Читать книгу Philosophie des Todes - Héctor Wittwer - Страница 4
[7]Einleitung
ОглавлениеDer Tod gehört zu den Themen der Philosophie, die wohl niemandem gänzlich gleichgültig sein dürften. Man kann im Alltag ohne Weiteres zurechtkommen, ohne sich jemals mit Fragen der Metaphysik, der Erkenntnistheorie oder auch der politischen Philosophie zu beschäftigen. Aber die meisten Menschen kommen im Verlauf ihres Lebens nicht umhin, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Die Anlässe dafür können verschiedener Art sein: Der Tod eines geliebten Menschen kann genauso zum Nachdenken über die Sterblichkeit anregen wie eine schwere Krankheit oder ein runder Geburtstag in fortgeschrittenem Alter, an dem man vielleicht bilanziert, welche der eigenen Ziele man bisher erreicht hat und was man in der verbleibenden Lebenszeit noch schaffen kann. Die Beschäftigung mit dem Tod wird spätestens dann unumgänglich, wenn einem bewusst ist, dass das eigene Ende naht.
Angesichts der existenziellen Bedeutsamkeit des Todes verwundert es nicht, dass er zu allen Zeiten Gegenstand des philosophischen Nachdenkens war. Zwar wäre die Behauptung übertrieben, dass der Tod zu den wichtigsten Themen der Philosophie gehört; er zählt aber zu den Themen, die in der gesamten Philosophiegeschichte erörtert wurden – und das gilt nicht für alle Themen der Philosophie. Dass dabei die Fragen und Erkenntnisinteressen, mit denen man sich in den verschiedenen Epochen dem Gegenstand näherte, variierten, dürfte nicht überraschen.
Wenn man die philosophischen Probleme, die unsere Sterblichkeit aufwirft, systematisiert, lassen sich mindestens vier Themenfelder unterscheiden.
[8]Erstens ist zu klären, was der Tod ist. Hier geht es darum, den Begriff des Todes zu analysieren. Ist der Tod das endgültige und vollständige Ende unserer Existenz, oder werden wir nach dem Tod auf irgendeine Weise fortexistieren? Diese Frage, die meist als Frage nach der Unsterblichkeit der Seele aufgefasst wurde, stand jahrtausendelang im Mittelpunkt der philosophischen Diskussionen über den Tod. Heute spielt sie jedoch aus Gründen, die später dargelegt werden, nur noch eine untergeordnete Rolle.
Zweitens wurde in der modernen Philosophie die Frage aufgeworfen, woher der einzelne Mensch weiß, dass er sterben wird, und ob überhaupt alle Menschen notwendigerweise sterben werden. Max Scheler hat diese beiden Probleme der »Erkenntnistheorie des Todes« zugerechnet.1 Bei der ersten Frage gingen die Meinungen auseinander. Während einige Denker die Auffassung vertraten, dass ein Mensch nur durch Erfahrung zu der Einsicht gelangen könne, dass er selbst sterben muss, behaupteten andere, dass es eine apriorische oder intuitive Todesgewissheit gebe, das heißt, dass auch ein Mensch, der niemals den Tod eines anderen Lebewesens erlebt hätte, wüsste, dass er eines Tages sterben wird. Die Erkenntnisse, zu denen die empirisch arbeitende Entwicklungspsychologie in den letzten Jahrzehnten gelangt ist, lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass das Wissen um die eigene Sterblichkeit nicht angeboren ist, sondern erworben wird. Kinder gelangen schrittweise zu einem vollständigen Verständnis des Begriffs »Tod«, und sie müssen lernen, dass alle Menschen, sie selbst eingeschlossen, sterben werden.2
Bei dem zweiten Problem innerhalb der Erkenntnistheorie des Todes, der Frage, ob jeder Mensch [9]notwendigerweise sterben wird, handelt es sich um eine Spielart eines skeptischen Arguments, das auf den britischen Philosophen David Hume (1711–1776) zurückgeht: Lassen sich empirische Allaussagen rechtfertigen? Bisher, so könnte man im Anschluss an Hume argumentieren, sind zwar viele Menschen gestorben. Folgt aber daraus, dass alle jetzt und später lebenden Menschen ebenfalls sterben müssen? Nicht notwendigerweise. Möglicherweise weilt ja der erste Unsterbliche bereits unter uns. Wie alle skeptischen Argumente, so lässt sich auch dieses Argument nicht widerlegen. Grundsätzlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Mensch niemals sterben würde. Weil aber Menschen durch Herzinfarkte, Krankheiten, Unfälle oder Ähnliches getötet werden können und weil sie darüber hinaus altern und ihre Widerstandskraft nachlässt, ist dies höchst unwahrscheinlich.
Das dritte Themenfeld umfasst eine Reihe von Fragen, die alle mit unserem Verhältnis zum jeweils eigenen Tod zusammenhängen. Ist Unsterblichkeit wünschenswert? Ist der Tod ein Gut oder ein Übel oder keines von beiden? Ist es vernünftig, den eigenen Tod zu fürchten? Wie sollte man sich zum bevorstehenden Tod verhalten? Wie wirkt sich die Tatsache, dass wir um unsere Sterblichkeit wissen, auf die Lebensführung aus? Besonders häufig wurde in diesem Zusammenhang die Todesfurcht thematisiert, weil sie von vielen Menschen als besonders bedrückend erlebt wird. Deshalb haben Philosophen häufig versucht, sich selbst und andere durch Argumente von der Furcht vor dem Tod zu befreien.
Schließlich wirft viertens die Tatsache, dass Menschen sterblich sind und getötet werden können, zahlreiche [10]moralische Fragen auf. Welcher moralische Status kommt einem Leichnam zu? Lassen sich Pflichten gegenüber Verstorbenen begründen? Ist es moralisch erlaubt, sich selbst zu töten? Darf man einem lebensmüden Menschen dabei helfen, seinem Leben ein Ende zu setzen? Lässt sich die Todesstrafe rechtfertigen? Wie steht es um Tötungen im Krieg oder durch sogenannte terroristische Akte? Welche Gründe sprechen für und gegen die Abtreibung? Darf man den Tod Unschuldiger in Kauf nehmen, um eine große Anzahl von Menschen zu retten?
In dieser Einführung werden nicht alle der genannten Fragen behandelt. Das wäre im Rahmen eines so schmalen Bändchens auch gar nicht möglich. Stattdessen habe ich einige der meiner Meinung nach wichtigsten Probleme ausgewählt. Sie werden im Folgenden exemplarisch anhand einflussreicher philosophischer Werke vorgestellt. Dabei geht es mir vor allem darum, die Leserinnen und Leser mit den wichtigsten Thesen und Argumenten innerhalb der Philosophie des Todes vertraut zu machen. Es versteht sich von selbst, dass die Auswahl, die ich getroffen habe, nicht unabhängig von meinem Urteil darüber ist, welche Denker und Argumente zum Kanon der philosophischen Thanatologie gehören.
Der Autor einer Einführung sollte meines Erachtens versuchen, die gegensätzlichen Positionen, die sich in der Geschichte der Philosophie und in den gegenwärtigen Debatten ausmachen lassen, möglichst fair darzustellen. Er sollte so in die Thematik einführen, dass die Leserinnen und Leser sich selbst ein Urteil über die erörterten Fragen bilden können. Darum habe ich mich zumindest bemüht, und zwar auch in Bezug auf die Probleme, zu denen ich [11]selbst an anderer Stelle dezidiert Stellung genommen habe. Es ließ sich aber nicht vermeiden, sondern war vielmehr beabsichtigt, dass einzelne Argumente einer kritischen Prüfung unterzogen werden und dass die Schwächen bestimmter Auffassungen deutlich gemacht werden.
Selbstverständlich kann eine Einführung in die Thematik nicht die Lektüre der Quellen ersetzen. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, den einen oder die andere dazu anzuregen, die klassischen Texte zur Philosophie des Todes selbst zur Hand zu nehmen und zu studieren. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass man in der philosophischen Thanatologie ebenso wie in allen anderen Teildisziplinen der Philosophie zu allgemein gültigen Aussagen gelangen kann, scheint es mir unbestreitbar zu sein, dass das Verhältnis zum Tod nicht unabhängig von der individuellen Eigenart des Einzelnen ist. Letztlich muss sich jeder Mensch auf seine Weise seinem eigenen Tod und dem seiner Nächsten stellen.