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Paris

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Fellini wälzte sich unruhig im Schlaf. Er träumte von Paris. Obwohl er dreißig Jahre nicht mehr dort gewesen war, lief er durch die Straßen, als wäre es gestern gewesen. Er lief vom Place de Clichy über die Rue de Douai zum Vergnügungsviertel Pigalle. Die Windmühle des Moulin Rouge, auf dem Dach des einstöckigen Lokals, eingebettet zwischen zwei hässliche Wohnbauten, war weltweit zum Sinnbild der musikalisch-erotischen Unterhaltung geworden, was aber nicht stimmt. Eröffnet 1889, im Jahr der Fertigstellung des Eiffelturms wurden zeitweise dort Bälle abgehalten, Operetten und Revuen aufgeführt, das Etablissement sogar als Kino benutzt. Darunter befand sich eine große Wein- und Champagnerkellerei und tatsächlich wurden pro Show bis zu achthundert Flaschen Champagner verkauft. 240.000 Flaschen pro Jahr. Kauft man heute um hundert zwölf Euro eine Karte für die zweistündige Show, ist eine halbe Flasche im Preis inbegriffen. Soweit war Fellini aber nicht gekommen. Weder auf die Bühne, noch in den Zuschauerraum. Seine Welt waren die Straßen von Paris.

Pigalle war aber auch ein Künstlerviertel, in dem Maler wie Henri Toulouse-Laturec, Pablo Picasso und Vincent Van Gogh gelebt hatten. Fellini wandte sich nach Norden und lief über ansteigende Gassen und Wege. Immer wieder drehte er sich um, doch er wusste nicht, von wem er davonlief. Die Dächer der Basilika Sacré-Cœur thronten über den der Stadt. Er lief weiter, hielt an einer Ecke und verschnaufte. Diese Straße war ihm gut bekannt, hier auf Nr. 17 hatte er in einem Haus ein einfaches Zimmer bewohnt. Die Toilette war am Gang gewesen und der Wasserhahn hatte nur nachts funktioniert. Auch die Bäckerei gab es noch, wo er sich morgens ein Baguette gekauft hatte. Wenn er Geld hatte und er hatte wenig Geld. Selten hatte er sich abends mit einem Glas Wien belohnt. Ehe das Viertel 1860 ein Teil von Paris wurde, war es ein Vorort, in den die Pariser fuhren, um auszugehen und den Wein vom Montmartre zu trinken, der an den Nordhängen angebaut wird. Der Rebensaft, der noch heute in einer Halbliterflasche um vierzig Euro verkauft wird, gilt als saurer Tafelwein für harte Mägen. Als Fellini hier wohnte, war der Wein ein Mittel zum schnellen, billigen Rausch, den er nach dem ersten Mal nicht wiederholte. Es war ein ziemlich übler Tropfen. Heute finanziert die Stadt soziale Projekte mit den Einnahmen dieses Weines. Fellini sah an sich hinunter und bekam mit, dass er seine roten Clownschuhe trug. Alt war er geworden, denn die berühmten Treppen von Montmartre, die er als junger Mann in einem durchgelaufen war, schaffte er nicht mal zur Hälfte. Er keuchte und wandte sich wiederum, sah Schatten durch die Gassen huschen. Die Wohnhäuser mit den hohen Mansarden waren nicht unbekannt. Er konnte sich an manche Häuser erinnern und einige von ihnen hatte er später in einem Film gesehen. Die fabelhafte Welt der Amelie war hier gedreht worden. Endlich kam er schnaufend zum Place du Tertre, wo Maler und Karikaturisten ihre Stände aufgeschlagen hatten. Jetzt wusste Fellini auch, wohin er rannte. Hier hatte er früher gestanden, bei jedem Wetter und für ein paar Francs Scherenschnitte für Touristen gezaubert und Ballons modelliert. Konzessionen für einen Stand zu bekommen, war schwierig, doch er hatte Glück gehabt. Der alte Kunstprofessor Legrand hatte ihn beim Zaubern in den Straßen entdeckt und ihm bei den Behörden geholfen. Legrand hatte ihn später in die berühmte Clownschule gebracht, wo er anfangs ohne ein Wort der fremden Sprache zu kennen, studierte. Und die Franzosen machten es Fremden nicht leicht. Sie waren weniger hilfsbereiter als die Engländer und wollten in keiner anderen Sprache sprechen, als in ihrer eigenen. Sie waren falsch, aber sie konnten auch herzlich sein. Legrand war ein gebildeter Mann, den man stundenlang zuhören konnte. Aber er war auch ein Trinker. Ein Trinker, der Unmengen von Wein in sich hineinkippen konnte, ohne dass er schwankte. Obwohl er ein Mann der Bücher und der Bildung war, gefielen ihm Fellinis Zauberkunststücke. Und diese trainierte der fast jede Nacht. Seidentücher, die sich in Blumen verwandeln, Kartenkunststücke und jede Menge Manipulationen, die man auch im Freien und ohne große Vorbereitung zeigen konnte. Fellini spezialisierte sich dann auf Kunststücke mit Gegenständen, die er sich vom Zuschauer lieh. Die Zauberkunst war ein Hungergeschäft, aber faszinierend. Geld für teure Requisiten hatte er damals nicht.

Fellini blieb stehen, schnaufte und sah sich um. Er kannte keinen der Künstler und niemand kannte ihn. Die Menschen sahen ihn abschätzend an, weil er sein Clownkostüm trug. Er schien, wie aus einer anderen Welt. Er suchte seinen Stand, fand ihn aber nicht. Es war ein schattiger Platz gewesen, nahe am Kopfsteinpflaster, aber gut beschützt von Bäumen. Er lief durch die Reihen und betrachtete die ausgestellten Bilder. Die Maler hier waren spezialisiert von ihren Kunden Portraits anzufertigen und das in kurzer Zeit. Natürlich gab es auch reichlich romantische Ansichten vom Eiffelturm und verträumte Ansichten der Stadt. Doch wer wirklich eine bleibende Erinnerung mitnehmen wollte, ließ sich malen. Der Platz war gesäumt von Cafés und Galerien. Als er sich umblickte, sah er verschwommene Gestalten. Das Seltsame an diesem Anblick war, dass alle anderen Informationen seines Bildes scharf waren. Nur die Gestalten waren wie helle Silhouetten und die Farbe ihrer Anzüge war grau. Diese Sache sollte später noch Bedeutung bekommen, denn keiner der anderen Gestalten, die Fellini in seinem Traum sah, trug graue Anzüge.

Sie setzten sich in Bewegung und rannten auf ihn zu. Fellini drehte sich um und rannte die Straße hinauf. Er bog in eine kleine Gasse und lief in einen Laden, der chinesische Lebensmittel verkaufte. Als er um die Kurve bot, riss er mit seinem Körper fast eine Obstkiste um. Der chinesische Besitzer schimpfte ihm nach. In chinesischer Sprache. Wángbā 王 八 hörte man heraus, das bedeutet Bastard. Fellini rannte durch den Laden und hatte Glück. Auf der Hinterseite befand sich ein Ausgang, der in den Hof führte. Von dort bog Fellini in eine Seitenstraße und rannte weiter, bis er keine Luft mehr bekam. Endlich sah Fellini einen Ort, der ihm bekannt schien. Er lief hin, betrachtete die Bäume und das Pflaster und glaubte am Ziel seiner Suche gewesen zu sein. Wenn man tagelang, wochenlang hier stand, kannte man das Kopfsteinpflaster wie seine Westentasche. Ein dicker Mann mit großem Hut stand auf seinem Platz, mit dem Rücken zu ihm. Fellini rannte hin und sagte mir heller Stimme: »Monsieur, das ist mein Platz. Ich bin hier gestanden!«

Für einen Augenblick zeigte der dicke Mann keine Reaktion und Fellini wollte lauter rufen. Doch dann drehte sich die Gestalt zu ihm und er erkannte Zirkusdirektor Barboni. Sein Schnurrbart war gezwirbelt und er antwortete fremd, so als würde er Fellini nicht kennen: »Das ist unmöglich. Dieser Standplatz kostet 168.532 Euro! Und keinen Cent weniger!«

Da war sie wieder, diese Summe. Das war der Augenblick, wo Fellini aus seinen Traum schreckte und aus dem Schlaf erwachte. Die Sonne schien hell in seinen Wagen. Langsam krochen die Eindrücke der Wirklichkeit zurück in sein Bewusstsein. Er hörte das Zwitschern der Vögel und das helle gelbe Sonnenlicht versprach schönes Wetter. Sein Kopfkissen war nass geschwitzt, aber er fühlte sich trotz des strahlend blauen Himmel sehr traurig. Er war nicht in Paris. Er war aufgewacht in der Realität und die hatte einen bitteren Nachgeschmack. Es dämmerte ihm, dass der Tag der letzten Vorstellung angebrochen war.

Die Reise des Clowns

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