Читать книгу Ben und Lasse - Agenten als Piratenbeute - Harry Voß - Страница 9
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Hanna hält den Lageplan eisern in der Hand, während sie vor uns hergeht wie eine Entenmama vor ihren Küken. „Hier lang!“, kommandiert sie. Und: „Da vorne kommt gleich eine Kurve!“ Lasse hat seine Trinkflasche aus dem Rucksack geholt und bereits zur Hälfte leer getrunken. Kathi schlurft hinter uns her. Ich habe beschlossen, sie grummeln zu lassen. Die Stimmung in mir ist schon schlecht genug, da muss ich mich von ihr nicht noch mehr runterziehen lassen.
„Toll, wie du dich auskennst“, lobt Lasse.
„Ich habe einen Plan“, erklärt Hanna stolz. „Und studieren geht über probieren.“
„Was?“ Lasse kratzt sich am Kopf. „Wir studieren doch gar nicht.“
Ich hab auch nicht kapiert, was Hanna damit sagen will, aber ich halte meine Klappe.
Wir kommen an einen Stahlzaun. Der Weg geht nach rechts und links weiter. Hinter dem Zaun sind Palmen und andere Pflanzen so angelegt, dass es aussieht wie ein kleiner Urwald. Durch die Bäume ist der Piratensee zu erkennen, der auf dem Lageplan dick und fett als Mittelpunkt eingezeichnet ist. Ich staune. Der ist wirklich sehr groß. Bis wir zu Fuß einmal um den See herumgegangen sind, sind wir bestimmt eine Stunde unterwegs. Direkt vor uns am Zaun sind zwei Schilder angebracht. Ein großes und ein kleines.
„Was steht da?“, fragt mich Lasse und zeigt auf die beiden Schilder. Ich lese ihm zuerst das größere vor: „Vorsicht, nicht über den Zaun klettern. Lebensgefahr!“
Danach das kleinere Schild darunter: „Leistenkrokodil (Crocodylus porosus). Das größte heute lebende Krokodil und das einzige, das in Süß- und Salzwasser leben kann. Lebensraum: indischer Ozean, hauptsächlich aber in Sümpfen und Flussmündungen. Länge: 4-5 Meter. Ernährung: Fische, Wasserschildkröten, Vögel, Säugetiere.“
„Wow“, staunt Lasse. „Sind da wirklich Krokodile in dem See?“
„Sieht fast so aus“, sage ich.
„Glaub ich nicht“, mault Kathi. „Das wäre doch viel zu gefährlich. Was ist, wenn die hier ausbrechen?“
„Darum sind hier ja Zäune drum herum“, erkläre ich.
„Kann man sich die Krokodile denn mal von Nahem anschauen?“, fragt Hanna.
„Ja“, vermute ich. „Wenn man mit einem der Piratenschiffe über den See fährt.“
„Oh ja“, ruft Hanna. „Sollen wir das machen? Ich find das aufregend!“
„Ich auch!“, begeistert sich Lasse.
Kathi brummt vor sich hin: „Ja, hoffentlich fressen dich …“
Ich kann nicht anders als ihr einen strengen Blick zuzuwerfen. Als Kathi den sieht, unterbricht sie sich sofort und schaut zu Boden.
„Was hast du gesagt?“, forscht Hanna. „Ich hab es genau gehört! Ja, hoffentlich fressen dich die Krokodile!“
„Da, siehst du?“, blafft Kathi laut. „Ich hab nichts gesagt, aber sie beleidigt mich einfach! Sie fängt schon wieder an!“
„Hört jetzt auf damit!“, schimpfe ich. „Das ist ja nicht zum Aushalten! Ihr nervt echt! Alle beide!“
„Ich hab nix gemacht!“, verteidigt sich Hanna. „Ich hab uns die ganze Zeit durch den Park geführt. Ich hab Kathi gar nicht beachtet! Aber sie beleidigt mich ja wieder!“
„Lasst uns weitergehen“, bestimme ich. „Wir gehen jetzt als erstes zu Fips Piratenfloh. Danach schauen wir mal, wie spät es ist. Dann sehen wir ja, ob wir noch Zeit haben, um eine Runde mit dem Piratenschiff zu fahren, oder ob wir direkt zur Seehunde-Show gehen müssen.“
Wir halten uns links und gehen ab jetzt ständig am eingezäunten See entlang. Auf der linken Wegseite kommen wir an einem Riesenrad vorbei, an einem Autoscooter, danach an einem großen Springbrunnen, der aus mehreren Meerjungfrauen aus Stein besteht, die im hohen Bogen Wasser spucken. Lasse geht neben mir her. Er hat seine Flasche komplett leer getrunken. „Ich freu mich schon so auf Fips Piratenfloh! Du dich auch, Ben? Ach so, nein. Du traust dich ja nicht. Aber ich – ich traue mich! Ha, das wird klasse!“
Hanna ist immer noch in den Lageplan vertieft. „Gleich kommen wir am Kettenkarussell vorbei, danach kommt die Kleiner-Knuddelknox-Eisenbahn und dann das Fips-Piratenfloh-Karussell.“ Mehrmals rempelt sie Leute an, die ihr entgegenkommen, weil sie nicht nach vorne, sondern nur in ihren Plan starrt.
„Au ja, Ben!“, brüllt Lasse. „Sollen wir zuerst in die Knuddelknox-Eisenbahn? Oh ja, bitte!“
„Lasse, es geht hier heute nicht nur um deine Wünsche“, gebe ich entnervt zurück. „Nachher können wir auch mal schauen, was die anderen wollen.“
„Machen wir doch“, verteidigt sich Lasse. „Wir fahren jetzt den Piratenfloh, wie es Hanna möchte. Danach gehen wir zu den Seehunden, wie es Kathi möchte. Und nach dem Mittagessen gehst du zusammen mit Manni in alle Bahnen, die du möchtest. Stimmt’s?“
Ich seufze. „Dann geh doch nach dem Mittagessen in die Knuddelknox-Bahn. Ja? Zwei Kindergarten-Bähnchen hintereinander ist zu viel für mich.“
„Das sind keine Kindergarten-Bähnchen“, protestiert Lasse. „Ich bin immerhin schon im ersten Schuljahr!“
„Ja“, sage ich. „Darum wundere ich mich, dass du trotzdem noch in diese Mini-Dinger willst.“
„Wir sind da!“ Hanna zeigt auf ein Karussell, das so klein ist, dass man es in unserem Garten hätte aufstellen können.
„Oh, prima!“, ruft Lasse. „Wo ist das nächste Klo? Ich muss zuerst kurz pinkeln, sonst hab ich Angst, dass ich mitten während des Piratenfloh-Flugs aufs Klo muss!“
Das gibt’s ja wohl nicht! „Du warst doch gerade erst auf dem Klo!“, stöhne ich.
„Ja, aber jetzt hab ich doch wieder ganz viel getrunken!“
Hanna zeigt auf ein Häuschen in unserer Nähe, auf dem ein Hinweisschild für Toiletten zu sehen ist. Lasse rennt los: „Bin gleich wieder da! Ich darf ja alleine aufs Klo, das wisst ihr ja! Ausnahmeregel der Ausnahmeregel!“
„Stell nicht wieder deinen Rucksack einfach so bei den Waschbecken ab!“, brülle ich ihm noch hinterher. Aber ob er das hört?
Kathi setzt sich auf eine der Bänke, die am Wegesrand stehen und zieht ihre Bürste aus dem Rucksack. „Geht das jetzt den ganzen Tag so?“
„Das könnte sein“, stimme ich missmutig zu.
„Das find ich nicht schlimm“, sagt Hanna. „Jeder muss doch mal aufs Klo.“
„Aber nicht alle fünf Minuten“, faucht Kathi und beginnt ihre Haare zu bürsten.
„Wer A-A sagt, muss auch pinkeln gehen“, belehrt uns Hanna mit wichtigem Gesicht.
Kathi schaut mich an mit einem Gesicht, das so etwas ausdrückt wie: „Was hat nun dieser Blödsinn wieder zu bedeuten?“ Aber sie sagt nichts. Also sage ich auch nichts.
Wir schauen auf das Fips-Piratenfloh-Karussell, das gerade in voller Fahrt ist. Zwölf dicke, schwarze Floh-Figuren mit Piratenkopf und Augenklappe sind im Kreis hintereinander angebracht. Jede von ihnen ist mit einem Stahl-Arm an einer Säule in der Mitte befestigt. Der Rücken der Flöhe ist offen. Hier sitzen die Kinder wie in einem Auto und winken mit ausgestreckten Armen den wartenden Eltern zu. In jedem schwarzen Floh sitzt genau ein Kind. Mehr passt nicht rein. Dazu sind die Sitze zu klein. So langsam bekomme auch ich Zweifel, ob Hanna da noch reinpasst. Nicht nur, weil sie etwas dick ist. Sondern einfach, weil sie zu alt ist. Ich selbst hätte ebenfalls meine Schwierigkeiten, mich in so einen Sitz reinzuquetschen. Einige Kinder haben mit einem Schalthebel ihre Flohsitze nach oben fliegen lassen. Jetzt bewegen sie sich etwa zwei Meter über dem Boden und halten sich für die größten Könige. Mann, Mann. Als ich noch so klein war, kam ich mir in diesen Karussells auch wie ein Held vor. Jetzt aber, wo ich schon so alt bin, kommt mir das geradezu lächerlich vor.
Das Karussell wird langsamer. Alle Piratenflöhe landen wieder unten auf der Kreisbahn. Hanna scheint sich ähnliche Gedanken gemacht zu haben wie ich, denn sie murmelt: „Die sind aber echt klein.“
„Sag ich doch“, kommt es von Kathi spitz.
„Was?“, blafft Hanna sofort und dreht sich zu Kathi um.
„Nix“, sagt Kathi und wackelt mit den Schultern.
Hanna hält ihren Rucksack vor sich und holt ihre Flipstüte heraus: „Will jemand Würmchen essen?“
„Nein“, sagen Kathi und ich im Chor.
„Kathi hätte auch keine bekommen“, faucht Hanna.
Kathi rollt mit den Augen. „Wie kann man jetzt schon ans Essen denken?“
„Der frühe Vogel isst den Wurm“, erklärt Hanna mit einer Betonung wie eine Lehrerin.
„Das dachte ich mir“, brummt Kathi, „dass du Würmer frisst.“
„Würmchen“, verbessert Hanna und greift in die Tüte.
Lasse kommt zurück und schleift seinen Rucksack hinter sich her. „Ben, diesmal konnten die bösen Diebe meinen Rucksack bei den Waschbecken nicht klauen!“
„Sehr schön“, lobe ich.
„Denn diesmal habe ich den Rucksack direkt draußen vor dem Haus stehen gelassen!“
„Was?!“, schreie ich. „Bist du bescheuert? Da können ihn doch noch mehr Leute klauen!“
„Wieso? Du hast doch gesagt, jeder Mensch bei den Toiletten ist ein Dieb. Also theo-magnetisch natürlich. Also habe ich ihn erst gar nicht mit reingenommen.“
Ich fasse mir an die Stirn. So viel Kleingrips hätte ich meinem Bruder beim besten Willen nicht zugetraut. „Aber Lasse! Hier draußen sind doch noch viel, viel mehr Leute, die einen Rucksack klauen können!“
„Du hast gesagt, nicht jeder Mensch ist ein Verbrecher! Außerdem hat ihn doch sowieso niemand geklaut! Schau her!“ Lasse zeigt seinen Rucksack vor.
„Mannomann! Da hast du aber wirklich ein Schweineglück gehabt!“
„Schweineglück?“ Lasse lacht laut los. „Du bist lustig, Ben!“ Dann überlegt er kurz und schiebt noch hinterher: „Außerdem hat da ein Mann auf meinen Rucksack aufgepasst!“
„Was? Wer denn?“
„Ich kannte ihn nicht. Aber als ich aus dem Häuschen rauskam, stand er bei meinem Rucksack. Er hat gefragt, ob das mein Rucksack wäre. Da hab ich Ja gesagt und er hat gesagt, ich müsste besser darauf aufpassen, sonst käme er ganz schnell weg. Und dann hat er noch gesagt, er hat solange auf den Rucksack aufgepasst, bis ich vom Klo gekommen bin. Das ist doch nett, oder?“
Wieder kann ich nur den Kopf schütteln. „Ja, das ist sehr nett von diesem Mann. Aber noch mal, Lasse: Du kannst nicht davon ausgehen, dass alle Menschen so nett sind. Genauso gut hätte dieser Mann deinen Rucksack auch einfach so mitnehmen können. Kapierst du das denn gar nicht?“
„Aber er hat ihn doch nicht mitgenommen!“
„Ja, aber theoretisch hätte er!“
„Ach ja. Theometrisch.“ Und ohne weiter mit mir darüber zu reden, zeigt er auf sein geliebtes Karussell und ruft Hanna zu: „Komm, Hanna, jetzt fliegen wir mit Fips über die Meere! Ben, passt du auf meinen Rucksack auf?“ Damit schmeißt er ihn mir vor die Füße und rennt los.
„Ich denke, auf den muss man nicht aufpassen, wenn den sowieso niemand klaut“, versuche ich einen Witz zu machen.
Aber Lasse kapiert ihn natürlich nicht, denn er ruft zurück: „Doch, Ben! Du hast doch selbst gesagt: Auch die netten Menschen hier im Park können Diebe sein! Theo-Stehtisch!“
Vor Fips-Piratenfloh ist keine Schlange. Hanna und Lasse kommen sofort dran, als das Karussell das nächste Mal seine Fahrt beendet hat. Kathi und ich sitzen auf der Bank und schauen zu, wie sich Lasse mit einem Sprung in einen der Sitze schwingt und Hanna mit viel Ächzen ihre zehnjährigen Beine in den viel zu kleinen Fußraum unter dem Rauf-und-runter-Hebel quetscht. Die Fahrt beginnt. Kathi auf der Bank neben mir hat ihre Beine übereinandergeschlagen, bürstet immer noch ihre Haare und schaut stumm der Karussellfahrt zu. Lasse reißt einen Arm hoch: „Huhu! Ben! Siehst du mich? Huhu!“
Ich bemühe mich um ein brüderliches Lächeln. Aber ich winke nicht zurück. Das ist mir zu peinlich. Ich schaue mich um, wie viele Leute, die hier entlanggehen, meinem Bruder beim Juchzen zusehen. Auf einer weiteren Bank, die etwa fünf Meter von uns entfernt ist, sitzt ein dünner Mann mit einer gelben Schirmmütze und einer blauen Latzhose. Als mein Blick auf ihn fällt, dreht er seinen Kopf schnell nach vorne und schaut auf den Piratensee gegenüber der Bank. Mir fährt ein Stich durch den Magen. Hat der gerade zu uns rüber gestarrt? Und nur, weil ich mich ihm zugewendet habe, hat er weggeguckt? Das kann Zufall gewesen sein. Aber als Agent mach ich lieber noch mal den Verfolger-Test. Ich gucke einige Sekunden angestrengt zum See. Und plötzlich drehe ich meinen Kopf mit einem Ruck zur Seite und blicke zu dem Mann mit der Mütze. Wieder dreht der schnell seinen Kopf und schaut nach vorne, diesmal auch zur anderen Seite, nach oben, nach unten … offensichtlich, damit ich denke, er würde einfach mal so in alle Richtungen gucken. Aber jetzt ist mir klar: Der hat mich angestarrt. Aber warum? Hab ich was getan? Was Verbotenes vielleicht? Wieder sehe ich zu ihm rüber. Diesmal blickt er nicht zu mir. Und ich habe Zeit, ihn etwas genauer zu betrachten. Mit seiner blauen Latzhose und der Schirmmütze wirkt er nicht wie ein Parkbesucher. Eher wie einer, der hier arbeitet und vielleicht hin und wieder etwas repariert, das kaputtgegangen ist. Auch seine festen, schwarzen Sicherheitsschuhe bestätigen diesen Eindruck. Aber warum sollte er mich beobachten? Oder hat er vielleicht Kathi angeschaut? Guckt der etwa Kindern hinterher? Ist das so einer …?
Ich stoße Kathi an: „Sieh dir mal diesen Mann da drüben auf der Bank an. Der hat eben zu uns rüber geguckt.“
Kathi betrachtet den Mann. Der hat sich inzwischen von der Bank erhoben und dreht uns den Rücken zu. „Na und?“, sagt sie. „Ist doch nicht verboten.“
„Aber das sah merkwürdig aus. Immer, wenn ich zu ihm geschaut habe, hat er schnell weggeguckt, als hätte er sich ertappt gefühlt.“
Kathi runzelt die Stirn. „Du glaubst auch, hinter jedem Menschen, der dich anglotzt, steckt ein Kriminalfall. Was?“ Sie sieht noch einmal zu dem Mann, der jetzt langsam den Weg entlangschlendert, weg von uns. „Vielleicht hat er dasselbe von dir gedacht. Vielleicht hat er einfach nur dem Piratenfloh-Karussell zugesehen. Und dann hast du ihn plötzlich so angestarrt und er hat schnell weggeguckt, weil er dich merkwürdig fand.“
„Ja, das könnte auch sein.“ Wenn das stimmt, dann hab ich wirklich einen Agenten-Knacks. Nur weil Lasse und ich hin und wieder Diebe und Ganoven beschattet, verfolgt und der Polizei ausgeliefert haben, heißt das noch lange nicht, dass hinter jeder Ecke das Böse lauert. Vielleicht hat Lasse sogar noch mehr recht als ich und es gibt in diesem Park mehr nette Menschen, die Gutes im Sinn haben, als gemeine Schurken, die Rucksäcke klauen und Kinder in böser Absicht anstarren.