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1. Arnos Kiez

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Es reichte nur noch für einen traurigen Klecks auf der Palette. Ärgerlich warf er die zu einem schmalen Streifen zerdrückte Metalltube auf die riesige Arbeitsplatte, auf der sich seine Malutensilien ausbreiteten.

Dabei war er sich ganz sicher gewesen, dass sein Vorrat an Schwarz noch bis morgen reichen würde. Er räumte Gläser, Terpentinflaschen, Pinsel, Spachtel, zerknüllte Stofffetzen, Rahmenteile und jede Menge weiße Farbtuben hin und her, schwarz war nicht dabei. Auch in den Regalen fand sich nichts.

Weiß brachte ihn heute nicht weiter, die Grundierung der Leinwand war längst abgeschlossen.

Arno verbrauchte also den schwarzen Klecks, indem er ihn zu einem Dreieck vermalte, nur die Außenlinien. Die linke Hälfte der Leinwand war mit Dutzenden ineinander verschränkter Dreiecke bedeckt, während die rechte Seite, noch gänzlich unberührt, in einem reinen Titanweiß schimmerte.

Die hölzerne Handpalette nahm sich recht übersichtlich aus, da sie in lediglich zwei Farbbereiche unterteilt war, eben in Schwarz und in Weiß. Arno arbeitete ausschließlich mit den unbunten Farben, wobei die Grautöne für ihn keine Rolle spielten. Er schätzte die klare, eindeutige Zuordnung.

Schwarz = dunkel, weiß = hell, grau = gar nix.

Rot, blau, gelb, grün & Co waren etwas für den Kindergarten, wo sie die Gören mit einer bunten, freundlichen Weltsicht indoktrinierten, so als gäbe es täglich nur Fun und Party. Die wirkliche Welt war anders beschaffen, nämlich unbunt, wie seine Werke.

Am meisten hasste er pink, die billig wirkende, amerikanische Lutscherfarbe, die nichts als Kitsch und Künstlichkeit ausdrückte. Scheußlich. Vor Jahren hatte er ein Schreiben an den Petitionsausschuss des Bundestags gerichtet, um ein staatliches Pink-Verbot zu erwirken, aber die Herrschaften hatten es nicht für nötig gehalten zu reagieren. Die verstanden eben nichts von einer anspruchsvollen Farbenlehre, da konnte man sich auch in Zukunft nichts erwarten.

Die Kopfhaut fing an zu jucken, wie immer, wenn er angespannt war. Er fuhr mit dem Pinselstiel durch das dichte, kurz geschnittene Haar um sich zu kratzen, aber es juckte eher noch mehr, so, als würden sich sämtliche Nervenenden gegen ihn verbünden, um ihr Spiel mit ihm zu treiben. Es war schon vorgekommen, dass er sich in solchen Situationen ein schwarzes Haarbüschel ausgerissen hatte, oder die Kopfhaut blutig kratzte. Möglicherweise könnten auf diese Weise Narben entstanden sein, Arno wusste es nicht. Er hatte mit Anfang fünfzig noch keinerlei Probleme mit dem Haarausfall, sodass man nichts sah.

Es nützte nichts. Wenn er heute noch weiterarbeiten wollte, musste er sich auf den Weg zu Jacek machen, schwarze Farbe besorgen.

Wie unangenehm! Einfach lästig, vor allem jetzt, am Monatsende. Die knappe Geldreserve, vom letzten Monat noch, war so gut wie aufgebraucht und Farbe – Acrylfarbe musste es schon sein – war teuer. Eigentlich lohnt es sich für mich gar nicht, eine Geldbörse zu besitzen, ging es ihm durch den Kopf, bei den paar Kröten.

Als er vor die Tür trat, bemerkte er gleich, dass der Platz an der gegenüberliegenden Hauswand, an der er immer sein Fahrrad abstellte, leer war. Es erstaunte ihn nicht, letztlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es jemand klauen würde. In Hamburg wurden ständig Räder gestohlen, speziell hier in Ottensen. Meistens waren es die besseren Vehikel, für die man sich interessierte. Seines war ein einziger Schrotthaufen, aber anscheinend gab es auch hierfür einen Bedarf. Das zerstörte Schloss lag vor der Wand. Arno inspizierte es kurz. Bolzenschneider, saubere Arbeit. Er pfefferte das Ding in die Mülltonne, bevor er durch den Torbogen in den ersten Sektor feindlichen Territoriums eindrang.

Auf der Friedensallee war die Hölle los, Feierabendverkehr. Kriegsallee wäre die passendere Straßenbezeichnung, nachmittags um fünf. Um diese Zeit sollte man einfach nicht auf die Straße gehen, weil nur Idioten unterwegs waren. Auf dem Bürgersteig klingeln einen die Radfahrer beiseite, zischen wie ein Pfeil an einem vorbei, erschrecken einen fast ins Koma. Autofahrer rasen mit hoher Geschwindigkeit auf die rote Ampel zu, bremsen erst im letzten Moment. Zum Teufel mit ihnen!

Er war auf alles gefasst. Mit dem Fahrrad würde er sich etwas unabhängiger fühlen. Vor allem aber käme er schneller ans Ziel und wäre auch früher wieder zu Hause.

Wo sollte er denn in nächster Zeit ein neues gebrauchtes Rad herbekommen? Beim Fundbüro der Bahn war erst in vier Wochen wieder eine Versteigerung von gefundenen Fahrrädern angesetzt. Die Termine hatte er im Kopf, denn er steigerte gerne mit und sei es auch nur, um die Preise nach oben zu treiben.

Einmal hatte er eines seiner eigenen Bilder zum Fundbüro gebracht, dort als Fund gemeldet. Bei der nächsten Versteigerung setzte er sich in die letzte Reihe und verfolgte die Gebote, ohne selbst einzugreifen. Es ging nur schleppend voran und Arno befürchtete schon, dass keiner sein Werk haben wolle. Schließlich hob eine dicke, hässliche Mittzwanzigerin, Typ Biotonne, eine ihrer Wurstpratzen und ersteigerte sein Bild für schlappe zwanzig Euro! Allerhand, fand er. Da fehlten ja wohl hinten noch ungefähr zwei Nullen! Die Vorstellung, das Bild hinge jetzt in der Wohnung dieser Person, widerte ihn an. Sie war entschieden zu hässlich für sein Werk. Na, egal. War ja auch eine Schnapsidee gewesen, eines seiner Prachtstücke zu opfern. Ein Opfer für die ästhetische Bildung hätte es sein können, aber das Experiment hatte er in den Sand gesetzt, ganz klar.

Sein letztes Fahrrad hatte er auch für zwanzig Euro ersteigert. Für seine bescheidenen Zwecke - die Überwindung feindlicher Sektoren - hatte das Fahrzeug ausgereicht. Nun war es fort und dem Fahrraddieb war nur zu wünschen, dass er damit in sein Verderben fuhr. Fahrraddiebe verdienten harte Strafen. Die Nerven hätte ich gar nicht, ein Rad zu klauen, überlegte er. Eigentlich schön dumm, wahrscheinlich bin ich der Einzige, der das nicht tut. Er sah sich um und fühlte sich sofort bestätigt. Jedem von denen traute er ein solches Verbrechen zu, Jedem, auch denen, die so unschuldig dreinschauten. Das war sicher nicht ihr wahres Gesicht. Arno zupfte einen Jugendlichen an der Jacke.

„Klaust du manchmal Fahrräder? Mal ehrlich, du kannst es ruhig sagen.“

„Geht’s noch, Alter?“, fauchte der, „Pfoten weg, sonst steck ich sie dir in den Arsch.“

Ordinär, dachte Arno, keine Kinderstube, nur Asoziale laufen hier rum. Jetzt reckt der auch noch die Faust. Bloß weiter.

Zur S-Bahn-Station war es nicht weit, nur ein paar Minuten. Jetzt zahlte es sich aus, dass er regelmäßig eine Monatsfahrkarte kaufte, wenn auch nur für zwei Tarifzonen.

Im Grunde spielte sich sein Leben ohnehin nur innerhalb zweier Tarifzonen ab. Wann war er zuletzt jenseits der Tarifgrenzen gewesen? Es musste schon sehr lang her gewesen sein, so auf Anhieb kam ihm da gar keine Idee. Alles, was er zum Leben brauchte, fand er hier, und alles, was er hier nicht fand, das brauchte er auch nicht. Die Übersichtlichkeit seines Umfelds machte den Alltag geringfügig überlebenswerter für ihn. Sogar ein so urbaner Stadtteil konnte zu einem Dorf schrumpfen, wenn man ihn nie verließ.

Vor einem Grillimbiss lehnte eine schwarze Schiefertafel, auf der ein interessantes Gericht angeboten wurde:

Puttenspieß mit Reis und Salad, 5,80.

Na toll, feixte Arno, grillen sie jetzt schon Engel? Gut, dass Imbisswirte keine Rechtschreibprüfungen ablegen müssen, sonst würden ihnen die Putten und die gefühlten Oberschienen glatt zum Verhängnis werden.

Neben der Schiefertafel stand eine durchsichtige Plastikschüssel mit Wasser. Auf die Schüssel hatte jemand, sicher der Wirt, mit krakeligen Schriftzeichen das Wort HUND geschrieben. Arnos Interesse war geweckt. HUND! Erstaunlich.

Vielleicht dachte der Schüsselbesitzer, dass Hunde lesen können. Oder war der Hinweis für Menschen gedacht, damit sie sich in der Augusthitze nicht vor die Schüssel warfen, und den geplagten Vierbeinern ihr Wasser wegschlabberten? Oder damit Herr- und Frauchen wussten, dass ihre Lieblinge nichts Rechtswidriges taten, gar Zechprellerei begingen, wenn sie sich, zulasten der Wasserrechnung des Wirtes, erfrischten. Oder wollte der Herr der Schüssel sein gutherziges Wesen dokumentieren? Seht, ich bin gut zu Tieren, bitte habt mich lieb.

Fragen über Fragen.

Vielleicht wollte jemand auch einfach nur das Wort HUND schreiben, könnte ja sein. Ich schreibe auch gerne HUND, überlegte Arno, noch lieber schreibe ich PINGUIN. Was passierte eigentlich, stünde auf der Schüssel PINGUIN statt HUND? Würden Hunde das respektieren? Im Grunde war das auch egal. Die machten sowieso, was sie wollten, genau wie ihre fehlgeleiteten Halter.

Angewidert dachte er ein paar Tage zurück, als er einen riesigen schwarzen Hund beim Kacken beobachtete. Nachdem er fertig war, kam Frauchen mit einer kreischbunten Plastiktüte an, um den Fladen einzusammeln. Sie erledigte das mit einer bemerkenswerten, routinierten Nonchalance, so als hätte sie nie etwas anderes getan. Schließlich verknotete sie die Tüte und – warf sie auf den Grünstreifen zurück!

Das ist doch ... Arno streifte die Grenze zur Sprachlosigkeit ... allerhand. Immerhin war es doch so, dass Kacke Kacke blieb, und war sie auch noch so nett verpackt! Ein weites Feld philosophischer Reflexion über Schein und Sein drängte sich auf, aber Arno hatte es vorgezogen, sich noch eine Weile zu ärgern. Leider waren ihm spontan die passenden Worte nicht eingefallen, sodass er es mit einem extrafinsteren Blick bewenden ließ. Auch misstraute er dem schwarzen Hund, obwohl er mit Hunden eigentlich ganz gut zurechtkam. Keinesfalls wollte er riskieren, dass das Zottelmonster seine Reißzähne in ihn schlug.

Richtig sicher fühlte er sich nur in seiner Hinterhofremise, in der er nun schon seit sieben, acht Jahren lebte und arbeitete. Davor hatte er im Haupthaus eine Wohnung gehabt, zur Straße hin, auch nicht schlecht. Als Arno dann eines Tages erfuhr, dass die Druckerei im Hinterhof pleite war und den Betrieb einstellen musste, wandte er sich gleich an den Vermieter, um den flachen Backsteinbau als Wohnatelier zu übernehmen. Die Miete fiel nur unwesentlich höher aus, dafür musste er ab und zu Hausmeistertätigkeiten im Haupthaus übernehmen. Nur Kleinkram, Glühbirnen im Treppenhaus austauschen und einfache Reparaturen durchführen.

Pinzke, der Vermieter, konnte ihn zwar genau so wenig leiden wie er ihn, aber nach jahrzehntelanger Bekanntschaft war man aneinander gewöhnt. Der Alte mochte sich wohl gedacht haben, dass er mit ihm kein Risiko eingehen würde, also machten sie einen Vertrag. In der Tat achtete Arno darauf, seinen vertraglichen Verpflichtungen als Mieter anstandslos nachzukommen, da wollte er sich keine Schlampereien nachsagen lassen.

Den Nachbarn ging er aber möglichst aus dem Weg. Dazu stand auch nichts im Vertrag. Es reichte ihm schon, wenn er manchmal angesprochen wurde, wenn etwas mit der veralteten Treppenhausbeleuchtung nicht stimmte. Als eine Art Hausmeister wurde man oft angesprochen, weil dauernd irgendwas nicht so war, wie es sein sollte. Manchmal klingelten sie sogar bei ihm, was er als besonders unangenehm empfand. Dann musste er seine Kopfhaut beruhigen, indem er sie kratzte. Die Leute guckten verstört, manche traten vorsichtshalber ein, zwei Schritte zurück. Vielleicht dachten sie, er hätte Läuse, aber das war ihm egal.

Die alte Remise im Hinterhof war wie für ihn gemacht. Ein paar bauliche Veränderungen verwandelten die hundert Quadratmeter große Werkstatt in einen Wohnbereich mit Küche, Duschkabine und einem Zimmer, und in einen Arbeitsbereich, mit dem großzügig bemessenen Atelier. Er hatte einiges an Arbeit investiert und das Ergebnis konnte sich sehen lassen, trotz aller Einfachheit.

Als Arno eines Freitags mit allem fertig war, geschah es, dass er sich einen Moment lang glücklich fühlte. Er rannte in die Küche, um sich im Spiegel zu betrachten, aber sein Gesicht sah aus wie immer, woraus er schlussfolgerte, dass es mit dem Glück schon wieder vorbei war. Es ging, wie es kam, und es hinterließ keine Spuren. Es nützte nichts, aber immerhin schadete es auch nicht, und das war ja schon viel.

Na ja. Vielleicht hatte er sich auch nur eingebildet, glücklich zu sein, wer weiß? Also, beschwören würde er es nicht, aber ganz und gar ausschließen konnte man es ja auch nicht. Man sagte ja auch, sich glücklich fühlen, das hieß doch, dass man es nicht wissen konnte, eben nur fühlen, sonst würde man doch sagen, sich glücklich wissen. Keiner sagt: Ich weiß mich glücklich! Es war wie mit dem Glauben, den konnte man auch nicht wissen. Fühlen = glauben = gar nix.

Wie auch immer, auf jeden Fall war ihm die alte Remise angenehm, und das wusste er.

S-Bahn Bahrenfeld.

Die eine Station bis Bahnhof Altona hätte ich auch zu Fuß gehen können, haderte er, aber wozu habe ich denn die Monatskarte, wenn ich sie nicht nutze?

Auf dem Bahnsteig dann ein vielbeiniges Geschiebe und Gewusel. Das nahe gelegene Versicherungshochhaus hatte einige Hundert wohlriechende Versicherungsfachangestellte in den Feierabend entlassen. Auch das noch.

Hier war kaum einer älter als vierzig, eine Beobachtung, die Arno schon öfter gemacht hatte. Wie kam das? Bevorzugten die Älteren das Auto? Unwahrscheinlich, da doch die S-Bahn praktischerweise quasi vor der Haustür hielt. Wahrscheinlich waren einfach keine älteren Beschäftigten mehr beim Versicherungskonzern angestellt. Möglicherweise hatte der Moloch die alten Säcke einfach ausgeschieden, Platz für Frischfleisch geschaffen. Vielleicht waren die ohne Aussicht auf Wiederbeschäftigung ausgewilderten Alten inzwischen wieder bei einer Versicherung gelandet, bei der Arbeitslosenversicherung.

Die Jüngeren waren überwiegend mit Rucksack unterwegs, als wären sie gerade von einer Wanderung zurückgekehrt. Der Anblick von Rucksäcken hatte für Arno immer etwas tümelndes. Er vermittelte etwas Unstetes, Rastloses. Man wusste nicht genau, kamen die Leute oder gingen sie, waren sie auf dem Weg zum Watzmann, oder kamen sie gerade frisch aus Timbuktu in das Heimatland, wo ihre Wiege stand, zurückgeeilt?

Sie trugen das Outdoor-Möbel entweder auf dem Rücken, war ja auch gesünder, oder sie hängten es lässig über die Schulter. In beiden Fällen war der Platzverbrauch in der Bahn enorm. Bei jeder Körperdrehung bekam Arno einen Rucksack in die Seite gerammt. Auf die nachfolgenden Entschuldigun-gen hätte er gut verzichten können. Den Rückweg würde er per pedes erledigen.

Vier Minuten bis Bahnhof Altona, aussteigen und nochmal vier Minuten Fußweg bis zu Jacek.

Spießrutenlauf ab Bahnhofsvorplatz. Schnorrende Altpunks akquirierten Gelder für ihre private Wohlfahrt.

„He, Meister, hast du n ´bisschen Kleingeld über, der Sekt ist alle.“

Den Spruch kannte Arno schon, Pech für Punk.

Aus Bulgarien war eine neue Kollektion behinderter Bettler eingetroffen. Unverbrauchte Stimmen, mal was anderes.

Amputierte aller Art. Fehlende Hände, Arme, Füße, Beine. Menschen, nur noch mit Kopf und Rumpf, abgelegt auf einer Bastmatte.

„Bittä Gäld, bittä.“

So ähnlich musste es im Mittelalter wohl auch gewesen sein, nur dass Bettler heute als gewerbliche Manövriermasse durch Europa gekarrt wurden. Der globalisierte Bettler on tour.

Morgens wurden sie mit einem Kleinbus angeliefert, dann bettelten sie eine lange Tagesschicht in der Fußgängerzone und irgendwann am Abend wurden sie wieder eingepackt und in ihr Elendsquartier auf St. Pauli gebracht. Der Löwenanteil ihrer Ausbeute ging an ihre Ausbeuter, logisch. Das waren nun wirklich herzensgute, hilfsbereite Menschen, wie sie in Interviews beteuerten. Sie täten den bettelnden Kollegen nur einen Gefallen, dafür müssten die ihnen aber auch einen Gefallen tun. Schließlich seien sie ja nicht hier, um sich in der norddeutschen Tiefebene in die Sonne zu packen, vielmehr würden sie für den europäischen Binnenmarkt fit gemacht. Bulgariens EU-Beitritt war schließlich vollzogen, insofern handele es sich um eine Art Trainee-Programm für Schwervermittelbare.

Arno wusste nur sehr wenig über Bulgarien, aber seine eigene ungewisse Zukunft als Künstler stellte ihn immer öfter vor die Frage: Wie wärs mit auswandern? Wie wärs mit Bulgarien? Auf dem Balkan sind sie nett, das war bekannt, wenn auch sonst nicht viel bekannt war. Unbekanntes Territorium, arkadische Landschaften, aus Schafskäse geformt. Warum denn nicht, da könnte man eher überleben als hier, wenn auch nicht als Bettler.

„Es lebe die Osterweiterung“, rief er dem Beinamputierten zu, der sich tapfer an gebogenen Holzkrücken aufrecht hielt, aber der verstand ihn nicht. Wie jetzt, Trainee-Programm ohne Sprachkurs?

„Bittä Gäld, bittä.“

Ja, ja. Arno gab ihm zwanzig Cent und der Bettler gab ihm ein Lächeln im Wert von zwanzig Cent. Ein klares Geschäft.

Ein Stück weiter natürlich wieder der Tapeziertisch, der mit einem Tuch mit der Aufschrift „Save the children“ verhüllt war. Davor schwärmten junge Leute in einheitlichen T-Shirts mit Klemmbrettern und Unterschriftenlisten aus und belästigten, möglichst flächendeckend, ahnungslose Passanten.

Arno war allerdings schon mehrfach angequatscht worden und auch heute lautete die rhetorische Eingangsfrage wieder:

„Hallooooo, ja Sie, mögen Sie Kinder?“

Die junge Frau, Anfang zwanzig, schwarzes langes Haar, vor zwei Tagen noch blond, mächtiger Nasenring, mit unpassend unschuldigem Lächeln unterwegs. Da lächelte man doch gerne zurück.

„Kommt drauf an, wie sie zubereitet sind."

„Was?! Wie sind Sie denn drauf, ich rede von Kindern!“

Als Arno einfach weiter lächelte, dabei freundlich mit den Augen zwinkerte, drehte sie zu einer Kollegin ab. Sie deutete mit dem Kugelschreiber auf ihn und er winkte freundlich zurück. Alles, was er verstand war, irgendwas mit „pervers“ und „Kinderfresser“.

Er war zufrieden mit seiner Reaktion, und die vergifteten Blicke waren einfach zum Zunge schnalzen. Sicher merkten sie sich sein Gesicht und ließen ihn künftig in Ruhe. Tatsächlich mochte Arno Kinder nicht besonders, bezeichnete sich selbst sogar als bekennenden Kinderhasser. Die dazu gehörigen Eltern konnte er genauso wenig ertragen. Er fand sie unfähig und dank der pädagogischen Diskussion völlig überfordert. Sie stanken doch vor Angst vor ihrer eigenen Brut.

Auch hier hatte seine Eingabe an den Petitionsausschuss des Bundestags auf Einführung einer Strafsteuer für Kinderkrieger keine Erfolge gezeitigt. Gegen Ignoranten war eben kein Kraut gewachsen. Immerhin könnte der Staat dafür die Hundesteuer aufgeben, war das denn nichts? Dann könnte Arno sich auch einen mittelgroßen Hund leisten.

Wenn überhaupt Kinder, dann höchstens als Idee, als idealisierte Vorstellung vom Menschlein als solchem, wie auf den Kitschbildern von Philipp Otto Runge. Na ja, wenn überhaupt. Im echten Leben waren sie lästig, ein richtiger Störfaktor, egoistische, Blut saugende Monster. Arno würde sie mit der Kneifzange nicht anfassen. Traf er unterwegs welche, wechselte er die Straßenseite. Arno wechselte oft die Straßenseite.

Er fühlte sich erschöpft vom vielen Denken. Anstrengendes Pflaster, dieses Ottensen. Alle wollen irgendwas von mir, dauernd werde ich zu einer Reaktion gezwungen, als wollte man mich zwangsbeglücken, als wollte man mich dazu zwingen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. An ihrem gesellschaftlichen Leben, das mich nicht interessiert, das mir am Allerwertesten vorbei rauscht.

Na gut, Jacek machte eine Ausnahme.

Jacek, polnisches Universalgenie.

Öffnete man seine Ladentür, begrüßte einen eine Stimme aus dem Off mit den Worten: „Willkommen bei Jacek. Bitte treten Sie ein.“ Es handelte sich dabei um eine elektronische Frauenstimme, die es in sich hatte. Sehr erotisch jedenfalls, beinahe schon ein Fall für die Sittenpolizei. Bei der verrucht verrauchten Stimme mit dem slawischen Idiom konnte einem schon fast einer abgehen. Es wurde kolportiert, manche Kunden kämen nur wegen dieser Stimme, aber das würde Jacek nie bestätigen. Dabei hatte Arno schon mit eigenen Augen gesehen, wie ein Mann mittleren Alters mehrmals hintereinander die Tür öffnete und schloss und dabei sehr glücklich lächelte.

Der Fachmarkt für Künstlerbedarf war in halb Norddeutschland bekannt, denn es gab nichts, was Jacek nicht besorgen konnte. Farben, Lacke, Werkzeuge, Pinsel aus den seltsamsten Tierhaaren und –borsten, die kannte man hierzulande überhaupt nicht. Nachdem er vor fünfzehn Jahren seinen Laden eröffnet hatte, feierte er sofort rekordverdächtige Verkaufserfolge. Er konnte es sich sogar leisten, als eine Art Schutzheiliger und als wahrhafter Freund aller bildenden Künstler aufzutreten. Schon so mancher Maler hatte ihm eine Ausstellung zu verdanken, sogar in renommierten Galerien. In einem Nebenraum seines Geschäfts betrieb Jacek auch eine eigene Galerie. Etwa fünfundzwanzig Bilder hingen dort auf Kommissionsbasis, auch zwei Arbeiten von Arno.

Auch alles andere konnte Jacek von heute auf morgen beschaffen. Polnische Lebensmittel, Handwerker, heiratswillige Frauen, palettenweise besten Wodka aus den masurischen Wäldern, einfach alles.

„Tag, Jacek, wo steckst du, alter Kaschube? Zeig dich.“

Hinter einem hohen Regal krabbelte jemand geräuschvoll eine Holzleiter hinab. Der Meister selbst. Mitte fünfzig, graues Haar, Lech-Walesa-Bart unter der knallroten, großporigen Knubbelnase, gütiges Woytila-Lächeln, tausend Falten um die dunklen Augen herum drapiert, dicker Wollpullover (im August, also ehrlich ...). Insgesamt eine stattliche Erscheinung. Ohne die signalfarbene Nase hätte er es sicher zum Sexualobjekt der Frauen gebracht, allein, die Natur – oder war es doch der Wodka? - hatten es vermasselt. Manchmal schmierte er die Nase mit einer braunen Abtöncreme ein, aber das wirkte noch befremdlicher, wie eine Schuhcremenase.

„Na was, bin ich doch hier, mein Freund. Ah, Arno schon wieder. Brauchst du schwarze Farbe, stimmt?“

Verdutzt krauste Arno die hohe Stirn.

„Äh, ja, stimmt. Woher weißt du das?“

„Ein guter Verkäufer denkt mit, setzt sich rein in den Kunden.“

„Versetzt.“

„Was?“

„Es heißt, versetzt sich in den Kunden.“

„Jawoll, Herr Lehrer.“ Jacek salutierte. „Komm mit nebenan, probier den Wodka, neue Ladung aus Polen, echte Leberspülung.“

Arno ließ sich nicht lange bitten, schließlich war Jacek ein anerkannter Wodka-Experte und ein Gläschen konnte nicht schaden.

Der Nebenraum ähnelte eigentlich eher einer Nebenhöhle, war zugleich Lagerraum, Büro, Schlafstelle, Pornokino, Küche, Wettbüro und Wodka-Bar. Hinter einer Mauer aus Pappkartons lag eine Matratze auf dem Teppichboden, darauf ein oranges Knäuel, zweifellos eine Tagesdecke.

An einer freien Wand lehnte ein gut gefülltes und sortiertes Buchregal mit Bildbänden, Ausstellungskatalogen, Werke zur Kunstgeschichte und –theorie, diverse Lexika.

Arno wusste, dass Jaceks umfangreicher Kunstkanon nicht nur aus dekorativen Gründen hier herumstand. Er hatte einmal, eher beiläufig, erwähnt, dass er in den Siebzigerjahren Kunstgeschichte in Warschau studiert habe, dann aber Ärger mit der Partei bekam, worauf er die Hochschule verlassen musste. Er redete nicht gerne darüber und Arno bohrte auch nicht groß nach.

Warum auch? Schließlich war er ja selbst Experte im Scheitern, obwohl er sein Kunststudium an der Hochschule für Bildende Künste durchaus abgeschlossen hatte. Aber was konnte man damit in der Kulturwüste Hamburg schon anfangen?

Unter dem Fenstersims stand eine altmodische Vitrine aus Holz und Glas. Sie enthielt ein beeindruckendes Sortiment an Wodkaflaschen mit und ohne Etiketten. Alles polnische Ware. Die selbst gebrannten Destillate waren im oberen Fach untergebracht, Jaceks ganzer Stolz. Da steckt ganz Polen drin, pflegte er zu sagen und wahrscheinlich meinte er es auch so. Arno fand, es schmecke doch alles ganz ähnlich, nur die Prozentwerte unterschieden sich. Dann rollte Jacek die Augen nach oben, bekreuzigte sich und seufzte kläglich.

„Versündige dich nicht“, zeterte er, der sonst nicht zu Frömmeleien neigte.

Aus einer Langhalsflasche füllte er jetzt zwei Wassergläser jeweils bis zur Hälfte.

Arno fühlte sich schon durch die abgestandene Höhlenluft leicht angeduselt. Es roch nach Zigarettenqualm, Wodka, Schweiß und Sperma. Er öffnete das Fenster, Jacek konnte es nicht verhindern.

„Arno! Soll ich mir holen den Tod?! Schau, wie ich frier. Bin ich ein Eisbär?“

Er schob kurz einen Pulloverärmel hoch und tatsächlich bildete sich auf seinem Arm eine Gänsehaut.

„Jacek, wir haben Hochsommer! Der Schweiß läuft mir in die Augen, sie sind schon entzündet von dem ganzen Salz und du frierst. Sag mir, wie machst du das?“

„Na was, bin ich halt sensibel. Stoßen wir die Frauen und auf die Kunst an.“

Arno hob sein Glas kurz und brummte etwas vor sich hin, dann kippte er sich den Wodka in den Hals. Was war das wieder für ein schräger Satzbau mit den Frauen und der Kunst gewesen?

„Und?“, fragte Jacek.

„Gut“, antwortete Arno.

Damit war das Thema Wodka-Qualität für heute erschöpfend geklärt. Jacek schien zufrieden, Arno war nicht unzufrieden.

Eine bunte DVD-Hülle lachte ihn an, viel mehr waren es ein paar spärlich verhüllte Damen, die das Cover zierten. Muckeln hinter Klostermauern. Aha. Er besah sich auch die Rückseite, sie sah aus wie die Vorderseite.

„Und?“, fragte Arno, mit der DVD wedelnd.

„Gut“, antwortete Jacek, während er aus einer eher untypischen Tintenfassflasche Wodka nachfüllte. Dann hielt er sein Glas gegen das Licht.

„Klar wie Wasser, ganz rein, siehst du? Salute.“

„Noch ist Pooolen nicht verloooren“, dröhnte Arno, einem plötzlichen Impuls folgend, mit feierlicher Stimme und Jacek stieß einen wiehernden Laut aus.

Nun wurde es doch wieder später, wie meistens, wenn er zu Jacek ging. Wahrscheinlich würde er heute keine Lust mehr verspüren, an seinem Bild weiter zu malen, wenn er nach Hause kam.

Irgendetwas hatte Jacek an sich, das Arno immer wieder

in den Bann zog. Ständig zauberte er neue Ideen aus dem Zylinder, eine absonderlicher als die andere, aber faszinierend und eben auch einnehmend.

„Pass auf, Arno, hab ich neue Wettidee“, verkündete er mit wichtiger Miene, wobei er mit Daumen und Zeigefinger ein Bartende zwirbelte.

„Bitte nicht“, stieß Arno hervor.

„Na, ist sich gut überlegt, mein Freund. Private Lotterie, du verstehst. Heißt Finanzcrash-Tops, na, wetten wir, welche Autokonzern erst pleite ist, Opel, Ford, Volvo, Saab, Peugeot, GM? Kannst du nicht wissen bei dem Chaos, macht Wette spannend. Gibst du 50 Euro Einsatz, kriegst du 5000 raus.“

„Echt? So viel?“

„Musst du vorher gewinnen, ist klar. Machen schon zwanzig Leute mit, tippen fast alle Opel. Hundert, sagen wir, zweihundert Spieler wären gut. Finde ich noch, kein Problem.“

Arno zweifelte keine Sekunde daran, dass Jacek, wenn er wollte, auch die doppelte Anzahl an Mittippern auftreiben könnte. Irgendwie musste das Geld ja auch zusammen kommen.

„Jacek, hat dir schon mal jemand gesagt, wie unmoralisch du bist?“

„Na, hast du schon oft gesagt, hast du doch mitgespielt, ich erinnere.“

„Gut, beim Goldhamster-Marathon. Eine Ausnahme ...“

„Und beim Joghurt-Wettessen auch, ich erinnere. Wo Harry mit Deckel vom Becher die Zungenspitze abgeschnitten hat, ich erinnere. Hat er mit Blut den ganzen Laden eingesaut, Frauen haben geschrien und gekotzt ...“

„Hör bloß auf, Jacek. Eine infernalische Wette! Wer kann auch ahnen, dass Harry dermaßen blöd ist? Gemetzel beim Joghurtessen ich bitte dich!“

„Na siehst du.“

„Hm. Aber bei Finanzcrash-Tops wartest du nur darauf, dass das Unternehmen in die Grütze geht, auf das du gewettet hast. Denkst du gar nicht an die vielen Arbeitsplätze?“

„Nein. Warum?“

„Arbeitslosigkeit, Armut, Wasser und Brot...“

„Kann ich hindern? Bauen sie Windräder und Fahrräder, schmilzt der Nordpol nicht, freut sich Polarfuchs, Arno, musst du so denken.“

Arno seufzte laut. Er ahnte, dass er gegen die praktischen Überlegungen des Freundes nicht ankommen würde, vielleicht wollte er es auch gar nicht.

Feindliche Sektoren

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