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2. Feindliche Sektoren

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Arno saß am Küchentisch.

Arno dachte an gestern, es bereitete ihm Mühe.

Arno hatte den Kopf in den Nacken gelegt, auf der Stirn klebte ein nasser Waschlappen, durch den Jaceks Wodka aus seinem Körper verdampfte.

Arno hatte einen Ordner und einen Kugelschreiber vor sich liegen. Daneben breitete sich eine ganze Batterie an Tuben mit schwarzer Ölfarbe aus. Wie schön. Jacek, die einzig gute Seele, musste ihm das Zeug mitgegeben haben. Wahrscheinlich hatte er es auf die große Rechnung gesetzt und irgendwann würde dann das dicke Ende kommen, aber immerhin war jetzt an die Fertigstellung des Bildes zu denken. Mit einer einzigen Tube konnte er bis zu dreiundachtzig Dreiecke malen, wusste Arno.

So langsam meldeten sich auch die Erinnerungen zurück. Stück für Stück sammelte das Gedächtnis alle Widrigkeiten des vergangenen Tages ein, bereitete es das Material für die abschließende Evaluation auf: Versicherungsheinis, Punks, Bulgaren, Kinderretter.

Permanente Belästigungsfaktoren, allerdings mit graduellen Unterschieden auf der Belästigungsskala von 1 bis 7.

Alles musste erfasst und durch Archivierung für die Nachwelt gesichert werden. Arno wusste nicht genau, ob sich eine interessierte Nachwelt überhaupt finden ließe, dessen ungeachtet würde er seine Aufzeichnungen aber auf jeden Fall fortführen. So wie ein Tagebuchschreiber auch immer weiter schreibt, mechanisch, lustlos, preußisch pflichtbewusst, wie ein Getriebener. So verhielt es sich mit Arno auch. Schließlich hört man nach Jahren akribischer Feldforschung nicht einfach damit auf. Nach seinem Tod sollten die Dokumente einer wissenschaftlichen Institution zugeeignet werden. Lange würde Gevatter Tod ohnehin nicht mehr auf sich warten lassen, so, wie man sich ständig herumärgern musste.

Sein Material musste doch eine wahre Fundgrube für einen ganzen Stab interdisziplinär ausgerichteter Verhaltensforscher aus aller Welt sein. Präzisere Aufzeichnungen über das Problem menschlicher Unzulänglichkeiten würden sie nirgendwo sonst finden.

Arnos Antennen waren sehr fein justiert. Er witterte noch die entfernteste Andeutung einer Anspielung, zartest gesponnene Äußerungen veranlassten ihn zu den verwegensten Mutmaßungen. Gerade die sublimen sprachlichen Konstruktionen boten Raum für versteckte Boshaftigkeiten, da musste man höllisch auf der Hut sein. Ehe man es sich versah, wurde man zum Deppen gemacht, oder sonst wie angefeindet.

Ach, es war wie im Krieg, wie in einem permanenten Feldzug, jeder gegen jeden.

Vertrauen = Illusion = gar nix.

Trittst du vor die Haustür, stehst du mitten im Kampfgebiet.

Da heißt es, Arschbacken zusammengekniffen und durch. Gehässiger sein als die Gehässigen, übler sein als die Üblen, wehrhafter sein als die Stinkstiebel da draußen. Vor allem: Schlau musste man sein, seine Feinde kennen musste man, ihre verschlagene Art, ihre Gewohnheiten, ihre Standorte und Schützengräben.

Genau damit beschäftigte sich Arno systematisch.

Er hatte die beiden Nahverkehrstarifzonen, innerhalb derer sich sein Leben vollzog, in acht feindliche Sektoren (FS) untergliedert, eine Kartierung des gemeinsamen Sozialraums angelegt. Dafür hatte er sich viel Zeit genommen, damals, vor mehr als zehn Jahren. Sorgfältig hatte er die Straßenzüge festgelegt, die als Sektorengrenzen die Quartiere und Stadtteile voneinander trennten und sie als innerhalb oder außerhalb in Beziehung setzten.

Beginnend mit seinem unmittelbaren Wohnquartier hatte Arno Ottensen in vier feindliche Sektoren, FS I – IV, unterteilt. Östlich daran schlossen mit FS V und FS VI zwei Altonaer Zonen an. Altona-Nord blieb dabei gänzlich unberücksichtigt, denn nördlich der Stresemannstraße begann für ihn bereits Terra incognita. FS VII war St. Pauli vorbehalten, im Süden zwischen St. Pauli Fischmarkt und den Landungsbrücken, im Norden bis zur Sternbrücke hoch. Schließlich wurden unter FS VIII das Schanzenviertel, die Neustadt und die Hamburger Innenstadt zusammengefasst, es war mit Abstand der größte Sektor. Er lag am weitesten von seinem Hinterhof entfernt und musste deshalb nicht so differenziert aufgegliedert werden. Er war hier auch nicht täglich unterwegs.

Für jeden der Sektoren hatte Arno einen Ordner angelegt, in dem er alle Beleidigungen, Anfeindungen, Demütigungen und asozialen Verhaltensweisen per Gedächtnisprotokoll niederlegte, sein Archiv menschlicher Unzulänglichkeiten (AmU). Da war schon einiges zusammen gekommen in all den Jahren, oh ja.

Sein Heimatsektor FS I war am häufigsten vertreten. Klar, dicht besiedeltes Wohngebiet, viele Menschen auf engstem Raum, da entstand eben Zoff. Zudem hielt Arno sich hier auch am meisten auf, sodass die Wahrscheinlichkeit in unangenehme Situationen verwickelt zu werden, hier besonders hoch war.

Der Ordner FS I war also gut gefüllt. Von der ewig pöbelnden Supermarktkassiererin bis zum pathologischen Taubenfütterer, vom, bis zum Anschlag aufgedrehten Autoradio hormonell verseuchter Halbstarker, bis zum, vor sich hingammelnden ALDI-Einkaufswagen auf dem Gehweg, umfunktioniert zur rollenden Müllkippe. Es stank zum Himmel, aber keiner fühlte sich zuständig. Man war liberal. Wer den Mund aufmachte, war der Spießer des Monats. Jeder durfte hier alles und Viele machten davon Gebrauch.

Arno fühlte sich alt. Er konnte sich nicht erklären, dass er noch kein einziges graues Haar gefunden hatte, so oft er auch nachsah. Er hatte einmal gelesen, dass es Menschen gab, die morgens aufwachten und ihr Haar hatte sich über Nacht grau verfärbt. Auf einen solchen Morgen wartete er täglich, aber er kam nicht. Arno konnte nicht so aussehen, wie er sich fühlte, und das irritierte und erboste ihn in gewisser Weise auch. Er wollte der Welt zeigen, was für einen Graukopf sie aus ihm gemacht hatte, wollte gerne als wandelnder Vorwurf durch das Viertel gehen. Es wäre ihm eine Genugtuung gewesen, auch, wenn es außer ihm vielleicht keiner verstanden hätte.

Über eine hagere Gestalt verfügte er schon, aber sein Kopf wirkte einfach nicht alt genug, die Falten zerfurchten das Gesicht nicht tief genug, der Bartansatz war nicht stachelig genug, die Zähne nicht verfärbt genug. Alles war einfach nicht genug. Er sah aus wie vierzig. Andere würden sich freuen, vermutete Arno, ich nicht. Man ist so alt, wie man sich fühlt, hieß es. Welcher Homo Schwachmaticus denkt sich solche Sprüche aus?! Ich sehe aus wie vierzig, fühle mich wie siebzig, tatsächlich bin ich zweiundfünfzig. Nicht mal auf die Zeit kann man sich noch verlassen. Vielleicht vertickt sie für jeden anders, wer weiß? Wie soll ich mich erst mit siebzig fühlen? Wie eine Schildkröte? Wahrscheinlich erlebe ich den Siebzigsten sowieso nicht. Zwar ist das Herz noch tadellos in Ordnung, auch der Kreislauf läuft normal im Kreis, und auch von Magengeschwüren bin ich unverständlicherweise verschont geblieben, aber so was kann sich schnell ändern.

Als führte der Körper ein Eigenleben, als hätte er sich nicht dem Geist unterzuordnen. So sollte es sein: der Körper als Spiegel des Geistes, nicht andersrum. Dieses gnostische Element sollte allgemein anerkannt werden, fand er, auch durch den Körper.

Apropos Körper, dachte Arno, langsam gehts wieder.

Er zog vorsichtig den Waschlappen von der Stirn und drehte den Kopf hin und her. Jaceks Wodka hatte es in sich, aber man konnte sich relativ schnell von dem Zeug erholen. Das sprach für Qualität. Also gut.

Die nächste halbe Stunde widmete er sich seiner Falldokumentation. Mit geübter Hand beschrieb er zwei DINA 4 Seiten, achtete dabei sorgfältig auf das Schriftbild. Schließlich sollten die Ordner einmal in fremde Hände gehen, da sollte man sich nicht durch Krakeleien in ein schlechtes Licht setzen. Er lochte die beiden Blätter und heftete sie in den Leitzordner. Die aktuellsten Dokumente befanden sich immer obenauf, das hatte sich bewährt.

Jetzt knurrte ihn sein Magen an, der Frühstückshunger meldete sich. Kein Wunder, hatte Arno doch seit gestern Mittag nichts mehr gegessen.

Also machte er sich auf den Weg zum Bäcker, oder sollte man eher von einer Brötchenaufbackstation sprechen? Wahrscheinlich würde ein richtiger Bäcker nie einen Fuß in diese immer gleichen Filialläden setzen, in der nur noch vorgefertigte Rohlinge aufgeheizt werden. Auch egal, dachte er, Hauptsache billig.

Am Straßenrand stapelten sich Zeitungspacken, also musste Dienstag sein. Nur dienstags wurde das Altpapier abgeholt.

Und typisch! Da waren wieder jede Menge Stapel zu sehen, die durch ausgediente Nylonstrumpfhosen zusammengehalten wurden. Es sah unmöglich aus, ein echter Abtörner.

An sich ein überaus erotisches Accessoire an schlanken Frauenbeinen, wirkte sie in ihrer neuen Funktion als Paketschnur einfach nur albern und scheußlich. Scheußlich unsexy. Wahrscheinlich war das die Rache alter Frauen für ihren eigenen lust- und ereignislosen Alltag. Den Anderen sollte gefälligst auch die Lust vergehen! Wer weiß, vielleicht huschten zahnlose Alte gerade hinter vergilbten Gardinen hin und her, vielleicht warteten sie gespannt auf die Papiereinsammler und deren Reaktion. Die würden sich natürlich nichts anmerken lassen, schließlich kannten sie schon alles.

Frischer Brötchenduft waberte jetzt durch die Friedensallee und Arnos Heißhunger steigerte sich minütlich.

Endlich das überdimensionierte Schild über der schmalen Eingangstür: Fietes Backteam.

Die Verkäuferin hatte er hier noch nie gesehen, musste wohl Meister Fietes Neuerwerbung sein.

„Moggääään“, krähte sie, als er eintrat.

Mein Gott, was ist denn das, durchfuhr es ihn. Stimme wie ein Klingelton und tatsächlich griffen einige Kunden reflexartig nach ihrem Handy.

Als Arno an der Reihe war, fragte sie:

„Bitte, der Herr?“

„Zwei Brötchen bitte.“

„Normale?“

„Ja, ganz normale.“

„Wie viel insgesamt?“

„Na zwei.“

„Also zwei. Schrippen oder Rundstücke?“

„Wo ist der Unterschied?“

„Schrippen sind, äh, Schrippen und Rundstücke sehen rund aus.“

„Aha. Nehme ich Rundstücke.“

„Mehr helle oder dunkle, knusprige?“

Arno fixierte die Verkäuferin ein paar Sekunden lang, wobei seine Augen sich sukzessive in Sehschlitze verwandelten. Das Namensschild auf ihrer voluminösen Brust wies sie als Frau Zippel aus.

„Ein helles und ein dunkles, knuspriges, liebe Frau Zippel“, flötete Arno angestrengt.

„Gemehlt oder ungemehlt?“

„Ich will 2 scheißnormale Brötchen haben, himmelarschnochmal, keine Anlageberatung!“, bollerte es aus ihm heraus.

„Gott jaaaa, man fragt ja nur mal ...“, entgegnete Frau Zippel mit eingeschnappter Klingelstimme. Dann verstaute sie das Gebäck endlich in eine Papiertüte und verlangte achtundfünfzig Cent. Die bekam sie. Eine Greisin blaffte:

„So ein Rüpel.“

Arno griff sich die Tüte und hastete aus dem Laden.

„Ja, nee, so ein Rüpel aber auch“, hörte er sie noch keifen.

Die Hitze machte Arno arg zu schaffen. Schon am frühen Vormittag ging es los mit der unappetitlichen Schwitzerei, kaum, dass er aus der Duschkabine trat. Das würde sich dann bis tief in die Nacht fortsetzen, es wollte einfach nicht richtig abkühlen.

Für seine Malerei war das helle, sonnige Tageslicht zwar gut, aber das war auch der einzige Vorteil. Im Moment wünschte er sich in ein Eisbärland, mit Eisschollen und Packeis und mit klirrender Kälte. Überhaupt fand Arno, dass er als Hamburger ein natürliches, quasi angeborenes Recht auf schlechtes Wetter hatte. Früher war es besser gewesen, da konnte man sich auf normales Schietwetter verlassen, eine natürliche Konstante im Leben. Jetzt war es doch so, dass jedes Jahr neue Hitzerekorde gemessen wurden, man konnte sich ja kaum noch dagegen schützen. Bald wird die Stadt versanden, sich in eine Wüste verwandeln, argwöhnte er. Aus Sankt Pauli würde Sand Pauli werden und es sähe dann aus wie in Mexiko, na, man dankt.

Die Fenster der Remise gingen nach Westen raus. Eigentlich noch zu früh zum arbeiten, da es doch gerade erst kurz nach zwölf war. Erst etwas später würde das Sonnenlicht das Atelier optimal ausleuchten, was den Schwarz-Weiß-Kontrast seines Gemäldes dann auch so richtig zur Geltung bringen würde.

Ach, was soll´s, überlegte Arno, was soll ich mich nach der Sonne richten, ich fange jetzt an.

Auf der hölzernen Staffelei stand sein unvollendetes Werk, 80 mal 60 Zentimeter geballte Kunst. Zweigeteilt, linke Seite Dreiecke, nur Dreiecke, nur die Außenlinien, der Innenbereich weiß, ineinander verschränkt. Rechte Seite komplett leer, alles weiß, Titanweiß, weißer gings nicht.

Arno baute sich vor der Staffelei auf, wiegte den Kopf hin und her, dachte nach, führte den rechten Zeigefinger zum Mund, ging ein paar Schritte nach links, ging in die Hocke, betrachtete sich das Ganze aus der Froschperspektive, erhob sich, machte ein paar Schritte nach rechts, krauste die Stirn, stemmte die Hände in die Seiten, verzog den Mund, machte einen Schritt nach vorne, dann zurück, kratzte auf seinem Kopf herum und generierte schließlich einen Laut, der sich anhörte wie hmmm, hmmm. War es das? Ja, eigentlich schon.

Die vielen Dreiecke beruhigten ihn. Es waren klare, geometrische Figuren mit drei Ecken. So was konnte nicht schlecht sein, drückten sie doch eine morphologische Klarheit, ach was, Klarheit, Reinheit aus, die jeder Kritik mühelos standhalten würde. Für seinen Stil hatte er den Begriff Triangulismus entwickelt. Das Dreieck stand für ihn als Symbol des Absoluten, des Göttlichen, der Trinität von

Vollkommenheit, Makellosigkeit, Unfehlbarkeit,

oder auch für

Einfachheit, Sachlichkeit, Klarheit.

Widersprüchlichkeit, Indifferenz, Zweifel und all so was hatten in der Kunst nichts zu suchen.

Zweifel = Nichtfischundnichtfleisch = gar nix.

Da legte sich jäh ein fetter Schatten über die Leinwand, dann hörte Arno auch schon ein nervöses Trommeln auf der Fensterscheibe.

Pinzke. Wer sonst? Nur Pinzke hatte diese idiotische Angewohnheit, erst durchs Fenster zu glotzen, um dann darauf herumzuklöppeln. `Wozu hab ich eigentlich eine Klingel, verdammt´, fluchte Arno in sich hinein.

Der Vermieter zeigte sein debilstes Grinsen und gestikulierte dabei herum wie ein Rumpelstilzchen. Es nützte nichts, Arno musste die Tür öffnen, sich in seiner Konzentration stören lassen, seine kreative Tagesphase von Pinzke, dem Kampfschwätzer, entwerten lassen. War es denn zu fassen? Die Kopfhaut machte sich jetzt stärker bemerkbar, kribbelte wie verrückt. Er setzte sämtliche Finger und Daumen ein um Abhilfe zu schaffen, aber er ahnte, dass es nicht viel bringen würde.

Mit einem kräftigen Zug riss er die Haustür auf, sodass ihm ein Luftschwall entgegen strömte. Der Alte trat einen Schritt zurück, zog dabei den Kopf ein, als befürchtete er Schläge.

„Und? Was gibts?“, kam Arno gleich zur Sache.

„Moin, Herr Unfried. Freundlich wie immer, ich seh schon.“

Arno deutete mit spitzem Zeigefinger auf den schwarzen Knopf neben dem Türrahmen.

„Wissen Sie, was das ist, Herr Pinzke? Man nennt es Klingel. Man drückt kurz drauf und es macht rrring. Sehen Sie, so.“

Er machte es vor und es schrillte penetrant.

„Hört sich ja grässlich an, sachichmal“, urteilte sein Gegenüber trocken, „kann ich kurz reinkommen?“

„Nein.“

„Na denn. Also. Ich hab mir gedacht, dass im Haupthaus drüben mal der Eingangsbereich n´büschen Farbe vertragen könnte, näch. Der letzte Anstrich ist zwar erst zwanzig Jahre her, aber ichsachma, tust du den Leuten ma was Gutes an, näch, freun sich alle. Na ja, vielleicht nich alle ...“ Dabei sah er Arno mit abwägendem Blick in die Augen, bevor er fortfuhr:

„Tja. Denk ich mir, da ist doch unser Herr Unfried, der kleckst doch gern mit Farbe rum, hä, hä. Oh, oooh, immer cremig bleiben, Herr Unfried, nix für ungut, näch, kleiner Scherz. Spaß muss sein, sachichimmer. Ja nu, denk ich mir, wo der Herr Unfried ja auch so ne Art Hausmeister ist und so fix mit dem Pinsel zugange, näch, holst du´n Eimer Farbe und gut. Mal was frisches, sachichma, näch, was Jugendliches, nimmst du pink, oder wie das heut auf neumodisch heißt. Sagen Sie ma, Sie ham doch wohl keine Läuse oder was?“

Arno stierte Pinzke frontal ins Gesicht, fassungslos, hilflos, vielleicht auch etwas irre. Der erwiderte den Blick mit aufmerksamer, wacher Miene. Dabei ließ er sein bräunlich gefärbtes, nikotingegerbtes Gebiss ein wenig aus dem Mund gleiten, bevor er es mit einem schmatzenden, schnalzenden Geräusch wieder in seine angestammte Position navigierte. Die Gebissfarbe wies in etwa die gleiche Färbung auf wie die Bröckelputzfassade des Haupthauses. Da wächst zusammen, was zusammengehört, kam es Arno in den Sinn. Mann und Haus in perfekter Symbiose.

Im ersten Stock hüpfte ein geschlechtsloses Papierwindelwesen auf dem Balkon herum, weit und breit keiner, der es daran hinderte. Jetzt hängte es sich auch noch an das Geländer, aber die Kraft reichte erfreulicherweise nicht mal für einen halben Klimmzug. Zornig stampfte das Wesen mit dem Fuß auf, bevor es hölzerne Wäscheklammern auf den Hof schmiss. Pinzke wich geschickt aus.

„He, da oben, ich komm gleich ma hoch, näch“, drohte er, „lütte Kackmaschien.“

Es wirkte. Das Wesen stellte das Bombardement unverzüglich ein. Nicht schlecht, anerkannte Arno insgeheim, diplomatisches Meisterstück. Muss ich mir merken.

Jetzt wandte sich der Alte ihm wieder zu.

„Im Kriech hatten wir an der Front alle Läuse. Sackläuse. Da musst du den ganzen Körper kahl rasieren, näch, und dann hilft nur eins: Mit brühwarmer Pisse einreiben! Das hilft, kannst mir glauben. Ja, da guckst du mich mit großen Augen an, min Jung, aber isso.“

Dabei hatte Arno ihn keineswegs angeguckt, im Gegenteil. Er hielt die Augen geschlossen, während sich die Mundwinkel vor Ekel steil nach unten bogen.

„Hören Sie mal zu, Herr Pinzke“, knarzte er. „Punkt eins: Ich hab keine Läuse! Punkt zwei: Seit wann duzen wir uns? Punkt drei: Ich bin Kunstmaler, Künstler, verstehen Sie, kein Anstreicher. Punkt vier: Pink ist eine Schweinefarbe! Punkt fünf: Sie bringen mich noch unter den Rasen mit ihrem Geschwalle!“

Pinzke hatte seine Arme vor der Brust verschränkt, wahrscheinlich war er etwas mucksch. Auch sah es so aus, als ließe er sein Gebiss wie eine Schiffsschraube in seinem Mund rotieren. Der wird auch immer abartiger, zuckte es Arno durch den Schädel, was mag wohl in ihm vorgehen?

Der Alte fing sich rasch.

„Punkt eins“, schwadronierte er schließlich, „wenn sie Bilder malen können, können sie auch einen Hauseingang anpinseln, sachichma. Punkt zwei: Schließlich machen sie hier auch den Hausmeister, näch. Punkt drei: Ich duz dich doch nicht, hörma. Punkt vier: Pink ist prima. Punkt fünf: Vielleicht würde ich bei der Mieterhöhung mit mir reden lassen ...“

„Wie jetzt, Mieterhöhung!“, kreischte Arno. „Sie haben doch erst vor zwei Jahren zugelangt, Sie Aasgeier!“

„Na, na, na, Meister Klecks ...“

„Raffke.“

„Pinselquäler.“

Arno musste vorläufig passen, verdammt! Wortlos standen sie sich gegenüber, fixierten einander wie rauflustige Kater. Erneut regnete es Wäscheklammern vom Himmel, aber diesmal reagierten sie nicht darauf.

Eine Mieterhöhung war das letzte, was Arno jetzt gebrauchen konnte und er wusste, Pinzke würde ernst machen. Der war so übel, dass es sich lohnen würde, für ihn einen eigenen Ordner anzulegen. Er bildete praktisch einen eigenständigen feindlichen Sektor, einen mobilen FS auf zwei Beinen sozusagen, war als Einzelgestörter sogar schlimmer als zum Beispiel der gesamte FS IV. Arno verspürte eine gewisse Mutlosigkeit in sich hochwallen.

„Sagen wir schwarz. Oder weiß?“, versuchte er einen Deal.

„Schwarz sieht aus wie Kohlenkeller und weiß wie Krankenhaus.“

„Also gut, von mir aus ein leuchtendes, lebensbejahendes ... grau?“

„Nee, grau sieht aus wie tote Ratte, pink ist besser“, befand der sture Hausbesitzer.

„Von pink kriege ich Pickel, Mann!“

„Die Farbe hab ich schon gelöhnt, die kipp ich doch jetzt nich ins Klo. Tust dich schon dran gewöhnen, pass ma auf, Herr Unfried.“

Arno stieß erst den Kopf gegen den Türrahmen und dann einen Fluch aus, an den Pinzke hoffentlich noch lange denken würde.

Feindliche Sektoren

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