas Energie durch seine Hand fließen, um das Mädchen aus der Bewusstlosigkeit zu wecken. Er musste wissen, mit wem er es zu tun hatte. Die abtrünnige schlug die Augen auf. Verwirrt richtete sich ihr Blick auf sein Gesicht. Erschrocken wollte sie auffahren, als sie feststellte, dass sie den Mann nicht erkannte, von dem sie geweckt worden war. „Still!“ zischte Leros. „Die Männer, mit denen ich gekommen bin wollen dich tot sehen und ich möchte wissen wieso.“ Ängstlich irrte der Blick des Mädchens umher. So sahen gefährliche Abtrünnige aus? Der Magier begann daran zu zweifeln, von ihr etwas zu erfahren, was ihn bei der Erfüllung seiner Aufgabe voran bringen würde. „Wer … wer seid ihr?“ stotterte sie. Ungeduldig winkte Leros ab. „Wer ich bin spielt im Moment keine Rolle. Die Zeit drängt. Sag mir, warum ich dich von den Soldaten, die in der Nähe warten beschützen sollte. Wer seid ihr und warum habt ihr uns angegriffen?“ Der Magier machte Anstalten, erneut eine Hand auf ihre Stirn zu legen und ihren Willen zu beeinflussen. Wenn ihre Kräfte den seinen nicht zumindest ebenbürtig waren, würde er so alles erfahren was er wissen wollte. Das Mädchen rückte ein Stück von ihm ab und schob seine Hand beiseite. Ihr Blick hatte sich nun vollends geklärt. Ihre Lippen begannen fast unmerklich zu zittern, als sie zum ersten Mal seine Robe wahrnahm. Sie wusste also, mit wem sie es zu tun hatte. Ihre Reaktion verriet Leros, wie sie zum Orden stand. „Ich … wir sind … freie Magier.“ Leros hob skeptisch eine Augenbraue. „Wir sind friedliche Leute.“ sagte sie beinahe trotzig. Langsam schien ihre Angst vor dem Fremden, der ihr bisher nichts angetan hatte, zu weichen. „Freie Magier?“ Leros legte die Stirn in Falten. „Ihr seid also Abtrünnige. Und ihr habt mich angegriffen, da ich den Orden repräsentiere, vor dem ihr euch zu verbergen trachtet.“ Auffordernd sah der Meister das Mädchen an. „Abtrünnige … ja so nennt ihr uns. Das habe ich bereits gehört.“ Resignation vertrieb den Glanz aus ihren Augen. Leros ertappte sich dabei, dass dieser Glanz etwas in ihm berührt hatte. Er durfte das nicht zulassen. Das Mädchen war gefährlich. „Der Angriff … wir haben nicht gewusst, dass wir einem Ordensmitglied gegenüberstehen. Wir wollten uns gegen den Kriegsherren von Baron Gordo verteidigen. Gegen Euch hegen wir keinen Groll“. Ihre großen, hellen Augen blickten ihn an. „Du kannst uns trauen.“ schienen sie zu flüstern. „Der Baron hat mich geschickt um euch Einhalt zu gebieten. Seinen Worten zufolge seid ihr Diebe und Mörder, die den Frieden in Thorakan stören.“ Streng sah Leros auf das Mädchen herab. „Was den Orden betrifft … wir dulden keine freien Magier, die nicht der Jurisdiktion des Rates unterstehen. Der Rat muss von eurer Existenz erfahren. Nur die höchsten Mitglieder des Ordens können über euer Schicksal entscheiden.“ Die Abtrünnige versuchte noch weiter von ihm abzurücken, wurde aber von dem umgestürzten Karren in ihrem Rücken daran gehindert. Die Trauer in ihrem Blick war von Zorn und beinahe so etwas wie Hass abgelöst worden. „Ihr entscheidet also über unser Schicksal wenn ihr uns vernichtet, wo immer ihr uns begegnet? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass unser Schicksal allein unsere Sache sein sollte Magier? Was geht es euch an, wie wir leben, solange wir gegen keines der Gesetze eines Landes verstoßen? Eure Gesetze sind es, die keine Begabten erlauben, die nicht nach der Pfeife eures Großmeisters tanzen!“ Das Gesicht des Mädchens hatte sich gerötet. Mit jedem Wort war ihre Stimme lauter geworden. Sie atmete einige mal tief ein und aus. „Ich habe nicht gestohlen. Ich habe nicht gemordet. Keiner von uns hat sich auch nur das Geringste zuschulden kommen lassen. Rastan und seine Männer legen eine falsche Spur. Außerdem erfreuen sie sich allesamt an den Qualen ihrer Opfer.“ Leros wich ihrem Blick aus und dachte über ihre Worte nach. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Rastan war ihm von Anfang an nicht geheuer gewesen. Aber das er und seine Soldaten die eigenen Leute überfallen sollten? Mehr noch, der Orden sollte freie Magier vernichten, nur weil er sie nicht duldete? Ohne jeden Grund, aus Furcht vor einer Macht, die sich eines Tages zu einer Gefahr entwickeln mochte? Begabte, die keiner Kontrolle unterworfen waren achteten kein Gesetz und wurden zu einer Gefahr für alle, die ihnen unterlegen waren. So hatte man es ihm beigebracht. Leros blickte auf. Ein singendes Geräusch drang durch das Gewirr seiner Gedanken. Der junge Meister reagierte schnell. Aber er war nicht schnell genug. Die Welt vor seinen Augen verschwamm als sein Ganzer Körper zu vibrieren begann. Schemenhaft nahm er Bewegung wahr. Als das Vibrieren heftiger wurde versank sein Geist in erlösender Dunkelheit.

Nass. Kalt. Leros erwachte aus seiner Bewusstlosigkeit als jemand Wasser über seinen Kopf schüttete. In seinem Gehirn schien eine Schmiede ihre Pforten geöffnet zu haben. Pochender Schmerz ließ ihn aufstöhnen. Vorsichtig öffnete er die Augen. Stiefel ragten vor seinen Augen in den Himmel. Er lag auf dem steinernen Boden der Straße. Als er sich langsam aufrichtete sah er den Wagen, an den sich das Mädchen gedrückt hatte. Das Mädchen mit den schimmernden Augen. Augen die ihn so sanft und traurig angeblickt hatten, bevor der Zorn die Sanftheit fortgespült hatte. Leros griff sich an die Stirn. Was war mit ihm los? Wieso entwickelte er plötzlich Gefühle für eine Verbrecherin? Sorgfältig überprüfte er die Abschirmung seiner Gedanken. Niemand durfte sehen, was in dem Magier des Ordens vorging, wenn er an die Abtrünnige dachte.

„Was ist hier geschehen?“ Gordos Kriegsherr drehte suchend den Kopf hin und her. „Verteilt euch und achtet auf verdächtige Geräusche und Bewegungen. Ach ja! Sucht in Zweiergruppen. Diese Fremden scheinen sehr gefährlich zu sein. Immerhin haben sie unseren Magier außer Gefecht gesetzt“ rief Rastan seinen Soldaten zu. Verhaltenes Gelächter antwortete ihm. Eisenbeschlagene Stiefel klirrten auf dem Pflasterstein, als die Männer sich verteilten. Der Kriegsherr wandte sich erneut dem Magier zu, der noch immer zu seinen Füßen auf dem Boden lag. Leros nahm nun die selbe Position ein, in der das Mädchen von ihm verhört worden war. Es gefiel ihm nicht, dass Rastan auf ihn herab sah. „Also. Was haben diese Abtrünnigen mit euch gemacht?“ fragte der Krieger. „Ich habe eine Frau verhört, als es plötzlich dunkel um mich wurde. Ich muss wohl für einen Augenblick meinen Schild vernachlässigt haben.“ Bewusst hatte er von einer Frau gesprochen. Er wollte nicht, dass Rastan dachte, er wäre von einem Mädchen überwältigt worden. Außerdem riet ihm eine innere Stimme dazu, dem Kriegsherren nur das Nötigste zu erzählen. Langsam erhob sich der junge Magier. Schwer stützte er sich auf den Wagen. Er wollte das Gespräch nicht fortführen während er im Dreck lag, wie ein gemeiner Wegelagerer. Der Kriegsherr musterte ihn aufmerksam, rührte aber keinen Finger um ihm zu helfen. Bewusst ignorierte Leros diese Unterlassung. Es würde ja doch nichts bringen Rastan deswegen zu tadeln. Dem Mann schien jeglicher Respekt für den Orden und seine Diener abzugehen. „Wir…“ begann der Krieger. Weiter kam er nicht. Ein gurgelnder Schrei erklang irgendwo in der Nähe ihres Standortes. Hatten die Soldaten einen der flüchtigen Abtrünnigen aufgespürt? Ein weiterer Schreckenslaut hallte durch die engen Gassen des ärmlichen Stadtteils. Ein Scheppern folgte dem Laut. Es klang als wäre Metall über eine Treppe geworfen worden. Oder wie ein Soldat in voller Rüstung, der … „Schnell! Wir müssen euren Männern helfen!“ rief Leros und setzte sich leicht taumelnd in jene Richtung in Bewegung, aus der der Lärm gekommen war. Rastan reagierte wie der Krieger, der er trotz seines hohen Ranges immer noch war. Er zog sein Schwert und stürmte ohne ein Wort zu verlieren an Leros vorbei. Der Magier bemühte sich, den Kriegsherren nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn die Abtrünnigen der Grund für die beinahe unheimlichen Geräusche waren würde ein Mann mit einem Schwert keinerlei Chance haben sie zu überwältigen. Leros konzentrierte seine Kräfte und lauschte mit Sinnen, die den Soldaten nicht zur Verfügung standen. „Seltsam“ stieß er hervor während er keuchen durch die dunkle Gasse lief. Er spürte nichts, was dem Gefühl gleichkam, das er empfunden hatte, als sie auf die fremden Magier gestoßen waren. Er fühlte etwas … anderes. Oder auch nichts. Eine Leere schien ihn zu umgeben. Da war eine seltsame Kälte, die er schon einmal gespürt hatte. Wann war das gewesen? Leros beschleunigte seine Schritte, als er sich erinnerte.

Abrupt hielt der Magier inne. Beinahe hätte er den Kriegsherren umgerannt, der reglos dastand. Schlaff hingen Rastans Arme herab. Das Schwert welches er im Lauf umklammert gehalten hatte lag neben ihm am Boden. Leros folgte dem starren Blick des Kriegers. Die Härchen an seinen Armen richteten sich auf. Eines nach dem Anderen. Mit aller Macht unterdrückte er das Zittern, das sämtliche Muskeln in Wellen durchlief. An der Wand des ärmlichen Hauses vor dem Rastan stehengeblieben war hing eine Gestalt. Gnädig verbarg die Nacht allzu grausige Einzelheiten der Szene, die sich ihnen darbot. Trotzdem … Leros erkannte, dass selbst helles Tageslicht die Identität des … Körpers nicht enthüllen würde. Reste einer Rüstung, die überall verstreut waren legten allerdings den Schluss nahe, dass es sich bei der Leiche um einen von Rastans Soldaten handeln musste. Das konnte unmöglich die Tat des Mädchens mit den sanften Augen sein. Auch ihren Freunden traute der Magier keine solche Gräuel zu. „Ich habe mich also nicht getäuscht“ sagte er leise. Obwohl er mehr zu sich selbst gesprochen hatte sah Rastan ihn plötzlich mit leeren Augen an. „Was… was bei allen Göttern …“. Der Kriegsherr drehte den Kopf wie unter Hypnose und starrte den grausam zugerichteten Leichnam an. Er schien nicht bemerkt zu haben, dass seine Frage unvollendet geblieben war. Die eindringliche Stimme, die Leros davor warnte dem Krieger zu sehr zu vertrauen verstummte für einen Moment. Er glaubte nicht, dass die schaustellerischen Fähigkeiten des Mannes so weit reichten. „Ich weiß es nicht. Eines aber weiß ich sicher. Die Diebe die wir verfolgen haben nichts mit … dem hier zu tun.“ Plötzlich kehrte das Leben in Rastans Augen zurück. Wütend wandte er sich um und trat einen Schritt auf den Magier zu. „Es ist mir egal wer dafür verantwortlich ist. Ich werde herausfinden was hier geschehen ist. Egal wen ich dafür foltern muss. Und wie lange!“ Speichel rann aus dem Mundwinkel des Kriegsherren. Leros wunderte sich über den heftigen Ausbruch dieses harten und beherrschten Mannes. „Reißt euch zusammen! Und vergesst nicht schon wieder, wer vor euch steht!“ Rastan wischte sich den Speichel von den Lippen. Auch die Röte seiner Wangen ließ nach. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Abschätzend sah er den Magier an. „Ihr mögt mächtig sein Ordensherr. Bildet euch aber nicht zu viel ein auf eure Fähigkeiten.“ Abrupt wandte er sich ab und ging davon. Leros blieb verblüfft zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Soldat - und das war Rastan im Grunde - ihm offen drohen würde. Er durfte diesen Mann nicht unterschätzen. Alleine konnte er ihm nicht gefährlich werden. Aber er hatte Männer, die ihm gehorchten. Und er verfügte über Waffen, deren Wirkung dem jungen Magier Respekt einflößte. Leros seufzte. Seine Aufgabe wurde zunehmend komplizierter. Hatte Odort geahnt was ihn hier erwarten würde? Wieso hatte der Meister jemanden hierher geschickt, der noch keinerlei Erfahrung hatte sammeln können? Es kostete ihn einige Überwindung sich wieder mit seiner Unmittelbaren Umgebung zu befassen. Vorsichtig näherte er sich dem Leichnam, den jemand oder etwas wie einen Käfer in einer Sammlung mit einem Stück Holz aufgespießt hatte. Das Holz, das mit großer Wucht durch den Körper und die dahinterliegende Hausmauer gerammt worden war hielt den Leichnam in aufrechter Position. Das war aber bei Weitem nicht das Schlimmste. Leros unterdrückte ein Würgen und wandte den Blick ab. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Menschen so etwas getan haben sollten. Nicht so schnell. Nicht ohne dass ein starker Magier wie er nichts spürte außer dieser seltsamen Leere. Rastan und er hatten kaum eine Minute gebraucht, um auf den ersten Schrei zu reagieren und … schließlich das hier vorzufinden. Die Mörder des Mannes hatten sie nicht vorgefunden. Selbst die erweiterten Sinne über die Leros verfügte zeigten nicht mehr, als seine Augen ohnehin sahen. Der Magier begann zu zittern, als er an das dachte, was er dem Kriegsherren nicht verraten hatte. Die Leere die er gefühlt hatte, war ihm bereits einmal in einem Traum begegnet. Er wusste nicht, ob das schreckliche Kichern, das er plötzlich hörte diesem Traum entsprang oder Wirklichkeit war. Seine Beine bewegten sich beinahe ohne sein Zutun. Er rannte. Fort von der Angst. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit spürte er Furcht. Eine Furcht, die ihn frösteln ließ. Mehr als die Temperaturen hier im Norden es je gekonnt hätten. Keine Magie schützte ihn vor dieser Kälte.

Rastan stieß die Tür der Schenke so heftig auf, dass sie gegen die Wand krachte. Ohne sich darum zu kümmern sie zu schließen stürmte er zur Theke, stieß zwei Bauern zur Seite und ließ die gepanzerte Faust auf das zerschrammte Holz heruntersausen. Das Krachen ließ den Wirt, der gerade mit einem schmächtigen älteren Mann redete herumfahren. Er hörte auf das Glas zu polieren, das er in den Händen hielt und ging mit wiegenden Schritten auf den unhöflichen Gast zu, den er für einen betrunkenen Soldaten hielt, der nicht verstand dass er niemanden einschüchtern konnte, wenn der Rest seiner Kompanie nicht hinter ihm stand. Rastan nahm seinen Helm ab und stellte ihn mit einer heftigen Bewegung auf dem Tresen ab. Der Wirt erkannte sofort wen er vor sich hatte und setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. “Kriegsherr! Es freut mich...” “Gib mir einen Becher Wein. Und irgend etwas das stärker ist.” Rastans Stimme war schneidend. Ein schriller Unterton schwang darin mit, der dem Wirt sagte, dass er besser so schnell wie möglich tat, was der Kriegsherr von ihm verlangte. Auch wenn es ungewöhnlich war. Der Kriegsherr trank sonst niemals außerhalb des Schlosses. Der Wirt beeilte sich einen Becher zu füllen den ihm Rastan aus der Hand riss als er ihn abstellen wollte. Danach eilte der schwere Mann schneller als man es ihm zugetraut hätte in die Küche um etwas von dem Spezialbrand zu holen, den er für besondere Anlässe aufhob. Oder für besondere Gäste. In diesem Fall traf wohl beides zu. Rastan starrte den Becher in seiner Hand einige Augenblicke lang an, als könnte er sich plötzlich in eine giftige Schlange verwandeln. Dann setzte er ihn an die Lippen und trank ihn in einem einzigen Zug leer. Er drehte das leere Gefäß einige Male hin und her und stellte es schließlich auf die Theke. Erst jetzt nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass der Mann neben ihm ihn neugierig angaffte. Rastan wandte sich ihm zu und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. “Möchtest du mich etwas fragen?” zischte er. Der Mann wich vor ihm zurück, schien kurz zu überlegen, drehte sich dann schließlich murmelnd um und ging zu einem der Tische hinüber. Er setzte sich und bemühte sich den Kriegsherren nicht mehr anzusehen. Rastan beachtete ihn nicht weiter. Er fuhr damit fort einen imaginären Punkt irgendwo hinter der Theke anzustarren. “Meine Spezialität Kriegsherr” sagte der Wirt und stellte einen kleinen Becher vor ihm hin. Rastans Hand schnellte vor und hielt ihn am Arm fest, als er zurücktreten wollte. “Du hast doch sicher irgendwo noch mehr von dem Zeug.” “Natürlich Herr” keuchte der Wirt. Rastan ließ ihn los und machte eine Auffordernde Geste. Der Wirt stolperte davon um die Flasche mit dem Brand zu holen. “Hey Hargo! Wir sind auch noch da” rief jemand mit schwerer Zunge, der links von Rastan an der Theke lehnte und einen offenbar leeren Krug schwenkte. “Ja, ja. Ich komme gleich zu euch” brüllte der Wirt ohne sich umzudrehen und verschwand in der Küche. Rastan nahm den Becher der vor ihm stand und roch vorsichtig daran. Nur mit äußerster Beherrschung schaffte er es, nicht angewidert das Gesicht zu verziehen. Beinahe wunderte er sich, warum das Zeug das aussah wie harmloses Wasser nicht das Gefäß auflöste in dem es schwach hin und her schwappte. Rastans Hand zitterte. Nur ein bisschen. Er setzte den Becher an die Lippen, kippte ihn und so zischen die Luft ein, als der Inhalt durch seine Kehle floss, auf dem Weg alles zu verbrennen schien und schließlich in seinem Magen explodierte wie die Feuerkugel eines Katapults. Er musste sich für einen Moment an der Theke festhalten um nicht zu taumeln. Sein Kopf fühlte sich plötzlich viel leichter an. Das ist genau das, was du jetzt brauchst dachte er. Aber es stimmte nicht. Die Erinnerung kam aus dem dunklen Loch in seiner Seele hervor, in dem sie sich vor langer Zeit verkrochen hatte. Es war von dem was er vorhin gesehen hatte hervorgelockt worden. Er konnte es nicht aufhalten, indem er versuchte es zu ertränken. Aber er würde es versuchen. Mehr als jemals zuvor. Rastan schloss die Augen und sah sie aus der Dunkelheit auftauchen. Ihre Gesichter. Sie lächelten. Rastan schluckte trocken. Wo bleibt der verfluchte Wirt? Mit einer fahrigen Bewegung griff er nach dem leeren Becher der vor ihm stand und umklammerte ihn, als könnte er sich daran festhalten. Wieder tauchten sie schemenhaft aus dem nichts auf. Sie lächelten. Lächelten ihn an. Rastan streckte die Hand aus und ließ sie wieder sinken, als er wieder einmal begriff, dass er sie nie wieder berühren würde. Die Schemen verwischten als er ein leises Gluckern hörte. Er kehrte in die Wirklichkeit zurück und erkannte den Wirt der eben die Flasche verkorkte und sie vor ihn hinstellte. Der schwere Mann warf Rastan noch einen nachdenklichen Blick zu und beeilte sich dann, sich um die anderen Durstigen zu kümmern, deren Ungeduld bereits bedenklich nahe an der Grenze zur Wut entlang balancierte. Rastan schüttelte den Kopf um die Bilder daran zu hindern zurückzukehren und stürzte den Inhalt des Bechers in einem Zug hinunter. Dieses mal brannte das Zeug schon ein bisschen weniger. Dafür schlug es umso heftiger in seinem Kopf ein. Der Raum um ihn herum begann sich langsam zu drehen. Oder war er es der sich drehte? Rastan griff unsicher nach der Kante der Theke, bekam sie zu fassen und umklammerte sie mit aller Kraft. Er fühlte sich als würde er in einem reißenden Fluss stehen und sich gegen das Wasser stemmen, das ihn davon spülen wollte. Er hörte ihr Lachen. Er wollte sich die Ohren zu halten, aber dafür hätte er den einzigen sicheren halt loslassen müssen, den er hatte. Außerdem würden sie ohnehin nicht verstummen. Erst wenn er sich erinnerte würden sie verschwinden. Wenn er das was er so gern vergessen hätte erneut durchlebte. Noch wehrte er sich dagegen, aber er wusste, dass er den Kampf am Ende verlieren würde. Er griff nach der Flasche, in der sich das einzige befand, das ihn vor der Erinnerung schützen mochte und füllte den Becher bis an den Rand. Warum der Umweg? Leros nickte. “Ja, warum?” murmelte er mit einer Zunge, die sich bereits nicht mehr so leicht vom Gaumen löste wie sonst und machte Anstalten direkt aus der Flasche zu trinken. Bevor der Hals der Flasche seine Lippen berührte begann seine Hand so heftig zu zittern, dass er auch nach mehrmaligen Versuchen nicht fertigbrachte zu trinken. Als er mit der zweiten Hand zugriff wurde das Zittern eher noch stärker. Schließlich stellte er die Flasche entnervt härter als notwendig ab. Er gewann die Kontrolle über seine Hände zurück, aber er verlor dafür die über seine Gedanken. Die Welle aus verdrängten Erinnerungen, vor er er erfolglos zu fliehen versucht hatte brach über ihn herein und riss ihn mit sich fort. Die Menschen um ihn herum verschwanden und die Schenke verwandelte sich in einen großen, behaglich eingerichteten Raum, der von einem wuchtigen Kamin beherrscht wurde in dem knisternd ein Feuer brannte. Sein Zuhause. Seines und das seiner kleinen Familie. Ein Ort an den er sich geschworen hatte nie mehr zurückzukehren. Rastan wandte sich um, als er leichte, beinahe tänzelnde Schritte hörte. Perona kam auf ihn zu; flog beinahe. Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Ihre unbändige Lebenskraft schien sie irgendwie zum Strahlen zu bringen. Von ihr ging eine Art Energie aus, die alles in Brand setzte, das ihr nahe kam. Sie umschlang ihn mit ihren zarten aber doch kräftigen Armen und er konnte sie fühlen. Obwohl ein Teil von ihm wusste, dass er in seinen Erinnerungen gefangen war konnte er die Wärme spüren die von ihr ausging. Ihr Atem strich über seine Wange und sorgte dafür, dass sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufrichteten. Da war es wieder, dieses Kribbeln, das seinen Bauch immer in Aufruhr versetzt hatte, wenn sie in seiner Nähe war. Sogar hier, in einem finsteren Kerker seines eigenen Geistes, in dem er sie eingeschlossen hatte spürte er es. Sie küsste ihn auf die Wange und er zitterte wie ein Junge der niemals die Zärtlichkeit eines Mädchens erlebt hatte. Dann erstarrte er. Sein Herz schien zu erfrieren. Eine Falsche Bewegung und es würde Bersten. Da war ein glockenhelle Lachen gewesen. Das Lachen eines Kindes. Seines Kindes. Kara. Sein kleines Mädchen. Er wusste was gleich geschehen würde; warum er ihr Lachen damals zum letzten Mal gehört hatte. Oder war damals jetzt? Oder jetzt damals? Er wusste es nicht. In seinem Kopf drehte sich alles. Gleichzeitig waren seine Nerven zum zerreißen gespannt. Er umklammerte Kara und kniff die Augenlider zusammen. Vielleicht würde es verschwinden, wenn er nicht hinsah. Ein lautes Krachen ließ ihn zusammenzucken. Nein. Es war nicht verschwunden. Es würde niemals verschwinden. Irgendwo unten im Haus redeten Stimmen laut durcheinander. Polternde Schritte drangen von unten herauf . “Papa?” Auch ohne Kara anzusehen wusste er, dass sie ihn ängstlich und fragend zugleich ansah. Ihr Vater war der Mittelpunkt ihrer Welt. Er wusste auf jede Frage eine Antwort und beschützte sie vor jeder Gefahr, die in ihrer kleinen Welt auf sie lauerte. Kara löste sich mit sanfter Gewalt aus seiner Umarmung und wandte sich zur Tür. “Wer zum Teufel ist das?” Als Perona gehen wollte um nachzusehen griff er nach ihrem Arm und hielt sie zurück. “Bleib” sagte er leise. “Was soll das? Da ist jemand in unserem Haus!” In ihrer Stimme schwang ein schriller Ton mit. Unwillig versuchte sie sich loszureißen “Bleib” sagte er noch einmal. Diesmal etwas lauter. Sie sah ihn verwirrt an, hörte aber auf sich gegen seinen Griff zu stemmen. Draußen kam das Geräusch der Schritte näher. Die Eindringlinge kamen die Stufen herauf. “Sie sind da drinnen” rief jemand. “Kommt!”. Rastan atmete tief durch und machte sich für das bereits was gleich geschehen würde; bereits geschehen war; immer wieder geschah. Kara drängte sich dicht an ihn und starrte die Tür mit vor Angst geweiteten Augen an. Dann waren sie da. Die Tür wurde mit solcher Gewalt aufgestoßen, dass das Haus zu erzittern schien, als sie auf der anderen Seite gegen die Wand prallte. Perona kreischte hysterisch. Männer in Umhängen stürmten herein. Einer; zwei; drei; und noch einer. Rastan zählte sechs Männer. Es waren immer sechs. Ihre Kleidung war die des Ordens. “Hast geglaubt wir würden dich nie finden, wenn du dich hier mit dem Kind versteckst? Aber wir finden sie alle. Irgendwann.” Der Blick des Sprechers richteten sich auf Kara. “Zu alt um noch aufgenommen zu werden.” Seine Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln. Kara riss sich von Rastan los und hob die Arme. “Nein” schrie sie und ihre Augen schienen Funken zu sprühen. Rastan konnte sich nicht bewegen. Seine Kehle war trocken wie Sand in der Wüste. Er war nur noch ein Zuschauer. Die Männer taten irgend etwas. Gleißende Helligkeit erfüllte den Raum. Es roch verbrannt. Rastan fühlte Übelkeit in sich Aufsteigen. Als die Helligkeit verschwand waren die Männer verschwunden. Vor Rastan lagen zwei verkrümmte, verbrannte Gestalten auf dem Boden. Eine davon war viel kleiner als die andere. Wie ein Kind. Sein Kind. Rastan presste die Hand gegen den Mund, würgte und stolperte zur Tür. Rund um ihn herum löste sich alles auf. Der Raum verschwand. Das Haus. Schließlich auch er selbst. In der Schenke wichen die Leute zur Seite als der Betrunkene, der zwei Becher von Hargos Schnaps in sich hineingeschüttet hatte als wäre es Wasser würgte, taumelte und schließlich wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzte. Die Ohnmacht befreite Rastan von seinen Erinnerungen. Zumindest für den Moment.

Verschwitzt, aber immer noch zitternd betrat Leros sein Gemach und drückte die Tür so leise zu wie er es in seinem Zustand vermochte. Irgendwie hatte er es geschafft in die Burg zu kommen ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Auch in den verwinkelten Gängen der Festung war ihm niemand begegnet. Zu jeder anderen Zeit wäre ihm aufgefallen, wie seltsam es war, dass die Burg offenbar nicht bewacht wurde. Keuchend ließ er sich auf das große Bett sinken. Er war den ganzen Weg gelaufen, ohne stehenzubleiben und ohne sich auch nur einmal umzusehen. Erst hier, in den dicken Mauern seiner Unterkunft wurde ihm bewusst, dass er Rastan einfach zurückgelassen hatte. Vielleicht suchte der Kriegsherr immer noch nach dem Rest seiner Männer. Erschrocken stellte er fest, dass es ihm egal war, was mit ihnen oder ihrem Herren geschehen sein mochte. Die Erinnerung an einen einfachen Alptraum verdrängte alle anderen Gedanken. Da war dieses seltsame Gefühl der Leere gewesen. Genaugenommen war es immer noch da. Schwächer zwar, aber immer noch lauernd. Ein Gewicht das unbarmherzig auf seine Seele drückte. Leros verbarg das Gesicht in seinen Händen und versuchte die Herrschaft über seinen Geist zurückzuerlangen. Lange Zeit saß er einfach da und presste die Handballen gegen die Augen als könnte er dadurch die Schrecknisse die ihn plagten zurückdrängen. Der Magier schreckte hoch als sanft an die Tür seines Gemachs geklopft wurde. Wer mochte mitten in der Nacht mit ihm sprechen wollen? Kurz dachte Leros an Rastan, den er alleine in den Gassen zurückgelassen hatte. Nein. Das Klopfen eines Kriegers klang anders. Insbesondere dann, wenn der Krieger wütend oder verzweifelt war. „Wer ist da?“ fragte er. Schnell legte er die verschwitzte und schmutzige Robe ab und schob sie unter das Bett. Auf dem Stuhl vor dem Waschtisch lag fein säuberlich gefaltet die zweite Robe, die er als Ersatz mit sich führte. Der Diener musste sie in dem Haufen, den seine Habseligkeiten auf dem Boden bildeten gefunden und bereitgelegt haben. Leros hatte noch nicht die Muße gefunden, sich mit der geordneten Verwahrung seines Gepäcks zu befassen.

„Seynfried. Gordos Sohn Ordensherr!“ antwortete eine raue Stimme. Schnell warf sich der Magier die frischen Gewänder über und streckte die Fühler seiner Macht aus um den Wahrheitsgehalt der Worte des nächtlichen Besuchers zu überprüfen. Mühelos drang die Energie die er aussandte durch das Holz der Türe. Vor seinem inneren Auge konnte Leros nun den Mann sehen, der ihn sprechen wollte. Es war tatsächlich Seynfried. „Seltsam“ murmelte der Magier. Gordos Sohn hatte ihn bei ihrem ersten Zusammentreffen keines Wortes gewürdigt. Genaugenommen hatte ihn Seynfried auch kein einziges Mal wirklich angesehen. Und nun wollte er ihn plötzlich sprechen. Mitten in der Nacht. „Ich komme!“ sagte er. Er legte den Riegel der Tür zurück und öffnete. Schnell trat der Sohn des Barons in sein Gemach. Nervös blickte er noch einmal zurück in den Gang. Irgendwo brannte eine Fackel, die die Mauern in flackerndes Licht tauchte. Abgesehen davon gab es nichts zu sehen. Offensichtlich beruhigt drückte Seynfried die Tür zu und schob den Riegel vor. „Verzeiht Ordensherr.“ sagte er schnell, als Leros auffahren wollte. „Ich muss vorsichtig sein. Es gibt … gewisse Leute, die es nicht gerne sähen, dass ich mit euch spreche. Schon gar nicht hier wo niemand uns belauschen kann. Das glaube ich zumindest.“ Leros schluckte die harschen Worte, die ihm auf der Zunge gelegen waren hinunter. Er spürte, dass Seynfried die Wahrheit sagte. „Setzt euch … bitte!“ Der Magier zeigte auf den einzigen Stuhl in seiner Kammer. Der Sohn von Baron Gordo trat hinter den Stuhl und stützte sich auf die Lehne. Er würde sich nicht setzen. Nicht hier. Leros war sicher, dass Seynfried alleine durch sein Hier sein einiges riskierte. Eine gewisse Anspannung war deshalb nur normal. Der Magier lehnte sich an die Wand neben dem Waschtisch und sah seinen Besucher auffordernd an. Für einen Moment hielt Gordos Sohn die Luft an und stieß sie kurz darauf zischend zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Es fiel ihm sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. „Ich bin hier um euch zu warnen Magier!“ sagte er schließlich. „Mein Vater … ist nicht so loyal zu eurem Orden wie es den Anschein hat. Leros stieß sich von der Wand ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Vielleicht würde er hier etwas erfahren, das ihm bei der Erfüllung seiner Aufgabe half. „Sprecht Seynfried.“ sagte er. „Der Orden vergisst jene die ihn unterstützen nicht.“ Der Sohn des Barons hustete trocken. Es mochte auch ein unterdrücktes, humorloses Lachen gewesen sein. „Mein Vater hat einen Magier angefordert wie ihr wisst. Natürlich. Ihr seid ja nun hier. Was ihr aber nicht wissen könnt ist, dass er euch nicht hier haben wollte um Überfälle und Diebstähle aufzuklären. Er will den Orden testen. Herausfinden wie stark die Magier sind über die Meister Odort gebietet.“ Leros kniff die Augen zusammen. „Warum?“ fragte er. Er war sicher, dass die Antwort ihm nicht gefallen würde. „Mein Vater versucht herauszufinden, wie viele der freien Magier, die Abtrünnigen wie ihr sie nennt, notwendig sind, um euch zu überwinden.“ Seynfrieds Finger klopften nervös auf das Holz des Stuhls. „Die Abtrünnigen sind mögliche Verbündete. Das glaubt er zumindest.“ Leros hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ein Baron, der sich erdreistete, den Orden herauszufordern? War es Machtgier? Oder Hass für den der junge Magier sich keinen Grund vorstellen konnte? Es kostete ihn viel Kraft die wirbelnden Gedanken in seinem Kopf zu beruhigen. Als er es geschafft hatte verschwanden die Zeichen des Ärgers aus seinem Gesicht. Ausdruckslos sah er den Sohn des Barons an. „Und was glaubt ihr?“ sagte er mit ruhiger Stimme. Seynfried war das Aufwallen der Gefühle des Magiers nicht entgangen. Umso mehr verwunderte es ihn, wie schnell der Ordensherr die Gewalt über sich selbst zurückerlangt hatte. Er war nun sicher, richtig gehandelt zu haben. Auch mit all seinen Verbündeten, von denen er nicht mal bei allen sicher war, dass sie ihm beistehen würden, hätte sein Vater keine Aussicht darauf, aus einer Auseinandersetzung mit dem Orden siegreich hervorzugehen. Die Mitglieder dieser Organisation waren augenscheinlich mächtige und außerordentlich disziplinierte Gegner. „Ich … ich bin nicht sicher“. Seynfried richtete sich auf. Nervös faltete er die Hände und drückte zu, bis seine Knöchel weiß wurden. „Ich denke nicht, dass mein Vater sich bei einer Auseinandersetzung mit dem Orden auf die Unterstützung der Abtrünnigen verlassen kann. Auch bei seinen eigenen Männern bin ich nicht sicher. Rastan … ich weiß nicht, ob er meinem Vater treu ergeben ist.“ Leros dachte angestrengt über Seynfrieds Worte nach. Ohne das er es merkte presste er die Handflächen aufeinander, so dass er wie ein Ordensbruder aussah, der sich in ein Gebet vertiefte. „Rastan und die abtrünnigen Magier“ murmelte er. Geistesabwesend sah er den Sohn des Barons an. „Oder ist es Gordo?“. Leros fühlte die Last der Fragen, die er beantworten musste, um seinen Auftrag zu erfüllen. Weiter und weiter Spann sich das Gewirr von Möglichkeiten und Ungewissheiten zu einem undurchdringlichen Geflecht. Sein Blick bohrte sich in die Augen seines Gegenübers. Noch einmal lauschte er mit all seinen Sinnen auf irgend ein Anzeichen der Lüge. Er fand keines. „Danke. Danke das ihr euer Wissen mit mir geteilt habt. Ihr habt dem Orden einen großen Dienst erwiesen.“ Abwehrend hob er die Hand. Seynfried schloss den Mund wieder, den er bereits geöffnet hatte. „Den Schutz des Ordens kann ich euch nicht zusichern. Ich denke nicht, dass Meister Odort weitere Abgesandte hierher ans Ende der Welt schicken wird. Nicht um eine provinziale Intrige unter Kontrolle zu bringen. Ihr müsste also mit meinem Schutz vorlieb nehmen.“ Seynfrieds Gesicht schien etwas Farbe zu verlieren und verschwand nun fast vor dem Weiß der Wand hinter ihm. Er erwiderte nichts. Obwohl Leros sehen konnte, dass ihm die Worte auf der Zunge brannten. „Ihr geht nun besser. Gebt Acht, dass euch niemand zu Gesicht bekommt. Zumindest bis ihr weit genug von diesem Gemach entfernt seid um jeden Verdacht leicht zu zerstreuen“. Leros streckte Seynfried die Hand hin. Dieser starrte sie einige Augenblicke lang an, ergriff sie aber nicht. „Ich danke euch, dass ihr mir Gehör geschenkt habt Meister“ murmelte er. Seine Finger lösten sich von der Lehne des Stuhls, die er so fest umklammert hatte, als wollte er sie zerbrechen. Leros ließ die Hand sinken, als Seynfried die Tür hinter sich schloss. Lange stand der Magier bewegungslos mitten im Raum. Sein Gesicht war der Wand zugewandt, ganz als würde dort etwas besonders interessantes zu sehen sein. Vergeblich versuchte er Ordnung in das Gewirr aus Informationen zu bringen, über das er verfügte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem schrecklichen Anblick des … zerfetzten Soldaten zurück, der immer noch an dieser alten Mauer hängen musste. Leros wusste, dass Rastan sich darum kümmern würde. Der Kriegsherr wollte sicher nicht, dass jemand außer ihm und seinen Männern diese furchtbar zugerichtete Leiche zu Gesicht bekam. Die einfachen Menschen, die die Stadt bei Tage bevölkerten mussten bei diesem Anblick jeden Glauben an Sicherheit und Ordnung verlieren. Gerüchte würden sich wie die Pest verbreiten und das Leben innerhalb der Mauern von Thorakan vergiften. Die Stadt konnte nicht ohne ihre Bewohner bestehen. Ein Mann wie Rastan wusste das.

Leros erwachte aus einem wenig erfrischenden Schlaf. Seine Träume waren voll von widerlichen … Dingen gewesen, an die er sich nicht erinnern wollte. Hin und wieder waren Baron Gordo und gesichtslose Abtrünnige darin aufgetaucht. Da war auch ein Gesicht gewesen. Ein schmales Gesicht, umrandet von seidig glänzendem Haar. Augen, die schimmerten wie Bernstein. Es war das Mädchen. Jeder Gedanke an die fremde Magierin brachte eine Saite in ihm zum Schwingen, von deren Existenz er bisher nichts geahnt hatte. Er hoffte, dass einige der Dinge, die man sich über Meister Odort erzählte nicht der Wahrheit entsprachen. Leros wälzte sich auf seiner Liegestatt hin und her, um den Schlaf endgültig zu vertreiben. Wäre sein Lehrmeister in der Lage gewesen, seine Gedanken zu lesen, hätte er ihn sicher bereits zurück in den Turm gerufen. Ein Anderer wäre entsandt worden, um seinen Auftrag zu erfüllen. Dieser Gedanke verringerte den Druck, der seine Brust zusammenzupressen schien. Zumindest ein bisschen. Widerwillig schob er die Decke von sich und schwang die Beine aus dem Bett. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn, als er sich langsam erhob. Schwankend legte er die wenigen Schritte zurück, die das Bett vom Waschtisch trennten. Schwer stützte er sich auf den Rand des Tisches. Das Antlitz, dass ihm aus dem spiegelnden Blech über der Schüssel, die abgestandenes Wasser enthielt, entgegen starrte schien einem Fremden zu gehören. Er hob beide Hände und vollführte eine schnelle, kompliziert wirkende Geste vor seinem Gesicht. Der Fremde, der ihn aus dem Spiegel heraus angesehen hatte war dem gewohnten Anblick gewichen. Die Bartstoppeln waren genau wie die Rötung der Augen verschwunden. Einmal mehr dankte Leros einer unbekannten Macht dafür, dass sie gerade ihm die Gaben geschenkt hatte, die ihn über die Masse der Menschen hinaus erhoben. Er sah an sich herab. Seine zerknitterte Robe zeugte von einer unruhigen Nacht. Er war eingeschlafen, ohne sich vorher zu entkleiden. Eine weitere Handbewegung verwandelte die ramponierte Kleidung in ein makellos sauberes Zeichen seiner Herkunft. Nur den Magiern des Ordens war es erlaubt, die weißen Roben mit den besonderen Stickereien aus reinem Gold zu tragen. Der Zustand in seinem Inneren kam seinem Äußeren Erscheinungsbild allerdings nicht annähernd gleich. Die Magie half ihm, sich besser zu fühlen. Allerdings nicht in dem Maße, das er sich gewünscht hätte. Seine Schwäche verwunderte ihn. Er brauchte nicht viel Schlaf. Auch die schlimmsten Träume reichten im Normalfall nicht aus, um ihn wirklich zu erschöpfen. Die vergangene Nacht war anders gewesen. Fast als hätte irgend etwas an seiner magischen Energie gezehrt. So weit er es vermochte Konzentrierte er sich auf das, was er während seiner Ausbildung über den Austausch magischer Kraft gelernt hatte. Im laufe der Geschichte waren nur wenige Magier in der Lage gewesen, sich die Macht ihrer Brüder oder auch die ihrer Feinde zunutze zu machen. Ein altes Märchen sprach von einer unbekannten Macht, die zu verschiedenen Zeiten aus dem Hintergrund agiert haben sollte. Ein … Etwas, ausgestattet mit gewaltigen Kräften. Leros lächelte schwach. Ein Märchen, das er und seine Freunde schon damals, während der Unterrichtsstunden großspurig abgetan hatten. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, als er an die Erlebnisse der letzten Nacht dachte. Die schrecklich zugerichtete Leiche. Die Leere, die die tastenden Fühler seiner erweiterten Sinne zu verschlingen schien. „Märchen …“ murmelte er. Schwer stützte er sich auf den Riegel, der die Tür seines Gemachs sicherte. Es kostete ihn einiges an Überwindung die Sperre beiseite zu schieben. Reglos stand er einige Minuten lang einfach nur da. Schließlich straffte er die Schultern und öffnete die Tür. Gordo erwartete ihn im großen Saal. Auch Rastan würde da sein. Der Baron wollte wissen, was in der Nacht geschehen war. Und er wollte eine Erklärung für den grausamen Tod der Soldaten. Vielleicht fürchtete er, die Abtrünnigen könnten zu Weit gegangen sein. Der Baron musste fürchten, dass sein verbotenes Bündnis bekannt wurde. Der Orden ging nicht zimperlich mit seinen Feinden um. Schon gar nicht, wenn diese aus den Reihen der eigenen Vertrauten kamen. Obwohl Leros die Macht des Ordens hinter sich wusste, nährte jeder Schritt, der ihn dem Zusammentreffen näherbrachte seine Unruhe. Sein Gespräch mit Seynfried hatte ihm gezeigt, dass er nicht sicher sein konnte, wem er an diesem Ort trauen konnte. Vielleicht stand er auch alleine.

Rastan war bereits anwesend, als Leros den Saal betrat. Der Krieger war bleich. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und die sonst so kraftvollen Bewegungen des Mannes wirkten fahrig und unsicher. Leros wusste sofort, dass der Kriegsherr keinen Schlaf gefunden hatte. Vielleicht war er nicht einmal in die Nähe eines Bettes gekommen. Es war bestimmt nicht einfach gewesen, die Spuren der nächtlichen Auseinandersetzungen unauffällig zu beseitigen. Ein kurzer Blick Rastans streifte den Magier, bevor der Krieger wieder ins Leere starrte. Leros ließ sich auf einem Stuhl nieder und faltete die Hände auf der zerkratzten Holzplatte der Tafel, die sich bei Empfängen und Festen unter dem Gewicht der verschiedensten Köstlichkeiten bog. Leere und Staub ersetzten heute das festliche Gedeck. Der große Raum, angefüllt mit leeren Stühlen, wirkte trostlos. Außer dem Baron, Rastan und ihm selbst war niemand hier. Leros sah zu Gordo hin und wartete darauf, dass der Baron das Wort ergriff. Kurz hielt er dem bohrenden Blick des Barons stand. Dann sah er weg. Er fürchtete, Gordo könnte erkennen, dass er mehr wusste als es dem Verwalter der Stadt lieb sein konnte. Natürlich war diese Angst irrational. Ein Magier verfügte über viele Möglichkeiten, seine wahren Gedanken zu verbergen. Gordo war nur ein Mensch. Er konnte ihn nicht durchschauen. „Die Spuren sind beseitigt. Ich glaube, dass niemand etwas gesehen hat.“ Wieder einmal war es nicht der Baron gewesen, der das Gespräch eröffnet hatte. Rastan klammerte sich an die Kante des Tisches, als würde er mitsamt des Stuhls umfallen, sobald er losließ. Sein Blick war nach wie vor auf einen imaginären Punkt, irgendwo weit vor ihm gerichtet. „Die Leichen der beiden Männer, die wir verloren haben wurden ins Verlies gebracht. Der Wundscher wird sie untersuchen. Vielleicht finden sich Hinweise auf ihre Mörder“. Gordo neigte den Oberkörper in Richtung der Tafel. Der kunstvoll gearbeitete Stuhl, auf dem nur der Stadtverwalter Platz nehmen durfte knarrte leise. „Wer waren sie, Rastan?“ fragte der Baron. Der Kriegsherr wandte den Kopf und sah den Baron aus verschleierten Augen an. „Trestos und Handor. Die Beiden haben mir und damit auch euch viele Jahre lang treu gedient. Nun sind sie …“. Stockend brach er ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Leros war über diesen Gefühlsausbruch verwundert. Ein Krieger war es gewohnt Menschen sterben zu sehen, denen er nahe stand. Kriegszüge dauerten oft Jahre. Das sich während dieser Zeit Freundschaften geschlossen wurden war nur normal. Trotzdem weinten Soldaten selten um die Toten. Ein Kommandant aber betrauerte die Männer die für ihn kämpften nur äußerst selten. Welche besondere Verbindung bestand also zwischen Rastan und den Soldaten seiner Garde? Gordo unterbrach seine Gedanken, indem er das Wort an ihn richtete. „Was habt ihr gesehen Meister? Oder … habt ihr mit euren Fähigkeiten etwas … gefühlt? Und … „ Der Baron rieb sich nachdenklich das Kinn. „Und … was habt ihr zu eurem Zusammentreffen mit den Dieben und Mördern zu sagen? Wie ich hörte, haben sie euch außer Gefecht gesetzt. Oder war es gar nur das Mädchen, von dem Rastan mir berichtet hat?“ Ein humorloses Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Adeligen. Leros Finger verkrampften sich. Er musste einen Teil seiner Kraft darauf verwenden, die Rötung, die sich auf seinen Wangen zeigen wollte zurückzudrängen. Im Grunde hatte der Baron sogar recht. Der Anblick eines Mädchens hatte ausgereicht, um seine Vorsicht schwinden zu lassen. Er war einem Gegner zum Opfer gefallen, der während seiner Ausbildung kaum jemals erwähnt worden war. Das andere Geschlecht. Die einzige Frau, die er in den vielen Jahren seiner Ausbildung wirklich gekannt hatte, war seine Schwester gewesen. Das geheimnisvolle Geschöpf, dem er in der Nacht begegnet war hatte ihn derart verwirrt, dass es den Abtrünnigen ein Leichtes gewesen wäre, sein Leben zu nehmen. Leros räusperte sich. Seine Kehle fühlte sich trocken an. „Ich habe die Leiche gesehen. Genau wie Rastan. Auch meine besonderen Fähigkeiten konnten mir nicht mehr zeigen, als unsere Augen uns verrieten. Ich weiß also genauso wenig, wer die Täter waren. Oder der Täter. Was die Abtrünnigen betrifft … das waren die Fremden, denen wir begegneten in Wahrheit… ich muss zugeben … dass ich unachtsam war. Ich war mir meiner Überlegenheit zu sicher. Das war ein Fehler, wie ich nun weiß. Ich kann euch versichern … das wird nicht noch einmal geschehen.“ Scharf sah er den Baron an, bis dieser den Blick senkte. Die Ordnung der Dinge war damit wieder hergestellt. Gordo hatte verstanden, dass der Magier keineswegs schwach war. Und das er nicht vorhatte, die Vormachtstellung, die ihm seine Angehörigkeit zum Orden verschaffte, aufzugeben. „Magier in unserer Stadt. Wer hätte das gedacht“ sagte der Baron. Er gab sich sichtlich Mühe ein bestürztes Gesicht zu machen. Leros ließ das Schauspiel über sich ergehen. Mit keiner Geste verriet er das Wissen, das er Seynfried verdankte. „Abtrünnige“ sagte er. „Sie sind zuallererst Abtrünnige. Ein Magier, der sich dem Orden verweigert ist ein Verbrecher.“ Er winkte ab, als Gordo dazu ansetzte etwas zu sagen. „Bevor ihr fragt. Euren Dieben sind wir nicht begegnet. Die Vorstellung dass Begabte sich als einfache Diebe verdingen sollten mutet seltsam an. Sie könnten sich nehmen was immer sie wollen. Ohne Aufsehen zu erregen. Nein. Die Diebe sind einfache Menschen. Warum also sind wir gerade auf die Abtrünnigen gestoßen? Vielleicht… Ja, vielleicht wurden sie von jemandem geschickt, der stärker ist als sie. Oder wohlhabender. Um uns bei den Nachforschungen zu behindern. Vielleicht sogar, um uns auszuschalten“. Gordo zuckte zusammen, hatte sich aber gleich wieder unter Kontrolle. Leros war sicher, dass die Abtrünnigen weder die Überfälle verübt, noch die bemitleidenswerten Soldaten getötet hatten. Das Mädchen. Es war nichts bösartiges in ihrer Art gewesen. Er konnte - nein er wollte nicht glauben, dass ein Mensch, und sei er auch ein Begabter, ihn derart täuschen konnte. Nicht einen Meister des Ordens. Mit seinen Worten hatte er einen Teil von Seynfrieds Geschichte prüfen wollen. Gordos Reaktion deutete daraufhin, dass es tatsächlich eine Verbindung zwischen ihm und den fremden Magiern gab. Feine Schweißtropfen zeigten sich auf der Stirn des Barons, obwohl die Temperatur im Saal nicht gestiegen war. „Geschickt sagt ihr? Niemand hier im Norden wäre stark genug, eine Horde von Magiern zu kontrollieren.“ Leros tastete mit Fühlern aus Energie nach dem Geist des Barons. Er konnte keine Gedanken lesen. Aber er spürte die Gefühle, die einen Menschen bewegten. Gordo war ehrlich besorgt. Das scheinbare Versagen seiner Verbündeten musste ihm stark zusetzen. Leros war sicher, dass der Baron den Orden zu Hilfe gerufen hatte, um einen Gegner auf den Plan zu rufen, an dem sich die Abtrünnigen messen sollten. Anscheinend verfolgten diese Magier aber eigene Ziele. Die Überfälle waren vorgetäuscht worden. Und zwar so, dass das einfache Volk an eine echte Bedrohung glaubte. Zumindest war das der Plan des Barons gewesen. Plötzlich war alles ganz klar. Der Baron selbst hatte durch seine zur Schau getragene Nervosität das letzte Teil des Puzzles geliefert. Gordo hatte einen Magier anlocken wollen um die Stärke seiner möglichen Verbündeten zu testen. Doch diese hatten sich widersetzt. Waren unkontrollierbar geworden. Deshalb hatte der Baron seinen Kriegsherren damit beauftragt die Überfälle auszuführen. Noch immer wollte er ein Mitglied des Ordens in seine Stadt locken. Nun sollte dieser ihm aber vielleicht auch die Abtrünnigen vom Hals schaffen. Bevor sie von künftigen Verbündeten zu Feinden wurden. Außerdem sollte der Gesandte des Ordens beweisen, ob er den Waffen von Rastans Männern widerstehen konnte. Leros erinnerte sich mit Schaudern an die seltsamen Pfeile, die von den Männern verschossen worden waren. „Wie auch immer. Was wir nicht wissen ist, wer die Männer eurer Garde so schrecklich zugerichtet hat.“ sagte Leros. Der Baron tupfte sich den Schweiß mit einem Tuch aus teurem Stoff von der Stirn. Bevor er sich eine Antwort zurecht gelegt hatte krachte Rastans Faust auf den Tisch. Der Kriegsherr hatte also seine Beherrschung in den letzten Stunden nicht wieder gefunden. „Das waren diese Abtrünnigen. Wer soll auch sonst dafür verantwortlich sein? Kein einfacher Mensch besitzt die Kraft so etwas in wenigen Augenblicken anzurichten. Dazu wären viele Männer notwendig gewesen. Viele Menschen verursachen viel Lärm. Ich habe jedoch nichts gehört. Außer den Schreien von Trestos und Handor.“ Das Gesicht des Kriegsherren glühte förmlich. Er fühlte sich hilflos und das machte ihn wütend. „Ich habe ein merkwürdiges Lachen vernommen. Fast wie das Kichern eines im Geiste erkrankten. Und ich habe etwas gespürt. Was auch immer es war… es fühlte sich gänzlich anders an, als die Aura die einen Magier umgibt“. Baron Gordo starrte konzentriert auf seine eigenen Finger. „Werdet ihr Meister Odort um Rat bitten?“ fragte er. Leros ließ sich mit einer Antwort Zeit. Wenn er es täte würde der Großmeister einen erfahrenen Magier schicken, um Leros zur Seite zu stehen. Vielleicht auch mehrere. Gordo müsste seine Pläne fürs Erste aufgeben und die Abtrünnigen wären keine Gefahr mehr für… ja für wen eigentlich. Das Eingeständnis, dass er mit der Situation nicht alleine fertig wurde, wog in seinen Augen angesichts des mysteriösen Gegners, der scheinbar über gewaltige Macht verfügte nicht besonders schwer. Viel schlimmer wäre es, wenn er gerade deshalb versagte weil er nicht erkannte dass er Unterstützung brauchte. „Ich werde noch etwas warten, bis ich dem Meister einen Bericht sende. Ich möchte ihn nicht mit vagen Vermutungen belästigen. Odort muss sich um viele Dinge kümmern“. Leros würde Meister Odort noch heute über die Lage in Kenntnis setzen. Das brauchte Baron Gordo aber nicht zu wissen. Es war besser, wenn er sich nicht auf die Ankunft weiterer Mitglieder des Ordens vorbereiten konnte. Die Muskeln im Gesicht des Barons verloren sichtbar an Spannung. Leros unterdrückte ein Lächeln. Es war richtig gewesen Gordo die Wahrheit vorzuenthalten. „Gut. gut“ sagte er und kratzte sich geistesabwesend am Kinn, das von Bartstoppeln übersät war. „Ich nehme an ihr werdet versuchen der Abtrünnigen habhaft zu werden?“. Leros machte eine zustimmende Handbewegung. „Ihr liegt richtig Baron. Mag sein, dass die… Magier wissen wer die armen Soldaten getötet hat“. Rastan wandte den Kopf und starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Der Kriegsherr öffnete den Mund und setzte zum Sprechen an, brachte aber nur ein trockenes Krächzen hervor. Verärgert griff er nach dem Becher, der vor ihm stand und leerte ihn in einem einzigen Zug. Einige Tropfen des roten Weins liefen über seine Lippen. Für einen kurzen Moment sah es aus als würde er bluten. Leros nutzte den Moment um weiterzusprechen, bevor Rastan ihm ins Wort fallen konnte. „Ich werde mich nun zurückziehen, wenn ihr erlaubt. Ich möchte so schnell wie möglich mit der Suche nach den Verbrechern beginnen.“ Er ließ die Anwesenden absichtlich darüber im unklaren, ob er von den Dieben, den Abtrünnigen oder den unbekannten Mördern sprach. Rastan räusperte sich lautstark, als Leros sich eben erheben wollte. “Ihr werdet mich auf dem Laufenden halten nehme ich an?” fragte der Kriegsherr mit rauer Stimme. Leros sah ihn mit gespielter Verwunderung an. “Natürlich! Vielleicht brauche ich sogar eure Unterstützung. Und die eurer Männer. Rastan nickte. In seinem Gesicht zeichneten sich tiefe Linien des Misstrauens ab. “Hoffentlich beschließt ihr dann nicht wieder einfach davonzulaufen und eure Verbündeten ohne den Schutz eurer Macht zurückzulassen.” Leros fuhr herum und starrte Rastan einige Sekunden lang starr an. Dann senkte er den Blick. “Ich bin nicht... da war...” stotterte er. Rastan hob die Hand. “Lasst es gut sein. Wir waren alle etwas durcheinander.” Leros nickte schweigend. Es brachte nichts, sich Geschichten auszudenken. Rastan hielt ihn ohnehin bereits für einen Feigling. Der Magier wandte sich Gordo zu und deutete eine Verbeugung an. Dann verließ er den Saal und machte sich auf den Weg zu seinem Gemach. Er brauchte Ruhe, um mit Meister Odort Kontakt aufzunehmen. Danach konnte er sich um die Abtrünnigen kümmern. Er hatte vor sie zu suchen. Aber nicht um sie anzugreifen, sondern um mit ihnen zu reden. Leros wollte erfahren, wieso sie sich zum Schein mit dem Baron verbündet hatten, wenn sie ohnehin keinen seiner Befehle auszuführen gedachten.

“Meister?” Leros Gedanken legten die Entfernung zum Turm des Ordens in einem einzigen Augenblick zurück. Sie waren nicht an Straße und Wege gebunden, die das Land durchzogen wie ein Netz. “Meister Odort?” Leros schloss die Augen und wartete auf eine Antwort. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis er spürte, wie jemand mit ihm Kontakt aufnahm. “Meister Leros! Was ist so wichtig, dass du mich persönlich während des Abendritus rufen musst?” Leros fühlte sich geschmeichelt, dass der oberste des Ordens ihn mit Meister anredete. Gleichzeitig entging ihm aber nicht der Tadel in Odorts Worten. Den Abendritus hatte er völlig vergessen. “Es tut mir leid sie zu stören Meister, aber ich muss euch darum bitten noch jemanden aus dem Orden hierher zu entsenden, um mir bei meiner Aufgabe beizustehen. Hier gibt es...” Odorts Antwort unterbrach seine Gedanken abrupt. “Du sollst Unterstützung bekommen. Meister Tulos und Meister Ligu werden sich noch heute auf den Weg machen. Sie tun derzeit ihren Dienst in Gurta, nur eine Tagesreise von Thorakan entfernt. Rechne morgen Nacht, oder am darauffolgenden Morgen mit ihrer Ankunft.” Leros war verblüfft. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Odort seinen Wunsch erfüllen würde, ohne Fragen zu stellen. Und nun schickte er einfach zwei Magier zu ihm, ohne sich für Leros Schwierigkeiten zu interessieren. “Danke Meister!” Der Oberste des Ordens schien die Verwirrung nicht zu bemerken, die ihn gemeinsam mit Leros Gedanken erreicht haben musste. “Ist sonst noch etwas?” “Nein Meister!” “Gut. Erfülle deine Aufgabe zum Wohl des Ordens!” Leros spürte, wie der Andere sich zurückzog. Die Verbindung, die zwischen ihnen bestanden hatte brach ab. Was war das gewesen? Odort schien sich überhaupt nicht dafür zu interessieren, was in Thorakan vor sich ging. Oder wusste er es vielleicht? Leros traute dem Oberhaupt des Ordens beinahe alles zu. Hatte Odort das Dunkle gespürt, dem Leros im Traum begegnet war und das wieder in der Nähe gewesen war, als Rastans Leute auf grausame Weise getötet worden waren? Leros konnte die Frage nicht mit Nein beantworten. Odort war mächtig. Mächtig genug, um eine starke Präsenz, von der etwas abgrundtief böses ausging zu spüren. Ganz egal wie weit entfernt vom Turm des Ordens sie auftauchte. Leros ging zum Fenster und starrte hinaus in die Dunkelheit. Wieso sprach Odort nicht mit ihm darüber? War es eine Prüfung? Oder hatte der Meister kein Interesse daran ihm zu helfen? Hatte er den ehemaligen Schüler nur an diesen entlegenen Winkel geschickt, um ihn aus dem Weg zu schaffen? Leros gähnte ausgiebig. Er überlegte, ob er noch in dieser Nacht auf die Suche nach den Abtrünnigen gehen sollte. Bei dem Gedanken alleine durch die Dunkelheit zu wandern und vielleicht auf das kichernde, irrsinnige Ding zu stoßen, dass Rastans Männer wie Fliegen zerquetscht hatte fröstelte ihn. Nein, er würde auf die Ankunft der beiden Magier aus dem Orden warten. Da draußen lauerte ein Gegner, mit dem er alleine nicht fertig werden konnte. Dann waren da noch der unberechenbare Kriegsherr, dessen Männer über gefährliche Waffe verfügten und schließlich die Abtrünnigen, die vielleicht als einzige keine echte Gefahr darstellten. Leros drehte sich um und wankte zum Bett. Er war müde. Unendlich müde.

Leros erwachte, als etwas warmes über sein Gesicht zu streichen schien. Er öffnete die Augen und blinzelte, als ihn das Licht der Sonne blendete, dass durch das Fenster fiel. Er hatte die ganze Nacht geschlafen, ohne ein einziges Mal aufzuschrecken. Die bösen Träume hatten ihn gnädiger weise verschont. Er fühlte sich erfrischt und voller Tatendrang. Seit Tagen hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt. Leros erhob sich und streckte sich. Seine Knochen knackten leise und von irgendwoher schien noch mehr Energie in seinen Körper zu strömen. Die bevorstehende Ankunft der Magier aus dem Orden gab ihm Kraft. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie einsam er sich gefühlt hatte. Noch nie in seinem Leben war er so weit vom Turm weg gewesen. Noch nie hatte er so lang auf die Gesellschaft anderer Ordensmitglieder verzichten müssen. Aber die Einsamkeit würde bald zu Ende sein. Und damit auch die Angst, die sich langsam in seinen Geist geschlichen hatte wie ein Gift. Ein Meister des Ordens fürchtet nichts. Während er noch ein Schüler in der Sicherheit des Turms gewesen war hatte er diesen Worten unumschränkten Glauben geschenkt. Jetzt wusste er, dass die Wahrheit gänzlich anders aussah. Macht war kein Mittel gegen Furcht. Vielleicht lag es auch daran, dass er noch jung war. Leros schöpfte kaltes Wasser aus dem Gefäß des Waschtisches und benetzte sein Gesicht damit. Als er sich aufrichtete waren die Gedanken an Angst nur noch ein schwacher Schatten. Er griff nach seiner Robe, warf sie sich über und glättete sie mit etwas Magie. Dann verließ er sein Gemach. Die Zeit, die noch vergehen mochte bis die beiden Mitglieder des Ordens ankamen wollte er damit verbringen, sich die Stadt bei Tageslicht anzusehen. Vielleicht gelang es ihm, mit dem einen oder anderen Bewohner über die Dinge zu sprechen, die zu seiner Entsendung hierher geführt hatten. Leros wusste, dass er vorsichtig sein musste, wenn er nicht wollte dass Rastans Männer etwas davon mitbekamen, dass der Meister des Ordens mit den einfachen Leuten redete. Leros traute dem Kriegsherren nicht. Auch der Sohn des Barons tat es nicht. Seynfried wusste nicht, ob Rastan seinem Vater wirklich so treu ergeben war, wie er es bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschwor. Es war durchaus möglich, dass der Kriegsherr eigene Pläne verfolgte. Eines wusste Leros bereits. Rastan mochte keine Begabten. Leros hatte das Feuer der Begeisterung in seinen Augen gesehen, als die Soldaten ihre seltsamen Pfeile auf die Abtrünnigen abgeschossen hatten.

Leros blieb vor einem kleinen Stand stehen, an dem ein kleiner gebückt dastehender Mann Brot verkaufte. Schnell sah er sich um, konnte aber nichts verdächtiges entdecken. Wahrscheinlich wussten Gordo und Rastan noch nicht einmal, dass er hier draußen herumlief. Er richtete seinen Blick auf den Mann auf der anderen Seite des Standes. “Darf ich euch eine Frage stellen?” “Was möchtet ihr wissen?” Der kleine Verkäufer musterte Leros aufmerksam und fügte ein “Herr” hinzu als er sah, dass sein Besucher nicht wie ein Bauer oder ein gewöhnlicher Bürger aussah. “Was wisst ihr über die Überfälle, die hier immer wieder stattfinden? Ich bin noch nicht lange hier und ich interessiere mich dafür wie sicher diese Stadt ist.” Leros beobachtete den Mann genau, aber er konnte keine verräterische Regung wahrnehmen. “Nicht viel Herr. Mich haben sie bisher in Ruhe gelassen. Aber ich habe gehört, dass sie beim Schmied alles mitgenommen haben, das sich tragen ließ. Außerdem haben sie ihn ziemlich heftig verprügelt, ohne dass er dabei jemanden erkannt hätte.” Leros zweifelte nicht daran, dass der Mann ihm die Wahrheit sagte. “Der Schmied war aber nicht der einzige?” “Nein nein. Viele soll es schon erwischt haben. Aber ich weiß auch nur das Wenige das ich gehört habe.” Der Händler trat von einem Bein auf das andere. Es war ihm sichtlich unangenehm mit diesem Fremden darüber zu sprechen. Er hatte die Fragen überhaupt nur deshalb beantwortet, weil er nicht wusste mit wem er es zu tun hatte. Leros lächelte freundlich. “Ich danke dir. ” sagte er und ging weiter. Er spürte wie sich der Blick des Händlers in seinen Rücken bohrte. Leros wusste, dass er nicht zu viele Fragen stellen durfte, wenn er nicht wollte, dass die Leute anfingen zu reden. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schlenderte dahin, als wäre er ein Spaziergänger, der sich einfach nur die Stadt ansehen wollte, in der er hier am Ende der Welt geraten war. Viel gab es eigentlich nicht zu sehen. Ein paar Marktstände, an denen Gemüse, Obst und Wein angeboten wurden, eine Schmiede in der gerade nicht gearbeitet wurde und eine Werkstätte in der alles mögliche hergestellt wurde. Vier schwitzende Männer hämmerten und sägten an mehreren Gegenständen herum, die Leros nicht identifizieren konnte. Der Rest des verfügbaren Raumes zwischen dem Schloss und der Stadtmauer wurde von einer Menge von kleinen Hütten und Häusern eingenommen. Leros bog in eine der schmalen Gassen ein, die dazwischen verliefen wie Kanäle. Er begegnete niemandem, bis er nach ungefähr hundert Schritten an einer kleinen Stallung vorbeikam in der drei abgezehrt aussehende Pferde untergebracht waren. Ein junger Mann mit rotem Haar ging zwischen ihnen hin und her und schichtete Heu von einem Stapel auf einen anderen. Den Sinn der Tätigkeit konnte Leros nicht erkennen. Vielleicht diente sie einfach dazu den jungen Mann von etwas anderem abzuhalten das ihm schaden mochte. Genau genommen hielt man es bei der Ausbildung im Orden kaum anders. Die Schüler hatten so viele Aufgaben zu erfüllen, dass ihnen keine Zeit blieb auf dumme Gedanken zu kommen. Bei den Begabten konnte sich jeder harmlose Streich sehr schnell in bitteren Ernst verwandeln. Leros dachte mit schaudern daran, was er mit seinen eigenen Kräften anrichten konnte, wenn er sie nicht streng kontrolliert einsetzte. Die Auseinandersetzung mit Laris hatte ihm gezeigt, dass er nur mit der Kraft seines Willens ganze Gebäude einebnen konnte. Der Gedanke an seine Schwester versetzte ihm einen scharfen Stich. Er konnte sich kaum an eine Zeit erinnern in der sie gut miteinander ausgekommen waren. Ein paar vage Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Kinder die miteinander spielten, ohne an die Welt um sie herum zu denken. Mit ihrem Eintritt in den Orden war alles anders geworden. Mehr und mehr war Laris das Verlangen nach Macht zu Kopf gestiegen und hatte sie zynisch und herrschsüchtig werden lassen. In ihrer Vorstellung stand sie weit über den einfachen Menschen und auch über den meisten anderen Begabten. Leros erinnerte sich, dass sie sich immer öfter mit Meister Odort selbst verglichen hatte. Er hatte es schnell aufgegeben sie beeinflussen zu wollen. Überhaupt sprachen sie nur noch selten miteinander. Die Unterschiede zwischen ihnen waren schließlich einfach zu groß geworden. Dann hatte sie angefangen zu trinken und sich in den Schenken herumzutreiben. Ihre Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber war dadurch nur noch größer geworden. Und jetzt war sie wer weiß wo in irgend einer bedeutenden Stadt im Westen während er hier am Ende der Welt versuchte Dieben auf die Spur zu kommen, die womöglich gar nicht existierten. Hier gab es nichts außer einer kleinen Palastintrige zwischen Vater und Sohn, einem Kriegsherren der zwar genau das tat was sein Herr von ihm verlangte, dabei aber trotzdem eigene Pläne verfolgte und etwas unheimliches, das in Träume eindrang und Soldaten zerschmetterte wie hölzerne Puppen. “Verzeiht Herr!” Leros hatte nicht mehr darauf geachtet wohin er ging und jetzt wäre er beinahe mit einer alten Frau zusammengestoßen, die langsam den unbefestigten Weg zwischen den Hütten entlang humpelte. Er blieb stehen. “Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich war es, der aufpassen sollte wohin er geht.” Die Alte sah zu Boden und kicherte verlegen. Sie war es nicht gewohnt, dass sich einer der Herren für etwas entschuldigte. “Sag mir, weißt du etwas über die Diebe, die hier im Schutz der Dunkelheit ihr Unwesen treiben?” fragte Leros. Die Frau legte den Kopf schief und sah ihn von unten herauf misstrauisch an. Eine ähnliche Reaktion wie bei dem Händler. Auch sie war verwundert, dass ein fremder Herr, der wahrscheinlich nur auf der Durchreise war sich für Überfalle auf einfache Leute interessierte. Darum kümmerte sich sonst nur die Palastwache. Halbherzig zwar, aber immerhin. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, als sich plötzlich etwas in ihren Augen veränderte. Das weiß verschwand daraus, als die Pupillen rasend schnell wuchsen. Sie kicherte. Diesmal lauter und irgendwie wilder. Leros trat unwillkürlich einen Schritt zurück und nahm eine abwehrende Haltung ein. “Was willst du hier kleiner Zauberer? Verschwinde! Mag sein, dass ich dich gehen lasse. Dieses Mal.” Die Stimme klang hohl, so als würde sie vom Grund eines tiefen Brunnens zu ihm herauf dringen. Die Alte kicherte noch einmal, bevor die Schwärze aus ihren Augen so schnell verschwand, wie sie gekommen war. “Entschuldigt Herr. Was war es was ihr mich gefragt habt? Ich bin eine alte Frau müsst ihr wissen. Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie einst.” Leros schluckte. “Nichts. Es war nichts. Ich danke dir. Er drehte sich um und ging so schnell wie er konnte ohne zu rennen davon. Die alte Frau starrte ihm verwirrt hinterher. Sie schüttelte den Kopf und humpelte weiter.

Leros Schritte wurden in gleichem Maß langsamer in dem die Geschwindigkeit seines Herzschlags zunahm. Es war wieder zu ihm gekommen. Dieses unheimliche Ding. Und diesmal hatte es ihn direkt davor gewarnt ihm zu nahe zu kommen. Leros fuhr sich mit zitternden Fingern durch das schulterlange Haar. Was immer es auch war, es war noch mächtiger als er geglaubt hatte. Es konnte nicht nur in seine Träume eindringen und im Schutz der Dunkelheit Schrecken verbreiten. Nein es konnte auch im hellsten Tageslicht im Körper von normalen Menschen erscheinen. Und es wollte, dass er verschwand. Leros blieb stehen und atmete mehrere Male tief ein und aus. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Sollte er Odort über seine Begegnung Bericht erstatten oder damit warten, bis er wusste womit er es zu tun hatte? Was würde der oberste des Ordens sagen, wenn Leros ihm erzählte, dass er einem unheimlichen Wesen begegnet war, von dem er absolut nichts wusste, außer dass es da war? Nein. Er würde auf die Unterstützung warten, die bereits auf dem Weg zu ihm war und mit Hilfe der beiden Meister versuchen dem Unheimlichen auf die Spur zu kommen. Leros seufzte. Odort hatte ihn ans Ende der Welt geschickt um ihn ruhig zu stellen. Jetzt sah es eher danach aus, dass diese Stadt zum Brennpunkt von Ereignissen wurde, die bald den ganzen Orden betreffen mochten.

Laris schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass etwas von dem Wein in ihrem Becher über den Rand schwappte und lachte laut. Die verwunderten Blicke von einigen der Anwesenden entgingen ihr keineswegs, aber sie war es gewohnt misstrauisch beäugt zu werden. Sie verhielt sich nicht so, wie man es von einer Frau erwartete. Schon gar nicht von einer Meisterin des Ordens. Die anderen Begabten tranken nicht - zumindest nicht in der Öffentlichkeit und sie hielten sich so gut wie möglich von den einfachen Menschen fern. Sie war anderes. Sie liebte die Menschen nicht. Sie verachtete sie. Mehr noch als die anderen im Orden. Aber sie bewegte sich zwischen ihnen, trank mit ihnen und lachte über ihre geistlosen Witze. Sie machte die Leute glauben, dass sie Laris vertrauen konnten. Dass sie jemand war, der sich für ihre einfachen Probleme interessierte. Die Wahrheit war, dass sie sich unter das Volk mischte um mehr zu wissen als die anderen Adeligen und die Mitglieder des Ordens. Laris lächelte wölfisch. Bisher war ihr das auch immer gut gelungen. Sie belauschte Gespräche die den anderen herrschenden niemals zu Ohren kommen würden und sie stellte Fragen, die niemand außer ihr stellte. Laris setzte den Becher an die Lippen und trank ihn in einem Zug leer. Dann stellte sie den Becher hart auf dem Tisch ab und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Bundor jede ihrer Gesten genau beobachtete. Dieser Mann war nicht dumm. Er hatte längst erkannt, dass Laris nicht nur hier war, um nach dem Rechten zu sehen. Er wusste, dass der Orden mit seiner Art der Herrschaft nie völlig zufrieden gewesen war. Eines Tages hatten sie einfach jemanden wie diese junge Frau hierher schicken müssen. Bundor überlegte was er tun konnte um sie davon zu überzeugen, dass es besser war ihm die Geschäfte der Stadt auch weiterhin zu überlassen. Er fand nichts, was sie überzeugen mochte. Und auch wenn es einen Grund gegeben hätte - da war nicht nur sie. Bundor war sicher, dass Odort sie geschickt hatte. Wahrscheinlich war sie so etwas wie der persönliche Protegé des obersten Meisters des Ordens. Er griff nach seinem Becher, hob ihn an die Lippen und ließ ihn wieder sinken ohne daraus zu trinken. Er musste vollständig Herr seiner Sinne bleiben wenn er die Zeit gewinnen wollte, die er brauchte um einen Ausweg aus seiner Situation zu finden. Er wandte sich seinem Ratgeber zu. “Ich ziehe mich zurück. Lass die junge Frau nicht aus den Augen und geh nicht, bevor sie es nicht auch tut.” Telos nickte kaum merklich. “Wie ihr wünscht Herr” raunte er. Telos schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und verließ den Raum durch eine Tür in der Wand direkt hinter seinem Platz an der Tafel. “Mehr Wein” rief Laris mit der überlauten Stimme einer Betrunkenen und klopfte mit dem Boden ihres Becher rhythmisch auf den Tisch. Sie ließ sich nicht anmerken, dass ihr nicht entgangen war, dass der Regent die Tafel verlassen hatte. Sie würde sich morgen um ihn kümmern. Heute wollte sie feiern. Einer der hin und her huschenden Diener füllte ihren Becher und zog sich dann wieder zurück. Laris hob das Gefäß, prostete dem Berater des Regenten zwinkernd zu und trank.

Laris warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich an die Wand, die heftig zu schwanken schien. Sie genoss diesen Zustand so sehr, dass sie darauf verzichtete ihre Macht einzusetzen, um wieder nüchtern zu werden. Sie stieß sich von der Wand ab und ging schwankend zum Bett hinüber. Ohne sich zu entkleiden ließ sie sich hinein fallen und schlief nur wenige Augenblicke später ein. Ihre Träume zeigten ihr wirre Bilder voll Licht und Lärm. Menschen die durcheinander redeten, lachten, tanzten und tranken. Musik. Alles wirbelte durcheinander und wurde zu einem schwindelerregenden Strudel. Laris schlug die Augen auf, als es in der Traumwelt plötzlich stockdunkel wurde. Und kalt. Die Härchen an ihren Armen richteten sich auf und sie begann zu zittern. Vielleicht war es nun doch an der Zeit ihre Kräfte einzusetzen um ihrem Zustand der unangenehm zu werden begann ein Ende zu bereiten. Sie tastete nach der Energie in ihrem Inneren, aber es gelang ihr nicht aus diesem Reservoir zu schöpfen. Etwas lähmte sie. Jemand kicherte. Oder etwas. Es klang wie die Stimme eines zornigen Kindes. Und auch wieder nicht. Laris kannte dieses Geräusch. Sie hatte dieses Kichern schon einmal gehört. “Bist du bereit zu tun, was es befiehlt?” Laris schloss die Augen. Sie hatte oft an die Stimme gedacht, die damals in ihrem Gemach aus dem Nichts gekommen war. Immer wieder war sie zu er Erkenntnis gelangt, dass ihre Erinnerung einem Traum entsprang und nicht der Wirklichkeit. Aber jetzt sprach das Unsichtbare wieder zu ihr. Wieder erklang das Kichern, das jeden Nerv in ihrem Körper in Schwingungen zu versetzen schien. “Still” sagte die Stimme in einem scharfen Tonfall. Das Kichern brach abrupt ab. Laris begriff sofort. Das Unsichtbare, das sich in ihren Traum gedrängt hatte war nicht alleine. Zumindest zwei Wesenheiten waren in ihre Gedankenwelt eingedrungen. Und eine war offenbar höher gestellt als die andere. Ein Teil von Laris Gehirn begann bereits damit die Möglichkeiten die sich daraus ergaben zu erforschen. Während ihrer Ausbildung hatte Meister Odort jede Gelegenheit genutzt sie im Geheimen in der Kunst zu unterweisen die Schwachstellen eines jeden Gegenübers wahrzunehmen und sie zur Richtigen Gelegenheit als eine Art Hebel zu benutzen. Laris Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Sie war schon immer der Liebling des Meisters gewesen. “Ist dir möglicherweise der Ernst der Lage nicht bewusst?” Laris schrak zusammen. Sie hatte fast vergessen, dass sie nicht alleine in ihrem Gemach war. “Nein. Ich... es tut mir leid. Ich wollte nicht...” “Genug! Es interessiert mich nicht. Hör mir genau zu. Ich werde das was ich dir nun sage nicht wiederholen. Es wird in eure Welt kommen. Bald schon. Alle die sich ihm in den Weg stellen werden hinweggefegt werden. Aber so mächtig es auch ist braucht es dennoch Diener, die ihm den Weg bereiten.” Laris unterbrach die unsichtbare Präsenz. “Was bekomme ich d...” Weiter kam sie nicht. Ein grelles Licht schien in ihrem Kopf aufzuflammen. Begleitet wurde die gleißende Helligkeit von Schmerz wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Sie fühlte sich als würde das Gehirn in ihrem Schädel zu Asche verbrannt. Bevor sie schreien konnte war es vorbei. Laris keuchte und krallte die Finger in das Laken. Das unheimliche Wesen hatte sie für ihre Dreistigkeit bestraft. Sie musste vorsichtiger sein. Ihr Übermut konnte ihr sonst Kopf und Kragen kosten. “Unterbrich mich nicht noch einmal” sagte die körperlose Stimme. Sie klang immer noch dumpf und hohl. Es lag kein Ausdruck von Gefühl darin. Jedenfalls konnte Laris keinen solchen erkennen. “Aber ich will dir deine Frage trotzdem beantworten. Wenn du ihm dienst bekommst du dein Leben.” Das ist nicht viel dachte Laris. Jedoch gewann das Leben deutlich an Wert, wenn die Gefahr bestand es zu verlieren. “Was erwartet... es dafür von mir?” Als Antwort erhielt sie ein beinahe kindliches Kichern, in dem ein Hauch von Irrsinn mitschwang. Erst als das unangenehme Geräusch leiser wurde begann der andere Unsichtbare zu sprechen. “Deine Aufgabe sollte für dich nicht schwer zu erfüllen sein. Verfolge deine Pläne ohne von deinem Weg abzukommen. Das ist alles.” Laris richtete sich ruckartig auf. Sie war überrascht. Sie hatte erwartet, dass man von ihr verlangen würde schwierige Aufgaben zu erfüllen, die nach ihren besonderen Fähigkeiten verlangten. Und nun sollte es ausreichen einfach zu tun was ihrem Naturell entsprach? “Warum?” fragte sie. Diesmal erhielt sie keine Antwort. Sie glaubte das unheimliche Kichern zu hören. Leise und weit entfernt. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein. Laris schloss die Augen und sank in die Polster ihrer Liegestatt zurück. Ihre Atmung wurde langsam und gleichmäßig. Sie träumte von Dunkelheit, die über die Welt hereinbrach und alles auf ihrem Weg verschlang.

Laris erwachte und fühlte sich trotz der Träume die sie geplagt hatten vollständig erholt. Die Kraft die durch ihre Adern strömte würde sie auch brauchen, wenn sie ihre Pläne verwirklichen wollte. Eigentlich waren es nicht unbedingt ihre Pläne, sondern die von Meister Odort, aber seine Ideen gefielen ihr ungemein. Mit dieser Stadt würde sie anfangen. Wenn sie Bundor erst einmal abgelöst hatte konnte sie lernen, wie man Menschen herrschte. Sie war immer gut darin gewesen sich neues Wissen anzueignen, also würde sie nicht lange brauchen, um das Gebiet das sie regierte vergrößern zu können. Laris stand auf und trat ans Fenster. Sie sah hinaus auf die wohl geordneten, beinahe makellosen Häuser der Stadt, die bald ihr gehören würde. Sie warf das Haar zurück und streckte sich. Die Vorfreude und die Aufregung verlangten nach einem Ventil. Sie konnte nicht länger in ihrem Gemach bleiben. Laris verzichtete darauf, sich auf normalem Weg für den Tag zu richten. Stattdessen setzte sie ihre Macht ein. Nur einen Gedanken später trug sie ihre Robe, die aussah als wäre sie gerade eben gewaschen worden. Ihr Haar glänzte wie Seide und ihre Haut duftete sanft nach Frühlingsblumen. Laris sah zufrieden an sich herab. Niemand der sie so sah würde auf den Gedanken kommen eine Gefahr in ihr zu sehen. Bundor konnte sie nicht täuschen. Er ahnte bereits was sie im Sinn hatte. Das konnte sie spüren, wenn sie in seiner Nähe war. Aber was konnte er schon gegen ihre Kräfte ausrichten? Laris lächelte. Meister Odort würde mit ihr zufrieden sein, wenn sie das Ziel so mühelos und vor allem rasch erreichte. Das Vertrauen das er ihr entgegen brachte würde größer werden und sie würde sich gewisse Freiheiten nehmen können. Ob das ausreichte um ihrem eigenen Ziel näher zu kommen wusste sie nicht, aber es würde wenigstens nicht zu ihrem Nachteil sein wenn sie dem Meister bewies, dass er zu recht auf sie gesetzt hatte. Vielleicht änderte sich auch alles, wenn das Wesen, das in der Dunkelheit in ihre Träume und ihr Gemach eingedrungen war die Wahrheit gesagt hatte. Laris öffnete die Tür und atmete tief durch. Was auch immer geschehen würde - jetzt wartete eine Aufgabe auf sie, die sie erfüllen musste. Die sie erfüllen wollte. Endlich gab es für sie eine Möglichkeit sich zu beweisen. Es war nicht die erste, aber die Konfrontation mit ihrem Bruder hatte sie nicht für sich entscheiden können. Sie war nicht unterlegen, aber nicht zu siegen war für sie gleichbedeutend mit Versagen. Das durfte nicht noch einmal geschehen. Laris straffte die Schultern. Ihr ganzer Körper schien zu summen wie ein zorniger Bienenschwarm. Sie musste hinaus. Etwas tun. Wenn sie noch länger hier stand und über ihr mögliches Scheitern nachzudenken mochten sich echte Zweifel in ihrer Seele einnisten und sie schwächen. Meister Odort hatte gesagt, dass nur der siegreich sein konnte, der an sich selbst glaubte.

Laris blieb einen Moment vor dem Saal stehen, in dem Bundor wahrscheinlich schon auf seinem unscheinbaren Thron sitzen und seinen Geschäften nachgeben würde. Sie hob die Hand, ballte sie zur Faust und hielt inne. Laris schüttelte leicht den Kopf und ließ den Arm wieder sinken. Warum sollte sie anklopfen? Bei dem was sie vor hatte war es nicht notwendig, sich mit falscher Höflichkeit aufzuhalten. Sie warf ihr Haar zurück und stieß die Tür auf. Mit hoch erhobenem Haupt betrat sie den Saal. Bundor fuhr in seinem Thron auf, blieb aber sitzen. “Was verschafft uns die Ehre eures unangekündigten Eindringens?” sagte er mit scheidender Stimme. Die beiden Wachen, die wie immer starr wie Statuen links und rechts des Eingangs standen legten blitzschnell die Hände auf die Griffe ihrer Schwerter. Dann erstarrten sie wieder. Sie warteten auf Befehle ihres Herren. Die beiden Männer, die neben Bundor saßen musterten Laris aus zusammengekniffenen Augen. Sie versuchten sich zu beherrschen, aber sie konnten ihre Nervosität nicht völlig verbergen. Schon gar nicht vor einer Meisterin des Ordens, die spüren konnte was sie fühlten. Laris blieb stehen, lächelte und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Dem Impuls, wie ein kleines Mädchen auf den Fußballen auf und ab zu wippen gab sie nicht nach, obwohl es ihr erstaunlich schwer viel ihren Übermut nicht all zu sehr zu zeigen. Sie fühlte sich stark. Überlegen. Mächtig. Laris bekam einen flüchtigen Eindruck davon, wie Meister Odort sich fühlen musste, wenn er die Interessen des Ordens mit seinen überlegenen Fähigkeiten durchsetzte. Nun hatte er sie mit einer seiner unzähligen Aufgaben betraut. Ohne es zu wollen fühlte sie sich durch das Vertrauen des Meisters geehrt. Ihr Lächeln verschwand, als sie an ihre eigenen Pläne dachte, die mit denen Odorts nicht überein stimmten. Er war ein guter Lehrer gewesen, aber sie konnte niemanden akzeptieren, der über ihr stand. Laris zügelte ihre galoppierenden Gedanken. Sie hatte hier und jetzt etwas zu erledigen und sie sah, dass Bundor langsam ungeduldig wurde. “Habt ihr nichts zu sagen?” Seine Worte bestätigten das, was sie zu spüren geglaubt hatte. “Nun, werter Bundor. Ich bin mit einem bestimmten Auftrag hierher geschickt worden. Und ich gedenke ihn zur Zufriedenheit des Ordens zu erledigen.” Der Regent erhob sich ruckartig von seinem Thron. “Was wollt ihr damit sagen?” Seine Stimme zitterte kaum merklich. Laris vollführte eine Gesten mit ihren hinter dem Rücken verschränkten Fingern. Vor der schweren Tür, die der einzige Zugang zu diesem Raum war begann die Luft kaum merklich zu flimmern. Niemand würde jetzt noch hinein oder hinaus kommen. Laris hatte sich schon vor einigen Tagen versichert, dass es keinen geheimen Gang gab, durch den der Regent fliehen konnte. Sie war verwundert gewesen, als sie keinen gefunden hatte. Scheinbar herrschte hier seit Ewigkeiten Frieden. Ohne stetige Herausforderung wurden die Menschen nachlässig und sträflich unvorsichtig. Nun, ihr sollte es recht sein. Das machte es nur um so einfacher, die Sache zu ende zu bringen. Laris sah Bundor in die Augen. “Ich soll euch vom Obersten des Ordens ausrichten, dass eure Herrschaft sich dem Ende zuneigt. Und nicht nur das. Ich bin auch hier, um sicher zu gehen, dass ihr Odorts Wünschen entsprecht.” Bundors Gesicht verlor jede Farbe. Er griff nach seinem Schwert und riss es mit einer heftigen Bewegung aus der Scheide. Ohne eines weiteren Befehls zu bedürfen taten es die beiden Wachen neben dem Eingang gleich. Laris begann schallend zu lachen. Als die beiden Männer in ihrem Rücken mit erhobenen Schwertern auf sie eindrangen wirbelte sie herum und hob die Hände. Nur Augenblicke später lagen die Soldaten mit verrenkten Gliedmaßen auf dem harten Boden und rührten sich nicht mehr. Der Regent schien völlig erstarrt zu sein. Nur seine Augen zuckten nervös hin und her. Seine beiden Berater waren ebenfalls aufgesprungen und drückten sich hinter ihrem Herren an die Wand, als hofften sie, dass der Stein nachgeben und ihnen einen Fluchtweg eröffnen würde. Laris näherte sich dem Regenten bis auf wenige Schritte. “Ich könnte dir versprechen, dich ziehen zu lassen, wenn du auf deinen Herrschaftsanspruch verzichtest. Aber... ich denke ich werde es nicht tun.” Sie ballte die Hände zu Fäusten und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete stand der Regent in Flammen. Er warf sich schreiend zu Boden und wälzte sich hin und her. Laris beobachtete das Schauspiel interessiert. Noch nie hatte sie Gelegenheit gehabt einen Menschen mit der Absicht anzugreifen, ihn zu töten. Das war kein normales Feuer. Nur Magie konnte es löschen. Die Berater Bundors versuchten nicht ihrem Herren beizustehen. Mit verzerrten Gesichtern sahen sie zu, wie er verbrannte. Als Bundors Schreie zu einem grässlichen Kreischen wurden pressten sie die Handflächen auf ihre Ohren und wanden sich wie Würmer. Und nichts anderes sind sie dachte Laris. Sie wartete, bis es still wurde und sich das verkohlte Ding, das einmal der Regent gewesen war sich nicht mehr bewegte. Der Rest des Körpers, aus dem die Seele bereits geflogen war fiel knisternd in sich zusammen. Schließlich erloschen auch die Flammen. Laris ging zu dem Häufchen aus Asche und Kohle hin und blieb direkt davor stehen. “Die Zeit eurer Herrschaft ist zu ende” flüsterte sie. Dann hob sie den Kopf und wandte sich den beiden Beratern zu, die mit geschlossenen Augen verkrümmt und wimmernd dastanden. “Wollt ihr mir dienen, so wie ihr ihm gedient habt?” Einer der beiden sah zu ihr auf und senkte den Blick sogleich wieder. Laris spürte, dass er etwas fragen wollte, aber nicht den Mut dazu fand. “Werdet meine Berater und lebt. Weigert euch und ihr sterbt wie euer Herr” sagte sie. Diesmal richteten beide Männer den Blick auf sie. Sie bemühten sich unterwürfig auszusehen. Viel mussten sie dafür nicht tun. Beide sprachen gleichzeitig. “Wir sind bereit Herrin!” Laris nickte wohlwollend. “Gut. Durch mich dient ihr dem Orden nun besser. Auf euren Schultern lastet eine große Verantwortung. Bundor mag Fehler geduldet haben. Ich tue es nicht.” Sie wedelte nachlässig mit der Hand und gab den beiden Beratern damit zu verstehen, dass sie sich entfernen sollten. Die Männer huschten davon wie Nager, die vor der Katze flohen. Laris trat neben den einfachen Thron und strich mit der Hand über das raue Holz. Sie würde einen Tischler brauchen. Sie brauchte einen Stuhl, der ihrer Macht Ausdruck verlieh. Was sie noch dringender brauchte war ein guter Schluck. Es war Zeit dem Volk den Namen der neuen Herrscherin bekannt zu machen. Und wo verbreiteten sich Worte schneller als in den Schenken der Stadt? Vorher musste sie noch den Soldaten begreiflich machen, dass sie nun ihren Befehlen zu folgen hatten. Eine Kleinigkeit. Die Höflinge hatten Zeit bis morgen. Diese Leute erfüllten ohnehin keinen besonderen Zweck.

“Verneig dich gefälligst vor deiner Regentin” Laris Stimme schwankte. Ihre Zunge hob sich nur schwerfällig und nahm ihren Worten die gewohnte Klarheit. Der gedrungene Mann von dem sie Gehorsam forderte stierte sie aus glasigen Augen an. Er war noch viel betrunkener als sie selbst und konnte sich vermutlich nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen erinnern. Geschweige denn daran, in welcher Stadt er überhaupt war. “Regentin?” brabbelte er weinerlich. Laris stellte ihren Krug hart auf der Theke ab und schlug dem Mann mit der flachen Hand ins Gesicht. Obwohl der Mann gut doppelt so schwer sein musste wie sie wurde er dennoch zurückgeschleudert, als hätte ihn ein Pferd getreten. Niemand schien von dem Vorfall Notiz zu nehmen. Keiner wollte sich mit dieser seltsamen Frau anlegen, die damit prahlte, die neue Regentin zu sein. Man erzählte sich, dass sie vom Orden stammte. Dass sie eine Begabte war. Der Mann rappelte sich langsam auf und versuchte sich zu erinnern, wieso er gestürzt war. Laris achtete nicht weiter auf ihn und griff wieder nach dem Krug. Sie hielt das Gefäß hoch und drehte es um. Nur ein einziger Tropfen fiel auf das Holz der Theke. Mit trauriger Mine sah Laris zu wie er langsam in den feinen Ritzen versickerte. Dann wandte sie Ruckartig den Kopf und streckte dem Wirt den Krug entgegen. “Füll ihn auf!” Der Wirt zögerte. Er überlegte fieberhaft, wie er diese Furie daran hindern konnte, sich weiter zu betrinken. “Mach schon!” Er wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und nahm Laris den Krug aus der Hand. Als er sah, wie sie die Stirn runzelte beeilte er sich, das Gefäß bis zum Rand zu füllen. Schnell stellte der Wirt den Krug vor Laris auf die Theke und wich so schnell er konnte zurück. Die junge Frau erschien ihm wie ein Raubtier, dem man einen Brocken Fleisch hinwarf, bevor man Hals über Kopf davonlief, hoffend dass es lange genug abgelenkt war, damit man entkommen konnte. Laris trank und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Langsam begann sie sich prächtig zu fühlen. Dann verflog die Stimmung schlagartig. Sie wurde sogar beinahe nüchtern, als sich etwas Bekanntes in ihre Gedanken drängte. “Laris, Laris. Benimmt sich so eine Vertreterin des Ordens? Eine Meisterin noch dazu?” Im nächsten Moment wurde die sanfte Stimme in ihrem Kopf laut und schneidend. “Reiß dich gefälligst zusammen!” Sie zuckte zusammen. Das Vertrauen, dass Odort ihr entgegen brachte war wohl doch nicht so groß wie sie geglaubt hatte. Niemals hätte sie vermutet, dass er sie beobachtete. Zum Glück wusste sie, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte. Es war ihm nur möglich durch ihre Augen zu sehen. Sie überlegte, ob sie irgend etwas getan getan hatte, das ihn misstrauisch machen mochte, aber sie konnte sich an nichts derartiges erinnern. “Es tut mir leid Meister” sagte sie mit der lautlosen Stimme ihres Geistes. “Ich glaube, mein Sieg über Bundor ist mir zu Kopf gestiegen.” Odort lachte leise. “Gut, dass du dich wenigstens noch selbst erkennst. Scheinbar hast du doch nicht alles vergessen, was ich dich gelehrt habe. Ich habe die Hoffnung, die ich in dich gesetzt habe noch nicht aufgegeben.” Laris musste all ihre Kraft aufwenden, um sich zu beherrschen. “Danke Meister.” Bald wirst du ganz anders mit mir sprechen, alter Mann. Für den Moment musste sie ihre wahren Gedanken verbergen. Noch war sie dem Obersten des Ordens nicht gewachsen. Sie musste ihre Macht ausbauen und Verbündete finden. Und sie musste lernen ihre Fähigkeiten besser zu beherrschen als alle anderen Angehörigen des Ordens. Sie musste stärker werden, als es jemals jemand gewesen war, wenn sie Odort die Macht entreißen wollte, die er seit Jahrhunderten fest in Händen hielt. “... werde ich dir einen meiner Vertrauten zur Seite stellen.” Laris zuckte zusammen, als sie feststellte, dass sie nicht wusste, wie lange der Meister schon sprach. Einen seiner Vertrauten zu Seite stellen? Was bedeutete das? Hatte Odort doch den Glauben an sie verloren und wollte sie überwachen lassen? Oder hatte er gar Verdachte geschöpft? Sah er mit seiner großen Erfahrung hinter die Fassade, hinter der sie ihre Pläne verbarg? Laris Gesicht rötete sich, als es ihr nicht gelang, die leise Stimme zum Verstummen zu bringen, die ihr zuflüsterte, dass sie sich möglicherweise überschätzte. Dass Odort längst von dem peinigenden Ehrgeiz wissen mochte, der sie dazu trieb das Unmögliche zu versuchen. “Zur Unterstützung Meister?” fragte sie. Odort antwortete nicht sofort. Laris wurde zusehends nervös. Sie fragte sich, worüber der Meister nachdachte. Vielleicht ersann er eine besonders ausgeklügelte Lüge, um sie in Sicherheit zu wiegen. “Nein. Nicht zur Unterstützung. Ich will, dass jemand ein Auge auf dich hat. Vielleicht gelingt es dir besser, dich zu beherrschen, wenn du weißt, dass der Orden nie allzu weit entfernt ist.” Odort hatte sich also für die Wahrheit entschieden. Nun war es an Laris, sich eine Antwort zu überlegen. Das was ihr auf der Zunge ließ sie besser unausgesprochen. Fürs erste. Sie presste die Handflächen gegen die Schläfen und kämpfte gegen den Wein, der durch ihre Adern floss und ihre Gedanken vernebelte. Sie ließ etwas von ihrer Kraft durch ihren Körper strömen und vertrieb den Alkohol aus ihrem Blut. Sofort fühlte sie sich besser. Ihre Selbstsicherheit kehrte zurück. “Ich verstehe Meister.” Ihrer lautlosen Stimme war nicht anzumerken, dass sie in Wahrheit überhaupt nicht damit einverstanden war, dass der Meister sie von jemandem überwachen lassen wollte, dem er vertraute. Aber wenigstens wusste sie jetzt, dass er ihr nicht mehr traute. Sie stellte sich vor, wie Odort alleine inmitten der großen Halle im Turm des Ordens stand, die Augen halb geschlossen und salbungsvoll nickte. Sie ballte die Hände zu Fäusten und presste die Fingernägel in die Handflächen, bis der Schmerz beinahe unerträglich wurde. Die Wut, die sie immer befiel, wenn jemand über sie bestimmte kochte in ihrem Inneren hoch. Laris hoffte, dass Odort bald die geistige Verbindung zu ihr abbrach, bevor sie die Kontrolle über sich verlor. “Erwarte meinen Gesandten in zwei Tagen.” Nach diesen Worten spürte Laris, dass sie wieder alleine war in ihrem Kopf. Sie atmete tief durch. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Krug, der immer noch neben ihr stand. Sie hob ihn an die Lippen und trank. Das angenehme Schwindelgefühl das der Welt die Ecken und Kanten zu nehmen schien kehrte zurück. Laris stellte das Gefäß ab und stieß sich von der Theke ab. Sie brauchte Schlaf. Die nächsten beiden Tage würde sie brauchen, um sich auf die Ankunft von Odorts Abgesandtem vorzubereiten. Sie musste ihre Herrschaft festigen um die Unruhen, die immer zutage traten, wenn das Volk nicht wusste wer es regierte im Keim zu ersticken. Der Gesandte des Meisterst durfte keine Zweifel an ihrer Fähigkeit hegen, die Stadt unter Kontrolle zu halten. Wenn ihr das nicht gelang würde Odort sie zurück beordern. Dann würde sie für lange Zeit keine Gelegenheit mehr erhalten nach ihrem eigenen Willen zu handeln. Flüchtig dachte sie darüber nach, ob es ihr gelingen konnte, den Gesandten beiseite zu schaffen ohne selbst in Verdacht zu geraten. Nein. Das war unmöglich. Odort würde wissen, dass sie hinter allem stand. Sie konnte nur eines tun. Sie musste den Gesandten gewähren lassen. Und sie musste die Stadt so gut regieren, wie sie es konnte. Irgendwann würde die Wachsamkeit des Meisters nachlassen und die Freiheit in ihren Entscheidungen im gleichen Maße größer werden. Vielleicht würde ihr auch das Fremde aus ihren Träumen dabei helfen ihre Macht zu vergrößern. Laris spürte das stärker werdende Kribbeln in ihrem Bauch, das sie immer befiel, wenn sie an die Zukunft dachte.

“Ihr habt gute Arbeit geleistet wie ich sehe. Die einfachen Leute lehnen sich nicht gegen eure Herrschaft auf und auch die Adeligen scheinen sich damit abgefunden zu haben, dass der Regent durch euch ersetzt wurde. Wenn ich mich vergewissert habe, dass kein versteckter Widerstand existiert, der euch entgangen ist, werde ich Meister Odort von eurem Erfolg berichten. Das wird einen Teil der Last von seinen Schultern nehmen. Danach stehe ich euch uneingeschränkt zur Verfügung und helfe euch, wo immer ihr mich braucht. Laris lächelte unverbindlich. Ihre Lippen verzogen sich, aber der Ausdruck in ihren Augen blieb kühl und lauernd. Der Gesandte tat so, als würde er es nicht bemerken, aber er war von Odort gewarnt worden, diese so liebenswert aussehende junge Frau nicht zu unterschätzen. In diesem zarten Körper wohnte ein Raubtier, das nur darauf wartete seine Krallen in einen unachtsamen Gegner zu schlagen. “Bitte tut, was ihr tun müsst” sagte sie mit ihrer dunklen Stimme. Mir wird schon etwas einfallen, was du für mich tun kannst. Gefährlich soll es sein. Und so weit weg wie nur möglich. Laris legte den Kopf schief und sah den Gesandten fragend an. “Ist noch etwas?” Der Mann zuckte beinahe unmerklich zusammen. Er hatte sich zu sehr auf seine eigenen Gedanken konzentriert. Ein Fehler, der ihm in einer anderen Situation Kopf und Kragen kosten konnte. Er zweifelte nicht daran, dass Laris seine Abwesenheit registriert hatte und den eigentlich bedeutungslosen Vorfall nicht vergessen würde. Sie beobachtete ihn mindestens genauso intensiv wie er sie und suchte nach seinen Schwächen, um sie im richtigen Moment auszunutzen. “Nein. Ich werde mich unter die Leute mischen und versuchen etwas über die Stimmung in der Stadt in Erfahrung zu bringen.” Laris nickte knapp. “Geht nur!” Sie machte eine auffordernde Handbewegung, die unmissverständlich zeigte, dass sie sich ihm überlegen fühlte. Sie war die Herrscherin dieser Stadt und er nur ein Laufbursche des Ordensherren. Der Gesandte wandte sich rasch ab, damit sie den Ärger in seinem Gesicht nicht sehen konnte. Offenbar begriff sie nicht, wem sie gegenüber stand. Sein Rang im Orden war keineswegs der eines Handlangers. Im Gegenteil. Es gab nicht viele, die ihm etwas zu befehlen hatten. Er stieß die Tür mit mehr Kraft auf, als nötig gewesen wäre und verließ den Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hatte Laris nicht belogen. Er wollte sich wirklich unter das Volk mischen, um etwas über diese Stadt und ihre Bewohner zu erfahren. Und er wollte hören, was sich die Leute über ihre neue Regentin erzählten. Odort hatte ihn nicht nur hierher geschickt, um seine vielversprechendste Schülerin im Auge zu behalten. Dem Meister lag auch viel daran, dass dem Orden die Kontrolle über Markon nicht entglitt. Hier liefen viele Fäden des Herrschaftsgebiets der Begabten zusammen. Hierher kamen die Händler um ihren Geschäften nachzugehen und hier wurden Entscheidungen getroffen, die Auswirkungen auf das gesamte Reich hatten. Die Bedeutung der Stadt zeigte sich darin, dass Odort seine ehemalige Schülerin geschickt hatte, um Bundor offen vom Thron zu stoßen. Und das nur, weil er mit einer Handvoll der Entscheidungen des Ordens nicht einverstanden gewesen war. Wenn sich herausstellte, dass das kleine Übel durch ein noch größeres ersetzt worden war würde Odort alles tun, um den Fehler wieder gut zu machen. Der Gesandte war mit allen Vollmachten ausgestattet worden. Wenn er es für notwendig erachtete Laris zu töten, dann konnte er das tun, ohne ein weiteres Mal Rücksprache mit dem Meister zu halten.

Laris lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Es hatte ihr keine Mühe bereitet den Mann, den Odort geschickt hatte zu durchschauen. Er war hier, um jeden ihrer Schritte zu beobachten und dafür zu sorgen, dass sie Markon nicht zugrunde richtete. Außerdem war da noch etwas in seinem Blick gewesen... Der Gesandte war kein einfacher Bote. Das war ein Mann, der es gewohnt war zu befehlen. Sie zweifelte nicht daran, dass er sie ohne zu zögern angreifen würde, wenn sie versuchen sollte sich seiner zu entledigen. Wenn sie ihn gewaltsam loswerden wollte, musste sie ihn überraschen. Im Grunde hoffte sie immer noch, dass er von selber gehen würde, wenn er zu dem Schluss kam, dass Laris im Interesse des Ordens handelte. Sie würde alles tun was sie konnte, um ihn davon zu überzeugen. Sie wollte Odort nicht gegen sich aufbringen, solange es nicht unbedingt notwendig war. “Schickt meine Berater” sagte Laris zu den Wachen, ohne sie dabei anzusehen. Dann stützte sie den Kopf auf die Arme und wartete. Es mochte sein, dass die beiden Speichellecker einen Weg fanden, wie sie ihre Probleme lösen konnte, ohne eine Katastrophe heraufzubeschwören.

Odort saß an dem wuchtigen Schreibtisch in seinem Schlafgemach und arbeitete an dem Buch, von dem niemand wusste, dass er es schrieb. All sein Wissen und all seine Erfahrungen flossen durch die Feder aufs Papier. Das Buch sollte seinem Nachfolger als Wegweiser dienen, wenn er eines fernen Tages keine Kraft mehr hatte das Zepter in der Hand zu halten. Odort wusste, dass auch er nicht unsterblich war. Seine Zeit verrann langsam. Viel langsamer als bei jedem anderen Mitglied des Ordens, aber irgendwann würde er ebenso abberufen werden wie sie. Bis es so weit war würde er das Buch versteckt halten. Nicht auszudenken, wenn es in die falschen Hände fiel. Er dachte mit Schaudern daran, was geschehen mochte, sollte jemand wie Laris seiner Schriften habhaft werden. Odort ließ die Feder sinken und starrte ins Leere. Er hatte das Vertrauen zu der besten Schülerin verloren, die er jemals ausgebildet hatte. Ihr Bruder Leros war kaum schwächer als sie, aber ihm fehlte der Wille zur Macht. Der größte Teil seines Potentials blieb ungenutzt. Laris hingegen brannte darauf sich hervorzutun. Vielleicht zu sehr. Ohne es zu merken begann Odort mit der Feder auf den Tisch zu klopfen. Wie schon oft in der letzten Zeit stellte der sich die Frage, ob er Laris zurück beordern sollte, um sie persönlich unter Aufsicht zu halten. Wer sollte dann Markon regieren? Er brauchte dort jemanden, der stark war. Die Stadt war sehr wichtig für den Orden und für das Land selbst. Es würde Zeit brauchen, bis er jemanden fand, der diese Aufgabe erfüllen konnte. Auch Laris würde ihre Abberufung nicht hinnehmen, ohne Fragen zu stellen, auf die es keine befriedigende Antwort geben konnte. Egal was er ihr erzählte - sie würde wissen warum er sie in den Turm zurückgerufen hatte. Gut möglich, dass es zu einer direkten Auseinandersetzung kam, wenn die Wut die in Laris brodelte sie übermannte. All das nur wegen eines Verdachts. Odort seufzte. Nein Dafür war es zu früh. Er brauchte Gewissheit. Odort setzte die Feder wieder auf das Papier und begann langsam zu schreiben. Die Tinte gerann zu Kringeln und Bogen, die schließlich Worte formten. Der Meister vergaß die Welt um sich herum und die Probleme, die überall auf ihn lauerten. Das einzige was zählte war, die Essenz seines langen Lebens festzuhalten, und sei es nur um sich an viele Momente zu erinnern, an die er außerhalb dieses Raums niemals dachte. Seine Zeit war immer knapp bemessen und erlaubte es kaum eigenen Gedanken nachzuhängen. Odort hob die Hand, um die Feder in das Tintenfass zu tauchen, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Er hatte irgend etwas gehört, was nicht hier her gehörte. Ein Geräusch, dass ihm seltsam bekannt und zugleich unglaublich fremd erschienen war. Odort lauschte. Eine Weile geschah nichts. Dann erfüllte plötzlich ein dröhnendes Kichern das Gemach. Die Hand mit der Feder zitterte. Odorts Augen zuckten hin und her und suchten nach der Quelle des Geräuschs, aber er war allein. Zumindest wollten seine Sinne ihn das glauben machen. Odort wusste, dass er dem Wesen gegenüber stand, dass es bereits einmal geschafft hatte, ihm Angst zu machen. Etwas das seit einem Jahrtausend niemandem mehr gelungen war. Und jetzt war es wieder da. Odorts vage Hoffnung, dass sein erstes Zusammentreffen mit dem unheimlichen Unsichtbaren nur ein besonders lebhafter Traum gewesen war zerbrach unter der Last der unangenehmen Wahrheit. “Was willst du?” fragte er, ohne zu wissen wohin er seine Worte richten sollte. Das Kichern das ihm antwortete wurde von einer hohl klingenden Stimme unterbrochen. Odort begriff, dass er nicht einem einzigen Unsichtbaren gegenüberstand sondern mindestens Zweien. Er legte die Feder beiseite und verschränkte die Finger ineinander, um das leichte Zittern das in seine Hände gekrochen war zu unterdrücken. “Noch will ich gar nichts von dir” sagte die Stimme. “Du sollst nur wissen, dass ich in deine Welt kommen werde. Und ich werde etwas schreckliches mitbringen.” Odort blinzelte mehrmals. Er verstand nicht, wovon der unsichtbare redete. In seine Welt kommen - war er nicht jetzt gerade hier? “Was bedeutet das?” fragte er mit einer Stimme, die sich unsicherer anhörte als er es jemals bei sich selbst gehört hatte. Ein Teil von ihm ekelte sich vor sich selbst. Er verabscheute Schwäche und Furcht und jetzt erfuhr er diese Regungen zum ersten mal seit einer Ewigkeit wieder am eigenen Leib. Als das abscheuliche Kichern wieder erklang zuckte er zusammen wie ein Kaninchen, das den Jäger entdeckte, der ihm aufgelauert hatte. Mit alle seiner Willenskraft zwang er sich zur Ruhe. “Lasst mich in Frieden!” schrie er. Er schob den Stuhl zurück, stand auf und begann die Energie, die stets durch jede Faser seines Körpers strömte zu kanalisieren. Wenn sich der Unsichtbare zeigte, oder durch irgend etwas anderes seinen Standpunkt verriet, dann würde Odort ihn mit aller Macht angreifen. Es gab nichts, das seinen Kräften widerstehen konnte. Jedenfalls hatte ihn im laufe seines langen Lebens niemand jemals besiegen können. Odort ging um den Tisch herum und blieb lauernd stehen. “Frieden?” sagte die hohle Stimme. “Wenn ich in deine Welt komme wird es keinen Frieden geben. Nicht für die, die sich mir widersetzen. Ich werde kommen. Und es wird mit mir sein.” So sehr er sich auch bemühte, so gelang es Odort doch nicht den Unsichtbaren aufzuspüren. Die Fühler seines Geistes sagten ihm genau wie seine Augen, dass er alleine in seinem Gemach war. Wie sollte er etwas angreifen, das nicht da war? Langsam richtete er sich aus seiner gebückten Haltung auf. Er wartete darauf, dass der Unsichtbare noch einmal das Wort an ihn richtete. Und er wartete auf das Kichern des Anderen. Aber es geschah nichts. Odort ging zum Tisch zurück und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Ohne darüber nachzudenken nahm er die Feder wieder in die Hand und schloss die Finger fest darum. Dann wartete er reglos. Eine Stunde verging ereignislos. Danach eine Zweite. Odort hatte sich während der ganzen Zeit kaum bewegt. Schließlich ließ er die Feder sinken und stand auf. Heute würde er ohnehin nichts mehr zuwege bringen. Seine Gedanken drehten sich einzig und allein um die Unsichtbaren und darum, ob sie tatsächlich eine Gefahr für ihn und den Orden waren. Als ob es nicht ohnehin schon genug zu tun gegeben hätte. Da waren Laris und Leros, auf die ständig jemand ein Auge haben musste. Da war Markon, die Stadt, die einen Regenten brauchte, der dem Orden treu ergeben war und der jedem Befehl sofort folge leisten würde und da war Marius, der irgendwelche Pläne verfolgte, die niemand genau kannte. Und jetzt musste er sich auch noch darum kümmern, seine Vertrauten darauf vorzubereiten, dass irgend etwas von einem unbekannten Ort hierher kommen mochte, um dem Orden zu schaden. Odort ließ sich auf das breite Bett sinken. Er musste schlafen. Er brauchte all seine Kräfte, um mit allem fertig zu werden, das seiner Aufmerksamkeit bedurfte.

Laris zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, um dem Licht keine Gelegenheit zu geben ihre Züge zu enthüllen. Mittlerweile gab es kaum noch jemanden in der Stadt, der ihr Gesicht nicht kannte. Die Menschen hatten sich schnell daran gewöhnt, dass die junge Frau, die vom Orden geschickt worden war ihre Geschicke lenkte. Im Grunde schien es ihnen egal zu sein wer die Stadt verwaltete solange man sie in Ruhe ließ. Laris war hier um zu hören was auf den Straßen geredet wurde und bis jetzt hatte sie kaum ein Gespräch belauscht, dass sich um sie drehte. Sie war fast ein wenig enttäuscht und sie fragte sich, was sie tun musste, damit die Leute angemessen Notiz von ihrer Regentin nahmen. Nur wenn sie Aufmerksamkeit bekam würde ihr Name irgendwann über die Grenzen der Stadt hinaus in aller Munde sein. Und wenn sie etwas fast genauso sehr wollte wie Macht, dann war es das Bewusstsein, dass sie niemals vergessen werden würde. Das noch in tausenden von Jahren Geschichten über sie erzählt wurden, selbst wenn die dann nicht mehr leben sollte. Laris blieb vor einem Stand stehen, an dem Wein angeboten wurde. Alles in ihr verlangte nach einem guten Schluck, aber sie beherrschte sich. Sie musste klar im Kopf bleiben und während der Anwesenheit von Odorts Vertrautem wollte sie sich keine Blöße geben. Laris seufzte und ging langsam weiter. An der nächsten Kreuzung wählte sie einen Weg, der sie zum Schloss zurück führen würde. Sie hatte genug gehört und gesehen. In der Stadt ging alles seinen gewohnten Gang und die einfachen Leute sorgten sich wie eh und je nur um ihr eigenes Wohl. Niemand weinte dem alten Regenten nach und niemand erhob seine Stimme gegen sie oder den Orden. Sie konnte sich also ganz auf den Gesandten des Ordens konzentrieren und darauf ihn los zu werden. Wenn er erst einmal weg war und Odort in seiner Wachsamkeit nachließ konnte sie daran gehen, ihren Einfluss zu vergrößern. Zuerst hier in der Stadt. Sie würde die Zügel etwas fester in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass niemand mehr vergaß, wem er Rechenschaft schuldig war. Danach konnte sie sich um ihre Handelspartner kümmern. Es gab einige, die zwar unter der Herrschaft des Ordens standen, jedoch von einfachen Vertretern des dortigen Adels regiert wurden. Man tat was die Begabten in dem fernen Turm wollten, aber man beeilte sich nicht zu sehr damit. Laris fuhr mit den Fingern durch ihr seidiges Haar. Sie würde dafür sorgen, dass man auch in diesen Gebieten die Macht des Ordens wieder direkter zu spüren bekam. Das würde Odort gefallen und sein Misstrauen noch weiter dämpfen. Laris würde dann zur nächsten Stufe ihres Plans übergehen und versuchen, ein Übereinkommen mit den Abtrünnigen zu erreichen. Sie konnten sich gegenseitig unterstützen, bis Laris sie nicht mehr brauchte. Und dann... Eine Frau schrie gellend. Andere Stimmen fielen ein. Menschen rannten an Laris vorbei. Alle wollten sehen, was die Ursache des Geschreis war. Sie mochten sich in tödliche Gefahr begeben, aber ihre Neugierde war so groß, dass sie die Kontrolle über ihre Beine zu übernehmen schien. Laris hastete den Leuten hinterher. Mit jedem Schritt den sie tat wurde das Stimmengewirr das sie hörte lauter. Dann bog sie um eine Ecke und blieb abrupt vor einer Mauer aus Menschen stehen, die nach vorne drängten um einen Blick auf den Grund für die Aufregung zu werfen. Laris umgab sich mit einem Wirbel aus Kraft und ging vorwärts. Die Menge teilte sich vor ihr wie das Korn auf dem Feld vor dem Wind, ohne dass sie auch nur einen Finger zu rühren brauchte. Schließlich wichen die letzten Menschen vor der unsichtbaren Kraft zurück. Laris sah, was die Frauen dazu gebracht hatte erschrocken aufzuschreien. Vor ihr lag der verrenkte Körper eines Mannes auf dem harten Boden, den sie trotz dessen, dass er schrecklich zugerichtet war sofort erkannte. Laris ging weiter, bis die Spitzen ihrer Schuhe nur noch einen Finger breit von dem Toten entfernt waren. Die fest getrampelte Erde rund um den Leichnam war von versickertem Blut dunkel gefärbt. Laris beugte sich ein Stück weit nach vorne. Der Körper von Odorts Gesandtem sah aus, als hätte ihn eine riesige Hand geknetet und schließlich zerquetscht. Das zerbrochene Spielzeug hatte sie dann einfach fallen gelassen. “Zurück Weib!” Laris fühlte eine Hand, die sich um ihre Schulter schloss und sie unsanft zurück riss. Sie wirbelte herum und konnte im letzten Moment den Ausbruch ihrer Wut zurückhalten, der den Soldaten das Leben gekostet hätte. Wie hätte der Mann wissen sollen, dass seine Regentin vor ihm stand? Für ihn war sie nur irgend eine Frau, die ihm im Weg stand. Laris schüttelte seine Hand ab, griff nach ihrer Kapuze und war sie zurück. Sofort wurde es still. Die letzten Stimmen verstummten, als ihre Besitzer feststellten, dass sie die einzigen waren die noch redeten. Der Soldat starrte Laris entgeistert an. Sein Gesicht war aschfahl und auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. “Es... Ich...” stotterte er. Laris bedeutete ihm zu schweigen. “Du konntest nicht wissen wer vor dir stand. Du hast nur deine Arbeit getan.” Es fiel ihr schwer Verständnis zu heucheln. Nur zu gerne hätte sie den Soldaten für seine Anmaßung bestraft, aber sie wollte das nicht vor all den vielen Augen tun, die jede ihrer Bewegungen beobachteten. Bevor sie den Menschen ihr wahres Gesicht zeigte musste sie das Problem lösen, das nur wenige Schritte von ihr entfernt auf dem Boden lag. Odort würde wissen wollen, wer für den Tod seines Gesandten verantwortlich war. Und er wird dich verdächtigen. Laris wusste, dass die leise Stimme in ihrem Kopf recht hatte. Für den Meister war es naheliegend sie für die Mörderin seines Vertrauten zu halten. Er würde annehmen, dass sie begriffen hatte, dass der Mann hier war um sie im Auftrag Odorts zu beobachten. Sie war nicht dumm und Odort war sich dessen bewusst. Er würde von Anfang an angenommen haben, dass seine ehemalige Schülerin nicht lange brauchen würde, um seine Absichten zu durchschauen. Und jetzt war der Gesandte tot. Sein zerschmetterter Körper schrie beinahe hinaus, dass sein Mörder kein gewöhnlicher Mensch sein konnte. Laris ging zu dem Leichnam zurück und ließ sich daneben in die Hocke sinken. Hinter ihr begannen die Leute erneut durcheinander zu reden. Nur die mittlerweile aufgetauchten Soldaten konnten sie daran hindern nach vorne zu drängen, um den Toten ebenfalls aus der Nähe zu betrachten. Erste Rufe, die nach dem Namen des ermordeten fragten wurden laut. Natürlich übersahen die Leute die edle Kleidung des Gesandten nicht. Sie fragten sich, wer so dreist war einen Adeligen am helllichten Tag zu ermorden und dann auch noch die Leiche auf der Straße liegen zu lassen. Wenn sie gewusst hätten, dass der Mann dem Orden angehört hatte wären sie noch viel ratloser gewesen. Laris kannte nur wenige Menschen die einen mächtigen Begabten wie Odorts Vertrauten töten konnten, ohne dass dabei die halbe Stadt vernichtet wurde. Sie selbst war einer dieser Menschen. Sie glaubte nicht, dass von den anderen einer hier war. Das hätte sie gespürt. Nur wesentlich mächtigere Begabte konnten sich vollständig vor den anderen verbergen und im Orden gab es niemanden, der um so vieles stärker war als sie. Für einen Moment dachte sie an die Abtrünnigen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Warum hätten sie das Leben von Vagabunden führen sollen, die sich versteckten wie Maulwürfe, wenn sie über solche Leute verfügten? Nein. Diese Bluttat war nicht von einem Menschen verübt worden. Laris schloss die Augen und hörte das Kichern, das einem wie ein eisiger Hauch in die Knochen fuhr. Sie war sicher, dass der Unsichtbare mit der seltsamen Stimme oder sein kichernder Freund den Gesandten getötet hatten. Aber warum? Die Antwort auf diese Frage wusste sie nicht. Noch nicht.

“Herrin?” Laris drehte sich zu dem Soldaten um, der ihrem Blick auswich und sich nervös auf dem Boden umsah, als gäbe es dort etwas unheimlich interessantes zu entdecken. “Was willst du?” Laris gab sich Mühe ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen, aber es gelang ihr nicht sonderlich gut. Es gab so vieles über das sie nachdenken musste und dabei wollte sie nicht gestört werden. Sie seufzte entsagungsvoll und machte eine ungeduldige Handbewegung, als der Soldat keine Anstalten machten ihre Frage zu beantworten. Der Mann zuckte zusammen und senkte den Kopf wie ein Hund, der die Bestrafung seines Herren erwartete. “Was... was sollen wir mit... dem... der...” Er deutete verzweifelt auf den verkrümmt daliegenden Leichnam. Laris brauchte nur wenige Augenblicke um eine Entscheidung zu treffen. “Bringt ihn ins Schloss und legt ihn in eine der leeren Zellen im Kerker. Ich werde mich später um alles weitere kümmern.” Sie drehte sich einmal im Kreis und deutete auf die Menschen, die immer noch von den Wachen zurückgehalten wurden. “Bevor ihr ihn wegbringt... tut so als würdet ihr ihn untersuchen. Erzählt den Leuten irgend eine Geschichte von einem Raub und einer Stichwunde im Rücken. Das wird sie für den Moment ein Wenig beruhigen und sie vielleicht dazu bringen wieder ihren Geschäften nachzugehen.” Der Soldat nickte dienstbeflissen und entfernte sich so schnell er konnte aus Laris Nähe. Sie hörte wie er einige Befehle erteilte und sich dann an die Gaffer wandte. Gleich darauf hievten einige Männer den toten Gesandten vom Boden hoch und trugen ihn davon. Einiger der Soldaten bahnten den Trägern einen Weg durch die Menge und zogen sich dann ebenfalls zurück. Laris starrte nachdenklich auf den dunklen Fleck, den das Blut des ermordeten zurückgelassen hatte. Erst als die Menschen immer näher rückten wurde ihr bewusst, dass nur noch sie zurückgeblieben war. Sie hatte weder die Muße, noch den Willen Fragen zu beantworten, auf die sie noch dazu keine Antwort wusste, also formte sie einen unsichtbaren Schild um sich herum und drängte sich durch die Menge, ohne jemanden zu berühren. Nur wenige trauten sich sie anzusprechen, aber Laris schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Was interessierten sie diese einfachen Menschen? Sie hatten ihr zu gehorchen. Der Gesandte war tot, also konnte sie die Maske, die sie aufgesetzt hatte um ihm ein Theaterstück vorzuführen fallen lassen. Auch Odort würde nun andere Sorgen haben, als sich Gedanken um ihr Verhalten zu machen. Vielmehr würde er überlegen, ob er den Verdacht den er gegen Laris hegte offen aussprechen und damit einen offenen Konflikt riskieren sollte. Wahrscheinlich würde er sich dafür entscheiden, wenn sie es nicht schaffte sein Misstrauen zu zerstreuen. Laris wusste, dass sie nicht gegen den Meister bestehen konnte. Sie konnte ihm eine Zeit lang Widerstand leisten, würde aber schließlich unterliegen. Wenn sie keine Verbündeten fand, die ihr beistanden. Du könntest einfach verschwinden. Der Gedanke ließ sich nicht vollständig verdrängen. Warum nicht in den Ländern außerhalb des Reiches untertauchen und mit einem neuen Namen ein neues Leben beginnen. Das hieße auf die Macht zu verzichten und dem Orden für eine lange Zeit aus dem Weg zu gehen. Laris Kopf begann zu schmerzen. “Nein” murmelte sie. Sie würde nicht klammheimlich verschwinden. Sie wusste so gut wie nichts über die Welt hinter dem Ozean. Der Orden pflegte keine Kontakte mit den fremden Ländern. Man gab nur acht, dass von dort niemand in das Reich eindrang. Außerdem sorgte man dafür, dass niemand die Grenzen des Reichs in die andere Richtung überschritt. Man tat so, als gäbe es die Welt jenseits des Ozeans einfach nicht. Laris hatte sich nie gefragt warum das so war und auch jetzt interessierte es sie nicht sonderlich. Sie wusste nur, dass sie nicht den Drang verspürte ins Ungewisse aufzubrechen. Es gab nur eines was sie tun konnte. Sie musste sich Odorts Zorn stellen und versuchen ihn von ihrer Unschuld zu überzeugen. Aber vorher wollte sie noch einmal mit dem Unsichtbaren reden. Wenn es etwas gab, dass sie für ihn tun konnte, dann ließ er vielleicht mit sich handeln und stand ihr gegen Odort bei. Ihr wurde heiß als die an die Möglichkeiten dachte, die sich daraus ergaben. Laris warf das Haar zurück und beschleunigte ihre Schritte. Im Schloss wartete ein Toter auf sie, der ihr vielleicht eine Geschichte über seinen Mörder erzählen würde, wenn sie nur genau genug hinhörte.

Odort fuhr aus dem Schlaf hoch und setzte sich kerzengerade auf. Durch die Fenster seines Gemachs fiel helles Licht herein. Er hatte also wesentlich länger als geschlafen als es sonst seine Art war. Das Zusammentreffen mit den Unsichtbaren hatte ihn viel Kraft gekostet. Und jetzt hatte ihn ein unangenehmes Gefühl aus dem Schlaf gerissen, das stark genug gewesen war aus seinen Träumen an die Oberfläche seines Bewusstseins vorzudringen. Irgend etwas war passiert. Etwas das er noch nicht verstand. Er wusste nur, dass es etwas war, das ihn gar nicht gefallen würde. Odort schloss die Augen und zwang seine Gedanken in ruhigere Bahnen. Er sammelte seine Kräfte und suchte nach der Ursache für das bohrende Unbehagen in seinem Inneren. Schließlich spürte er, dass etwas fehlte, das eigentlich hätte da sein sollen. Es war Tarco. Tarco, den er nach Markon geschickt hatte um ein Auge auf Laris zu haben. Der stete Strom von vertrauter Energie, der von ihm ausgegangen war, war erloschen. Das konnte nur bedeuten, dass er tot war. Egal ob ein Begabter bewusstlos war oder schlief. Wenn er am Leben war konnte Odort ihn spüren, wo immer er sich auch aufhielt. Jedenfalls gelang ihm das bei denen, deren Aura er ganz genau kannte. Erst wenn sie starben versiegte dieses unverkennbare Leuchtfeuer. Odort hatte das schon unzählige Male erlebt. Er hatte längst aufgehört zu zählen, wie viele seiner Vertrauten im Lauf der Jahrhunderte gestorben waren. Aber diesmal war etwas anderes. Odort ballte die Hände zu Fäusten. “Laris” stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Schon lange nicht mehr hatte er eine solche Wut empfunden. Wut auf die Schülerin, die sich zu einer giftigen Schlange entwickelt hatte und Wut auf sich selbst, dass er sich so in der jungen Frau getäuscht hatte. Laris war unter seiner Obhut aufgewachsen. Hatte alles was sie wusste von ihm gelernt. Wie konnte sie es wagen offen gegen ihn, den Meister des Ordens zu rebellieren? War sie etwa irrsinnig geworden? Wusste sie nicht, dass er sie bestrafen würde? Und für ihr Vergehen gab es nur eine Strafe. Odort stand zitternd auf und warf seine Robe über. Dann stürmte er aus seinem Gemach. Die Kraft in seinem Inneren verlieh ihm Flügel und ließ ihn schneller laufen, als es ein einfacher Mensch je gekonnt hätte. Nur Augenblicke später riss er das Tor zum Ratssaal auf. Sein Blick tastete hastig durch den Raum, auf der Suche nach seinen Adjutanten. Kieran saß gebückt über einem Stück über einem der Pulte. Die Feder in seiner Hand kratzte über das Papier. Er schien nicht bemerkt zu haben, dass jemand den Saal betreten hatte. Erst als Odort hinter ihn trat ließ er erschrocken die Feder fallen und fuhr herum. “Warum so nervös mein lieber Kieran?” fragte Odort. Dann wurde er schlagartig ernst. Kierans Erwiderung erstickte er mit einer herrischen Geste im Keim. “Du wirst eine Kutsche bereitstellen lassen. Und eine Eskorte. Zehn der besten Männer. In zwei Stunden.” Kieran richtete sich kerzengerade auf. “In zwei Stunden, Herr?” Odort runzelte die Stirn. “Ich glaube, dass du mich sehr gut verstanden hast. Also sitz hier nicht herum wie eine Statue sondern mach dich an die Arbeit. Und... erzähle niemandem von deinem Auftrag, der nicht unbedingt davon wissen muss.” Kieran sprang auf. “Ja Herr. Sofort. Darf ich...” Odort winkte ab. “Nein. Das Ziel meiner Reise brauchst du nicht zu kennen.” Kieran deutete eine Verbeugung an und hastete davon. Der Meister schien in keiner besonders guten Stimmung zu sein. Es war wohl am Besten seine Befehle auszuführen und ihm ansonsten aus dem Weg zu gehen. Odort sah dem davon eilenden Adjutanten nach. Kieran würde die Aufgabe wie immer zu seiner Zufriedenheit erfüllen. Der Junge war ein wenig neugierig, aber loyal. Trotzdem war es besser wenn niemand wusste wohin er aufbrach, um Laris nicht vorzeitig zu warnen. Gerüchte verbreiteten sich unter den Begabte viel schneller als ein Reisender voran kam. Wenn möglichst wenige wussten, dass er den Turm verließ und man über sein Ziel nur rätseln konnte, dann gab ihm das einen Vorsprung. Aber Odort gab sich keinen Spekulationen hin. Laris würde sofort wissen, dass er kam, sollte sie von seiner Abwesenheit aus dem Turm erfahren.

“Aufsitzen!” rief Odort. “Unser Ziel ist der Gardenpass. Dort werden wir das Nachtlager aufschlagen.” Der Anführer der Eskorte wiederholte den Befehl während Odort in die Kutsche kletterte. Das Innere war mit Samt ausgekleidet. Auf den beiden breiten Sitzbänken lagen reich verzierte Polster. Oben auf dem Bock saßen auf beiden Seiten des Kutschers zwei Diener, die für das Wohl des wichtigen Fahrgastes sorgten. Odort steckte noch einmal den Kopf nach draußen, sah zufrieden, dass die Eskorte sich bereits formiert hatte und schlug die Tür der Kabine hinter sich zu. Er ließ sich zurücksinken und schloss die Augen. Er merkte kaum, dass die Kutsche sich in Bewegung setzte, während er darüber nachdachte, wie er vorgehen würde wenn er Markon erreichte. Soll ich ihr Gelegenheit geben sich zu rechtfertigen oder ihre Energie blockieren und sie in Gewahrsam nehmen lassen und danach erst nach Beweisen suchen? Wird sie sich fügen, wenn ich sie ihrer Ämter enthebe? Odort verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Wenn Laris sich gegen ihn zur Wehr setzte würde es schwer sein Zerstörungen zu vermeiden und die Bewohner von Markon aus der Auseinandersetzung herauszuhalten. Während des Kampfes von Laris und Leros bei der Abschlussprüfung der beiden hatte er einen Eindruck von den beeindruckenden Kräfte seiner einstigen Schülerin erhalten. Und von ihrem unberechenbaren und jähzornigen Wesen. Vielleicht hättest du doch versuchen sollen, Leros nach deinen Vorstellungen zu formen. Diese Gelegenheit war verstrichen und kam nicht mehr zurück. Er hatte Leros nie im selben Maß geschätzt wie seine Schwester. Der Junge war immer schon eher still und nachdenklich gewesen. Niemand, den man sich als Anführer vorstellte. Lange Zeit hatte Odort auch übersehen, dass Leros seiner Schwester an Kraft ebenbürtig war. Als er es erkannt hatte war er bemüht gewesen die Kluft zwischen den sich so unterschiedlich entwickelnden Geschwistern zu vergrößern. Damit hatte er verhindert, dass sie erkannten über welche Macht sie verfügten wenn sie sich zusammenschlossen. Odort öffnete die Augen, zog den Vorhang beiseite, der das Fenster auf der Seite der Kutsche verdeckte und warf einen Blick auf die vorbeiziehende Landschaft. Es wurde langsam dunkel. Sie würden den Gardenpass in ungefähr drei Stunden erreichen und dort ihr Nachtlager aufschlagen. Von dem Pass aus konnte man die Umgebung in weitem Umkreis im Auge behalten und war so vor unliebsamen Überraschungen gefeit. Odort rieb sich die Augen und gähnte. Er glaubte nicht, dass sie hier, mitten im innersten Herrschaftsbereich des Ordens angegriffen werden würden, aber er hatte es sich im Lauf seines langen Lebens zur Gewohnheit gemacht jeden Vorteil zu nutzen, der sich ihm bot, auch wenn es dafür keinen unmittelbaren Grund geben mochte. Odort ließ sich in die Polster zurücksinken. Seine Gedanken kehrten zu Laris und Tarco zurück. Die Reise nach Markon dauerte nur zwei Tage und wenn sie ankamen musste er sich darüber im klaren sein, wie er vorgehen wollte. Unsicherheit konnte er sich in seiner Position nicht leisten. Schon gar nicht wenn so viel auf dem Spiel stand.

Die Kutsche wurde langsamer und blieb schließlich mit einem sanften Ruck stehen. Odort ließ ein wenig Energie durch seinen Körper fließen und vertrieb damit die Müdigkeit aus seinen Gliedern, die steif waren nach den Stunden, die er beinahe regungslos auf der gepolsterten Bank verbracht hatte. Odort hörte wie draußen die Männer der Eskorte von den Pferden abstiegen und der Kommandant einige Befehle erteilte. Es würde nicht lange dauern bis das Lager errichtet war. Die Soldaten hatten Erfahrung mit solchen Dingen. Odort erhob sich und öffnete die Tür der Kutsche. Geschmeidig kletterte er heraus und sprang auf den Boden hinunter. Sein Körper war kaum schwächer, als er es vor mehr als zweitausend Jahren gewesen war. Er alterte nur sehr langsam, aber auch seine Macht konnte den Prozess nicht vollständig aufhalten. Eines Tages würde auch er zu einem Greis werden, aber darüber brauchte er sich noch keine Sorgen zu machen. “Habt ihr besondere Befehle Herr?” Der Kommandant der Eskorte war beinahe lautlos neben Odort aufgetaucht. Trotz der schweren Rüstung die er trug verriet er sich nicht durch unnötige Geräusche. Der Orden achtete darauf, dass nur die besten Männer in die Garde aufgenommen wurden. Die Soldaten dienten der mehr der Repräsentation, als dem Schutz der Begabten. Odort konnte sich alleine gegen alle denkbaren Gegner verteidigen. Besser als die Soldaten es jemals gekonnt hätten, aber es gab ihm ein Gefühl der Sicherheit sie um sich zu haben. Und es verdeutlichte dem einfachen Volk gegenüber die Position die er bekleidete. Ein einzelner Mann machte auf die Leute weniger Eindruck als einer der mit einem Tross von grimmig dreinschauenden Soldaten in schweren Rüstungen reiste. Das alleine reichte bereits um die meisten Übergriffe von vornherein zu verhindern. Odort wandte seine Aufmerksamkeit dem Kommandanten der Garde zu. “Baut mein Zelt so schnell wie möglich auf. Ich muss nachdenken.” Mit einem Wink gab er dem Offizier zu verstehen, das er gehen konnte. “Jawohl Herr!” Der Soldat beeilte sich den Befehl an seine Männer weiterzugeben. Odort streckte sich und gähnte. Mit seinen Fähigkeiten wäre es ihm ein leichtes gewesen, das Zelt zu errichten. Es hätte ihn nur einen einzigen Gedanken gekostet. Aber die Mitglieder des Ordens übernahmen niemals die Arbeit der einfachen Leute, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Das war ein Gesetz aus der Zeit der Gründung des Ordens von dem niemand mehr genau wusste, warum es erlassen worden war. Trotzdem befolgte man es, ohne Fragen zu stellen. Niemand riskierte es an den Grundfesten des Ordens zu rütteln. Nicht auszudenken, was für ein Chaos entstehen musste, wenn sich die Begabten gegen die Jahrtausende alten Gesetze auflehnten. Der Orden tolerierte einen anders denkenden der Nachahmer finden mochte, wenn man ihn zu einem Märtyrer machte, der aber keine Gefahr darstellte, wenn man ihn gewähren ließ. Marius. Ein Mann der das eine oder andere Gesetz bog, wenn es ihm notwendig erschien, aber dennoch keines brach. Ein Rebell den man kontrollieren konnte, weil man ihn kannte war besser als versteckter Widerstand der nicht zu fassen war. Odort sah versonnen nach oben zu den glitzernden Sternen. Der Orden befand sich seit ewigen Zeiten in einem empfindlichen Gleichgewicht, das dennoch niemals ernsthaft erschüttert worden war. Und ein Teil dieses Gleichgewichts war es eben, dass einfache Arbeiten von einfachen Menschen erledigt wurden. Odort senkte den Blick und schlenderte langsam zu den Männern hinüber, die eifrig damit beschäftigt waren das Zelt aufzubauen, in dem er die Nacht verbringen würde.

Kinder

Подняться наверх