Читать книгу Ben und Lasse - Agenten hinter Schloss und Riegel - Harry Voß - Страница 6
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ОглавлениеDer Zug rollt an. Wieder kommen uns Leute entgegen und wir müssen Platz machen. Zwischendurch schaue ich mich um, in welchem Abteil wir uns jetzt befinden: Nummer acht.
Mist. Wenn wir vorhin in Abteil sieben saßen und zu Nummer fünf wollen, dann müssen wir in die andere Richtung. Lasse kapiert nicht so ganz, was ich meine, als ich es ihm erkläre, aber immerhin gehorcht er mir und kehrt ebenfalls um. Auf dem Rückweg sehe ich alle zwei Meter ein Gummibärchen auf dem Boden liegen. Erst jetzt fällt mir auf, dass Lasse bei jeder Person, die uns entgegenkommt und uns anrempelt, ein Gummibärchen runterfällt. Ich komme mir vor wie bei Hänsel und Gretel. Sollten wir uns hier im Zug jemals verlaufen, brauchen wir nur unserer eigenen Spur zu folgen. Ganz klasse, Lasse!
Endlich sitzen wir auf unseren eigenen Sesseln. Wagen fünf, Plätze 251 und 252. Diesmal müssen wir auch niemanden vertreiben. Schweißgebadet stelle ich meinen Rucksack vor meinen Beinen ab. „Darf ich jetzt endlich essen?“, fragt mich Lasse.
„Von mir aus. Aber verteil nicht wieder alles auf dem Boden.“
„Nein, mach ich nicht.“
Lasse wühlt seine Brote heraus und beginnt zu mampfen. Da höre ich hinten im Abteil eine Männerstimme: „So, bitte die Fahrscheine.“ Alle Leute um mich herum greifen in ihre Jacken- oder Aktentaschen und holen ihre Fahrkarten heraus. Okay. Dann mach ich das auch mal. Ich greife in die Seitentasche meines Rucksacks – sie ist leer. Nein, das darf nicht wahr sein! Unsere vielen Zettel, die ich vorhin noch dem Mann mit Hut gegeben habe, sind verschwunden! Schon wieder bekomme ich Schweißausbrüche. Ich ziehe eine andere Seitentasche auf: mein Kartenspiel, ein Päckchen Tempos, sonst nichts. Nein, bitte, lieber Gott, mach, dass die Fahrkarte nicht verloren ist! Ich greife in meine Jackentaschen. Zerknüllte Bonbonpapierchen, benutzte Taschentücher, sonst nichts. Ich bekomme Panik. Schnell schaue ich über meine Sessellehne nach hinten und sehe, wie der Fahrkartenkontrolleur immer näher kommt. Einer nach dem anderen zeigt seinen Fahrschein, der Kontrolleur steckt sie in ein Gerät, das er in der Hand hält, bedankt sich, geht zum Nächsten. Ich beuge mich über meinen Rucksack und reiße ihn auf. Ich wühle. Meine Brottüte fällt raus, meine Trinkflasche fällt raus. Ich kann darauf nicht achten. Ich brauche meine Fahrkarte!
Lasse beißt in sein Brot und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Was machst du da, Ben?“
„Die Fahrkarte ist weg!“
„Jetzt verteilst du ja dein ganzes Essen auf dem Boden! Zu mir hast du gesagt, ich soll das nicht machen!“
„Halt die Klappe, Lasse, hilf mir lieber beim Suchen! Unsere Fahrkarte ist verschwunden!“
„Aber eben hattest du sie doch noch.“
„Ja, eben! Aber jetzt ist sie weg!“ Ich wühle wie ein Verrückter in meinem Rucksack. Unterhosen, Strümpfe, mein Ei, meine Tomate – alles verteilt sich auf dem Boden.
Jetzt steht der Kontrolleur vor uns: „So, die Fahrscheine, bitte.“
Ich klappe den oberen Teil des Rucksacks wieder zu. Da ist noch ein Reißverschluss. Ich reiße ihn auf – heraus kommen die weißen Blätter. Gott sei Dank! Ich ziehe sie mit letzter Kraft aus dem Fach und halte sie dem Kontrolleur hin.
„Immer ruhig bleiben, junger Mann“, brummt er gemütlich, blättert meine Zettel durch, hält sie vor seinen Apparat und gibt sie mir zurück. „In Köln Hauptbahnhof umsteigen.“
„Ja, weiß ich“, japse ich.
„Gleis 12 ist der Anschlusszug.“
„Danke.“
Der Kontrolleur geht weiter und hat keine Ahnung, welchen Schock ich in den letzten Minuten hatte. Lasse grinst mich genüsslich an: „Du bist lustig, Ben!“
„Da gibt es überhaupt nichts zu grinsen!“, schimpfe ich laut. „Wenn wir die Fahrkarten verlieren, dann dürfen wir nicht mehr Zug fahren, verstehst du? Wenn wir ohne Fahrkarte Zug fahren, dann sind wir Schwarzfahrer! Dann müssen wir eine riesige Strafe zahlen!“
„Aber wir haben die Fahrkarte doch überhaupt nicht verloren.“
„Nein. Aber um ein Haar.“ Ich schaue mir das Chaos rund um meinen Rucksack an. „So. Und jetzt wieder alles einräumen.“
„Ich helfe dir.“ Lasse steckt den Rest seines Brotes auf einmal in den Mund und grabscht mit seinen Wurstbrot-Fettfingern alles an, was auf dem Boden liegt. Geldbeutel, Notizblock – alles ist jetzt voller Lasse-Fettflecken. Egal. Ich stopfe meine Wäsche wieder in den Rucksack, lege mich unter dem Sitz auf den Bauch und komme gerade so eben an meine Trinkflasche, bevor sie noch weiter nach hinten rollt.
„Wmpf mpf wmpf mmpf?“, versucht Lasse mir irgendwas mitzuteilen, während er mit dem viel zu großen Brotbrocken in seinem Mund kämpft.
„Was ist los?“ Mit Geächze gelingt es mir, mich mitsamt meiner Trinkflasche wieder vor den Rucksack zu knien und sie einzuräumen. Da sehe ich Lasse auf dem Boden knien mit einem kleinen, braunen Kästchen in der Hand.
„Waff ifft daff demm?“, spuckt er mich von neuem an. Ich reiße ihm das Kästchen aus der Hand. „Her damit!“ Ich stecke es in das große Fach zu den Socken tief unten in den Rucksack. „Kau erst mal zu Ende, bevor du hier rumspuckst!“
Lasse hält seinen Kopf in den Nacken, als könnte er damit das Spucken verringern: „Daf fieht fo auf wie daf Käftfen mmt dm Ring von Oma!“
„Das ist auch der Ring von Oma. Aber jetzt halt die Klappe und iss dein Brot zu Ende!“ Ich schaue noch mal unter die Sitze. Zwei Reihen vor mir liegen mein Ei und meine Tomate.
„Mama hat fefagt, du follft daf nift mmtnnhmmn!“
„Ich versteh kein Wort.“ Ich steige über Lasse in den Gang und gehe zu der Frau, unter deren Sitz meine Sachen liegen. „Entschuldigung, ähm …“
Die Frau schaut von ihrem Buch hoch: „Ja, bitte?“
„Da liegt … ähm … mein Ei …“
Die Frau holt tief Luft: „Wie bitte?“
„Unter Ihrem Sitz … ähm … darf ich kurz?“ Ich hocke mich auf den Boden, strecke meinen Arm zwischen ihren Beinen hindurch und erreiche das Ei und die Tomate. Die Frau schreit erschrocken auf.
Von hinten blökt Lasse: „Mama hat gesagt, du darfst das nicht!“
Die Frau hebt entsetzt ihre Füße nach oben und japst nach Luft. „Da hat deine Mama ganz recht! Das darfst du nicht!“
Ich richte mich wieder auf und zeige der Frau, was ich geholt habe. „Das war mir aus dem Rucksack gekullert. Entschuldigung.“
„Also, so was!“
Schnell gehe ich zu meinem Platz zurück, steige wieder über Lasse und lasse mich in den Sitz plumpsen. Ich bin so erschöpft, dass ich als Erstes in die Tomate beiße. Es spritzt. Der nächste Tomatenfleck auf meiner Jacke. Na toll. Da wird Oma Augen machen, wenn wir bei ihr ankommen. Der große Ben als Tomatenketchup verkleidet.
„Die kann man nicht mehr essen“, belehrt mich Lasse altklug. „Da hat ein Hund drauf gepinkelt!“
„Du bist ein Dummschwätzer, Lasse.“
„Hast du eben selbst gesagt!“ „Na und? Und du hast deine Gummibärchen auch munter weitergegessen.“
„Außerdem“, Lasse hebt seinen Zeigefinger, der immer noch vor Wurstfett glänzt, „hat Mama gesagt, du sollst den Ring von Oma nicht mitnehmen!“
„Das weiß ich. Und ich mach es trotzdem.“ Ich beiße noch mal in die Tomate, der Tomatensaft läuft mir über das Kinn und tropft auf meine Hose. Auch das noch. Schnell stopfe ich den Rest Tomate in den Mund, wische mir mit dem Ärmel über das Kinn und schaue aus dem Fenster. „Das darfst du nicht, wenn Mama es verboten hat“, quakt Lasse noch hinterher.
„Na und?“
Ich habe keine Lust, mich ausgerechnet von meinem naseweisen Bruder belehren zu lassen, was ich darf und was nicht. Natürlich kann ich mich noch an die Diskussion mit Mama erinnern. Vor ein paar Tagen habe ich gehört, wie sich Mama und Papa über den Ring unterhalten haben. Mama hatte ihn sich vor einiger Zeit bei Oma ausgeliehen. Sie hatte ihn bei einer Hochzeit oder irgendeiner anderen Feier getragen. Danach wollte sie ihn wieder zurückbringen, aber weil Oma so weit weg wohnt, kommen wir so selten zu ihr. Da hat Papa zu Mama gesagt, wenn Lasse und ich jetzt sowieso nach Hasewinkel zu Oma fahren, dann könnte ich ihr den Ring doch mitbringen. „Das kommt überhaupt nicht infrage“, hat Mama gesagt, „der Ring ist mehrere Hundert Euro wert. Wenn der verloren geht, dann gibt das riesigen Ärger!“ „Wieso soll der denn verloren gehen“, hat Papa gefragt, „wenn Ben ihn doch in seinen Rucksack steckt?“ Da habe ich mich in das Gespräch eingemischt und gesagt, ich bin doch ein Agent und ich will Polizist werden, natürlich kann ich auf einen Ring aufpassen und ihn ohne Schaden von hier nach dort bringen. Aber Mama ist dabei geblieben: „Ich bin schon froh, wenn die Kinder heil bei Oma ankommen. Da müssen wir ihnen nicht auch noch solche Wertgegenstände mitgeben. Stell dir mal vor, die Kinder werden überfallen oder sie bekommen ihre Sachen geklaut!“ Dann haben Mama und Papa darüber gestritten, wie viel oder wenig sie uns zutrauen und wie hoch wohl die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir überfallen oder bestohlen werden und so weiter. Jedenfalls ist mir die Sache danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Es hat mich schon ein bisschen gekränkt, dass Mama mir nicht zutraut, dass ich einen Ring zu Oma bringen kann. Es ist Omas Ring. Und ich bin ein guter Agent. Ich kann beschatten, ich kann beobachten, ich kann beschützen. Also ist es doch nur logisch, dass es mir gelingt, Omas Ring zurückzubringen. Darum habe ich gestern, als wir unsere Sachen gepackt haben, heimlich den Ring samt Kästchen aus Mamas Schlafzimmer genommen. Ich habe mir gedacht: Ich werde Mama beweisen, dass ich nicht mehr der kleine, dumme Junge bin, für den sie mich hält. Ich bin schon groß. Ich bin fast erwachsen. Ich gehe nicht mehr in die Grundschule. Und wenn ich schließlich den Ring wohlbehütet zu Oma gebracht habe und sie sieht, dass ich es geschafft habe, dann wird sie ihre Meinung vielleicht ändern und stolz auf ihren Agenten-Sohn sein. Aber dass mein Bruder Lasse diesen Ring findet und mir oberlehrerhafte Vorträge dazu hält, das habe ich natürlich nicht mit eingeplant.
„Dann hast du den Ring ja geklaut!“, reißt Lasse mich aus meinen Gedanken.
„Was?“ Ich schaue meinen Bruder böse an. „Spinnst du? Ich hab nichts geklaut! Im Gegenteil! Ich bringe diesen Ring seiner rechtmäßigen Besitzerin zurück! Klar? Der Ring gehört Oma und ich bringe ihn Oma! Was ist daran geklaut? Ich bin Agent und ich kann Schmuck vor Dieben schützen! Und wenn du auch ein Agent sein willst, dann solltest du nicht so laut davon reden, sondern lieber mithelfen, dass der Ring heil bei Oma ankommt! Kapiert?“
„Aber Mama hat gesagt …“
„Es ist mir egal, was Mama gesagt hat!“, platzt es aus mir raus. „Du solltest dich so langsam mal an den Gedanken gewöhnen, dass Mamas nicht immer nur recht haben! Manchmal muss man den Mamas nämlich zeigen, dass viel mehr in einem steckt, als sie denken!“
Lasse reißt die Augen auf. „Es ist dir egal, was Mama sagt?“
„Nein!“ Puh, was hab ich da bloß gesagt? Ich versuche, mich wieder zu beruhigen. „Nein. Das war dumm. Das hab ich nicht so gemeint. Es ist mir nicht egal, was Mama sagt. Hörst du? Ich meinte nur, ich finde, wir sollten Mama beweisen, dass wir gute Agenten sind, auf die sie stolz sein kann. Verstehst du das?“
Lasse nickt. Aber seine Augen sind immer noch weit aufgerissen.
„So“, sage ich mit einem Großer-Bruder-Lächeln und stupse Lasse an, „und jetzt lass uns was spielen, damit wir wieder auf bessere Gedanken kommen.“
Lasse nickt und grinst breit. Wir spielen eine Weile „Ich sehe was, was du nicht siehst“, bis Lasse unseren kleinen Streit wieder vergessen hat. Dann futtern wir die übrigen Gummibärchen aus Lasses aufgerissener Tüte und schließlich liest jeder von uns in seinem eigenen Comic-Heft.
„Wie weit ist es noch?“, fragt mich Lasse irgendwann.
„Ich glaube, nicht mehr so weit. Bald müssten wir in Köln sein.“
„Mir ist langweilig.“
„Wie gesagt: Bald müssen wir umsteigen.“
„Darf ich ein Spiel auf deinem Handy spielen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil es mein Handy ist.“
„Och, bitte. Du spielst doch gar nicht auf deinem Handy, sondern liest nur in deinem langweiligen Comic.“
Ich seufze. „Na schön. Aber bring mir nicht wieder alle Einstellungen durcheinander.“
Lasse strahlt: „Mach ich nicht!“
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und gebe es meinem Bruder. Er freut sich wie ein Geburtstagskind. Bevor er zu spielen beginnt, betrachtet er stolz die Rückseite des Handys, auf der in voller Pracht meine Handyhülle zu bewundern ist. Ein fettes rotes Herz ist darauf zu sehen. Eigentlich ist mir diese Handyhülle total peinlich. Wenn ich in der Schule mein Handy brauche, halte ich es immer so, dass das Herz nicht zu sehen ist. Lasse hat die Handyhülle von seinem eigenen Taschengeld gekauft und mir zum Geburtstag geschenkt. Ich habe zuerst einen Schrecken bekommen, als ich sie ausgepackt habe. Aber Lasse hat übers ganze Gesicht gestrahlt und sofort erklärt: „Ein dickes Herz, weil du mein Bruder bist und ich dich so dicke lieb habe wie das Herz auf der Hülle dick ist! Das ist cool, was?“ Am liebsten hätte ich so etwas gesagt wie: „Nein, das ist nicht cool, das ist peinlich.“ Aber weil er sich beim Aussuchen so viel Mühe gegeben hat und beim Schenken so gestrahlt hat, habe ich gesagt: „Ja, das ist cool.“ Und dann habe ich ihn in den Arm genommen und war wirklich etwas gerührt über die süße Liebeserklärung meines Bruders. Dann habe ich die Hülle natürlich um mein Handy gezogen und seitdem trägt mein Handy ein fettes Herz auf der Rückseite. Wie gesagt: In der Schule versuche ich es ein bisschen zu verstecken. Aber ich würde es nie fertigbringen, die Hülle abzumachen. Das wäre, als würde ich Lasses Liebesbeweis wegwerfen.
Jetzt sitzt Lasse also im Zug, fährt mit dem Finger liebevoll über das aufgedruckte Herz und freut sich. Dann schaut er mich an und strahlt wie an dem Tag, als er mir die Hülle geschenkt hat. Ich lächle zurück.
„Ich hab dich lieb“, kommt es plötzlich unangekündigt von ihm.
Automatisch schiele ich ein bisschen in der Gegend herum, ob das jemand hier im Zug gehört hat. Dies ist kein Gespräch, das Jungen in meinem Alter führen sollten, finde ich. Da sich aber niemand für uns interessiert, gebe ich leise zurück: „Ich dich auch.“ Dabei lächle ich meinen Bruder herzlich an.
Er lehnt seinen Kopf zurück: „Und ich freu mich, dass wir zusammen das Abenteuer Oma bestehen.“
„Ich mich auch.“
„Und cool, dass wir jetzt schon wieder einen Agentenfall haben.“
Ich runzle die Stirn. „Welchen denn?“
„Na, das weißt du doch! Omas Ring heil und ohne Schaden bei Oma abzuliefern!“
„Ach so, ja.“ Ich muss schmunzeln. So eine große Schwierigkeit dürfte das ja nicht sein. Aber schön, wenn Lasse aus allem ein Spiel oder ein großes Abenteuer machen kann.