Читать книгу Ben und Lasse - Agenten hinter Schloss und Riegel - Harry Voß - Страница 5

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Hier im Zugabteil sind bestimmt hundert Reihen hintereinander. Immer zwei Sitze nebeneinander, dann ein schmaler Gang, dann wieder zwei Sitze. Der Boden ist mit Teppich belegt. Alles riecht neu und modern. Ungefähr in der Mitte des Abteils sind jeweils zwei Sitze einander gegenüber angebracht, dazwischen ein Tisch. Da können vier Leute zusammen sitzen und etwas spielen oder essen. Ab der zweiten Hälfte sind alle weiteren Sitze so, dass die Leute rückwärts fahren müssen. Ich gehe durch die Reihe und lese die Nummern, die über den Sitzen angebracht sind: „26 … 27 …“ Puh, bis 251 haben wir ja noch eine kleine Wanderung vor uns. Ein dicker Mann, der einen Rollkoffer vor sich herschiebt, kommt uns entgegen. An dem kommen wir nicht vorbei. „Macht mal Platz“, schnauzt er mich an.

Ich versuche, mich an den Sessel zu pressen, neben dem ich gerade stehe. Dort sitzen aber bereits zwei Frauen und essen je einen Hamburger. Der Mann passt immer noch nicht an mir vorbei.

„Kannst du nicht mal ordentlich Platz machen?“, faucht er mich noch mal an.

Ich beuge mich noch mehr zur Seite. Die Frau direkt neben mir bedeckt mir ihrer freien Hand den Hamburger und schaut mich streng an.

Der Mann mit dem Koffer drängt sich an mir vorbei, drückt mich mit meinem Rucksack aber so zur Seite, dass ich mit meinem Bauch auf dem Hamburger der ersten Frau und mit dem Kopf auf dem Hamburger der zweiten Frau am Fenster lande.

„Iiiih!“, quietschen die Frauen.

Als der Mann an mir vorbeigegangen ist und ich mich wieder aufrichten kann, habe ich einen Ketchup-Fleck auf der Jacke und eine Gurkenscheibe auf der Stirn. Ganz toll.

„Unverschämtheit“, zischt die erste Frau. Lasse lacht: „Ben, du bist ein Hamburger geworden!“

Es dauert mehr als zehn Minuten, bis wir an den Sitzen 251 und 252 angekommen sind. Auf einem der Plätze sitzt ein junger Mann mit brauner Haut und schwarzen Haaren, in seinen Ohren stecken Kopfhörer.

„Entschuldigung“, sage ich vorsichtig zu ihm. „Das sind unsere Plätze.“

Der Mann nimmt einen Kopfhörer aus dem Ohr: „Was?“

„Das sind unsere Plätze.“

„Was?“

Ich stöhne leise. Das darf doch nicht wahr sein. Hinter mir drängt sich Lasse an mich: „Was ist los?“

Ich deute mit dem Kopf auf den Mann mit den Kopfhörern. „Der da sitzt auf unseren Plätzen.“

„Warum?“

„Weiß ich doch nicht. Wahrscheinlich wusste er nicht, dass diese Plätze für uns reserviert sind.“

„Dann sag es ihm doch.“

„Hab ich!“

„Und warum geht er nicht?“

„Ich glaube, er versteht mich nicht.“

„Lass mich mal.“ Lasse drängt sich zu dem Mann vor. „Hallo?“

Der Mann zieht seine dunklen Augenbrauen hoch: „Ja?“

Lasse zeigt auf uns beide, dann auf die Plätze. „Wir sitzen hier!“

„Was?“

„Das sind unsere Plätze!“

„Hä?“

Ich schüttle den Kopf. „Vergiss es, Lasse. Der versteht uns nicht. Komm, wir setzen uns woanders hin.“

„Aber sonst ist alles besetzt!“

Hinter uns stehen inzwischen vier Leute und warten. „Wieso geht das da vorne nicht weiter?“, ruft einer.

Lasse zeigt auf den Mann auf unserem Sitz. „Der da sitzt auf unseren Plätzen!“

Ein Mann mit Glatze, der auf der anderen Seite des Ganges sitzt, erhebt sich und geht auf unseren Mann zu: „Ey, erheb dich, Alter, und lass die Kinder da sitzen! Verstanden?“

Der Mann zuckt zusammen und verteidigt sich mit vielen Worten in einer Sprache, die ich nicht kenne.

Der Glatzköpfige packt den Mann grob an der Jacke: „In unserem Land musst du dich an Regeln halten wie alle anderen auch!“ Er zieht ihn vom Sitz und stößt ihn in den Gang. Der Mann erklärt laut und aufgeregt etwas, das ich nicht verstehe. Ich sehe ihm an, dass er Angst hat. Aber weil der Glatzköpfige einen ziemlich muskulösen Oberkörper hat, wehrt er sich nicht. Er lässt sich in den Gang schubsen und fängt sich an einer der Sessellehnen auf. Er versucht weiter, irgendetwas zu erklären, aber der Glatzkopf schnauzt ihn an: „Halt’s Maul und verschwinde!“ Zu uns sagt er: „So, und jetzt setzt euch. Ist doch immer dasselbe mit denen.“ Dann wirft er dem Dunkelhaarigen noch mal einen drohenden Blick zu und setzt sich auf seinen Platz.

Lasse und ich ziehen umständlich unsere Rucksäcke aus, verstauen sie vor unsere Sitze und lassen uns erschöpft auf unsere Plätze fallen. Ich am Fenster, Lasse am Gang. Mir tut der Mann leid. Wenn er wirklich nicht verstanden hat, was wir von ihm wollten, dann weiß er auch nicht, warum er plötzlich von seinem Platz vertrieben wurde. Sicher denkt er, wir haben etwas gegen ihn. Hab ich aber nicht. Ich will nur sitzen. Und wenn Mama für uns schon einen Platz reserviert hat, dann ist es doch nur richtig, wenn wir auch dort sitzen. Oder?

„Der Arme“, sagt Lasse leise und hat anscheinend dasselbe gedacht.

„Ja“, sage ich und schaue aus dem Fenster. Für die nächsten zehn Minuten will ich einfach nur hier sitzen, über nichts nachdenken und über nichts reden.

„Wie lange fahren wir noch?“, fragt Lasse.

Ich schließe die Augen und muss mich erst mal erholen.

„Ben!“ Lasse klopft mir an den Arm. „Wie lange fahren wir noch?“

Ich stöhne. „Noch sehr lange, Lasse. Wir sind doch gerade erst eingestiegen! Wir fahren jetzt noch ungefähr eine Stunde in dieser Bahn, dann steigen wir in Köln aus und dort in einen anderen Zug. Und bis dahin sollst du mich nicht alle fünf Minuten fragen, wie lange es noch dauert. Okay?“

„Okay.“ Lasse schaut sich im Wagen um. „Sollen wir was spielen?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil ich mich jetzt erst mal ausruhen muss.“

„Ausruhen? Wovon denn? Wir sind doch gerade erst losgefahren!“

„Trotzdem. Die lange Suche nach unserem Platz und deine Aktion mit dem Anstecker und dann die Sache mit dem Mann, der hier gerade für uns rausgeworfen wurde – das muss ich jetzt erst mal verdauen.“

„Verdauen?“ Lasse kichert. „Verdauen kann man doch nur, wenn man was gegessen hat.“ Und dann plötzlich: „Au ja! Sollen wir was essen?“

Gibt es keinen Knopf, an dem man das kleine Plappermaul abstellen kann? Ich lasse die Augen geschlossen, während ich genervt antworte: „Nein.“

„Mama hat uns Brote geschmiert und Eier gekocht!“

„Das weiß ich. Aber ich habe noch keinen Hunger.“

„Ich hab aber Hunger!“

„Wir sind gerade erst in den Zug gestiegen“, seufze ich. „Da können wir nicht sofort mit essen anfangen!“

„Na klar können wir das!“

„Wir essen später!“

„Du hast nicht darüber zu bestimmen, wann ich esse!“

Ich verschränke die Arme und schaue zum Fenster raus. Mach doch, was du willst, denke ich. Der Zug fährt schnell. Die Bäume, an denen wir vorbeidüsen, sehen aus wie durchsichtig, so schnell fliegen sie am Fenster vorbei. Die Landschaft weiter hinten bewegt sich langsamer. Und die Wolken scheinen sich überhaupt nicht zu bewegen.

Neben mir hat Lasse seinen kleinen Rucksack geöffnet. Das meiste Gepäck trage ich in meinem großen Rucksack: Unsere Wäsche, unsere Kulturbeutel mit Zahnbürste und so weiter, unsere Hausschuhe. Außerdem ein Kartenspiel, ein Buch, ein Comicheft, Block und Stifte und natürlich Essen und Trinken für mich. Mama hat mir noch Briefmarken eingepackt, damit ich ihr eine Postkarte schreibe. Typisch Mama. In Lasses Rucksack befinden sich hauptsächlich sein Essen und Trinken, ein kleines Kissen zum Schlafen, sein Kuschel-Elefant und ein paar Playmobilfiguren. Seinen Geldbeutel mit zehn Euro Taschengeld hat er unter seinem Pullover um den Hals hängen. Mein Portmonee steckt im Rucksack. Mama hat mir 50 Euro mitgegeben, falls wir unterwegs etwas essen müssen oder aus anderen Gründen mal dringend Geld brauchen. Es raschelt in Lasses Rucksack. „Zuerst die Eier“, murmelt er vor sich hin. Dann beugt er sich zu mir rüber: „Oder was würdest du sagen, Ben?“

„Ja, von mir aus. Die Eier.“

Lasse beugt sich über den Rucksack, den er auf dem Boden zwischen seine Füße eingeklemmt hat. Raschel, wühl, krusch … dann ein Plopp, plumps, kuller … „Oh nein, jetzt ist mir die Trinkflasche weggerollt!“ Lasse kniet sich vor den Sitz und schaut darunter: „Oh Hilfe, jetzt rollt sie schon zwei Sitze weiter!“ Er springt auf und will den Gang entlanglaufen. Leider hat er sich mit seinen Füßen in den Trägern vom Rucksack verfangen. Er stolpert und schleift den Rucksack hinter sich her. Ein Playmobilauto rollt über den Boden, zwei Tomaten kullern aus einem Plastikbeutel, eine Tüte Gummibärchen purzelt in den Gang.

Jetzt muss ich doch mal eingreifen: „Ach, Lasse, was machst du denn da?“ Ich beuge mich über den Boden, ziehe den Rucksack zurück und packe die Gummibärchen wieder ein. An die Tomaten komme ich nicht dran. Die rollen auf die andere Seite des Ganges und liegen jetzt beide direkt neben dem Schuh einer älteren Dame.

Lasse krabbelt wie ein Tier den Gang auf und ab, zieht die Trinkflasche hinter den Füßen eines Mannes im Anzug hervor, sammelt sein Playmobilauto mitten im Gang ein und greift schließlich nach den entlaufenen Tomaten neben dem Damenschuh. In diesem Augenblick beginnt der Zug scharf zu bremsen, da wir in einen neuen Bahnhof einfahren. Es rappelt im Wagen, Lasse fällt nach vorne und kann sich gerade noch auffangen, indem er sich am Fuß der älteren Dame festhält. Die Frau schreit auf, hebt ihre Füße in die Luft, stampft sie wieder nach unten und tritt auf eine der beiden Tomaten. Es matscht und spritzt, die Dame hat rote Flecken auf dem Schuh. Sie schaut nach unten, als sei sie von einem Hund gebissen worden. „Was machst du da?“, japst sie.

„Ich fange meine Tomaten wieder ein!“ Die zweite Tomate ist durch das Bremsen noch weiter nach vorne gerollt. Lasse springt hinterher und kann sie gerade noch auffangen, bevor sie zur Abteiltür nach draußen kullert. Lasse nimmt die Tomate, kommt zurück und setzt sich wieder. „Schade. Eine Tomate weniger.“

Etliche Leute, die am Bahnhof aussteigen wollen, arbeiten sich durch den Gang.

„Lasse, benimm dich!“, ermahne ich ihn streng.

„Ja, Papa“, brummt er zurück und räumt alles wieder in seine Tasche. Er hat recht. Ich führe mich hier wirklich wie ein Papa auf. Aber wenn Lasse so weitermacht, bin ich mit den Nerven völlig am Ende, bis wir bei Oma angekommen sind.

Der Zug rollt in einen Bahnhof ein, wird unter lautem Quietschen langsamer und bleibt schließlich stehen. Die Menschen drängen nach draußen. Lasse wühlt weiter in seinem Rucksack. „Willst du ein Gummibärchen?“ Er hält mir die geschlossene Tüte unter die Nase.

„Nein. Lass die Tüte noch zu.“

„Es ist meine Tüte. Ich mache sie auf, wann ich das will.“ Lasse zieht. Die Tüte reißt von oben bis unten ein. Mindestens fünfzig Gummibärchen purzeln auf den Boden. „Oh.“

„Hab ich es nicht gesagt?“, blaffe ich ihn an.

Lasse beginnt, die Gummibärchen aufzusammeln. Ich helfe ihm. „Die kann man nicht mehr essen!“, sage ich, während wir mit den Köpfen unter dem Sitz stecken und nach den Gummibärchen greifen.

„Klar!“, sagt Lasse. „Die haben auf dem dreckigen Boden gelegen!“

„Der Boden ist nicht dreckig!“

„Und ob der dreckig ist! Da haben wahrscheinlich schon Hunde hingepinkelt!“

Lasse kichert los. „Hunde haben in den Zug gepinkelt? Du spinnst ja!“ Trotzdem riecht er sofort an einem der Gummibärchen. „Riecht ganz normal.“ Er steckt es in den Mund. „Schmeckt auch ganz normal.“

Wir sammeln weiter. Die Tüte ist komplett eingerissen. Immer wieder kullern neue Gummibärchen heraus.

„Entschuldigung“, hören wir plötzlich eine Männerstimme über uns. Wir schauen nach oben. „Dieser Platz ist reserviert.“

„Ja“, sage ich schnell. „Für uns.“

„Nein“, belehrt uns ein alter Mann im langen, schwarzen Mantel mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf. „Platz 251. Das ist mein Sitz.“

„Das kann nicht sein“, sage ich. „Wir haben Platz 251! Das weiß ich ganz genau!“

„Darf ich mal die Reservierungsbestätigung sehen?“

Ich gebe Lasse die Gummibärchen, die ich gerade in der Hand halte. Lasse schüttet sie in die Tüte, und sofort fallen sie wieder auf den Boden. Ich öffne hektisch die Seitentasche meines Rucksacks und suche nach den Zetteln, die Mama mir gegeben hat. Endlich. Zehnmal zusammengeknickt, aber alles beisammen: Fahrkarte, Reiseroute, Platzreservierung. Ich halte ihm den Zettel hin: „Sehen Sie? Platz 251 und 252.“

„Ja, ja“, sagt der Mann und studiert aufmerksam das Blatt. „Aber Wagen fünf. Dies hier ist Wagen sieben.“

Ich spüre, wie mir alle Kraft aus dem Gesicht fällt. „Wagen sieben?“ Ich fühle mich wie ein Trottel. „Wieso sieben?“

„Euer Platz ist in Wagen fünf“, erklärt der alte Mann ruhig. „Und dies hier ist Wagen sieben.“

Ich schaue mich entsetzt im Abteil um. „Und woher weiß ich, wo Wagen fünf und wo Wagen sieben ist?“

Der Mann zeigt auf ein Schild ganz am Ende des Abteils direkt neben der Tür. Darauf steht eine Sieben.

„Oha.“ Mir bricht der Schweiß aus. „Äh … Entschuldigung.“ Ich nehme die Papiere wieder an mich und stopfe sie notdürftig in eins der offenen Fächer im Rucksack. „Lasse, wir sind hier falsch.“

„Was?“ Lasse hält immer noch die aufgerissene Tüte in der Hand und rechts und links fallen ihm Gummibärchen auf den Boden.

„Wir müssen hier weg!“

„Wieso?“

Ich erkläre ihm kurz die Lage, wir verstauen so schnell wie möglich Lasses Trinkflasche und all die anderen verlorenen Sachen im Rucksack und gehen in den Gang zurück. Immer noch liegen unzählige Gummibärchen vor Lasses Sitz, aber die heben wir jetzt nicht mehr auf. Wir haben unsere Rucksäcke wieder auf den Rücken gehoben, Lasse trägt die offene Gummibärchentüte in beiden Händen und versucht, sie so zu halten, dass jetzt keins mehr rausfällt.

Der Mann legt seine Tasche in das Gepäcknetz über dem Sitz und setzt sich hin.

„Entschuldigung“, sage ich noch einmal.

Lasse hält ihm seine Tüte hin. „Möchten Sie ein Gummibärchen?“

Der Mann verzieht keine Miene, als er sagt: „Nein, danke.“

Wieder quetschen wir uns durch das Abteil bis zum Ende, ziehen die Tür auf und gehen ins nächste. Auf dem Boden direkt an der Tür sitzt mit angezogenen Beinen der dunkelhaarige Mann, der vorhin auf unserem Platz saß. Das heißt – vermutlich saß er wirklich auf seinem eigenen Platz. Denn wenn er Platz 252 reserviert hatte, dann wird mir nachträglich klar, was er verzweifelt versucht hat, uns zu erklären. Als wir uns an ihm vorbeidrängen, sieht er uns an und erkennt uns wieder. Ich bemerke, dass er sich wundert, uns hier zu sehen. „Entschuldigung“, sage ich. „Wir haben uns im Platz geirrt. Wahrscheinlich war es doch Ihr Platz.“

Der Mann nimmt den Kopfhörer aus seinem Ohr: „Was?“

Lasse streckt ihm seine Tüte entgegen: „Möchten Sie ein Gummibärchen?“

„Was?“

Lasse hält ihm die Tüte direkt unter die Nase. „Hier. Bitte schön.“

Das hat er kapiert. Er schaut Lasse an, bekommt ein warmes, herzliches Lächeln und nickt. Dann greift er in die Tüte und nimmt sich direkt eine ganze Handvoll heraus. „Danke.“

Lasse mal wieder. Der kriegt alle Herzen zum Schmelzen.

Ben und Lasse - Agenten hinter Schloss und Riegel

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