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Der Zirkus

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Kurz vor Beginn der Vorstellung sah Zirkusdirektor Barboni aus dem Fenster seines Wohnwagens und erblickte das Grauen. Fünfundzwanzig Menschen, Erwachsene und Kinder standen auf dem Platz vor dem Hauptzelt, begutachteten die Tiere in den ausgestellten Käfigen und warteten auf die Show. Fünfundzwanzig Zuschauer würden in einem Zelt sitzen, das dreihundert Menschen fasste.

»Heute sind wir wieder übervoll!«, grummelte Barboni und kratzte seinen Bart. Sorgenfalten überzogen seine Stirn, die Enttäuschung legte sich wie ein Stein auf seine Magengrube. Vielleicht war es dumm gewesen, voll Hoffnung auf den heutigen Abend zu warten und zu denken, dass irgendetwas passieren würde, was das Ruder herumriss.

Es war ja auch dumm gewesen. Auch ein ausverkauftes Zelt an einem einzelnen Abend hätte nichts an dem Problem geändert, dass der Zirkus in der Kreide stand. Mit einer Schuldenlast von 168.532 Euro und einem Stapel nicht bezahlter Rechnungen, stand der Zirkus Barboni vor dem Bankrott. Der Clown Fellini ging durch den Hof, trötete mit einer Trompete und streute Konfetti über die wartenden Gäste. Einige hatten Zuckerwatte oder Popcorn in der Hand. Die Menschen lachten über Fellini, aber richtige Stimmung kam nicht auf. Stimmung entsteht schließlich in der Menge.

»Keine Menge, keine Stimmung!«, sagte Barboni zu sich selbst und ließ sich auf den Stuhl fallen, der hinter seinem Schreibtisch stand. Der Stuhl protestierte mir einem lauten Knarren. Der Schreibtisch war ein Kunstwerk, auf dem sich Ordner, Unterlagen und vor allem Rechnungen türmten. Diese wurden weniger. Denn statt Einzel-Rechnungen gab es schon die ersten Inkasso-Briefe, die Einzelforderungen zusammenfassten. Sein Blick schweifte durch den Wohnwagen, die gerahmten Plakate an den Wänden und einige Fotos, die säuberlich auf der Kommode in kleinen Bilderrahmen standen. Gerahmte Zeitungsausschnitte aus ganz Europa dokumentierten eine andere Zeit. Glanzvolle Abende mit hunderten Besuchern, Gastauftritte von weltweit geachteten Artisten wie den Magier Jack Blaine oder den russischen Seiltänzer Ivanov. Dieser Zirkus hatte eine lange Geschichte und bis 1985 eine gute Zeit. Dann war es bergab gegangen. Langsam, aber stetig. Die vergangenen fünf Jahre hatte man keine einzige Vorstellung mehr gespielt, welche die Kosten abdeckte. Nicht am Land und nicht in der Nähe von großen Städten. Zuletzt hatten sie gar nicht mehr in größeren Städten gastiert, weil die Standkosten viel zu hoch waren. Es schien, als wäre der Zirkus Barboni einfach verpufft. Verschwunden, wie das Kaninchen eines Zauberers. Natürlich hatte man versucht Einsparungen vorzunehmen, doch alleine die Winterquartiere kosteten mehr, als der Zirkus im Sommer einspielte. Dabei gab es nur mehr wenige Tiere. Ein Zirkus war aber nun mal auch kein Betrieb, den man verkleinern oder einsparen konnte. Die Futtermittel, die Werbung, die Platzkosten, die Instandhaltung der Fahrzeuge, die Umzüge, alles kostete Geld. In zwei Tagen würde der Masseverwalter kommen und das Unternehmen auflösen. Die Frist zur Eigenrettung, wo der Zirkus einen Plan zum weiterbestand vorlegen konnte, war dann verstrichen. Barboni lehnte sich zurück, schloss die Augen. Er registrierte, dass es vorbei war. Sie waren pleite. Zwischen den Gefühlen der Trauer und Demütigung mischte sich auch Erleichterung. Trügerisch, aber ein typisches Kennzeichen von aussichtslosen Situationen. Barboni, der aus einer Familie von Feuerschluckern und Zirkusartisten kam, die seit mindestens drei Generationen im Sand der Manege aufgewachsen war, würde er der letzte Barboni sein, der die Tür in diesem Kapitel abschloss. Der Letzte macht das Licht aus, das war bitter. Er stand auf, setzte seinen Hut auf den Kopf mit dem spärlichen Haar und schritt hinaus über den Platz, um die Vorstellung zu eröffnen. Kaum hatte er Blickkontakt mit den Zusehern, die gerade in das Zelt gingen, schrie er ›HOHOHO‹. Mit voller, kräftiger Stimme. Diesen Ausruf hatte er vom Weihnachtsmann gestohlen und niemand bemerkte, was wirklich in seinem Kopf vorging. Es war wie ein letzter Reflex, den Menschen, die heute gekommen waren, noch einen schönen Abend zu bereiten. Immerhin hatten sie sich nett angezogen und waren den weiten Weg aus der Stadt gekommen, um seinen Zirkus zu besuchen. Die Platzanweiser und Artisten, die er auf den Weg zur Manage traf, merkten es schon. Sie konnten eins uns eins zusammenzählen und waren deprimiert. Die drei Musiker der ›Kapelle‹ spielten die Eröffnungsmelodie. Die Hälfte der Instrumente kam vom Band. Viele Bläser, laute Trommeln. Barboni wusste nicht einmal, ob man drei Musiker als ›Kapelle‹ bezeichnen konnte oder eher als Trio. Früher waren es elf gewesen, doch ein paar waren gestorben. Zwei hatte er entlassen müssen, weil er ihre Gage nicht bezahlen konnte. Vier waren in Pension gegangen und verbrachten ihren Lebensabend nun in einem Künstlerheim in der Schweiz. Die Platzanweiser schlossen den Eingangsbereich, das Licht wurde gedämpft.

Zwei Pensionisten, die zuvor Eintrittskarten verkauft hatten, wechselten schnell das Sakko und führten die Gäste zu den Plätzen. Zumindest taten sie so, denn das Zelt war ja leer. Wenn es etwas gab, was hier reichlich vorhanden war, dann eine freie Platzwahl. Barboni hatte das Zelt umrundet und stand nun im Sattelgang, der hinter dem Künstlereingang lag. Hier wurden Requisiten gelagert oder eben Pferde gesattelt und von hier traten die Artisten auf. TATARATA spielte die Kapelle und der Zirkusdirektor Barboni trat ins Scheinwerferlicht. Verhaltener Applaus. Die Gäste bemühten sich, so gut sie konnten. War ein Zirkus voll, schallten die Publikumsreaktionen von allen Seiten. War ein Zirkus leer, konnte man die wenigen Rufer und Klatscher sofort lokalisieren. Barboni, der sechzig Jahre alt war und fünfundvierzig davon im Zirkusgeschäft gewerkt hatte, spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte. Er keuchte kurz, räusperte sich und begann dann mit der Begrüßung. Fellini saß hinter dem Vorhang, unter der Bühne der Band und spielte mit einem Stock im Sand der Manege. Er zeichnete einen Clown mit traurigem Mund. Obwohl Fellini als trauriger Clown geschminkt war, sah er unterhaltsam aus. Früher hatte er Zeichnungen von Kindern bekommen, die ihn stets mit einem lachenden Mund zeigte. So konnte man durch die schwarz geschminkten Augenringe auch nicht sehen, dass seine Augenhöhlen wirklich dunkel waren. Die rote Blume auf seinem Hut hing etwas schlapp hinunter Sie sah nicht fröhlich aus. Der Pferdedompteur stand nur wenige Meter daneben und wippte mit der Peitsche. Eine mechanische, unruhige Bewegung. Zwei Balletttänzerinnen dehnten ihre Muskeln. Sie traten mit dem Elefanten Eribos auf. Der Katzenbändiger suchte im Sack seiner Hose nach Trockenfutter. Die Löwen waren schon lange weg. Jetzt wurden vier Wildkatzen gezeigt. Zwei Geparden und einige kleinere Tiere. Das Verbot, wilde Tiere in einem Zirkus zu zeigen, war einer der Mitgründe für den Verfall der Branche. Außerdem sah man heute im Fernsehen Zirkusshows aus der ganzen Welt und gerade aus Asien und Russland waren neue Zirkusgruppen aufgetaucht, die auf Showtanz und Akrobatik spezialisiert waren. Darüber hinaus stand jedem Fernsehsender auch ein großes Budget zu Verfügung. Zumindest damals, als das Fernsehen große Shows und Zirkussendungen noch forcierte. Die Zeiten, wo das Volk begeistert zusammenkam, wenn die Wagenkolonne am Hauptplatz eintraf und ein Zelt aufgebaut wurde, waren vorbei. Was waren das für Zeiten gewesen! Alleine die Ankunft eines Zirkus hatte das Volk in Unruhe versetzt. Kinder hatten die Schule geschwänzt, um heimlich die Aufbauten zu beobachten. Alleine die Mundpropaganda hatte um sich geschlagen wie eine Welle. Dazu war dem Zirkusleben und der Branche früher auch ein mythischer Ruf bestimmt gewesen. Von Zigeunern bis zu effekthaschenden Vorführungen von Verkrüppelten oder Übermenschen war es vor allem die ängstliche Neugier, die sich gut verkauft hatte. Die bekam man aber längst über die zahlreichen Fernsehsender ins Haus geliefert. Vom Dschungelcamp bis zu Actionshows in allen Bereichen wurden Dinge geboten, die ein Zirkus gar nicht machen konnte. Und wem lockte noch eine zersägte Jungfrau aus dem Winkel hervor, wenn David Copperfield schon in den Neunzigern die Freiheitsstatue verschwinden ließ? Sogar die Stuntshows, die aus Amerika und gefährliche Autostunts vorführten, gingen heute schlecht. Barboni war in den Achtzigern einmal bei einer italienischen Stuntshow gewesen, wo ein Motoradfahrer über zwanzig Autos sprang, die der Breite nach nebeneinander aufgestellt waren. An einem gewöhnlichen Nachmittag saßen keine zweihundert Menschen im Publikum. Wenn man heute keine Ermäßigungsgutscheine unter das Volk warf, kam überhaupt niemand. Größere Zirkusunternehmen lebten auch gar nicht schlecht davon. Die Mär vom armen Artistenschlucker hielt sich nachhaltig. Beim Zirkus Barboni war das auch so, bei renommierten Zirkussen aber nicht. So stiegen Clowns und Artisten bei großen Unternehmen nach den Vorführungen in auch in ihre nagelneuen BMWs und Audis. Beim Zirkus Barboni waren die meisten Fahrzeuge so alt, dass sie nur mit Mühe durch den TÜV kamen. Das fehlende Geld schlug sich auch auf die Werbemöglichkeiten nieder. In diesem Jahr hatte Barboni auch wenig plakatiert. Den Zirkus bemerkte nur, wer am Zelt vorbeifuhr, denn die Druckereien weigerten sich längst Plakate zu drucken, um auf ihr Geld zu warten. Genauso wie die Plakatwandvermieter. Der Zirkusdirektor präsentierte den Pferdetrainer und die vier Stuten. Früher waren es Araberhengste gewesen, doch die hatte man längst verkauft. Die letzten Tiere des Zirkus waren Pferden, Lamas, Ziegen, Zwergpferden und Kamele. Die Musik spielte, die Scheinwerfer umkreisten die Manage und die Pferde galoppierten im Kreis, ehe sie verschiedenste Figuren präsentierten. Im Anschluss kam Seiltänzerin Angelique und dann der Katzenbändiger, der die unspektakulären Wildkatzen mit einer Comedy Nummer präsentierte, um davon abzulenken, dass sie zwar schwer zu zähmen, aber keine ernsthaften Raubtiere waren. In der Pause unterhielt der Feuerschlucker Gagarin die Menschen. Er kam aus der Ukraine und hatte sich einen stahlharten, muskulösen Körper antrainiert. Bald kam Clown Fellini in die Manage, stolperte über den Sand, kratzte sich mit einer Klobürste am Ohr und spielte auf einem großen Xylophon. Er erheiterte sein Publikum und brachte alle zum Lachen. Doch das Lachen verschwand im großen Zelt, genauso wie der Applaus. Um die Publikumsreaktionen in einer schönen Klangwelle zu bündeln, musste ein Zelt mindestens zur Hälfte besetzt sein. War das nicht der Fall, fühlte man sich einsam, weil selbst die Nebengeräusche des Publikums so leise waren, das man in den Pausen in der Ferne das Geräusch der Generatoren und die Gebläse der Scheinwerfer hören konnte. Nach der Pause kam der Zauberer. Früher, als es noch Tiger und andere große Tiere gab, hatte man nur selten einen Zauberer gebraucht. Der Zirkus Barboni hatte nun einen, weil der billiger war als andere Attraktionen.

Er zerschnitt die Seiltänzerin in zwei Teile und schob sie weit auseinander. Später ließ er sie hinter einem Paravent verschwinden und Clown Fellini tauchte wieder auf. Er stolperte aus dem Kasten, tat so, als wüsste er nicht, wo er war und die Leute lachten. Weil Fellini in die beiden letzten Nummern integriert war, war der Zauberer sogar ein Höhepunkt. Neunzig Minuten später verließ das Publikum das Zelt, aß noch Eis oder machten Fotos mit den Artisten. Sie sahen glücklich aus, weil ihre Kinder es waren. Hätte man ganz genau hingesehen, hätte man gesehen, dass den Erwachsenen das Elend nicht entgangen war und dass sie besonders nett zu den Angestellten waren, weil sie ihnen Leid taten. Ein Künstler weiß, wann ihm das Publikum besonders fördert, weil sie Mitleid hatten. Aber eigentlich sollte man nicht genauer hinsehen.

Sie hatten sich gut unterhalten und versucht zu ignorieren, dass die Vorstellung praktisch leer gewesen war. Es war ein lauer Frühlingsabend. Eine warme Nacht, an dem man gerne ein paar Schritte zu Fuß machte. Die Artisten winkten noch den letzten Gästen zu. Man sah ihnen an, dass sie an diesem Augenblick festhalten wollten, denn keiner ging gerne in seinen Wagen zurück. Als der letzte Gast das Territorium verlassen hatte und das große Tor geschlossen wurde, war es mit der guten Stimmung vorbei. Die Sterne des wolkenlosen Nachthimmels glitzerten wie Scheinwerfer. Als die Lichter im Zirkus Barboni gelöscht wurden, war den meisten klar, dass diese Verdunkelung ein Vorzeichen war. Ein Vorzeichen für das Ende.

Die Reise des Clowns

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