Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil I) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 5

Amtmanns Käthe

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Inhaltsverzeichnis

„Siehst du denn die Notwendigkeit nicht ein, Georg?“

„Ja doch, Mutter, du hast Recht, das muss ich zugeben.“

„Nun also! So lass mich nicht immer wieder vergeblich reden. Es hilft nichts, ich kann nicht mehr so wirtschaften, wie ich möchte. Das ist ja kein Wunder. In kurzer Zeit habe ich die Siebzig erreicht. Kurz und gut, du musst wieder heiraten, eine Frau gehört auf den Brandnerhof, die mit jungen, frischen Kräften für mich einspringt.“

Die alte Dame mit dem klugen, energischen Gesicht holte tief Atem. Sie hatte viel und eindringlich sprechen müssen über ein Thema, das schon oft zwischen Mutter und Sohn erörtert worden war. Nun strich sie mechanisch über das blütenweiße Tischtuch und schob die Krümel, die von dem knusprigen Weißbrot abgesprungen waren, zusammen. Dabei blickte sie zu ihrem Sohn hinüber.

Georg Brandner war ein Mann von gut fünfunddreißig Jahren. Er war groß, schlank und elastisch. Seine Sehnen waren wie von Stahl, sein Gesicht markant und wettergebräunt.

Mit einem tiefen Seufzer schob er den Frühstücksteller zurück und strich nervös über das kurz gehaltene dunkle Haar.

„Also, in Gottes Namen denn, Mutter. Du lässt mir doch keine Ruhe.“

Frau Anna Brandner richtete sich rasch empor, und ihre ausdrucksvollen grauen Augen strahlten freudig auf.

„Wirklich, Georg, ich darf dich beim Wort nehmen? Du willst endlich deinen Widerstand aufgeben?“

Er lachte, halb verärgert, halb humorvoll.

„Wollen? Nein, Mutter. Aber es gibt ein stärkeres Etwas als meinen Willen – das Muss. Und weil das stärker ist, füge ich mich denn, aber schweren Herzens, das kannst du mir glauben. Leicht wird es mir nicht, eine zweite Ehe einzugehen nach den schlechten Erfahrungen, die mir die erste brachte.“

Anna Brandner seufzte leise.

„Ja doch, das glaube ich dir. Aber an diesen Erfahrungen warst du zum Teil selbst schuld, mein Sohn. Du hattest gewählt, ohne zu prüfen. Das rächt sich immer. Es ist mir heute noch rätselhaft, wie du eine solche Frau auf den Brandnerhof bringen konntest – einen Irrwisch, ein flatterhaftes, leichtfertiges Geschöpf ohne inneren Wert.“ Leiser Vorwurf zitterte in ihrer Stimme, wie immer, wenn sie auf ihre ehemalige Schwiegertochter zu sprechen kam.

Georg zog die Stirn düster zusammen. „Ach, Mutter, das kannst du mit deiner gleichmäßigen Ruhe, deinem leidenschaftslosen Temperament nie begreifen. Siehst du, als ich damals zum ersten Mal hinauskam in die große Welt, um mich meinen landwirtschaftlichen Studien zu widmen, kam es über mich wie ein Rausch. Ich war jung, Mutter, und hatte rasches, heißes Blut. Und Lotte war schön und heißblütig wie ich. Sie machte es mir nicht schwer, mich in sie zu verlieben. Dann starb der Vater. Noch ein Jahr lag damals vor mir. Du nahmst hier alles Schwere allein auf deine Schultern, damit ich mein Studium ungestört vollenden konnte.

Als ich dann fertig war … Ja, siehst du, Mutter, da fürchtete ich mich vor der Rückkehr in das alte, ruhige Leben, und ich malte mir aus, wie viel lustiger es auf dem Brandnerhof sein würde, wenn Lotte mit mir kam. So bat ich sie, meine Frau zu werden. Und sie willigte sofort ein.“

„Ja“, sagte seine Mutter mit gutmütigem Spott. „Und da brachtest du mir diese junge Frau ins Haus. Und aus euren Augen leuchtete mir der Vorsatz entgegen: Wir wollen leben und genießen, wollen den Brandnerhof auf den Kopf stellen. Und bitte, bleib uns hübsch vom Leib mit allem, was Pflicht und Lebensernst heißt!“

Georg musste lachen, so treffend hatte die Mutter seine damalige Stimmung geschildert.

„Ja, Mutter, so war es. Ich war bei meiner Heimkehr noch wie berauscht. Aber es war seltsam – hier auf dem Brandnerhof verflog dieser Rausch sehr schnell. Ganz von selbst klärten sich meine verworrenen Gedanken. Ich wurde mir bewusst, dass der Herr vom Brandnerhof nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten hatte. Es machte mir Freude, das Gelernte praktisch verwerten zu können. Der echte Wesenskern der Brandner brach sich Bahn und hielt das rasche Blut von selbst im Zaum. Aber je ruhiger und abgeklärter ich wurde, desto mehr fiel mir nun auf, dass Lotte keine Frau war, die zu mir passte. Möglich auch, dass sie sich nach der Hochzeit anders zeigte, dass sie zuvor Komödie gespielt hatte. Kurzum, ich war bald so weit, meine Verheiratung als einen schweren Missgriff zu bereuen. Ich sah erst verwundert, dann mit heimlichem Entsetzen, wen ich mir da im Rausch der Gefühle an die Seite gestellt hatte. Lotte passte wohl zur Gefährtin eines leichtlebigen, übermütigen Studenten, aber nicht zu der eines Mannes, der sich dem Ernst des Lebens wieder zukehrte. Wie ein Zerrbild erschien sie mir in der Umgebung, in die ich sie leichtfertig verpflanzt hatte. Der Brandnerhof war kein Rahmen für ein Geschöpf wie sie. Sie war als Tochter eines Schauspielers ein anderes Leben gewöhnt. So kam dann, was kommen musste. Ich kann Lotte kaum einen Vorwurf daraus machen, dass sie anders war, als ich sie mir wünschte. Sie war eben das Produkt ihrer Abstammung und Erziehung.“

Die Mutter machte eine abwehrende Bewegung.

„Rede ihr nicht das Wort! Sie hat sich schamlos genug betragen. So tief darf ein Weib nicht sinken.“

„Ich weiß, du hast unter meiner verfehlten Ehe mehr gelitten als ich selbst. Ich habe dich und deine Ruhe deshalb oft bewundert.“

Die alte Dame zog die Stirn wie im Schmerz zusammen.

„Ruhe? Ach, mein Sohn, wie wenig ruhig sah es in mir aus in jener schrecklichen Zeit!“

„Um so bewundernswerter war deine Selbstbeherrschung. Ich habe sie dir gedankt im tiefsten Herzen. Und glaub mir, die zwei Jahre meiner Ehe haben mich schnell genug zum Mann reifen lassen. Als Lotte bei Nacht und Nebel den Brandnerhof verlassen hatte, war ich weit entfernt, Schmerz darüber zu empfinden. Im Gegenteil, ich atmete wie von einem quälenden Bann befreit auf. Es schmerzte nicht, dass sie mit dem Maler, der die Zeit seines Aufenthaltes benutzt hatte, ihr den Kopf zu verdrehen, davongelaufen war. Ich litt nur deinetwegen unter dem Skandal, der durch meine Scheidung heraufbeschworen wurde. Und ich gelobte mir, gutzumachen, was ich dir durch diese übereilte Ehe antat.

So, Mutter, nun wollen wir nicht mehr davon reden und uns bemühen, zu vergessen. Und weil wieder eine Frau auf den Brandnerhof muss und ich diesmal nur der Vernunft bei der Schließung einer Ehe Gehör gebe, deshalb willige ich ein, dass du mir eine Frau nach deiner Wahl zuführst. Ich selbst habe wahrhaftig kein Verlangen nach einer zweiten Ehe. So, wie ich jetzt mehr als fünf Jahre ohne Frau ausgekommen bin, würde ich auch ferner auskommen. Aber du sehnst dich nach Ruhe, nach einer tatkräftigen Hilfe – und nach einer Schwiegertochter nach deinem Herzen. So mag es denn sein, ich füge mich. Und vielleicht fahre ich dabei besser, als wenn ich wieder selbst wähle. Bist du nun zufrieden?“

Die alte Dame beugte sich über den Tisch und fasste seine Hand.

„Sag das nicht so resigniert, mein Sohn! Glaub mir, du wirst wieder aufleben, wirst ein anderer werden, wenn du eine junge Frau neben dir hast.“

Georg seufzte.

„Ich habe nicht eben eine große Meinung von den Frauen.“

„Weil du einmal an eine schlechte geraten bist? Das ist töricht, Georg. Es gibt gottlob ebenso viele gute und tüchtige Frauen wie Männer. Von allen jungen Mädchen, die ich kenne, ist Amtmanns Käthe nicht nur die hübscheste, sondern auch die beste, tüchtigste und ehrenhafteste.“

Georg nagte an seiner Lippe und sah nachdenklich vor sich hin. Er versuchte sich Käthe Suntheim in seinem Haus vorzustellen. Bisher hatte er sie wenig beachtet und kaum anzugeben gewusst, was für eine Farbe ihr Haar und ihre Augen hatten, obgleich er ihr zuweilen begegnet war. Das Haus des Amtmanns Suntheim lag am anderen Ende des Dorfes Brackenfeld.

Was er sonst von ihr und ihren Verhältnissen wusste, war auch nicht eben viel.

Er wusste, dass sie die zweitjüngste Tochter des Amtmanns Suntheim war, der außer ihr noch drei Töchter und zwei Söhne besaß. Der Amtmann hatte eine große Handelsgärtnerei und Baumschule. Sein fünfundzwanzigjähriger Sohn Otto und der einundzwanzigjährige Willy unterstützten ihn in seinem Betrieb. Für seine Frau sowohl wie für seine Töchter gab es reichlich genug Arbeit, da sie neben dem Haushalt für einige Kühe, Schweine und allerlei Geflügel zu sorgen hatten und außerdem bei Gelegenheit tüchtig in der Gärtnerei mit zugreifen mussten. Auch nähten sie sich Wäsche und Kleider selbst und hatten nur ein einziges Dienstmädchen zur Hilfe. Die älteste Tochter hieß Maria und zählte bereits dreißig Jahre. Sie war, wie alle Suntheimschen Kinder, sehr hübsch gewesen, begann aber schon zu verblühen. Die zweite Tochter, Helene, stand im sechsundzwanzigsten Lebensjahr und lahmte ein wenig. Dann kam Käthe, mit einundzwanzig Jahren. Sie war die hübscheste von allen. Das Nesthäkchen der Familie, die fünfzehnjährige Wally, besuchte noch die Schule in der nahen Stadt.

Alles in allem ging es bei Amtmanns ziemlich knapp her. Für die Töchter würde zur Not eine bescheidene Aussteuer beschafft werden können, das war alles.

Aber nach Geld und Besitz brauchte der Besitzer des Brandnerhofs nicht zu heiraten. Er war ein sehr reicher Mann.

Vor zweihundert Jahren waren die Brandners noch schlichte Bauern gewesen, Hörige des Grafen Brackenfeld, nach dem das Dorf seinen Namen hatte.

Jetzt stand von dem einstigen Grafenschloss nur noch eine malerische Ruine auf der Anhöhe. Aber die einstige Bauernhütte hatte sich zum stattlichen Anwesen ausgewachsen.

Im Mittelpunkt des Brandnerhof befand sich das alte, festgefügte Wohnhaus. Diesem Stammhaus waren mit der Zeit zwei geräumige Seitenflügel angegliedert worden, wie auch die Wirtschaftsgebäude immer weiter ausgebaut worden waren.

Die ganzen Gebäude bildeten ein mächtiges Karree, in dessen Mitte sich der große Wirtschaftshof befand. Es war auf der Ost- und Südseite von riesigen Obst- und Gemüsegärten begrenzt, an der Nordseite von vielen Morgen herrlichen Eichen- und Buchenwaldes. Die Westseite lag nach dem großen Teich hinaus, der zum Brandnerhof gehörte und dessen Fischreichtum jährlich einen großen Gewinn einbrachte. Zwischen Wohnhaus und Teich führte die Fahrstraße vorüber.

Georgs Vater hatte außerdem noch eine Konservenfabrik bauen lassen, in der das selbst gezogene Obst und Gemüse verwendet wurde. Eine Strecke sandigen Bodens, die früher wenig ertragfähig gewesen war, hatte Georg durch Spargelkultur zu einer neuen Geldquelle gemacht.

Es schien alles vom Glück begünstigt, was die Brandners anfassten. Deshalb hatte es Georg also nicht nötig, nach Geld zu heiraten. Und seine kluge Mutter sagte sich, dass eine tüchtige, fleißige Wirtschafterin für den Brandnerhof notwendiger sei als eine reiche, die untüchtig war und größere Ansprüche stellte als die bescheidene Käthe.

„Weißt du denn aber auch, ob sie mich heiraten will, Mutter?“, fragte der Sohn.

Anna Brandner hob stolz den Kopf. „Sie hat dich gern, Georg. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

Er richtete sich hastig auf. „Also gut, Mutter. Wenn es denn sein muss. Aber verschone mich möglichst mit allem Drum und Dran. Als zärtlicher Freier auftreten, Süßholz raspeln und dergleichen Sachen – dazu bin ich nicht mehr zu haben. Mach’s kurz und schmerzlos und leite alles in die Wege!“

Frau Brandner nickte eifrig. „Sei unbesorgt, Georg. Du sollst nichts tun als das letzte Wort sprechen. Morgen gehe ich zu Amtmanns und bespreche alles. Käthe ist in strengem Gehorsam erzogen. Sie wird keine Schwierigkeiten machen.“

Georg stellte sich plötzlich mit ernstem Gesicht vor die Mutter hin.

„Mutter, versprich mir aber, wenn sie nicht aus freien Stücken einwilligt, soll sie in keiner Weise beeinflusst werden. Um Gottes willen nicht eine Frau ins Haus nehmen, die nur widerwillig kommen würde!“, sagte er bestimmt.

„Widerwillig? Ich möchte das Mädchen sehen, das sich nicht glücklich preist, wenn es dich zum Mann bekommen kann.“

Er machte eine rasche, abwehrende Bewegung. „Mütter sind doch alle eitel, selbst die vernünftigsten. Aber jetzt wird es Zeit für mich. Ich muss auf die Felder. Auf Wiedersehen heute Mittag.“ Sie reichten sich die Hände, und Georg verließ rasch das Zimmer. Gleich darauf sah ihn die Mutter am Fenster vorüberreiten.

***

Das Haus des Amtmanns Suntheim war ein nüchternes, grau getünchtes Gebäude, das inmitten der großen Gärtnerei lag. Es bestand aus Erdgeschoss und zwei Stockwerken, hatte aber nur vier Fenster und war mit roten Dachziegeln bedeckt. Das einzige, was dem Haus ein freundlicheres Aussehen gab, waren die blanken Fenster mit blütenweißen, wenn auch vielgestopften Vorhängen und eine sehr große, mit Geißblatt bewachsene Laube, die vor dem Hauseingang aufgebaut war und das hässliche Haustor mit üppigem Grün umwucherte. Unweit des Wohnhauses lagen die Gewächshäuser.

Rings um das ganze Anwesen standen Beerensträucher, Zwergobst und Gemüse, das der Amtmann an die Brandnersche Konservenfabrik verkaufte.

Das war die Heimat und die Umgebung, in der Käthe Suntheim aufgewachsen war.

Frau Brandner besuchte zuweilen die Frau Amtmann auf ein Stündchen. So verschieden die beiden Frauen waren und so wenig ihre Verhältnisse einander glichen, verstanden sie sich doch gut.

Schon öfter hatte Anna Brandner darüber mit Frau Suntheim gesprochen, dass es ihr Wunsch sei, eine der Amtmannstöchter zur Schwiegertochter zu bekommen.

Frau Suntheim hatten diese Äußerungen beglückt. Sah sie doch das Los ihrer Töchter durchaus nicht in rosigem Licht. Für arme Mädchen schien es keine Männer mehr zu geben, mochten sie auch noch so hübsch und tüchtig sein.

Sie sah kummervollen Herzens ihre Älteste verblühen. Auch ihre zweite war nun schon da angelangt, wo sich die Resignation einzustellen pflegt. Ihre Käthe, ja, die kam nun auch schon ins heiratsfähige Alter. Wie lange würde es dauern, dann würde auch Wally, das Nesthäkchen, so weit sein! Ach, es war schlimm für eine Mutter, sehr schlimm, dass sie dabei nichts tun konnte als trübe Betrachtungen anzustellen. Welch ein Glück erschien ihr nun die Aussicht, dass Georg Brandner, der hübsche, stattliche Mann mit dem stolzen Besitz, um eine ihrer Töchter werben könnte. In stillen Stunden legte sie sich die Frage vor, welcher von ihnen sie dieses Glück am meisten wünschen möchte.

Um in keiner von ihnen Hoffnungen zu erwecken, hatte sie mit ihren Töchtern nie von den Andeutungen der Frau Brandner gesprochen.

Sie dachte nicht daran, dass sich eine ihrer Töchter bedenken könnte, Georg Brandners Frau zu werden. Die vielgeplagte und vielbeschäftigte Frau hatte nie Zeit gehabt, auf das Seelenleben ihrer Kinder zu achten. Sie war immer nur froh gewesen, wenn sie genügend Speise und Trank schaffen konnte, wenn reihum die vielen Füße in ganzen Schuhen steckten und alle ein leidlich hübsches Sonntagskleid besaßen, denn es ging knapp in der kinderreichen Familie zu. Die Baumschule und die Gärtnerei brachten nicht viel Reingewinn, obwohl die ganze Familie, mit Ausnahme der jungen Wally, fleißig bei der Arbeit war.

Der Amtmann brauchte allerdings ziemlich viel für seine eigene Person. Für ihn durfte nicht gespart werden, für ihn durfte es an nichts fehlen. An Zigarren und Weinen verbrauchte er fast mehr als seine Familie zum gesamten Unterhalt. Jedes Jahr unternahm er eine mehrwöchige Vergnügungsreise, ganz allein, um sich, wie er sagte, von seinen Sorgen zu erholen und ein wenig aufzufrischen.

Dass seiner Frau eine kleine Auffrischung viel nötiger gewesen wäre, sah er nicht ein.

Keiner seiner Angehörigen hätte es gewagt, ihm das zu sagen. Er war ein Despot in seinem Haus, knechtete alles unter seinen Willen und hielt auf strenge Zucht. Vor allen Dingen durften die Weibsleute nicht mucksen, sonst wäre er mit einem Donnerwetter dazwischengefahren. Es war am Morgen des Sonntags, an dem Anna Brandner als Freiwerberin für ihren Sohn ins Haus des Amtmanns gehen wollte. Die Familie des Amtmanns saß in der großen Laube vor dem Haus um den Frühstückstisch.

Der Amtmann war, wie meist, schlechter Laune. Er pflegte des Abends einen gehörigen Schlaftrunk zu nehmen und hatte dann am Morgen einen dicken Kopf. Sein gerötetes volles Gesicht hatte sich in drohende Falten gezogen, und auf der Stirn lag es wie Wetterwolken.

Seine Frau saß ihm mit vergrämten, freudlosen Zügen gegenüber. Ihre hagere Gestalt war von vieler schwerer Arbeit gebeugt, und ihre Augen blickten erloschen. Sie sah zuweilen ängstlich in das unheildrohende Gesicht ihres Gatten und blickte dann immer wieder beschwörend zu dem Backfisch Wally hinüber, damit sie nicht durch eine unbedachte Äußerung das Unwetter entlüde, das auf der väterlichen Stirn drohte.

Wally war die ganze Woche in der Stadt im Haus der verwitweten Frau Dr. Birkner untergebracht, damit sie regelmäßig die Oberschule besuchen konnte. Dass ihre Töchter wenigstens diesen Bildungsgang genießen konnten, hatte die Mutter mit Aufwand ihrer ganzen Energie durchgesetzt. Auch die anderen Schwestern waren der Reihe nach auf diese Weise Kostgängerinnen der Frau Dr. Birkner gewesen, die den jungen Mädchen zugleich den nötigen Schliff beigebracht hatte. Sie erhielt keine fürstliche Bezahlung dafür, aber es wanderte manches Suppenhuhn, Butter und Eier aus dem Amtmannshaus in die Küche der Frau Doktor. Und damit war sie sehr zufrieden.

Wally kam jeden Sonnabend mit dem Milchauto nach Hause gefahren und fuhr montags früh mit demselben Lieferwagen wieder zurück.

Sie war durch ihre Abwesenheit von daheim der väterlichen Zucht etwas entwachsen. Zuweilen maulte sie, wenn er gar zu unausstehlich war, und manchmal entfuhr ihr ein vorwitziges Wort. Das genügte dann jedes Mal, um eine Katastrophe mit Hagel, Blitz und Donnerschlag herbeizuführen.

Die Frau Amtmann war deshalb auch immer in tausend Ängsten, dass ihre Jüngste ein vorlautes Wort fallen ließ und hielt sie beständig unter dem Bann ihrer beschwörenden Blicke.

Wally liebte ihre Mutter innig und bezwang sich, um sie nicht zu betrüben.

Das Frühstück ging zu Ende, ohne dass der Amtmann Gelegenheit gefunden hätte, seiner schlechten Laune Luft zu machen. Alle atmeten heimlich auf, als er Tasse und Teller von sich schob und sich eine seiner teuren Zigarren von seinem jüngsten Sohn Willy anstecken ließ, der begehrlich den feinen Duft einsog. Dann verließ er mit einem brummigen Gruß die Laube, um einen Verdauungsspaziergang durch den Garten zu machen.

Wally stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus und sagte laut und vernehmlich: „Gott sei Dank!“ Dann erbeutete sie schleunigst die einzige Schinkenschnitte, die der Vater übrig gelassen hatte und die sich eben ihr Bruder Otto zu Gemüt führen wollte.

„Du Krabbe“, sagte er lächelnd.

Wally lachte ihn an.

„Geschwindigkeit ist keine Hexerei. Willst du die Hälfte haben?“

„Danke, dann bleibt für keinen was übrig.“

„Du solltest Otto den Schinken geben“, mahnte die Mutter.

„Lass sie nur, Mutter!“, sagte Otto gutmütig. „Aber ein Frechdachs bist du doch.“

Wally verzehrte gemütsruhig den Schinken.

„Wieso denn, Otto? Hier geht ja doch Gewalt vor Recht. Und der Schinken schmeckt köstlich. Wenn ich ‚Zeus‘ wäre, würde ich auch jeden Morgen zum Frühstück mein Brot damit belegen.“

„Du sollst nicht immer ‚Zeus‘ sagen, Wally“, sagte die Mutter verweisend.

Wally sprang auf und umschlang sie zärtlich.

„Ach, Herzensmutter, das verstößt doch nicht gegen den Respekt! Zeus war ein Donnergott mit Blitz und Krach und so. Und ich muss eben Vater immer mit ihm vergleichen. Zeus spricht sich auch schneller aus als Vater, und dann hat es den Vorteil, dass niemand weiß, wer gemeint ist. Nun schilt mich nicht, Herzensmutter, heute ist ja Sonntag, und morgen bist du deinen Wildfang wieder auf eine Woche los.“ Die Mutter strich ihr seufzend über das Haar und konnte nicht mehr schelten.

Willy und Otto verließen die Laube, um noch einige auch am Sonntag nötige Arbeiten im Garten zu verrichten. Maria räumte den Tisch ab, Helene setzte sich mit einem Stoß Handtücher vor die Laube, und die Mutter ging ins Haus.

Käthe folgte ihr und kehrte gleich darauf mit einem Handkorb zurück. Damit schritt sie tiefer in den Garten hinein nach den Gemüsebeeten, um Salat für den Mittagstisch zu holen. Wally stürmte hinter Käthe, ihrer Lieblingsschwester, her.

„Du, Käthe, lass mich mit dir gehen, ja?“, rief sie laut.

Käthe wandte sich um, Ein frohes Lächeln flog über ihr reizendes Gesicht. Sie blieb wartend stehen, bis die Schwester sie erreicht hatte.

„Wildfang, wie du schon wieder aussiehst! Und ich hatte dir das Haar so glatt gebürstet.“

Wally hängte sich an ihren Arm und hüpfte neben ihr her.

„Verdirb mir den schönen Gottessonntag nicht mit einer Moralpauke! Es ist noch nicht lange her, Käthe, da sahst du auch ewig zerzaust aus. Man kann wirklich nichts dafür. Und ein Wildfang bin ich gar nicht. Wäre ich einer, dann hielte ich das Leben hier zu Hause gar nicht aus, sondern liefe in die Welt.“

Die letzten Worte hatte Wally mit leidenschaftlichem Nachdruck hervorgestoßen. Käthe sah sich erschrocken um, ob etwa der Vater in der Nähe war, aber sie sah ihn durch die kleine Pforte im Zaun in die Baumschule verschwinden.

„Was sind das für törichte Worte?“

Wally schlang die Arme um die schöne, schlanke Schwester und sah mit funkelnden Augen zu ihre empor. „Ach, sei doch ehrlich, Käthe! Du liefst auch am liebsten mit. Wir fühlen beide gleich, das weiß ich. Und du bist auch oft genug außer dir, wenn du mit ansehen musste, wie Vater so unausstehlich ist.“

Käthe legte ihr erschrocken die Hand auf den Mund. „So schweig doch still, um Gottes willen!“

Wally warf trotzig den Kopf zurück.

„Was ihr alle Angst vor dem Vater habt! Da ist es ja kein Wunder, wenn er uns tyrannisiert. Ach uns – das wäre ja einerlei, aber wie er zu Mutter ist, das empört und quält mich unsäglich. Gestern hörte ich, dass er sie ganz verächtlich dumme Trine nannte. Jawohl. Ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört und habe auch gesehen, dass Mutter darüber weinte – aber erst, als Vater fortgegangen war. Sie hatten mich beide nicht bemerkt. Als ich sie weinen sah, bin ich ihr um den Hals geflogen und habe sie gefragt: ‚Herzensmutter, warum lässt du dir das gefallen? Ich will dem Vater sagen, dass er schlecht, ganz schlecht zu dir ist.‘ Ach, Käthe, zu Tode ist sie erschrocken. Und so streng, wie ich sie nie gesehen habe, hat sie zu mir gesagt: ‚Nie wieder will ich solche Worte von dir hören, Wally. Vergiss die Ehrfurcht vor deinem Vater nicht.‘ Ach, Käthe, ich habe gar keine Ehrfurcht vor Vater. Furcht wohl zuweilen, vor seinen Schlägen und bösen Worten, aber Ehrfurcht? Nein. Und auch lieb kann ich ihn nicht haben, ganz gewiss nicht.“

Käthe zog die Schwester mit sich fort, hinüber zu den Erdbeerrabatten.

„Plag dich nicht mit so schweren Gedanken, Wally! Ich kenne dich gar nicht mehr wieder. Du bist noch ein Kind und musst erst größer und verständiger werden, ehe du dir über alles das ein Urteil bilden kannst. Jetzt wollen wir nicht mehr daran denken. Hab du nur Mutter recht lieb und tue, was sie dich heißt, dann kannst du ihr manches Schwere erleichtern und ihr Freude machen. Dadurch, dass du so ungestüm gegen den Vater bist, machst du Mutter nur neuen Kummer. Und das willst du doch gewiss nicht.“

Wally schüttelte hastig den Kopf.

„Ach nein, Käthe, nicht um die Welt. Mutter soll nur wissen und fühlen, wie sehr ich sie liebe.“

„Das kannst du ihr auf jede andere Weise zeigen, nicht wahr? Und nun mach wieder dein altes fröhliches Gesicht, ich mag dich gar nicht so zornig und betrübt sehen. Die ganze Woche freue ich mich auf den Sonntag, weil man dann einmal ein lachendes Gesicht im Haus sieht. Das brauchen wir alle nötig wie das liebe Brot.“

Wally küsste die Schwester.

„Käthe, wirklich, freust du dich, dass ich sonntags daheim bin?“

„Ganz wirklich, Schwesterchen. Wenn du zu Hause bist, merke ich wenigstens, dass ich noch jung bin. Sonst vergesse ich es manchmal in aller Kümmernis. Und nun schau, da reifen die ersten Erdbeeren! Lockt dich das nicht? Wir wollen welche zum Nachtisch pflücken.“

Wally jauchzte auf. Ihr Kummer war vergessen. Sie war eben doch noch ein Kind, das schnell vergisst.

Die Schwestern machten sich an die Arbeit. Wally war vergnügt dabei und fahndete eifrig nach den größten und schönsten Beeren.

Käthe aber konnte ihre Gedanken nicht so schnell von dem losreißen, was die Schwester gesagt und sie selbst oft gedacht hatte. Das Schicksal der Mutter erschien ihr sehr schwer. Und ihr selbst sagte das Leben im Elternhaus auch nicht zu. Gern wäre sie hinausgezogen, um sich auf eigene Füße zu stellen, mit ihren jungen, starken Armen das Dasein zu meistern. Vor der schwersten Arbeit fürchtete sie sich nicht, und in der abhängigsten Stellung würde sie freier sein als daheim, das war gewiss.

Aber sie wusste nur zu gut, dass der Vater sie nicht fortlassen würde. Durften doch nicht einmal die Brüder ins Leben hinaus. Der Vater verlangte von all seinen Kindern, dass sie sich willenlos seinen Bestimmungen fügten. Er wies ihnen den engen Kreis an, in dem sie sich betätigen mussten. Sie waren billige und willige Arbeitskräfte, die ihm fast alle Arbeit abnahmen. Er brauchte sie zu seiner eigenen Bequemlichkeit viel zu notwendig, um sie freizugeben, obwohl er dabei immer brummte und schalt, dass er so viele Mäuler satt machen musste. An das Wohl seiner Kinder dachte er nicht.

Dabei hielt sich der Amtmann für den besten Vater und Gatten. Er rechnete es sich hoch an, dass er seinen Kindern ein gesichertes Heim bot, wo sie vor Hunger und Not geschützt waren. Seine Frau hatte nie gewagt, gegen ihn aufzutreten und ihm diesen Wahn zu rauben. Ängstlich vermied sie alles, was ihm unangenehm sein konnte. Und so entwickelten sich seine despotischen Neigungen immer mehr.

Käthe sagte sich verzagt, dass es auch für sie, so wenig wie für ihre Geschwister, einen Weg in die Freiheit gab. Das würde nun immer so fort gehen. Sie würde still und stumpf werden wie Maria und Helene und ihre Mutter. Das war keine erhebende Aussicht für die Zukunft.

Und Wally, ihre lustige, übermütige kleine Schwester, würde auch noch geduckt werden, wenn sie erst wieder ständig daheim war und lernen, ihre revolutionären Gedanken für sich zu behalten. Gegen den Vater kam doch niemand auf, er hielt sie alle unter Druck.

Käthe seufzte tief auf.

„Wenn man doch hinaus könnte aus dieser freudlosen Enge!“, dachte sie trostlos.

Wally rief ihr eine lustige Bemerkung zu und sprang über ein Beet hinweg an ihre Seite. In demselben Augenblick wurde die kleine Pforte im Holzzaun geöffnet, und des Amtmanns mächtige Gestalt erschien. Wally zog die Schwester schnell hinter ein Gebüsch, wo sie seinen Blicken entgingen.

„Zeus geht um! Duck dich, liebe Seele, sonst kommt ein Platzregen!“, sagte sie in ihrer burschikosen Art.

Den Atem anhaltend, warteten sie in ihrem Versteck, bis der Vater vorüber war. Dann atmeten sie auf und gingen nach dem Haus zurück.

Käthe hatte in dieser Woche das Amt in der Küche. Die Schwestern wechselten sich immer ab bei allen Hausarbeiten. Wally erbot sich freiwillig, Käthe zu helfen. Sie nahm das Angebot lächelnd an, sie wusste, dass Wally bald fahnenflüchtig werden würde.

Käthe band sich nun eine große Schürze vor. Dann begann sie eifrig ihres Amtes zu walten. Wally versuchte sich eine Weile nach besten Kräften nützlich zu machen. Aber als dann das Dienstmädchen hereinkam, um Käthe die Hand zu geben, sagte sie lachend: „Weißt du was, Käthe – viele Köche verderben den Brei. Ich werde lieber hinausgehen und Helene ein wenig beim Nähen helfen.“

„Tu dir nur keinen Schaden dabei“, neckte Käthe lachend.

Wally machte eine Grimasse und verschwand.

***

Etwa eine Stunde später kam sie wieder in die Küche gestürmt.

„Du Käthe, Mutter hat Besuch. Frau Brandner ist da. Mächtig fein sieht sie aus. Und sie hat zu Mutter gesagt, dass sie etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen hat. Sie sind ins Besuchszimmer gegangen, und Vater ging gleich hinterdrein mit einem Gesicht, na – wie Öl, sage ich dir. Wenn andere Leute zugegen sind, ist er ja immer die Liebenswürdigkeit selbst.“

Käthe blickte sich erschrocken nach dem Dienstmädchen um, aber das war mit einer Schüssel von Gemüseabfall nach dem Stall hinüber gegangen, gerade als Wally eintrat. Käthe atmete auf.

„So so, Frau Brandner ist da! Das freut mich für Mutter. Sie hat selten einmal eine kleine Unterhaltung. Frau Brandner ist eine feine, kluge Frau.“

„Ja, nicht wahr? Sag mal, kommt Georg Brandner noch oft vorbei?“

Käthe wurde ein wenig rot.

„Ich habe nicht darauf geachtet.“

Wally guckte ihr von unten herauf ins Gesicht.

„Wer’s glaubt!“

„Aber, Wally, warum willst du das nicht glauben?“

„Na weißte, tu nur nicht so langstielig! Du warst doch sonst nicht so. Weißt du nicht, wie wir vorigen Sommer in den großen Ferien immer hinten am Zaun auf ihn gewartet haben, wenn er zu seiner Konservenfabrik ging? Wenn er dann kam, haben wir uns immer um das Astloch gebalgt, durch das wir ihn sehen konnten.“

Käthe lachte verlegen.

„Nun ja, so zum Scherz. Es war eine Kinderei“, sagte sie abwehrend.

Wally schob die Unterlippe vor.

„Ach, hab dich nur nicht, du bist doch in einem Jahr keine alte Frau geworden! Also ehrlich, siehst du ihn noch oft?“

„Sehr selten. Warum willst du das wissen?“

„Ach nur so. Weißt du, er gefällt mir riesig, obwohl er meist ein schrecklich ernsthaftes Gesicht macht. Aber wenn er lacht, ist er furchtbar nett. Und dann finde ich es so interessant, dass er von seiner Frau geschieden ist. Hast du eigentlich die junge Frau Brandner gekannt?“

„Nur flüchtig. Ich war ja damals, als Georg Brandner seine junge Frau auf den Brandnerhof brachte, in der Stadt bei Frau Dr. Birkner. Gesehen habe ich sie natürlich einige Mal.“

„Verkehrte sie bei uns im Haus? Ich kann mich gar nicht darauf besinnen.“

„Du warst ja auch kaum acht Jahre alt. Außer durch den üblichen Pflichtbesuch wird sie uns wohl kaum beehrt haben.“

„Hm! Na, am Ende haben wir nichts daran verloren. Sie soll ja ein sehr leichtfertiges Geschöpf gewesen und mit einem Maler, der die Schlossruine malte, bei Nacht und Nebel durchgegangen sein. Und der Herr Brandner sei sehr unglücklich gewesen damals, sagte der Milchfahrer. Sicher grämt er sich noch heute über die Untreue seiner Frau und macht deshalb immer so ein ernstes Gesicht.“

Käthe wusch energisch den Salat und häufte ihn in eine große Schüssel.

„Kind, das sind Sachen, die uns nichts angehen“, sagte sie herb.

Wally sprang vom Tisch herab.

„Gott, sei doch bloß nicht so eklig pedantisch! Das steht dir kein bisschen. Die Schulmeistermiene kleidet dich zum Erbarmen. Ich mag dich viel lieber, wenn du lustig bist“, murrte sie.

Käthe seufzte.

„Ja, ja, ich bin auch schon wieder lustig, wenn du nun endlich mit dieser leidigen Geschichte aufhörst.“

Wally drehte sich auf dem Absatz herum.

„Für die Sorte Lustigkeit danke ich. Ich ziehe es vor, mich aus dem Staub zu machen, bis du wieder ein anderes Gesicht aufsteckst.“

Damit ging sie hinaus.

An der Tür prallte sie mit Maria zusammen.

„Käthe“, sagte Maria mit ihrer sanften Stimme. „Du sollst sofort zu den Eltern kommen. Sie sind mit Frau Brandner im Besuchszimmer. Frau Brandner will dich sprechen.“

Käthe sah erstaunt auf.

„Mich?“, fragte sie ungläubig.

„Ja, ja, geh nur schnell, ich sehe hier inzwischen nach dem Essen.“

Käthe schüttelte verwundert den Kopf. Aber sie legte gehorsam die Schürze ab, strich ordnend über das hellblaue Leinenkleid, das trotz seiner Schlichtheit die schönen Linien ihrer schlanken, jugendkräftigen Gestalt zur Geltung brachte, und ging, nachdem sie Maria noch einige Anweisungen gegeben hatte, hinaus.

Draußen im schmalen Hausflur warf sie noch rasch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Dann trat sie in das Besuchszimmer.

Das war einer jener Räume, denen man die seltene Benutzung ansieht und die deshalb immer unwohnlich wirken. Die Ausstattung bestand aus einer Plüschgarnitur, Sofa und vier Sesseln, einem runden Tisch, auf dem eine gestickte Decke lag, einem Zierschrank mit Nippes, Klavier, Stühlen und einem Teppich, der schon ziemlich verblasste Farben hatte. An den Fenstern hingen saubere Gardinen, und vor dem Ofen stand ein gestickter Ofenschirm.

Anna Brandner saß Käthes Eltern gegenüber in einem Sessel und sah wohlgefällig auf das schöne Mädchen, das sich artig verneigte.

Käthes Blick flog fragend zur Mutter hinüber, die sich vergeblich bemühte, die rinnenden Freudentränen verstohlen mit dem Taschentuch fortzuwischen. Ängstlich sah Käthe nun auch den Vater an, als suche sie bei ihm die Ursache für die Tränen der Mutter.

Aber sein Gesicht strahlte eitel Liebenswürdigkeit und rosige Laune aus – ein seltener Anblick für seine Familie.

Und nun erhob sich der Vater und schritt auf Käthe zu. Sie fest bei der Hand fassend und seine Augen mit einem geradezu hypnotisierenden Blick in die ihren senkend, sagte er mit einer ungewöhnlich milden Stimme: „Meine liebe Käthe, dir und uns ist ein großes Glück widerfahren, dessen du dich hoffentlich würdig zeigen wirst.“

Käthe riss ihren Blick gewaltsam aus dem des Vaters los. Ihr wurde seltsam bang zumute.

„Wovon sprichst du, Vater?“, fragte sie leise, und instinktiv stieg ein Gefühl in ihr empor, als müsse sie ihre Hand aus dem umklammernden Druck des Vaters lösen und wie vor einem Verhängnis entfliehen.

Der Amtmann gab aber ihre Hand nicht frei. Er warf sich gewichtig in die Brust, als sei er der Spender eines großen Glücks, und sagte feierlich: „Also, meine liebe Käthe, Frau Brandner hat uns die große Ehre erwiesen, bei deiner Mutter und mir für ihren Sohn, Herrn Georg Brandner vom Brandnerhof, um deine Hand anzuhalten.“

Käthe zuckte zusammen, und ihr Gesicht überzog sich mit jäher Blässe. Wieder versuchte sie ihre Hand zu befreien, aber der Vater hielt sie fest.

„Ich hoffe, meine Tochter“, fuhr er fort, „dass du dir bewusst bist, welches Glück dir mit dieser Werbung widerfährt.“

Käthe war wie gelähmt. „Das ist nicht möglich, das kann nicht sein!“, stieß sie endlich heiser hervor. Der Amtmann lächelte jovial.

„Sehen Sie wohl, verehrte gnädige Frau, unsere Käthe kann ihr Glück nicht fassen, es überwältigt sie“, sagte er mit seiner öligen Stimme.

Käthe wollte eine abwehrende Bewegung machen, aber der Vater hielt sie im Bann.

Da senkte sie das Haupt. Und sie dachte bedrückt: Wenn Georg Brandner mich zur Frau begehrt, warum kommt er dann nicht selbst, um mich zu fragen, ob ich ihm angehören will?

Sie fühlte mit Bestimmtheit, dass er bisher immer gleichgültig über sie hinweggesehen hatte. Nie hatte er einen warmen Blick, ein bedeutungsvolles Wort für sie gehabt.

Nicht ohne heimliches Wohlgefallen hatte sie stets seiner schlanken Gestalt nachgesehen, wenn er vorüber ritt. Hätte sie vorhin Wallys Frage ehrlich beantwortet, hätte sie gestehen müssen, dass sie oft durch den Zaun gesehen hatte, wenn er vorüberritt. Sein charakteristisches Gesicht mit den festen männlichen Zügen war ihr immer interessant erschienen, und der ernste, manchmal sogar düstere Ausdruck seiner Augen hatte ihr Herzklopfen verursacht. Auch sie glaubte, dass er die Untreue seiner Frau noch nicht verwunden hatte, dass er sie noch immer liebte.

Und nun saß hier seine Mutter und warb für ihren Sohn um ihre Hand. Sie war sich sehr wohl bewusst, was ihr da für eine glänzende Zukunft geboten wurde, wusste, dass sich ihr nie wieder eine solche Aussicht bieten würde, aus den engen, drückenden Verhältnissen im Vaterhaus herauszukommen.

So jagten unruhige Gedanken hinter ihrer Stirn, während sie abwechselnd rot und blass wurde und um ihre Fassung rang. Und dann stieg plötzlich die Frage in ihr auf: Warum begehrt er dich – gerade dich zur Frau? Warum nicht eine andere? Giltst du ihm vielleicht etwas, ohne es zu wissen?

Ein heißer Strom drang zu ihrem Herzen. Einen Augenblick kam es wie ein Rausch der Freude über sie, dass er gerade sie erwählen wollte. Konnte sie ihm eines Tages doch vielleicht etwas gelten, wenn sie seine Frau wurde?

Aber dieses aufwallende Glücksgefühl erlosch sogleich wieder.

Er wird nie wieder eine Frau lieben. Und dass er nicht selbst kommt, beweist, wie gleichgültig ich ihm bin, dachte sie, sich zusammenraffend.

Aufatmend strich sie über ihre Augen und sah um sich, als erwache sie aus einem Traum.

Der Amtmann lachte ein wenig gezwungen.

„Nun komm zu dir, Käthe!“, rief er mahnend.

Seine Frau sah unruhig zu Käthe hinüber. Warum war sie so still, bedachte sie sich so lange? Sie würde doch um Gottes willen keine Torheit begehen? Käthe war immer so eigen, ganz anders als ihre Geschwister, immer sagte und tat sie gerade das, was man nicht erwartet hatte. Aber freilich, in diesem Fall gab es ja nur eine Antwort. Es konnte gar nicht anders sein, als dass sie diese Werbung mit tausend Freuden annahm. Ach, wenn sie doch vorher mit Käthe sprechen, ihr die glänzende Partie hätte zum Bewusstsein bringen können! Aber Frau Brandner hatte darauf bestanden, dass man Käthe in ihrer Gegenwart das erste Wort über diese Angelegenheit sagte.

Frau Brandner wollte sich davon überzeugen, wie Käthe den Antrag aufnahm. Ruhig wartete sie nun, bis sich Käthe gefasst hatte. Die alte Dame betrachtete ihre künftige Schwiegertochter mit Rührung. Wie sie geblendet war von dem Glanz, der sich vor ihren Augen auftat!

Keine Ahnung kam der sonst so klugen Frau, wie es jetzt in Käthes Innerem aussah.

Der Amtmann wurde ungeduldig. Was fiel dem dummen Mädel ein, sich so lange zu bedenken, statt mit beiden Händen zuzugreifen? Er drehte sich plötzlich um und schob sie, ihre Arme mit festem Griff umspannend, vor Frau Brandner hin. Und dann sagte er, seine Worte mit einem gebieterischen Druck begleitend: „Nun rede doch endlich, Käthe, und sage Frau Brandner, wie glücklich du dich schätzt, dass ihre und ihres Sohnes Wahl auf dich gefallen ist.“

Käthe sah herab in das feine, kluge und gütige Gesicht der alten Dame. Anna Brandner streckte ihr lächelnd die Hand entgegen, während der Amtmann hinter ihren Sessel trat und Käthe streng und gebieterisch anblickte.

„Liebes Kind“, sagte Frau Brandner lächelnd, „ich begreife, dass Sie ein wenig überrascht sind. Aber ich hoffe, dass ich meinem Sohn eine zusagende Antwort überbringen kann.“

Und sie war fest überzeugt, eine Fülle von Glück über dieses schöne, schlanke Mädchen auszustreuen, bei dessen Anblick ihr das Herz warm wurde.

Statt aller Antwort fragte Käthe jedoch nur mit gepresster Stimme: „Warum ist Herrn Brandners Wahl auf mich gefallen, und warum kam er nicht selbst, um mich zu fragen, ob ich seine Frau werden will?“

Ein wenig unangenehm berührt sah Anna Brandner in die großen, ernst blickenden Mädchenaugen. Aber dann lächelte sie wieder gütig.

„Warum? Ja, mein liebes Kind, mein Sohn ist – nun, sagen wir, ein wenig scheu. Er bat mich, für ihn die einleitenden Schritte zu tun. Ich soll ihm gewissermaßen den Weg ebnen. Männer sind in solchen Fällen immer ein wenig schwerfällig. Aber das ist doch Nebensache, nicht wahr, liebes Kind? Unsere Wahl ist nach reiflichen Überlegungen auf Sie gefallen, weil Sie uns als die passendste Lebensgefährtin für meinen Sohn erscheinen. Wir kennen Ihre guten Eigenschaften, die dafür bürgen, dass Sie dem Brandnerhof eine würdige Herrin sein werden. Ich freue mich nach den trüben Erfahrungen, die hinter uns liegen, gerade Sie zur Schwiegertochter zu bekommen. Sie sind mir lieb, und ich bin überzeugt, dass wir uns sehr gut verstehen werden. Unter meiner Leitung werden Sie sich bald in Ihre Pflichten einleben.“

Käthe hörte mit unbeschreiblichen Gefühlen diese Worte an. Wichtig war ihr dabei nur der eine Satz: „Unsere Wahl ist nach reiflichen Erwägungen auf Sie gefallen.“ In Käthes Herz wurde es bei diesen Worten kalt und leer. Deutlicher hätte man ihr nicht sagen können, dass sie Georg Brandner gleichgültig war und nur Frau Brandners Wunsch sie zur Schwiegertochter bestimmte. Nüchtern und sachlich waren ihre Tugenden und Untugenden gegeneinander abgewogen worden, und das Fazit hatte dann ergeben, dass sie sich tauglich erweisen würde zur künftigen Hausfrau vom Brandnerhof. Georg Brandner hätte sich wohl mit demselben Gleichmut eine andere Frau aufnötigen lassen, wenn eine zufällig passender erschienen wäre.

Dieser letzte Gedanke trieb ihr das Blut ins Gesicht. Sie warf den Kopf zurück, und schon lag eine abwehrende Antwort auf ihren Lippen. Aber da sah sie die Angst in den Augen der Mutter, sah des Vaters drohende Miene. Wie gelähmt starrte sie in seine kalten Augen. Und wie ein Blitz durchfuhr sie die Erkenntnis, dass diese Heirat sie erlösen konnte aus dem drückenden Banne eines Mannes, den sie Vater nannte und der ihrem Herzen ein Fremder war.

Würde sie nicht trotz allem ein viel schöneres Leben auf dem Brandnerhof erwarten als das, welches sie zu Hause führte? Die gütige alte Dame da vor ihr brachte ihr Sympathie entgegen, und Georg Brandner war eine vornehme Natur. Er würde es ihr sicher leicht machen, auch ohne Liebe das Leben an seiner Seite zu ertragen. Ach, sie wollte ja zufrieden sein, wenn er ihr nur ein wenig Teilnahme entgegenbrachte.

Käthe atmete tief auf. Ihr Entschluss war gefasst. Sie beugte sich nieder und küsste die Hand der alten Dame. Dann sagte sie leise mit unsicherer Stimme: „Verehrte gnädige Frau, ich muss um Verzeihung bitten. Das alles kam mir so unerwartet, so überraschend. Ich weiß nicht, was ich tun und sagen soll und bitte um Nachsicht. Aber ich danke Ihnen sehr, dass Sie mich für würdig halten, Ihre Schwiegertochter zu werden.“

Es ging wie ein Aufatmen durch das Zimmer, die Spannung löste sich in den Gesichtern. Der Amtmann nickte Käthe zufrieden zu, seine Frau schloss selig die Augen, und Anna Brandner lächelte gütig zu Käthe empor.

„Ja, ja, Kind, ich glaube es Ihnen, dass Sie ein wenig aus dem Gleichgewicht sind. Aber nun sind wir einig, nicht wahr, und ich kann meinem Sohn die Nachricht bringen, dass Sie einverstanden sind, seine Frau zu werden. Er wird dann heute Nachmittag kommen, um in aller Form bei Ihrem Vater um Ihre Hand anzuhalten.“

Käthe wusste selbst nicht, wie ihr zumute war. Am liebsten hätte sie nun doch ein lautes, angstvolles Nein gerufen, aber es fehlte ihr der Mut dazu. Und so neigte sie nur den Kopf zum Zeichen der Zustimmung.

Wie im Traum hörte Käthe, dass die Eltern mit Frau Brandner noch allerlei besprachen, aber wovon sie geredet hatten, wusste sie nicht zu sagen.

Als sich dann nach einer Weile Frau Brandner erhob, stand auch sie mechanisch auf. Wie von einem lähmenden Bann befallen, ließ sie sich von der alten Dame in die Arme ziehen und auf die Stirn küssen.

Man gab Frau Brandner das Geleit bis an die Tür. Und dann war Käthe mit den Eltern allein.

Die Mutter hing weinend und lachend an Käthes Hals, pries in erregten Worten ihr Glück, und der Vater ging mit zufriedenem Gesicht im Zimmer auf und ab und machte lärmend seiner guten Laune Luft. Weder Käthe noch die Mutter achteten darauf. Sie sahen sich nur stumm in die Augen. Und da kam eine stille Fügsamkeit über Käthe. Die Aufregung wich einer klaren Ruhe, und sie nahm sich vor, ihr Geschick ergeben zu erwarten. Was es ihr auch bringen mochte, sie wollte es auf sich nehmen und sich bemühen, es von der besten Seite zu betrachten. Ruhig und beherrscht ging sie dann in die Küche zurück. Die Mutter hatte sie vom Kochen dispensieren wollen, aber sie hatte es abgelehnt. Wohl ihr, dass sie jetzt Arbeit hatte, um sich von den unruhigen, erwartungsvollen Gedanken abzulenken!

Maria sah ihr fragend entgegen.

„Was wollte denn Frau Brandner von dir, Käthe?“

Käthe blickte in das feine, verblühende Gesicht der Schwester. Ob sie sich wohl einen Moment an ihrer Stelle bedacht haben würde? Und es erschien ihr plötzlich undankbar gegen das Schicksal, dass sie sich nicht freuen konnte über das glänzende Los, das es ihr zuteilen wollte. War sie nicht im Verhältnis zu den Schwestern beneidenswert?

Sie umarmte Maria plötzlich mit großer Herzlichkeit und küsste sie auf den Mund. Maria stieg das Blut in die Wangen. Solche impulsiven Zärtlichkeiten gab es sonst sehr selten im Amtmannshaus. Aber sie gab den Kuss mit Wärme zurück.

„Du bist erregt?“

Käthe nickte und sah mit einem feuchten Blick in die Augen der Schwester.

„Maria, etwas ganz Seltsames ist geschehen. Aber ich kann es dir nicht sagen – kann nicht darüber sprechen. Geh zur Mutter, sie wird es dir erzählen.“

Maria ging hinaus, und Käthe war allein in der Küche. Sie stand eine Weile regungslos, die Hände aufs Herz gedrückt, und atmete tief und schwer.

Ein verdächtig prasselndes Geräusch aus dem Ofen schreckte sie auf. Um Himmels willen – dass der Braten nicht verbrannte! Die nüchterne Alltäglichkeit verlangte ihr Recht. Sie waltete nun wieder ruhig und kühl ihres Amts.

Nach einer Weile kam Wally in die Küche gestürmt und warf sich mit einem Jauchzer in Käthes Arme.

„Käthe, ach Käthe“, schluchzte sie fassungslos. Käthe strich ihr das Haar aus der Stirn.

„Was ist, Wally, warum weinst du denn?“

„Ach, du mein Gott, so eine Frage, Käthe! Ich bin ganz durcheinander vor Wonne! Du sollst Georg Brandners Frau werden, welch ein großes Glück! Wie ist dir nur zumute, Herzenskäthe? Mein Gott, wie du jetzt hier so ruhig in der Küche stehen kannst, das begreife ich nicht! Bist du denn nicht ganz außer dir vor Glückseligkeit? So einen schneidigen, interessanten Mann, der uns immer wie ein Märchenprinz erschien! Wer hätte das gedacht, als wir hinten am Zaun durch das Astloch guckten! Nein, wie du das so ruhig hinnimmst! Denk doch nur Käthe, Herrin vom Brandnerhof! Ich begreife einfach nicht, dass du nicht vor Wonne den Verstand verlierst.“ Sie hielt erschöpft inne.

In Käthes Gesicht zuckte es seltsam. Sie presste ihre Wange an Wallys heißes Gesicht. „Und, weiß ich denn, ob es ein Glück für mich ist?“

Wally starrte sie sprachlos an. Und dann rüttelte sie die Schwester an den Schultern.

„Aber Käthe, Käthe! Schon, dass du hier herauskommst, ist ja allein ein großes Glück. Sag mal, ich darf dich doch oft besuchen? Auf dem Brandnerhof ist es mächtig fein! Ich bin schon mal durch das ganze Haus gegangen. Als ich das letzte Mal Frau Brandner zu Neujahr gratulierte, da hat sie mich selbst durch alle Zimmer geführt. Hast du schon mal die Zimmer gesehen?“

„Nein, Kind, alle Zimmer nicht. Nur die Besuchszimmer. Und die sind freilich sehr schön und kostbar eingerichtet.“

Wally zappelte vor freudiger Ungeduld.

„Ach, Käthe, denke nur, Geld wird nun überhaupt keine Rolle mehr für dich spielen, seidene Kleider wirst du tragen wie Frau Brandner, und Schmucksachen kriegst du natürlich auch. Und dann führt dich Georg Brandner am Arm in die Kirche, nein, wirst du eine entzückende Braut sein! Du bist ja doch die Schönste von uns allen. Und wenn du dann in deinem Wagen in die Stadt fährst, von Geschäft zu Geschäft, wie es Frau Brandner tut – Herrgott, Käthe, dann musst du mich mal mitfahren lassen, ja?“

Käthe musste über ihren Eifer lächeln, und ein wenig verlockend erschienen ihr die von Wally gepriesenen Herrlichkeiten nun doch auch.

***

Frau Anna Brandner war, als sie von dem Besuch bei Amtmanns zurückkehrte, ins Zimmer ihres Sohnes getreten.

Georg saß am Schreibtisch, um einige geschäftliche Korrespondenzen zu erledigen. Er sprang sofort auf, als seine Mutter eintrat, und schob ihr artig einen Sessel hin.

„So mein Sohn, es ist alles in bester Ordnung“, sagte sie befriedigt. „Du brauchst nun bloß noch der Form zu genügen und bei dem Amtmann um Käthes Hand anzuhalten. Ich habe dich um vier Uhr heute Nachmittag angemeldet.“

„Also, nun gibt es keinen Rückzug mehr, Mutter. Jetzt sitzt die Maus in der Falle“, sagte er halb lachend, halb unmutig.

„Solch hässliches Gleichnis solltest du nicht brauchen, Georg.“

Er strich sich über die Stirn.

„Hast Recht, Mutter. Also, es ist nun alles abgemacht?“

„Klipp und klar, mein Sohn.“

„Nun gut, fügen wir uns ins Unvermeidliche! Wie ist es denn gegangen, Mutter? Wie haben dich Amtmanns als Freiwerberin aufgenommen?“

„Wie ich im Voraus wusste, mit tausend Freuden.“

„Und Amtmanns Käthe?“

„Ach, Georg, es war rührend. Sie war erst vor Überraschung fassungslos und wusste nicht, was sie sagen sollte. Solch ein Glück hatte sich das bescheidene Geschöpf nicht träumen lassen.“

Georg trat dicht an seine Mutter heran.

„Weißt du denn, ob es wirklich ein Glück für sie ist, Mutter?“, fragte er fast genau, wie Käthe ihre Schwester Wally gefragt hatte.

Frau Brandner fuhr auf.

„Aber Georg, was denkst du dir denn? Auf den Knien wird sie Gott danken. Was hat sie denn sonst für Aussichten? Das sieht man doch an ihren beiden älteren Schwestern, die wahrlich auch keine üblen Mädchen sind. Und sie wird es bei uns wie im Himmel haben im Vergleich zu ihren jetzigen Verhältnissen. Du kennst das Leben bei Amtmanns nicht so wie ich, mein Sohn. Der Amtmann ist, unter uns gesagt, ein egoistischer, tyrannischer Gatte und Vater, er hat weder für seine Frau noch für seine Töchter etwas übrig – kaum für seine Söhne. Darüber kann mich sein Biedermannston nicht täuschen. Man muss nur sehen, wie seine Angehörigen angstvoll nach seinen Augen sehen. Nun, es schadet nichts, wenn Käthe gelernt hat, sich zu beugen. Nur wer dienen gelernt hat, wird gerecht und weise herrschen können. Aber dass diese Heirat ein großes Glück für das Mädchen ist, das ist gewiss, darüber kannst du ruhig sein.“

Georg zuckte die Achseln.

„Ich muss mich natürlich auf dich verlassen, Mutter. Und wenn Käthe Suntheim einverstanden ist, meine Frau zu werden, dann ist es gut. Soviel in meiner Macht steht, soll sie sich auch nicht über mich zu beklagen haben. Wenn sie nur nicht verliebte Torheiten von mir erwartet.“

„Oh, sie ist ein sehr sittsames und zurückhaltendes Mädchen, das sich in keiner Weise aufdrängen wird, davon bin ich überzeugt. Im Übrigen ist sie wirklich ein bildhübsches Geschöpf und gesund an Leib und Seele. Wenn mir mein altes Herz schon warm wird bei ihrem Anblick, so sollte es einem jungen Mann kaum schwer fallen, sie ohne Widerwillen in seine Arme zu nehmen. Über diesen Punkt bin ich ganz ruhig. Mein Sohn ist weder von Holz noch von Stein.“

Es lag ein feiner Humor in ihren letzten Worten, und Georg musste lachen.

„Also, um vier Uhr muss ich im Bratenrock und Brautbukett antreten im Amtmannshaus? Ich wollte, das läge erst hinter mir.“

Die Mutter versicherte ihm, dass sich alles ganz von selbst machen würde.

***

Punkt vier Uhr betrat Georg Brandner denn auch den nüchternen, schmalen Hausflur im Amtmannshaus.

Wally hatte in der Laube, hinter den Geißblattranken, auf der Lauer gelegen, um den historischen Moment nicht zu verpassen, wenn Georg Brandners Wagen vorfuhr. Nun alarmierte sie das ganze Haus, um sein Kommen zu melden.

Zuletzt stürmte sie in das Zimmer, das Käthe und ihr zusammen als Schlaf- und Ankleideraum diente.

„Er kommt, Käthe, er kommt! Du, mächtig fein sieht er aus! Und ein Bukett hat er auch mitgebracht. Horch! Zeus lässt schon die schönste Rede zum Willkommen vom Stapel.“

Sie stellte sich lauschend an die Tür. Käthe befestigte mit zitternden Fingern, ein goldenes Bröschchen, das Konfirmationsgeschenk einer Patin, am Ausschnitt ihres schlichten weißen Kleides.

Nun setzte sie sich kraftlos auf einen Stuhl und sah sehr blass aus.

Wally drückte die Hände auf ihr eigenes Herz.

„Ach, Käthe, mir ist zur Gesellschaft auch ganz ängstlich zumute, ich kann mir denken, dass du grässliches Lampenfieber hast. Als ich zum Schulexamen ein Gedicht vortragen musste, war mir ungefähr auch so zumute. Wenn du nur um Gottes willen nicht stecken bleibst und das Ja ordentlich herausbekommst. Und tu mir den Gefallen und kneif dich in die Wange, dass du ein wenig Farbe bekommst. Du siehst ja aus wie eine Tote.“

„Bitte, lass mich noch einen Augenblick allein, Wally!“, stieß Käthe hervor.

Wally nickte einsichtvoll und verließ das Zimmer.

Käthe lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und atmete schwer. Sie hatte plötzlich Angst, Georg Brandner gegenüberzutreten.

Auch Georg Brandner war durchaus nicht in beneidenswerter Stimmung. Er, der sonst in jeder Lebenslage seinen Mann stellte und vor nichts zurückschreckte, fühlte sich der kommenden Situation gegenüber hilflos wie ein Kind. So schnell und unbesonnen er seine erste Ehe geschlossen hatte, so bedächtig ging er an diese zweite heran.

Wenn er Käthe geliebt, sein Herz ihn in dieses Haus gezogen hätte, dann wäre ihm alles leichter gewesen. Aber so fürchtete er sich geradezu, dass ihm die junge Dame mit Zärtlichkeiten entgegenkommen und solche von ihm verlangen würde, wie es die Art verliebter Mädchen ist. So betrat er mit sehr gemischten Gefühlen den Hausflur und wurde schon hier vom Amtmann, der zur Feier des Tages den Bratenrock angelegt hatte, mit wortreicher Jovialität empfangen und in das Besuchszimmer geleitet.

Hier hatte sich die Frau Amtmann in ihrem besten Sonntagskleid feierlich in Positur gesetzt und bemühte sich krampfhaft, ruhig und unbefangen zu erscheinen.

Es machte sich nun wirklich alles wie von selbst. Georg brachte in kurzen, schlichten Worten seine Werbung vor. Der Amtmann schüttelte ihm die Hand, nannte Georg mein lieber Sohn und klopfte ihm auf die Schulter. Er hatte ihn erst umarmen wollen, aber Georgs reservierte Miene hielt ihn davor zurück. Er wandte sich nun an Käthes Mutter mit einigen kurzen und wärmeren Worten. Sie vermochte ihm nicht zu antworten, aber drückte seine Hand, so fest sie konnte, und sah mit einem Blick zu ihm auf, der ihn bewegte, und endlich rangen sich auch ein paar Worte von ihren Lippen.

„Alles Glück der Welt für Sie und meine Käthe!“

Georg beugte sich nieder und küsste ihre Hand mit einem warmen Blick in die sorgenvollen Mutteraugen.

„Liebe, verehrte Frau Amtmann, ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihrer Tochter ein frohes und angenehmes Leben zu schaffen“, sagte er ernst.

Von des Amtmanns unnatürlichem Wesen hatte er sich instinktiv abgestoßen gefühlt. Aber die stille blasse Frau war ihm sympathisch.

Georg stand neben der Mutter am Fenster, als Käthe eintrat. Sie sah blass aus und sehr ernst. Mit niedergeschlagenen Augen blieb sie stehen.

Er trat schnell auf sie zu. Zum ersten Mal betrachtete er dieses schöne, schlanke Mädchen mit aufmerksamen Blicken. Und etwas in ihrer Haltung, in ihrer Miene rührte ihn wider Willen.

„Fräulein Käthe, Ihre Eltern haben mir die Erlaubnis erteilt, Sie als meine Braut betrachten zu dürfen. Wollen auch Sie mir diese Erlaubnis geben?“, sagte er ernst.

Seine Stimme hatte kaum einen wärmeren Klang als sonst. Und er erwartete mit einigem Unbehagen, dass sie ihm nun um den Hals fallen oder sonst etwas Ähnliches tun würde.

Aber zu seiner geheimen Verwunderung und Erleichterung geschah nichts dergleichen. Trotz der auffordernden Blicke und Gebärden des Vaters, der hinter Georgs Rücken heftig gestikulierte, hob Käthe nur ihre Augen zu Georg empor und sagte leise: „Ich füge mich dem, was meine Eltern über mich beschlossen haben.“

Dem Amtmann stieg das Blut zu Kopf. War das Mädel unklug? Wie konnte sie diesen Freier so kühl behandeln? Sollte er sich noch in letzter Stunde anders besinnen?

Er räusperte sich drohend. Aber Käthe achtete nicht darauf. Sie sprach und tat in dieser Stunde, was sie musste, wozu sie ihr ganzes Wesen trieb.

Ein ganz eigentümliches Aufblitzen durchleuchtete Georgs Augen. Käthes Verhalten überraschte ihn, aber es missfiel ihm keineswegs. Sie hätte sich nicht klüger benehmen können, wenn sie es darauf abgesehen hätte, ihm zu gefallen. Ihre kühle Reserve nahm ihm die Furcht vor den erwarteten Zärtlichkeiten. Und nun war er darüber beruhigt, dass sich dieses Mädchen ihm niemals aufdrängen würde. Seine Mutter hatte also doch Recht gehabt. Er sah mit einem forschenden Blick in ihre Augen.

In den braunen, goldig leuchtenden Mädchenaugen lag ein Ausdruck, der Georg fesselte und ihm zu denken gab. Er war sich bewusst, zum ersten Mal mit voller Aufmerksamkeit in diese seltsamen ernsten Augen zu sehen. Auch empfand er, wie rein und klar die edlen Züge dieses jungen Gesichts waren.

Er gab sich einen Ruck und sagte aufatmend: „So reichen Sie mir Ihre Hand, Käthe, zum Zeichen, dass Sie mir fürs Leben angehören wollen! Ich kann nicht viele Worte machen. Erlassen Sie es mir, meinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Seien Sie überzeugt, dass ich das ehrliche Bestreben habe, Ihnen das Leben an meiner Seite so leicht und angenehm wie möglich zu machen.“

Eine Nuance wärmer war seine Stimme geworden. Aber Käthe fühlte, dass diese Worte nicht von einer tieferen Neigung diktiert wurden. Sie fror dabei.

Es hätte so wenig von seiner Seite bedurft, um dieses junge, unberührte Herz sich in dieser Stunde ganz zu Eigen zu machen. Sie hätte dem stattlichen, hübschen Mann, den sie heimlich bewunderte, ihre Seele mit inniger Freude zu Eigen gegeben, wenn sein Mund in dieser Stunde den rechten Ton gefunden hätte.

Aber sein Verhalten brachte ihr die Überzeugung, dass er nur aus äußeren Gründen um sie warb. Sie hatte es im Stillen schon gewusst, aber ein unklares Hoffen war doch noch in ihr gewesen. Nun war auch das gestorben. Und fester als je war sie davon überzeugt, dass Georg Brandners Herz noch immer seiner ersten Frau gehörte und sich nie einer anderen zuwenden würde. So verschloss sie ängstlich alles, was sehnsüchtig in ihr aufsteigen wollte, in sich. Und dabei war ihr zumute, als könne ihr Herz nie mehr warm und freudig schlagen, als müsse ihr ganzes Wesen in einer kühlen Ruhe erstarren.

Und ruhig legte sie ihre Hand in die seine.

Der Amtmann bemächtigte sich etwas gewaltsam der Situation. „Na, Kinder, nun gebt euch einen Kuss, und alles ist in Ordnung!“, sagte er lachend.

In Käthes Gesicht lag eine glühende Röte, und der fein gezeichnete Mund mit den roten Lippen presste sich in herber Abwehr zusammen. Georg sah das erglühende Mädchengesicht vor sich, und der herb geschlossene Mund reizte ihn plötzlich, des Amtmanns etwas unzarter Aufforderung Folge zu leisten. Er legte rasch seinen Arm um Käthe und zog sie an sich. Aber als er ihre Lippen berühren wollte, beugte sie instinktiv den Kopf so herab, dass seine Lippen nur ihre Stirn streiften.

Aber er fühlte zugleich, wie sie in seinen Armen zitterte. Das berührte ihn seltsam. Von der schlanken, bebenden Mädchengestalt in seinen Armen flutete es wie ein magnetischer Strom in seinen Körper. Sein rasches Blut pulsierte lebhaft, und lächelnd musste er denken, wie seine Mutter doch Recht hatte, als sie sagte: „Mein Sohn ist weder von Holz noch von Stein.“

Während er in der folgenden Stunde im Kreis der versammelten Familie Käthe gegenübersaß, sah er immer wieder mit einem suchenden, forschenden Blick in ihr Gesicht.

Er wurde merklich heiterer, unterhielt sich mit Käthes Brüdern und Schwestern, neckte Wally, mit der er sofort auf einen vertraulichen Ton kam, und stand dem Amtmann über allerlei Fragen Rede und Antwort. Mit Käthe wechselte er nur wenige Worte. Aber unmerklich war das vertrauliche Du von ihnen aufgenommen worden.

Er trank noch eine Tasse Kaffee mit und empfahl sich dann, indem er die ganze Familie des Amtmanns, Wally eingeschlossen, für den Abend zu einer kleinen Verlobungsfeier auf den Brandnerhof einlud.

***

Während der kurzen Brautzeit, die Hochzeit sollte schon in zwei Monaten sein, fand sich für das Brautpaar kaum eine Stunde des Alleinseins. Weder Käthe noch Georg hatten sich Mühe gegeben, ein solches herbeizuführen. Sein Wesen war Käthe gegenüber entschieden etwas unsicher. Sie gab ihm viel zu denken, viel mehr, als ihm lieb war. Es hatte nicht in seiner Absicht gelegen, eine Frau zu heiraten, die ihm Rätsel aufgab und ihm Interesse abnötigte. Dass er nun doch in Käthe solch eine Frau bekommen sollte, erschien ihm zunächst etwas unbequem. Und deshalb versuchte er, ihren Verkehr in einem gewissen konventionellen Ton zu halten. Brach sich aber sein rasches Blut doch einmal Bahn durch alle Vorsätze, dann waren entweder die anderen gerade im Wege, oder Käthe wich ihm aus. Sie hatte es darin zu einer gewissen Virtuosität gebracht. Sie war kühl und zurückhaltend, fast nie sah er ein frohes Lachen in ihrem Gesicht.

Konnte sie überhaupt so recht von Herzen lachen?

Als er sich das fragte, fiel ihm ein, dass er sie und Wally einmal beobachtet hatte, als sie in der Dämmerstunde im Garten herumgetollt waren. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Aber er war durch das lustige Lachen auf die beiden aufmerksam geworden. Es hatte so warm und herzlich geklungen, dieses mädchenhafte Lachduett. Wally hörte er oft genug wieder so lachen, Käthe aber nicht.

Manchmal wollte er sie fragen, ob sie das Lachen verlernt habe und warum. Aber er kam nicht dazu. Sprach er mit ihr, dann blickte sie ihn mit ihren schönen goldschimmernden Augen groß an, und dann fühlte er sich unter diesem Blick beklommen wie ein Schuljunge.

Sie wäre es wert gewesen, aus Liebe geheiratet zu werden, dachte er oft, fast beschämt, dass er so kühl seine Mutter hatte für sich werben lassen.

Er grübelte zuweilen darüber nach, warum sie seine Werbung angenommen hatte. Dass sie ihn liebte, glaubte er nicht, dazu war ihr Verhalten zu reserviert. Und dass sie allein der Glanz der guten Partie gelockt hatte, vermochte er nicht anzunehmen. Er traute ihr keine unedlen Motive zu und sagte sich, dass sie sich in. diesem Fall mehr um ihn bemühen würde. Seiner Meinung nach konnte sie weder er noch sein Besitz gelockt haben. Was hatte sie also dazu gedrängt, seine Braut zu werden?

Eines Tages kam ihm ein Gedanke, der ihn sehr unruhig machte. Sollte man trotz gegenteiliger Versicherung seiner Mutter einen Zwang auf sie ausgeübt haben? Als ihm dieser Gedanke kam, war er auf dem Heimritt begriffen.

Er hatte auf den Feldern zu tun gehabt und war müde und hungrig.

Ohne sich umzukleiden, trat er bei seiner Mutter ein.

„Guten Tag, Mutter!“

„Guten Tag, mein Sohn, bist du endlich zurück? Es war ein heißer Tag heute, nicht wahr?“

„Ja, Mutter.“

Georg ließ sich in einen Sessel fallen und streifte nervös mit der Reitpeitsche an den Schäften seiner Reitstiefel entlang.

„Willst du dich nicht umziehen, Georg? Ich lasse inzwischen den Teetisch decken.“

Sie klingelte und gab dem eintretenden Mädchen Befehl.

Da Georg keine Miene machte, sich zu erheben, sah sie ihn forschend an.

„Hast du Ärger gehabt, Georg?“

„Nein, Mutter.“

„Du kommst mir so seltsam vor. Was hast du denn?“

Georg stützte die Arme auf die Knie und sah mit einem forschenden Blick zu seiner Mutter auf.

„Mutter, ich wollte eine Frage an dich richten. Weißt du bestimmt, dass Käthe nicht gezwungen worden ist, meine Braut zu werden?“

Frau Brandner schüttelte verwundert den Kopf.

„Gezwungen? Aber Georg, wie kommst du nur auf diese Idee! Wer sollte sie denn gezwungen haben?“

„Nun, ihr Vater etwa. Ich halte ihn dazu für fähig.“

„Das ist unmöglich, Georg. Ich habe dir gesagt, dass Käthe in meiner Gegenwart das erste Wort von deiner Werbung hörte. Und ich gebe dir mein Wort, sie ist weder beeinflusst noch gezwungen worden.“

Er sah eine Weile schweigend vor sich nieder. Seine Mutter beobachtete ihn forschend.

Endlich hob er den Kopf und sagte dringend: „Bitte, erzähl mir doch einmal ganz ausführlich, wie jene Verhandlung geführt wurde! Du hast nur flüchtig darüber gesprochen.“

Anna Brandner erfüllte seinen Wunsch. Fast wortgetreu berichtete sie. Auch dass Käthe gefragt hatte: „Warum kommt Ihr Sohn nicht selbst, um mich zu fragen, ob ich seine Frau werden will, und warum hat er gerade mich erwählt?“, sagte sie ihm.

Georg hörte gespannt zu, aber auch er musste sich nun sagen, dass von einem Zwang keine Rede sein konnte. Als die Mutter zu Ende war, strich sie ihm über die Stirn und sagte lächelnd: „Bist du nun zufrieden?“

„Ja, Mutter.“

„Warum kamst du nur auf den Gedanken?“

„Ich weiß, nicht – Käthe kommt mir so kühl und zurückhaltend vor.“

Anna Brandners Augen bekamen einen ganz sonderbaren Ausdruck. Das feine humorvolle Lächeln, das zuweilen ihren Mund umspielte, zeigte sich wieder.

„Das war es doch, was du wolltest, Georg. Du hattest Angst vor verliebten Tändeleien und zudringlichen. Zärtlichkeiten. Käthe ist nicht eine von denen, die sich einem Mann an den Hals werfen. Sie besitzt großen Herzenstakt. Das schätze ich sehr an ihr.“

Georgs Gesicht verriet ein gewisses Unbehagen.

„Ja doch, Mutter, und ich bin auch sehr zufrieden mit ihrem Verhalten. Nur wollte ich sichergehen, dass sie nicht gezwungen worden ist zu dieser Verbindung. Der Gedanke war mir unerträglich.“ Er erhob sich und trat ans Fenster. Das, was ihm die Mutter gesagt hatte, hätte ihn vollauf befriedigen müssen. Aber sonderbarerweise war es durchaus nicht der Fall. Er ärgerte sich über sich selbst, dass er so viel über Käthe nachdenken musste. Ohne dass er es sich eingestehen wollte, hatte ihn diese Verlobung nun doch aus seiner Ruhe und seinem Gleichmaß gebracht. Es zog ihn jeden Tag nach dem Amtmannshaus, und doch verließ er es immer wieder enttäuscht und unbefriedigt. Er wandte sich ins Zimmer zurück.

„Und nun will ich mich schnell umziehen. Ich habe Hunger und Durst.“

Damit verließ er das Zimmer. Seine Mutter sah ihm lächelnd nach.

Mir scheint, dass ihm Käthe gar nicht mehr so gleichgültig ist. Es müsste auch sonderbar zugehen, wenn ein so liebes, süßes Geschöpf nicht Eindruck auf ihn machen sollte, dachte seine Mutter befriedigt.

Gleich darauf brachte das Mädchen auf einem Tablett das Teegeschirr und ordnete es auf den runden Tisch. Dann zündete sie das Spirituslämpchen an, und der Teekessel begann zu summen.

Gleich darauf trat Georg wieder ein und ließ sich seiner Mutter gegenüber nieder.

Sie besprachen erst Geschäftliches, und dann berichtete Frau Brandner, dass sie bei Amtmanns gewesen sei. Zu des Amtmanns großer Freude brauchte er seiner Tochter keine Aussteuer zu geben. Nur was Käthe für sich selbst an Wäsche und Kleidern brauchte, sollte neu angeschafft werden, sonst war alles im reichsten Maß im Brandnerhof vorhanden. Trotzdem suchte er auch daran noch überall zu sparen. Er fand es selbstverständlich, dass sich seine Frau und seine Töchter trotz ihrer knapp bemessenen Zeit selber hinter die Nähmaschine setzten und alles anfertigten. Sogar die Kleider sollten sie selbst herstellen. Aber Anna Brandner wollte nicht, dass ihre Schwiegertochter überarbeitet, mit blassen Wangen und müden Augen ihren Einzug im Brandnerhof halten sollte. Auch erbarmte sie Frau Suntheims schweres Los. Und so erklärte sie, dass sie Käthes Kleider auf ihre eigenen Kosten in einem Modehaus arbeiten lassen wollte und der Amtmann das so ersparte Geld für zwei Weißnäherinnen ausgeben möge, die Käthes Wäsche anfertigen sollten.

Der Amtmann fügte sich dieser Anordnung scheinbar liebenswürdig, aber als er dann mit seinen Damen allein war, brummte er doch noch über nutzlose Geldverschwendung.

Käthe war schon einige Male mit ihrer Schwiegermutter in die Stadt gefahren, um im ersten Modehaus Bestellungen zu machen. Die alte Dame suchte das Hübscheste und Eleganteste für Käthe aus. Es machte ihr große Freude, das schöne, schlanke Mädchen so einzukleiden, dass ihre Vorzüge ins beste Licht gerückt wurden. Einmal tat sie das, weil sie für Georg die hübscheste, reizendste Frau haben wollte, und dann fand sie selbst Gefallen daran. Hatte sie doch nie eine eigene Tochter schmücken können.

Nun konnte sie sich kaum genug tun. Einige besonders elegante Kleider ließ sie in Berlin arbeiten. Denn die Brandners mussten auch gesellschaftlich repräsentieren und wurden oft eingeladen, sahen auch selbst jedes Jahr zweimal Gäste bei sich. Da durfte die junge Herrin vom Brandnerhof nicht hinter den anderen zurückstehen.

Käthe war gerührt und beschämt über die Güte der alten Dame. Die beiden Frauen fühlten sich sehr zueinander hingezogen. Frau Brandner war gütig, ja fast zärtlich zu Käthe. Und Käthe dankte ihr das mit großer Wärme, war sie doch so gar nicht gewöhnt, umsorgt und verwöhnt zu werden.

Über den Amtmann ließ Anna Brandner wenig schmeichelhafte Bemerkungen fallen. Sie mochte ihn weniger leiden als je, obwohl er sich ihr gegenüber eines unterwürfigen Tons befleißigte. Georg berichtete ihr lachend, dass Wally von ihrem Vater meist nur als von Zeus spräche.

Frau Brandner lächelte.

„Wally hat sehr viel Temperament, es wäre schade, wenn der Amtmann durch seine despotische Erziehung die Ursprünglichkeit ihres Wesens vernichtete. Jetzt, da sie die ganze Woche nicht zu Hause ist, vermag sein Einfluss noch nicht ihren Willen zu unterjochen. Ist sie aber erst wieder ganz daheim, wird er sicher der Stärkere bleiben. Gegen solche Menschen kommt keiner auf.“

„Er ist mir auch so unsympathisch wie nur möglich, Mutter, und ich werde nie mit ihm wärmer werden.“

„Das ist auch nicht nötig, mein Sohn. Wir wollen ihn uns möglichst fernhalten. Ein Wunder ist es, dass dieser Mann so prächtige Kinder hat.“

Nach einer Weile erhob sich Georg.

„Ich will noch nach der Fabrik hinüber, Mutter, und auch bei Amtmanns vorsprechen. Hast du etwas an Käthe zu bestellen?“

„Nichts, als einen herzlichen Gruß, mein Sohn. Wir haben uns ja heute schon gesprochen.“

Er lächelte.

„Ich muss wohl auf Käthe eifersüchtig werden, Mutter. Du wirst sie eines Tages lieber haben als mich.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das glaubst du selbst nicht. Du weißt, was du mir bist. Das kann mir nie ein anderer Mensch werden. Aber Käthe ist mir lieb, weil sie nun doch zu dir gehört. Freilich – ich wüsste keine, die mir als Schwiegertochter lieber sein könnte als sie.“

Georg richtete sich auf.

„Ich glaube, sie verdient es, Mutter.“

Sie blickte ihn ernst und ruhig an.

„Ja, mein Sohn, davon bin ich überzeugt. Ich kenne sie gut genug, um das zu wissen, und trotz ihrer Zurückhaltung lese ich in ihr wie in einem aufgeschlagenen Buch.“

Er sah sie nachdenklich an.

„Also, dann adieu, Mutter! Zum Abendessen bin ich zurück“, sagte Georg nach einer Weile.

Er eilte mit sichtlicher Ungeduld davon und gestand sich nicht ein, dass er Verlangen hatte, in Käthes schönes Gesicht, in ihre goldig schimmernden Augen zu sehen.

Die Mutter faltete die Hände.

Gott mag alles zum Besten führen! Sie sind einander wert, dachte sie.

***

Georg hatte mit schnellen Schritten den Weg bis zu Amtmanns zurückgelegt. Als er durch das Tor des Holzzauns trat, kam ihm Wally entgegen gesprungen.

„Tag, Schwager.“ Sie schüttelte ihm die Hand, dass er eine schmerzhafte Grimasse schnitt.

„Bist du glücklich einmal wieder dem Schulzwang entronnen?“

„Gott sei Dank!“

„Sind die Eltern zu Hause?“

„Hm! Vater sitzt hinten in der Baumschule und regiert.“

„Wie meinst du das?“

„Er sieht zu, wie die Brüder und die Leute arbeiten und lässt als Begleitung dazu ein Donnerwetter nach dem anderen los. Und Mutter ist mit den Schwestern in der Nähstube, und alle zusammen arbeiten. Sogar ich sollte arbeiten. Aber Käthe hat mich losgebettelt. Sie hat doch jetzt ein Wörtchen mitzureden, seit sie deine Braut ist.“

Georg lachte.

„Ist sie dadurch eine so wichtige Persönlichkeit geworden?“, fragte er.

„Na, selbstverständlich“, versicherte Wally mit Nachdruck. „Sogar Zeus gesteht Käthe jetzt einige Daseinsberechtigung zu. Ach, Schwager, wie ich mich auf eure Hochzeit freue! Weißt du, das Verlobungssouper war auch schon mächtig fein. Aber eure Hochzeit, das ist doch mal ein Ereignis in dieser jammervollen Welt.“

Wieder musste Georg lachen. Langsam gingen sie nebeneinander her.

„Erscheint dir die Welt so jammervoll?“

„Na, ich danke“, antwortete Wally im Brustton der Überzeugung. „Du hast ja keine Ahnung, wie trist es sich lebt unter Vaters Joch.“

Sie schlug sich auf den Mund.

„Ach so“, fuhr sie hastig fort, „davon darf ich ja eigentlich nichts verraten. Aber schließlich gehörst du doch jetzt zur Familie und wirst dir auch wohl selbst ein Urteil gebildet haben, wenn du auch sozusagen unser Familienleben nur mit Liebreiz garniert vorgesetzt bekommst.“

„So, wer garniert es denn?“, forschte er amüsiert.

„Na, Zeus, natürlich.“

Er zog sie am Haar.

„Wenn ich nicht irre, sollst du auch nicht Zeus sagen.“

„Willst du etwa petzen?“, fragte sie entrüstet. „Dazu bist du ein viel zu feiner Mensch. Weißt du, im Grunde gönne ich dich keiner anderen als meiner Käthe.“

„Du würdest mich wohl sonst selbst mit Beschlag belegen?“, neckte er.

Sie tippte weniger höflich als deutlich an die Stirn.

„Unsinn, davon kann doch keine Rede sein. Ich meine nur, so ein Mensch wie du muss auch ’ne famose Frau haben. Na, und Käthe, weißt du, ich habe vor wenigen Menschen solchen Respekt wie vor ihr. Wenn du nur erst mal merkst, was du für eine Perle gefunden hast! Vorläufig scheint dir die Erkenntnis noch nicht recht aufgegangen zu sein.“

Georg blieb stehen.

„So, meinst du?“

Wally nickte und wippte auf den Fußspitzen auf und ab.

„Natürlich, ich meine immer, was ich sage. Deshalb bin ich ja das schwarze Schaf der Familie, und das hat mir schon manches Donnerwetter eingetragen. Weißt du, es ist ja auch gar nicht zu verlangen von dir, dass du Käthes Wert schon erkannt hast. Sie ist ja so ängstlich, damit nur niemand ihre guten Eigenschaften kennen lernt. Im Grunde kennt sie keiner so gut wie ich und keiner so wenig wie du.“

Georg war ernst geworden.

„Du stellst ja kühne Behauptungen auf, Wally“, sagte er rasch.

„Gar nicht kühn. Siehst du, mir gegenüber gibt sie sich, wie sie ist. Wir schlafen in einem Zimmer, und ich bin viel mit ihr zusammen. Wenn aber Vater zugegen ist, ducken wir uns alle und sagen nicht mau. Na, und du siehst sie doch fast immer nur in Vaters Gegenwart. Also, wie willst du sie da kennen lernen, zumal sie jetzt fast noch ruhiger ist?“

„War sie denn früher anders?“

Wally machte ein Mäulchen.

„Natürlich, ganz anders. Weißt du, seit sie deine Braut ist, hat sie es mächtig mit der Würde gekriegt. Denkst du, sie tollt noch ein einziges Mal in der Dämmerstunde, wenn Zeus zu seinem Schoppen gegangen ist, mit mir draußen im Garten herum? Keine Spur! Immer hat sie gerade was Wichtigeres vor. Ich bitte dich, als ob Lustigsein in dieser Tränenwelt nicht das Wichtigste wäre. Na, überhaupt, so einen Brautstand habe ich mir vergnüglicher gedacht. Ihr sitzt immer so steif wie ein paar Ölgötzen nebeneinander und macht so artig Konversation, dass einem die Haare zu Berge stehen. Nichts als ‚Guten Tag‘ und ‚Adieu‘, ‚Schönes Wetter heute‘ und ‚Ja‘ und ‚Nein‘, und so. Schrecklich! Manchmal kribbelt es mir in allen Fingern. Ich wundere mich nur über meine Selbstbeherrschung, dass ich mir darüber den Mund noch nicht verbrannt habe.“

„Was du nun aber endlich besorgt hast, Wally.“

„Bist du böse darüber?“, fragte sie.

„Nein, Kleine.“

„Na, Gott sei Dank. Du bist eben ein vernünftiger Mensch und fällst nicht gleich in Zustände, wenn einer mal die Wahrheit spricht.“

„Nein, das nicht. Ich wundere mich nur, dass du uns so scharf beobachtest. Ist das so interessant?“

Sie nickte energisch.

„Natürlich, mächtig interessant, du, Georg, sag mal – im Vertrauen –, habt ihr euch schon mal ’nen Kuss gegeben? Soviel ich auch aufpass, ich habe es noch nicht gesehen. Ich habe Käthe schon gefragt, aber sie ist nur purpurrot geworden und hat mir keine Antwort gegeben.“

Er sah nachdenklich in ihr erwartungsvolles Gesicht.

„Nun?“, drängte sie.

„Ist es dir so wichtig, das zu erfahren?“

„Hm, sehr.“

„Nun also – das tut man doch nicht in Gegenwart anderer.“

Sie sah ihn zweifelnd an. Dann schien ihr aber ein Licht aufzugehen.

„Ach so, jetzt weiß ich’s, weil immer so ’ne Menge Menschen um euch herum ist.“

Er nickte scheinbar sehr ernsthaft und zerknirscht.

„Nicht wahr, das kannst du verstehen?“

Sie hing sich zappelnd an seinen Arm.

„Du soll ich dir mal was verraten?“

Er sah sie forschend an. „Ja“, sagte er schnell.

„Aber niemand wiedersagen!“

„Wahrhaftig nicht.“

„Ehrenwort?“

„Ehrenwort!“

„Also, wenn du Käthe mal allein sehen und sprechen willst, musst du morgens zwischen neun und zehn Uhr hinten durch die kleine Holzpforte eintreten. Gleich rechter Hand sind Johannisbeer- und Stachelbeersträucher. Da pflückt Käthe jeden Morgen Beeren um diese Zeit. Nur sonntags darfst du nicht kommen – da bin ich nämlich bei Käthe und helfe pflücken. Und wenn ihr euch auch meinetwegen nicht zu genieren braucht, am Ende ist dir’s doch lieber, du hast Käthe mal ganz allein für dich.“

Georg drückte ihr die Hand.

„Du bist ein Prachtmädel, Wally. Für diesen zarten Wink bringe ich dir nächstens, wenn ich in der Stadt zu tun habe, ein Pfund extra feine Pralinen in die Pension. Oder darfst du die nicht annehmen?“

„Ach natürlich, wenn du sie abgibst, hat Frau Doktor nichts dagegen: Also wirklich ein ganzes Pfund? Das ist furchtbar nobel von dir. Aber nun drücke ich mich. Da hinten taucht Zeus auf. Adjüs, Schwager – und denk an das Ehrenwort!“

„Und an die Pralinen, Wally, verlass dich darauf.“

Wally schlüpfte ins Haus, und Georg erwartete den Amtmann, der ihm schon von weitem eifrig winkte.

Die scherzhafte Unterhaltung beschäftigte ihn innerlich mehr, als er zugeben wollte: Er hätte Wally noch lange zuhören mögen, wie sie über Käthe sprach. Wenn er auch in Betracht zog, dass seine junge Schwägerin im Übermut manches übertrieb, eines war doch sicher: dass Käthe seit ihrer Verlobung in ihrem Wesen eine andere geworden war.

Wie sollte er das deuten? Er beschloss jedenfalls, Wallys Wink zu befolgen und Käthe gleich am Montag früh bei den Beerenbüschen aufzusuchen.

***

Kurz nach neun Uhr öffnete Georg vorsichtig die kleine Pforte in dem verwitterten Holzzaun. Es war still und menschenleer ringsum. Die Sonne schien hell, Vögel sangen, und der Duft der Blumen erfüllte die Luft.

Georg blickte forschend über die Beerensträucher. Und da sah er, nicht weit von sich entfernt, ein blaues Leinenkleid.

Eine Weile blieb er zögernd stehen und beobachtete Käthe.

Emsig verrichtete sie ihre Arbeit, ohne ihn zu bemerken. Ihre schöne schlanke Gestalt neigte sich hin und her. Ihr Gesicht konnte er nur von der Seite sehen. Das reine Profil hob sich klar und deutlich von dem grünen Hintergrund ab.

Langsam trat er näher.

„Guten Morgen, Käthe!“

Sie schrak zusammen. Röte und Blässe wechselten in jäher Folge auf ihrem Antlitz.

Aber sie fasste sich schnell.

„Guten Morgen, Georg. Wo kommst du so früh her?“, sagte sie hastig.

„Durch diese Tür“, sagte er scherzend, um ihr die Unbefangenheit wiederzugeben. „Ich ging vorüber und trat ein, um dir guten Morgen zu wünschen.“

„Wusstest du denn, dass du mich hier finden würdest?“, fragte sie.

„Das wusste ich natürlich nicht.“

Sie beugte sich über ihr Körbchen und entfernte einige grüne Blätter, die sich zwischen die Beeren verirrt hatten.

„Wenn du Mutter auch begrüßen willst – sie ist im Haus. Ich komme gleich nach.“

„Eigentlich kann ich mir den Gang zum Haus sparen. Ich wollte in der Hauptsache nur dich begrüßen.“

Wieder wurde sie rot, aber ihre Augen blieben gesenkt.

„Wie geht es deiner Mutter? Hat sie dir etwas für mich aufgetragen?“

„Nein, Käthe, sie weiß gar nicht, dass ich hier bin.“

„Wir wollen heute Nachmittag in die Stadt fahren. Ich dachte, es wäre etwas dazwischengekommen.“

„Nein, Käthe. Also, in die Stadt wollt ihr fahren? Wohl zur letzten Kleideranprobe?“

Sie nickte.

„Ja. Deine Mutter ist gütig zu mir, sie verwöhnt mich so sehr. Ich weiß gar nicht, wie ich ihr das danken soll.“

„Meinst du nicht, dass ihr das selbst viel Freude macht?“

„Ach ja, das fühle ich, aber ich verdiene es nicht.“

Er fasste ihre Hand, die noch immer nach Blättern suchte. Damit zwang er sie, ihre Beschäftigung einzustellen.

„Muss man denn alles verdienen, Käthe? Ist es nicht gerade beglückend, wenn uns jemand Liebe entgegenbringt, ohne nach dem Verdienst zu fragen?“

Sie hob plötzlich die Augen groß und voll zu ihm empor.

„Ich bin es gar nicht gewöhnt, dass man so gut zu mir ist:“

Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte er: „Nun sind es nur noch acht Tage bis zu unserer Hochzeit, Käthe.“

„Ja“, antwortete sie nur, aber ihre Hand bebte in der seinen.

Da flammte ihm das Blut plötzlich in raschem, heißem Strom zum Herzen. Sie stand in all ihrer Holdseligkeit vor ihm, und sie waren allein. Goldiges, warmes Sonnenlicht umflutete sie beide, und er war ein junger, lebensfrischer Mann mit heißem Blut.

Er riss sie plötzlich in seine Arme. Seine Augen blickten mit einem Ausdruck in die ihren, wie sie ihn noch nie in Männeraugen gesehen hatte. Aber sie empfand brennend, dass nur ein Aufflammen seiner Sinne sein Tun dirigierte. Und es war auch in diesem Moment nichts anderes.

Instinktiv schloss sie die Augen, um diesen Blick nicht mehr sehen zu müssen, und ihr Haupt bog sich weit zurück. Sie war sehr blass geworden und zitterte heftig.

Dieses Zittern und ihre angstvolle Abwehr erregten ihn noch mehr. Herrisch zog er sie ganz fest an sich heran und presste durstig seine Lippen auf ihren Mund.

Da sanken ihre Arme schlaff herab, und das Körbchen mit den Beeren fiel zur Erde. Er zuckte zusammen und löste seine Arme von ihr. Da riss sie sich schnell los und kniete nieder, um die Beeren aufzuklauben. Wie rote Blutstropfen leuchteten sie auf dem grünen Rasen.

Er sah auf sie nieder, wie sie sich mit bebenden Händen den Beeren zuwandte.

Die Stimmung war verflogen. Er beugte sich hinab und half, die Beeren aufzusuchen. Zuerst sprachen sie beide kein Wort. Erst nach einer Weile machte er seinem Unmut Luft.

„Man darf nicht einmal seiner Braut ungestraft einen Kuss geben. Gleich wird man vom Verhängnis ereilt. Nun bist du mir sicher sehr böse, dass ich dir so viel Mühe verursacht habe.“

Sie konnte nicht antworten, schüttelte nur stumm den Kopf. Die Tränen saßen ihr in der Kehle. Die Angst vor der Zukunft stand plötzlich wie ein graues Gespenst vor ihr. Sie war sich erst in diesem Augenblick darüber klar geworden, dass sie als seine Frau willenlos derartige Zärtlichkeitsausbrüche, von denen sein Herz nichts wusste, würde dulden müssen. Dass er sie nicht liebte, damit hatte sie sich abgefunden. Dass er aber trotzdem, wenn ihm der Sinn danach stand, Liebkosungen von ihr fordern und ihr solche zuteil werden lassen durfte, das erschien ihr unerträglich.

Sie wünschte sich in diesem Augenblick sehnlichst, dass er gehen und sie allein lassen möchte.

Die Beeren waren wieder im Korb. Käthe erhob sich, strich glättend über ihr Kleid und atmete tief auf.

„So, Käthe, der Schaden wäre geheilt. Bist du nun wieder gut?“, fragte er dringend.

Sie fühlte, dass er jetzt anders war als vorhin. Wieder sah sie ihn mit einem Blick an, der ihm Herzklopfen verursachte.

„Ich bin nicht böse, aber nun muss ich ins Haus zurück.“

Er wusste, dass es nur ein Vorwand war, um einem längeren Alleinsein mit ihm zu entgehen.

„Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Adieu, Käthe!“, sagte er ärgerlich.

„Adieu, Georg!“

Käthe ging nicht ins Haus zurück, als Georg sich entfernt hatte. Mechanisch setzte sie ihre Arbeit fort. Aber ihre Gedanken weilten noch immer bei diesem ersten Alleinsein mit ihrem Verlobten. Und obwohl sie seine Liebkosung erschreckt hatte, wallte jetzt das Blut doch zum Herzen bei dem Gedanken daran.

Aber dann stieg eine Erinnerung in ihr auf aus jener Zeit, da Georg seine erste Frau hatte. Sie war einmal durch den Wald gegangen zu der Ruine des Schlosses auf dem Hügel. Damals war sie etwa in Wallys Alter. Sie hatte plötzlich den Herrn vom Brandnerhof mit seiner jungen Frau auf dem schmalen Waldweg daherkommen sehen. Er hatte den Arm um die schöne Frau geschlungen. Auge in Auge waren sie versunken gewesen, und Georg Brandner hatte ausgesehen, als blickte er in den offenen Himmel hinein.

Ängstlich war Käthe ins Gebüsch zurückgewichen, um nicht gesehen zu werden. Atemlos hatte sie gestanden, bis die beiden vorüber waren. Dann hatte sie noch gesehen, wie Georg seine Frau zärtlich über einen schmalen Bach trug.

„So durchs ganze Leben, meine Königin!“, hatte er jauchzend dabei gerufen.

Sie hatte diese kleine Szene, die in den ersten Wochen von Georgs Ehe sich abspielte, nie ganz vergessen. Jetzt wurde sie ihr zur eigenen Qual von neuem lebendig.

Jene Frau hat er geliebt über alle Maßen, und niemals wird er eine andere so lieben können, dachte sie. Und sie machte eine Bewegung, als müsse sie etwas Quälendes von sich schieben. Sie wehrte sich mit der ganzen Energie ihres Wesens gegen das Gefühl, das sie zu Georg zog, das stetig in ihr wuchs. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, wenn sie daran dachte, dass Georg merken könne, was ihre Seele erfüllte. Lieber wäre sie gestorben, als dass sie gestanden hätte, ihn zu lieben. Sie versuchte sich selbst einzureden, dass es nicht Liebe sei, was sie für ihn empfand.

Georg war enttäuscht nach Hause gegangen. Was er von diesem Alleinsein mit Käthe erwünscht und erwartet hatte, wusste er selbst nicht. Jedenfalls war er aber nicht zufrieden, weder mit sich noch mit Käthe.

Er versuchte sich sogar einen leisen Groll gegen sie einzureden. Sie war zimperlich und prüde. Wozu brauchte sie gleich so erschrocken und verletzt zu sein, wenn er sie einmal ein wenig derb anfasste? In acht Tagen wurde sie seine Frau, dann musste sie sowieso ihre Sprödigkeit aufgeben. Und doch hatte ihn Käthe gerade durch diese Sprödigkeit abermals in seltsame Unruhe gebracht. Und plötzlich wollte sein künstlich aufgebauter Groll nicht mehr standhalten, als er an ihren angstvollen, hilflosen Blick dachte.

„Kleine dumme Käthe“, sagte er weich und zärtlich vor sich hin.

Und er lächelte.

***

Die Hochzeit wurde im Brandnerhof gefeiert, erstens, weil die Räumlichkeiten im Haus des Amtmanns nicht ausreichten, und zweitens, weil es Frau Brandner dringend wünschte. Bei seiner ersten Vermählung, die er draußen in der Welt feierte, hatte sie weder ihrem Herzen, noch dem Glanz ihres Hauses Genüge tun können. Das wollte sie nun nachholen.

Zahlreiche Gäste waren eingeladen. Darunter natürlich zuerst die Verwandten des Brautpaars. Auch die Schwester Anna Brandners, die noch in ihrer norddeutschen Heimat lebte, war mit ihrem Gatten, ihren Söhnen und Töchtern gekommen.

Ein wundervoller Spätsommertag verklärte mit seinem Glanz das Hochzeitsfest.

Käthe war eine entzückende Braut. In weichen Falten floss das Brautkleid an ihrer schlanken Gestalt herab. Sie war blass und ernst und auch sehr still, aber es lag eine Süßigkeit über ihrer ganzen Erscheinung, dass sich die Menschen nicht satt sehen konnten an dieser lieblichen Braut. Georg klopfte das Herz, wenn er sie ansah.

Bisher hatte er Käthe nur immer in ihren schlichten Wasch- und Wollkleidern gesehen. Sie erschien ihm eine ganz andere in der Pracht des Hochzeitsgewandes.

Der Hochzeitszug bewegte sich vom Haus des Amtmanns nach der Dorfkirche. Alle Festteilnehmer, auch das Brautpaar, gingen zu Fuß. Auf dem ganzen Weg waren Blumen gestreut.

Die Dorfbewohner, jung und alt, bildeten Spalier und staunten über die prächtigen Toiletten und all den Glanz, der sich nach Brackenfeld verirrt hatte.

Die kleine Dorfkirche war sehr stimmungsvoll geschmückt. Der greise Pastor sollte heute als letzte Amtshandlung diese Trauung vollziehen. Er hatte Georg schon getauft und ebenso Käthe. Nach dieser Trauung wollte er in den wohlverdienten Ruhestand treten.

Sein Nachfolger war bereits seit einigen Tagen anwesend und befand sich mit unter den Hochzeitsgästen. Er war ein schlanker, blonder Mann, noch unverheiratet und den Damen gegenüber sehr zurückhaltend.

Käthes Schwester Helene ging im Hochzeitszug neben ihm. Sie blickte dankbar zu ihm auf, dass er bewundernd in ihre schönen Augen sehen musste. Sie half ihm in ihrer stillen, lieben Weise seine Schüchternheit zu besiegen, und bald unterhielten sie sich angeregt miteinander. Pastor Seltmann fand großen Gefallen an dem hübschen, bescheidenen Geschöpf.

Ein altes Sprichwort sagt, dass auf einer Hochzeit immer der Grundstock zu einer zweiten gelegt wird. Frau Amtmann Suntheim kannte dieses Sprichwort, und sie sah, wie sich Pastor Seltmann um ihre Helene bemühte. Da er Junggeselle und in gesicherter Stellung war, schickte sie ein inbrünstiges Gebet zum Himmel. Solch eine Gelegenheit fand sich nicht leicht wieder für Helene. Und dann flog ihr Blick zu Maria hinüber.

Sie saß in einem lichtgrauen Kleid neben Wally, die in ihrem Festkleid wie eine rosige Apfelblüte aussah. Maria fing den Blick der Mutter auf und lächelte ihr zu. Auch sie hatte bemerkt, dass sich der Pastor um Helene zu bemühen schien. Aber sie hatte mit allen Wünschen und allem Hoffen in dieser Beziehung abgeschlossen. Sie wusste, was der Blick der Mutter zu bedeuten hatte – und lächelte. Da flossen Tränen aus Frau Suntheims Augen auf ihre gefalteten Hände hinab. Am Altar sprach in diesem Augenblick Käthe das bindende Ja.

Die Trauung war zu Ende. Der Hochzeitszug bewegte sich nun nach dem Brandnerhof, der festlich mit Flaggen und Girlanden geschmückt war.

Käthes Fuß versank fast in der Fülle der Blumen, die man ihr auf den Weg gestreut hatte. Still und ernst schritt sie neben Georg über die Schwelle seines Hauses, das nun auch ihre Heimat sein sollte. Georg fühlte sich nicht sonderlich wohl bei der ganzen Feier und war durchaus nicht in rosiger Stimmung. Er war froh, als wenigstens der Kirchgang mit der damit verbundenen Schaustellung vorüber war.

Aber auch dann blieb dem Brautpaar keine Zeit, sich auf sich selbst zu besinnen. An die Gratulationscour schloss sich die Tafel. Sie war im großen Festsaal gedeckt, und heute waren all die Silberschätze des Hauses, das kostbare Porzellan und die wundervollen Damaste zu Ehren gekommen.

Gleich von Anfang an herrschte frohe Feststimmung unter den Teilnehmern. Am stillsten war das Brautpaar, das auf bekränzten Sesseln den Ehrenplatz an der Tafel eingenommen hatte, und am fröhlichsten und glücklichsten war Wally.

Sie sah ganz reizend aus in dem duftigen rosa Kleid und mit dem Apfelblütenkranz auf dem nussbraunen Haar.

Das fand auch ihr Tischnachbar, der Enkel von Anna Brandners Schwester. Er schnitt Wally auf Tod und Leben die Cour, und sie fand das einfach himmlisch. Sie teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen ihm und den Tafelgenüssen und sprühte vor Übermut.

Nach der Tafel zerstreuten sich die Gäste in die anstoßenden Zimmer, wo in kleinen Tässchen Mokka serviert wurde.

Inzwischen wurde der Festsaal zum Tanzen geräumt. Wally probierte schon in einer Ecke, wie es mit dem Tanzen gehen würde. Sie hatte noch keine Tanzstunde gehabt, aber Käthe hatte ihr, oft unter den schwierigsten Umständen und auf dem holprigsten Boden, alle Tänze beigebracht. Wie es freilich mit einem richtigen Herrn gehen würde, das machte ihr Kopfschmerzen. Aber es ging famos, und Wallys natürliche Grazie tat das ihre.

Georg und Käthe hatten sich im Trubel, der dem Aufbruch von der Tafel folgte, unbemerkt entfernt. Sie mussten erst im Wagen bis zur Stadt fahren, um dort den Zug zu erreichen, der sie auf die Hochzeitsreise entführen sollte.

Georg hatte sich jetzt nur vierzehn Tage frei machen können, da es für den Landwirt noch zu tun gab. Wohl war die Getreideernte schon vorüber, aber die Kartoffel- und die Rübenernte standen noch bevor. Da konnte er nicht gut länger fortbleiben.

Käthe war das recht so. Am liebsten hätte sie ganz auf die Hochzeitsreise verzichtet, dann sie wusste, dass sie dann den ganzen Tag mit Georg allein sein würde. Und davor fürchtete sie sich geradezu.

Georg war froh, als er sich von der lauten Feier drücken konnte. Er atmete auf, als er zu Käthe in den Wagen stieg.

„Gott sei Dank, Käthe, nun können sie antoasten, wen sie wollen – wir sind jetzt in Sicherheit“, sagte er. Und dann sah er sie lächelnd an. Wie entzückend sie nun wieder aussah in dem eleganten, kleidsamen Reiseanzug! Er machte ihr ein Kompliment darüber und küsste ihr die Hand.

Sie zwang sich zu einigen Worten, obwohl ihr die Kehle wie zugeschnürt war.

„Das Kompliment musst du deiner Mutter machen, Georg. Sie hat all die Kleider für mich ausgesucht.“

„Aber du trägst sie, Käthe, und wie du sie trägst! Ich bin sehr gespannt, dich in all deinen neuen Toiletten zu sehen.“

Er spricht von meinen Kleidern, als ob sie das Wichtigste an mir wären. Nach meiner Seele fragt er nicht, dachte sie, die Zähne wie im Frost zusammenbeißend. Und sie ahnte nicht, dass Georg nur ritterlich ein belangloses Gespräch angeknüpft hatte, weil er in ihren Augen die Angst vor dem Alleinsein mit ihm las. Er wollte ihr Zeit geben, sich zu beruhigen.

Als Reiseziel hatte man ein französisches Seebad gewählt. Käthe kannte weder das Meer noch überhaupt ein anderes Stück Welt außer ihrer engeren Heimat. Aber sie hatte einmal flüchtig den Wunsch geäußert, ein Seebad kennen zu lernen. Das hatte Georg sich gemerkt. Da gab es genug des Interessanten für Käthe zu sehen, und man konnte trotzdem auch im Trubel des Badelebens für sich allein bleiben.

***

Schneller, als Käthe geglaubt hatte, gingen die Tage in dem Bad dahin. Sie hatte viel Neues zu sehen, viel Interessantes. Glanz und Luxus und sorglose Lebensfreude, wohin die Augen schauten. Aber am schönsten und herrlichsten erschien ihr das Meer selbst in seiner majestätischen Pracht. Sie hätte stundenlang sitzen mögen, um sich von dem Rauschen des Meeres in freundliche Träume wiegen zu lassen.

Auch das Baden selbst machte ihr viel Freude. Sie war eine tüchtige Schwimmerin und hatte sich daheim mit den Schwestern im Sommer fast jeden Tag im Fluss getummelt.

Weniger angenehm erschienen ihr die Besuche von Reunions und Konzerten. Georg führte sie überall hin, im Bestreben, ihr Vergnügen zu bereiten. Aber unter den vielen Menschen fühlte sie sich nicht wohl. Sie wäre lieber allein oder mit Georg am Meeresufer dahingeschlendert. Das sagte sie ihm jedoch nicht.

Das junge Paar lebte in den ersten Tagen seiner Ehe in einem seltsamen Verhältnis miteinander. Georg war zurückhaltend und ritterlich. Er hatte sich fest vorgenommen, Käthe nicht wieder durch sein rasches heißes Blut zu erschrecken und wartete, dass sie ihm wärmer entgegenkommen sollte.

Käthe aber kämpfte einen stillen Kampf mit ihrem eigenen Herzen, das sie zu Georg zog und das von Tag zu Tag sehnsüchtiger nach Liebe verlangte. Aber je mehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte, desto zurückhaltender gab sie sich, aus Furcht, ihm ihre Liebe zu verraten.

Dann kamen aber Stunden, wo sich ein leises, schüchternes Hoffen in ihr regte, dass Georg ihr eines Tages sein Herz zuwenden würde, wenn sie nur Geduld hatte.

In solchen Stunden leuchteten ihre Augen in einem Glanz, der Georg das Herz warm machte. Aber er war oft ungeduldig, dass sie stets seine Zärtlichkeiten nur stumm duldete, ohne sie zu erwidern. Sein Herz entflammte mehr und mehr an ihrem passiven Widerstand. Er sehnte sich danach, dass sie einmal von selbst den Arm um ihn schlingen, sich hingebend an ihn schmiegen sollte. Aber sie schien wie von Stein.

Manchmal freilich, wenn er sie in seinen Armen hielt und sich bemühte, ihre kühlen Lippen mit seinen heißen, durstigen Küssen zu erwärmen, schien es zuweilen auf Augenblicke, als wenn sich ihre Starrheit löse, als ob auch durch ihre Adern das Blut lebendiger fließe. Aber dann war sie wieder umso zurückhaltender. So schwankte er zwischen Furcht und Hoffnung und merkte dabei kaum, dass er Käthe schon längst liebte – heißer, inniger, als er seine erste Frau je geliebt hatte.

***

Es war zwei Tage vor ihrer beabsichtigten Abreise, als das junge Paar abends eines der elegantesten Restaurants am Strand aufsuchte.

Käthe trug eine entzückende Robe aus opalfarbenem Seidenmusselin. Sie sah bildschön aus.

Georg bemerkte, dass viele bewundernde Blicke der schlanken Erscheinung seiner Gattin folgten. Und er selbst musste Käthe bewundern. Sie machte so gar nicht den Eindruck, als wäre sie solche Toiletten nicht gewöhnt.

Das junge Paar nahm an einem Tisch auf der Veranda Platz, wo man einen herrlichen Blick auf das Meer hatte. Nur ein Tisch neben ihnen war noch frei, sonst war alles besetzt. Als sie gerade beim Nachtisch angelangt waren, erschienen ein Herr und eine Dame, die am Nebentisch Platz nahmen.

Ein starker Parfümgeruch schlug zu ihnen herüber. Käthe besaß eine Abneigung gegen jede Art Parfüm, aber dieser Geruch erschien ihr besonders unangenehm.

Sie sah zu Georg hinüber, ob ihn das starke Parfüm auch stören würde. Er hatte sich umgewandt, und sie sah, wie er beim Anblick des Paares am Nebentisch zusammenzuckte und sich verfärbte.

Zugleich bemerkte sie auch, dass die Dame Georg sehr interessiert fixierte. Sie war mit auffallender Eleganz gekleidet.

Mit Absicht setzte sich die Dame so, dass sie Georg ihr Gesicht zuwandte, und versuchte, mit ihm zu kokettieren.

In Georgs Wesen machte sich eine auffallende Unruhe bemerkbar. Er warf Käthe einen Blick zu und sah, dass sie den kleinen Zwischenfall bemerkt hatte.

Mit einer brüsken Bewegung drehte er seinen Stuhl herum, so dass er der Dame den Rücken zukehrte. Und seine Stirn zog sich finster zusammen.

Wie im Schmerz, dachte Käthe, und sie grübelte darüber nach, weshalb Georg beim Anblick dieser Dame so erschrocken war.

„Wenn es dir recht ist, gehen wir jetzt“, sagte Georg nach einer Weile.

„Ja“, sagte sie leise. „Gern.“

Er rief den Kellner herbei, um zu zahlen. Augenscheinlich war er sehr nervös.

Käthe musste wieder in das schöne geschminkte Frauengesicht hinübersehen. Und es wollte ihr scheinen, als sehe sie es heute nicht zum ersten Mal. Aber sie konnte sich nicht erinnern, wo es ihr schon begegnet war.

Jedenfalls bemerkte sie, dass die Dame ihrem Begleiter etwas über Georg gesagt haben musste, denn er wandte sich verstohlen um und sah zu Georg hinüber, drehte aber dann das Gesicht so, dass Georg ihn nicht ansehen konnte. Anscheinend wollte er auch nicht, dass seine Dame herübersah, denn er machte sie auf irgendetwas draußen auf dem Meer aufmerksam, um sie abzulenken.

Die Dame warf aber immer wieder ihre aufdringlichen Blicke zu Georg herüber.

Er hatte bezahlt und erhob sich. „Komm, Käthe!“

Sie gehorchte sofort. Als sie mit Georg an dem Paar am Nebentisch vorüberging, hatte sich der Herr abgewandt. Aber dass die Dame Georg zulächelte und ihn mit den Augen grüßte, entging Käthe nicht.

Wie er diesen vertraulichen Gruß aufnahm, konnte sie nicht sehen, da er hinter ihr ging. Aber in ihrem Herzen regte sich ein peinigendes Gefühl.

Als sie ins Freie traten, atmete sie die klare, würzige Seeluft ein. Dieses abscheuliche Parfüm schien sich in ihre Kleider gehängt zu haben, und sie meinte, sie würde diesen Geruch nicht wieder los.

Georg ging still und sichtlich verstimmt neben ihr her. Sie sah von der Seite verstohlen zu ihm auf. Seine Augen blickten düster, und die Stirn war noch immer finster zusammengezogen.

Erst nach einer ganzen Weile fragte er unsicher: „Willst du noch irgendwohin gehen, Käthe?“

Sie schrak aus ihren Grübeleien empor.

„Nein, Georg.“

„Das ist mir lieb. Ich habe leider scheußliches Kopfweh. Wenn es dir recht ist, gehen wir ins Hotel zurück.“

„Es ist mir recht“, sagte sie leise. Aber sie konnte an diesem Abend nicht einschlafen. Immer musste sie grübeln, wo sie die schöne Frau am Nebentisch schon gesehen hatte und was zwischen ihr und Georg vorgegangen war. Noch aus dem Schlaf schreckte sie empor, weil sie meinte, den starken, schwülen Duft wieder zu spüren.

Am Morgen hatte Georg, schon ehe sie erwachte, das Hotel verlassen, und man meldete ihr, dass er um neun Uhr zum Frühstück zurück sein würde.

Käthe sah nach der Uhr. Es fehlte bis dahin noch eine Dreiviertelstunde. Da die Sonne schien, wollte sie diese Zeit zu einer kleinen Strandpromenade benutzen.

Als sie etwa zehn Minuten auf dem breiten Promenadenweg gegangen war, sah sie plötzlich zu ihrem Schrecken nicht weit von sich entfernt Georg mit der Dame von gestern Abend auf einer Bank sitzen.

Wie gelähmt blieb sie stehen, und dann wollte sie sich instinktiv zur Flucht wenden. Aber da hatte Georg sie auch schon entdeckt. Er erhob sich sofort, zog flüchtig grüßend den Hut vor der Dame und kam schnell auf Käthe zu.

Sein Gesicht war blass und düster.

„Käthe, wenn es dir recht ist, reisen wir schon heute ab“, sagte er hastig, ohne jede Einleitung.

Sie blickte ihm mit einem bangen Gefühl in die Augen.

„Wie du wünschst, Georg.“

Er nahm den Hut ab und wischte sich über die Stirn.

„Und du fragst gar nicht, weshalb ich einen Tag früher abreisen will?“

„Du wirst deine Gründe haben“, antwortete sie kurz.

Er sah sie von der Seite an. Ihr Gesicht schien unbewegt. Nur die Farbe kam und ging darauf, und dieses Zeichen innerer Erregung kannte er nun schon an ihr. Er atmete tief auf.

„Käthe, hast du gesehen, dass ich mit der Dame sprach, die sich zu mir auf die Bank setzte?“

„Ja“, sagte sie anscheinend ganz ruhig.

„Nun, und ist dir dabei nichts aufgefallen?“

„Ich sah, dass es die war, die gestern Abend am Nebentisch saß.“

„Ja, ja, und sonst ist dir nichts aufgefallen?“

Sie blickte jetzt zu ihm auf. In seinem Gesicht zuckte es erregt.

Unwillkürlich blieb sie stehen.

„Sie erinnerte mich an jemand, den ich gekannt habe; aber ich weiß nicht, an wen.“

Er biss die Zähne zusammen und starrte finster vor sich hin. Und dann stieß er rau hervor: „Es war meine geschiedene Frau, Käthe.“

Käthe zuckte zusammen. Nun wusste sie mit einem Mal, wo sie dieses schöne Gesicht schon gesehen hatte.

Ein heißes Gefühl der Eifersucht überkam sie. Ob dieses Rendezvous absichtlich stattgefunden hatte, fragte sie sich, und was sich die beiden wohl zu sagen hatten?

Sie ahnte nicht, dass Georg nur Zorn und Abscheu empfand, als seine ehemalige Frau sich zu ihm auf die Bank setzte und ihn ansprach. Sofort hatte er sich erhoben mit den Worten: „Ich glaube nicht, dass wir uns noch etwas zu sagen haben. Meine Frau erwartet mich.“

Er schämte sich dieser Frau, die er doch einst geliebt hatte. Sehr wohl hatte er bemerkt, dass sie sich nicht einmal genierte, mit ihm zu kokettieren, obwohl sie nun mit dem Maler, der sie entführt hatte, verheiratet war.

Der Ekel schüttelte ihn. Er verlangte fort von diesem Ort, um nicht noch einmal einer Begegnung mit ihr ausgesetzt zu sein.

Käthe aber glaubte, er wolle schmerzlichen Erinnerungen entfliehen. Sie war überzeugt, dass sein Herz darunter litt, wenn er seine ehemalige Gattin mit einem anderen Mann zusammen sah.

Ein Gefühl unsäglicher Bitterkeit stieg in ihr auf. Ein herber, entschlossener Zug lag um ihren Mund, als sie kühl sagte: „Wenn du es wünschst, können wir sofort abreisen.“

Schweigend gingen sie ins Hotel zurück und nahmen hastig das Frühstück ein. Dann packten sie ihre Sachen und reisten ab.

Mit keinem Wort zwischen ihnen wurde Georgs geschiedene Frau weiter erwähnt. Während Georg, bald mit dieser Episode fertig war, konnte Käthe an nichts anderes mehr denken, als an das schöne Frauengesicht, und immer war ihr zumute, als habe sich das starke, schwüle Parfüm in all ihre Sachen eingenistet.

Da das junge Paar nun einen ganzen Tag gewonnen hatte, machte es auf der Heimreise noch kurz Station in Berlin. Georg zeigte Käthe so viel von der Stadt, wie sich in die kurze Zeit zusammendrängen ließ.

Aber Käthe hatte keinen Genuss davon. Die Begegnung mit Georgs erster Frau hatte sich bedrückend auf ihre Gemüt gelegt, und sie war so kühl und zurückhaltend, dass Georg sehr verstimmt wurde.

So kehrte das junge Paar in viel größerer Entfremdung heim, als es abgereist war. Die Brücke, die sich von einem Herzen zum anderen aufzubauen begonnen hatte, war zerstört worden.

***

Daheim fand sich für beide Teile genug Arbeit. Georg musste viel draußen auf den Feldern und in der Fabrik sein, Käthe schaffte mit unermüdlichem Fleiß im Haushalt.

Anna Brandner hatte eine gelehrige Schülerin und eine liebevolle Tochter an Käthe. Die alte Dame fand täglich neue gute Eigenschaften an ihr.

Das junge Paar war nur selten noch allein. Die Mahlzeiten nahmen sie mit Georgs Mutter ein. Auch abends saß die Mutter bei ihnen. Wie in stiller Verabredung waren die jungen Leute in Gegenwart der Mutter scheinbar heiter und zufrieden, so dass die alte Dame alles in bester Ordnung glaubte.

Zwischen Georg und Käthe war die Begegnung mit seiner ersten Frau nie mehr erwähnt worden. Georg hatte Käthe nur kurz vor der Heimkehr noch gebeten, dass sie seiner Mutter gegenüber nichts von diesem Zusammentreffen erwähnen sollte. Er wollte nicht von seiner Mutter darüber ausgeforscht werden, wie sich Lotte verhalten hatte, weil er sich dieses unwürdigen Verhaltens schämte.

Käthe glaubte jedoch, er fürchte sich davor, dass die Wunde in seiner Brust wieder berührt wurde. Sie hatte sich mit einer wahren Inbrunst alles so quälend wie möglich zurechtgelegt. Scheinbar kalt und unberührt lebte sie neben Georg.

Riss er sie einmal ungestüm und in leidenschaftlicher Ungeduld in seine Arme, um sie zu küssen und sie mit seiner Glut zu erwärmen, so lag sie wie gelähmt an seiner Brust, schloss die Augen, dass er sie schnell wieder freigab. Sie hielt diese Zärtlichkeitsausbrüche für eine Sinnesaufwallung, von der sein Herz nichts wusste, und litt darunter.

So quälten sich die beiden Menschen gegenseitig aus übergroßer Liebe, die sie nicht zeigen wollten, weil sie sich beide ungeliebt glaubten. Denn auch Georg musste nach Käthes Verhalten annehmen, sie liebe ihn nicht, nur aus äußerlichen Gründen sei sie seine Frau geworden. So zog er sich in verletztem Stolz mehr und mehr von ihr zurück. Er wollte nicht, kraft seines Rechts, ertrotzen, was sie ihm nicht freiwillig gab.

Käthe ging ganz in ihrer Arbeit auf, um sich abzulenken und sich wenigstens durch ihre Tätigkeit das Recht zu erwerben, Herrin des Brandnerhofs zu sein. Sie schaffte in ruheloser Hast von früh bis spät und gönnte sich fast weniger Ruhe als daheim.

Während alle Welt die junge Herrin vom Brandnerhof um ihr glänzendes Los beneidete, empfand Käthe, dass sie jetzt ärmer und bedauernswerter war als unter dem bescheidenen Dach ihres Elternhauses. Selbst unter des Vaters Tyrannei hatte sie freier gelebt als unter dem Bewusstsein, die ungeliebte Frau Georg Brandners zu sein. Ihr einziger Trost war ihr inniges Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter. Ihr war sie in Wirklichkeit eine geliebte Tochter geworden.

Georg sah neiderfüllt, wie zärtlich und lieb sich Käthe um seine Mutter bemühte. Er beobachtete sie unausgesetzt. Wenn er zweifeln wollte, ob sie überhaupt eine Seele habe, so musste ihm ihr liebevolles Benehmen seiner Mutter gegenüber diesen Zweifel nehmen. Es war ihm aber nicht möglich, den Schlüssel zu ihrem Wesen zu finden, trotz aller Mühe, die er sich gab. Sie erschien ihm rätselhaft und unergründlich. Aber bei alledem vertiefte sich seine Neigung zu ihr immer mehr.

Nie hatte er geglaubt, dass er noch einmal für eine Frau so warm und so tief empfinden könne. Seine einstige Liebe zu Lotte lag wie ein Rausch hinter ihm. Was er für Käthe empfand, war edler, reiner und besser. Erst jetzt war ihm das wahre Wesen der Liebe aufgegangen.

So sehr liebte er Käthe, dass er begann, ihr Glück höher zu bewerten als das seine. Es schmerzte ihn, dass er nichts tun konnte, um sie glücklich zu machen. Mit heimlicher Rührung betrachtete er oft verstohlen ihr blasses süßes Gesicht. Wenn sie ihn ansah mit ihrem scheuen Blick, wenn ihre goldschimmernden Augen mit einem rätselhaften sehnsüchtigen Ausdruck in die Ferne schweiften, hätte er sein ganzes Leben einsetzen mögen für ihr Glück – und für ein zärtliches Wort der Liebe und Hingebung von ihren Lippen.

So vergingen Monate.

Es war Winter geworden, und Georg hatte mehr Zeit, daheim zu sitzen. Schon in den ersten Tagen des Novembers gab es Schnee und Eis. Da war draußen nichts mehr zu tun. In der Fabrik war jetzt auch stille Zeit.

Georg saß öfter mit den Frauen zusammen, und in den vier Pfählen seines Heimes tobte die schmerzliche Ungeduld oft unerträglich in ihm.

Eines Tages war er mit seiner Mutter allein. Sie wussten beide nicht, dass Käthe im Nebenzimmer am Fenster stand und träumerisch in die fallenden Schneeflocken starrte. Käthe hörte, dass Georg drüben unruhig auf und ab ging, und eben wollte sie sich anschicken, zu Mutter und Sohn hinüber zu gehen, als sich plötzlich Georgs Ungeduld Bahn brach. Sie hörte, wie er sagte: „Ich hätte niemals eine zweite Ehe eingehen sollen, Mutter, denn diese zweite Ehe macht mich noch unglücklicher als die erste.“

Käthe zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Wankend, die Hände wie abwehrend ausgestreckt, glitt sie, lautlos durch mehrere Zimmer und verschwand dann durch eine entfernt liegende Tür.

Wie gebrochen warf sie sich in ihrem Zimmer auf die Couch. Nun hatte sie es aus seinem eigenen Mund gehört, dass sie Georg nur eine Last war, dass sie ihn unglücklich machte.

Wie ganz anders hätte sie belehrt werden können, wenn sie nicht in blinder Hast geflohen wäre und das folgende Gespräch zwischen Mutter und Sohn belauscht hätte.

Als Georg seiner schmerzlichen Ungeduld durch diese raschen Worte Luft gemacht hatte, erschrak er selbst darüber, denn seine Mutter hob erschrocken den Kopf.

Schweigend starrten sie sich eine Weile in die Augen. Erst nach einer langen Weile strich sich Anna Brandner über die Stirn, als wolle sie etwas Quälendes fortwischen.

„Mein Sohn, was du da eben gesagt hast, erschreckt mich sehr und trifft mich ganz unvorbereitet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel“, sagte sie langsam. „Ich habe mich in dem Traum gewiegt, dass bei euch alles in Ordnung ist, dass dir Käthe lieb geworden ist. Ist es denn so schwer, dieses schöne Geschöpf zu lieben?“

Georg blieb mit einem tiefen Seufzer neben ihr stehen.

„Das ist es ja gerade, Mutter. Ich liebe meine Frau, liebe sie von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Die Hände möchte ich unter sie breiten. Daran liegt es nicht, wenn ich nicht glücklich bin, da hast du mich falsch verstanden. Aber Käthe liebt mich nicht! Sie geht kalt und scheu neben mir her, weicht mir aus, wo sie kann, meine Zärtlichkeiten sind ihr eine Qual. – Aber nein, vergiss, was ich da in meinem Ungetüm hervorgestoßen habe. Ich habe mich einmal von meinem heißen Blut hinreißen lassen. Es ist Torheit, dass ich auch dir das Herz noch damit schwer mache.“

Anna Brandner atmete tief auf. Nur einen Augenblick hatte sie sich von ihm erschrecken lassen. Jetzt huschte sogar ein Lächeln um ihren Mund. Georg sah es nicht, er lief wieder im Zimmer auf und ab.

Sein Geständnis, dass er Käthe liebte, hatte seinem ersten Ausruf jeden Schrecken für sie genommen. Wenn sie bisher einmal gemerkt hatte, dass zwischen den jungen Leuten doch nicht alles so war, wie sie es sich wünschte, so hatte sie geglaubt, es liege daran, dass in Georg die Liebe zu seiner Frau noch nicht zum Durchbruch gekommen sei. Nun erfüllte sie sein Geständnis mit großer Freude. Denn dass Käthe ihren Sohn liebte, hatte sie längst erkannt.

Sie frohlockte innerlich. Aber klug und verständig, wie sie war, hütete sie sich, in dieses Suchen und Sehnen der beiden Menschen ein Wort zu werfen, das vielleicht den Zauber verscheuchen konnte, der sie zueinander zog.

Mochte Georg von selbst den Weg zum Herzen seiner Frau finden.

Eine Weile war es still geblieben zwischen Mutter und Sohn. Endlich sagte die alte Dame ruhig: „Käthe ist eine Frau, um die es sich lohnt, zu werben. Wenn sie dich wirklich noch nicht lieben sollte, so wird sie es eines Tages tun. Ihr Herz ist ja gottlob keinem anderen Mann zugetan. Und ich meine, es müsste dir nicht schwer fallen, eine unbesetzte Festung zu erobern. Mehr kann ich dir nicht sagen. Das ist eine Angelegenheit, die nur euch beide angeht, und von der ein Dritter seine Finger lassen soll, will er nicht Schaden bringen.“

Georg setzte sich ihr gegenüber und erfasste ihre Hand. „Hab Dank, Mutter, das war ein gutes Wort. Du hast ja Recht – es lohnt sich, um eine Frau wie Käthe zu werben. Und ich danke es dir aus Herzensgrund, dass du mir gerade Käthe zur Frau ausgewählt hast. Ich habe gar nicht gewusst, was für ein wertvoller, liebenswerter Mensch in der kleinen Amtmanns Käthe steckt. Gelt, Mutter, ein süßes Geschöpf ist sie doch?“

Die Mutter hatte feuchte Augen und streichelte ihm über die Stirn.

„Einmal wird ja dein Glück in einen sicheren Hafen einlaufen, du Heißsporn“, sagte sie leise.

Frau Anna Brandner dachte, als sie dann allein war, reiflich über alles nach. Und das Ergebnis dieses Nachdenkens war die Überzeugung, dass sie jetzt eine Weile im Brandnerhof überflüssig sei. Jetzt durfte niemand zwischen dem jungen Paar stehen. Es musste allein, ganz allein sein. Anna Brandner verließ den Brandnerhof nicht gern, aber welches Opfer hätte sie nicht willig dem Glück ihres Sohnes gebracht!

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb an ihre Schwester, dass sie sie auf einen längeren Besuch erwarten dürfe.

Am nächsten Tag bei Tisch sagte sie: „Liebe Kinder, da sich nun Käthe im Brandnerhof so tüchtig bewährt hat, kann ich mir wohl einmal einen längeren Urlaub nehmen. Schon seit Jahren bittet mich meine Schwester um einen Besuch. Ich möchte auch meine Heimat einmal wiedersehen und alte Erinnerungen auffrischen. Bisher konnte ich mich nie frei machen. Aber jetzt kann ich ruhig reisen. Ich habe mich bereits für Ende der Woche angemeldet.“

Käthe fühlte sich gar nicht wohl bei dem Gedanken, nun Tag für Tag mit Georg allein zu sein, gerade jetzt, da er so viel daheim war. Aber Georg war desto mehr mit dem Reiseplan seiner Mutter einverstanden. Er ahnte ihre Beweggründe und war ihr dankbar.

Und so reiste Frau Brandner einige Tage später ab.

***

Mit heimlichen Segenswünschen hatte die alte Dame den Brandnerhof verlassen. Sie hoffte, dass sie bei ihrer Wiederkehr ein glücklich vereintes Paar finden würde.

Als sie sich von Käthe verabschiedete, waren die beiden Frauen eine Weile allein geblieben. Anna Brandner hatte ihre Schwiegertochter beim Kopf genommen und lächelnd gesagt: „Nun versorge mir alles gut, Käthe, auch den Georg, hörst du?“

Käthe war rot geworden.

„Du kannst unbesorgt sein, Mutter, es soll ihm nichts abgehen.“

„Ja, ja, Kind“, hatte Frau Brandner erwidert. „Ich weiß schon, dass du gut für ihn sorgen wirst. Aber sei auch ein bisschen vergnügt, wie es deinen jungen Jahren zukommt. Du bist viel zu ernsthaft für eine so junge Frau. Georg wird es gut tun, wenn du ihn ein wenig aufheiterst.“

Anna Brandner hatte nicht geahnt, welche Deutung Käthe ihren Worten gab, wusste sie doch nicht, dass Käthe Georgs unmutigen Ausruf gehört hatte und ihn für sehr unglücklich hielt.

Käthe war überzeugt, dass sie nicht imstande sein würde, Georg aufzuheitern.

Als sie nun täglich mit Georg allein war, hastete sie noch mehr als sonst von einer Arbeit zur anderen, um nur nicht lange untätig in seiner Gesellschaft verbringen zu müssen.

Er ließ sie erst eine Weile gewähren und hielt sich tunlichst zurück. Aber dann erfasste ihn manchmal Unrast, er sprang auf und suchte sie im ganzen Haus.

Eines Tages fand er sie oben ganz allein in der großen Wäschekammer auf einer niedrigen Trittleiter, um große Wäschestöße in das obere Fach des Wäscheschranks zu legen.

Schnell war er an ihrer Seite und nahm ihr das schwere Wäschepaket ab.

„Du wirst dir Schaden tun, Käthe. Das ist ja viel zu schwer. Warum plagst du dich selbst damit herum?“, sagte er hastig.

Und trotz ihres Sträubens hob er sie von der Leiter herab und schob dann den Wäschestoß selbst in den Schrank.

„Ist dies der rechte Platz?“, fragte er lächelnd.

Sie nickte nur. Röte und Blässe wechselten wieder auf ihrem Antlitz, und sie machte sich mit gesenkten Augen an einem anderen Wäschebündel zu schaffen.

Er sah ihr eine Weile schweigend zu. Endlich sagte er, neben sie tretend: „Sag mal, Käthe, musst du den ganzen Tag bei der Arbeit sein? Kaum gönnst du dir die Zeit, deine Mahlzeiten einzunehmen. Nie sehe ich dich mit müßigen Händen, und nie hast du ein Stündchen übrig, um mit mir zu plaudern. Warum schaffst du so ohne Rast und Ruhe? Das hast du doch wahrlich nicht nötig. Es sind Leute genug da.“

Käthe fühlte instinktiv, dass Georg ihr etwas Gutes, Freundliches sagen wollte. Er war stets gut zu ihr, vielleicht gerade aus dem Gefühl heraus, dass sie nichts dafür konnte, wenn er an ihrer Seite unglücklich geworden war. Er zwang sich wohl immer wieder, ihr freundlich gegenüberzutreten und zu den Zärtlichkeiten, die er zuweilen für sie hatte.

Bei diesem Gedanken schoss ihr das Blut rebellisch zu Kopf, und ohne lange zu überlegen, beschloss sie, diesem für sie so demütigenden Zustand ein Ende zu machen. Es sollte klar werden zwischen ihnen, jetzt gleich, in dieser Stunde.

Sie richtete sich hoch auf. Und dann sah sie ihn mit großen, ernsten Augen an und sagte, so ruhig sie konnte: „Doch, Georg, ich habe es nötig, ich will nicht umsonst in deinem Haus mein Brot essen. Nur durch meine Arbeit erwerbe ich mir ein Recht, auf dem Brandnerhof zu leben.“

Er fuhr betroffen zurück.

„Ein Recht, auf dem Brandnerhof zu leben, Käthe? Was sind das für törichte Worte? Musst du das erst erwerben? Du bist doch meine Frau und als solche die Herrin meines Hauses.“

„Ja – die deine Mutter dir zur Hausfrau erwählte, wahrscheinlich sehr gegen deinen Wunsch. Ich weiß, dass du mich ohne Liebe zur Frau nahmst, und ich, ja, ich bin auch ohne Liebe deine Frau geworden – und deshalb habe ich im Grund kein Recht, hier zu sein.“

Sie stieß diese Worte hastig hervor und atmete tief auf, als sie gesprochen waren.

Er war sehr blass geworden. Von allem, was sie gesagt hatte, prägte sich das eine am tiefsten ein, dass sie ohne Liebe seine Frau geworden war. Er presste die Lippen zusammen und stützte sich auf den großen Wäschetisch, der nun zwischen ihnen stand. Eine Weile sah er mit zusammengezogener Stirn vor sich hin. Dann richtete er sich mit einem tiefen Atemzug auf und sagte mit verhaltener Stimme: „Käthe, warum bist du dann meine Frau geworden, wenn du mich nicht liebtest? Nach äußeren Vorteilen hast du nicht getrachtet, davon bin ich überzeugt. Sollte man dich gezwungen haben, obwohl mir meine Mutter versichert hat, es sei nicht geschehen?“

Sie strich sich hastig über die Stirn.

„Gezwungen?“, fragte sie bitter. „Oh, nicht mit Worten, nein. Deine Mutter konnte das nicht wissen. Aber mit jedem Blick, mit jedem Gedanken, mit dem drohenden Druck seiner Hand hat mich der Vater gezwungen. Du kennst meinen Vater nicht, wie wir alle zu Hause ihn kennen. Er hätte es mir nie verziehen, wenn ich die Bewerbung des Herrn vom Brandnerhof ausgeschlagen hätte. Und meine Mutter – sie zwang mich mit jedem angstvollen Atemzug. War es doch in ihren Augen ein großes Glück, das sich mir bot. Mutter hätte mit mir leiden müssen unter Vaters Zorn, wenn ich nein sagte, wie ich erst wollte. Aber ich fürchtete mich vor der Zukunft daheim, vor des Vaters Schelten und den Tränen der Mutter. Und weil ich wusste, dass auch du nicht aus Liebe um mich warbst, sagte ich mir, dass ich dir nichts vorenthielt, wenn ich ohne Liebe dein Weib würde. Ich sage dir das alles nur, weil es für uns beide das beste ist, wenn es einmal klar wird, und ich will nicht, dass du denkst, du müsstest mir gegenüber Gefühle zeigen, die du nicht empfindest. Du sollst dich zu nichts zwingen, ich achte dich zu hoch, um nicht zu wissen, dass du mich verstehen und meine Offenheit billigen wirst. Schon lange habe ich dir das sagen wollen, aber ich fand nicht den Mut dazu. Es quält mich immer unsagbar, dass du dich zu Zärtlichkeiten mir gegenüber zwingst, die ich doch nicht erwidern kann. Lass uns diesem furchtbaren Zustand ein Ende machen. Du brauchst dich nicht zu verstellen. Ich will es dir mit jedem Atemzug danken, wenn du nicht mehr in mir siehst, als ich dir sein kann. Treu, gewissenhaft will ich dir dienen, will all meine Pflichten erfüllen, so gut ich kann – aber quäle mich nicht mehr durch deine erzwungene Zärtlichkeit.“ Georg hatte stumm, mit blassem Gesicht und, brennenden Augen zugehört. Nun glaubte er, ihr seltsames Wesen zu verstehen.

„Also, du liebst mich nicht, und meine Zärtlichkeiten sind dir verhasst?“, fragte er, sich zur Ruhe zwingend.

Sie presste die Hände aufs Herz. „Jedenfalls demütigen sie mich“, sagte sie herb.

Er richtete sich straff empor und fuhr sich hastig über die Stirn. Dann sagte er, so ruhig er konnte: „Das sollst du mir nicht umsonst gesagt haben, Käthe. Ich werde dich gegen deinen Willen nicht mehr mit meinen Zärtlichkeiten behelligen. Verzeih mir, wenn ich es bisher tat, ich wusste ja nicht, dass du darunter littest. Nun habe ich nur noch eine Frage an dich, damit alles klar wird: Hast du einen anderen lieb?“

Sie stand in zusammengesunkener Haltung vor ihm. Leise schüttelte sie den Kopf. „Nein.“

„Und hast nie einen anderen lieb gehabt?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Sag es mir ehrlich“, drängte er.

„Ich muss es wissen – deinetwegen.“

„Ich habe es ehrlich gesagt – nein“, antwortete sie.

„Und wünschst du, dass ich dich freigebe?“

Sie schlug die Hände ineinander. Große Tränen rannen ihr über das Gesicht.

„Wenn ich dir nicht im Weg bin, schicke mich nicht fort! Ich fürchte mich vor daheim. Mit Angst würde ich mich meinem Vater nahen, wenn du mich nun heimschicktest.“

Heißes Mitleid mit ihr stieg in ihm empor. Nur an ihr Glück wollte er jetzt denken. Er nahm ihre beiden Hände, die er zart küsste.

„Dich fortschicken? Nein, Kind, sei ruhig. Du sollst auf dem Brandnerhof deine sichere, geschützte Heimat haben, solange du selbst nicht hinaus verlangst“, sagte er ergriffen.

Dann ließ er ihre Hände fallen und ging schnell fort. Er musste jetzt allein sein mit seinem Schmerz. Erst jetzt empfand er voll und ganz, wie sehr er Käthe liebte, jetzt, da sie ausgesprochen hatte, was er heimlich fürchtete, dass sie ihn nicht liebte.

Käthe fiel kraftlos auf einen Stuhl, als sie allein war. Sie begriff nicht mehr, wo sie den Mut hergenommen hatte, ihm das alles zu sagen. Sie hatte geglaubt, es müsse ihr eine Genugtuung gewähren, wenn sie ihm sagen konnte: „Ich liebe dich nicht.“

Aber nun, da sie den Mut zu dieser Lüge gefunden hatte, fühlte sie sich wie gebrochen. Nicht Genugtuung erfüllte sie, sondern ein rasender Schmerz, da sie nun selbst jedes Band zwischen sich und ihm zerschnitten hatte. Und die kummervolle Frage: Was wird nun werden?

Sie fürchtete sich vor dem ersten Zusammentreffen mit ihm nach dieser Aussprache.

Aber sie hatte keine Ursache, sich zu fürchten. Georg machte ihr alles so leicht, wie er nur konnte. Er begegnete ihr ruhig und freundlich, war artig und zuvorkommend und erwähnte die Szene in der Wäschekammer mit keinem Wort.

„Wir wollen gute Freunde sein, Käthe“, hatte er nur gesagt und ihr die Hand gereicht.

Da hatte sie die ihre mit einem erlösten Aufatmen in die seine gelegt, und aus ihren bangen Augen war die Angst gewichen.

Es wurde nun scheinbar ein besseres Verhältnis zwischen ihnen angebahnt. Käthe floh nicht mehr ängstlich seine Gesellschaft. Es war eine gewisse Ruhe über sie gekommen, wenn es auch eine Ruhe unter tausend Schmerzen war.

***

Käthe war wieder einmal nach Hause gegangen, um Mutter und Geschwister zu besuchen. Meist wählte sie zu diesen Besuchen eine Zeit, wo sie den Vater nicht daheim wusste.

Die Mutter freute sich sehr, wenn sie auf ein Stündchen kam. Zwar konnte sie Käthe auf dem Brandnerhof besuchen, sooft sie wollte, und wurde stets freudig und liebevoll aufgenommen, aber sie hatte so wenig Zeit und kam selten fort.

Heute fand Käthe Pastor Seltmann anwesend. Er verabschiedete sich aber gleich darauf, weil er einen Kranken besuchen wollte.

Helene begleitete ihn hinaus. Sie hatte strahlende Augen und glühende Wangen, und Käthe fand, dass die Schwester jung und schön aussah.

Als der Pastor und Helene draußen waren, fasste die Mutter mit frohem Gesicht Käthes Hand.

„Meine liebe Käthe, ein neues großes Glück steht uns bevor. Pastor Seltmann und Helene haben sich gefunden. Morgen will er bei Vater um ihre Hand anhalten.“

Käthe freute sich innig, und als Helene jetzt wieder eintrat, lief sie ihr entgegen und schloss sie freudig in die Arme.

„Ich wünsche dir noch kein Glück – du weißt, Mutter orakelt dann von schlechten Vorbedeutungen. Aber freuen kann ich mich doch schon, dass du dich mit Seltmann verlobt hast. Er ist ein so lieber, prächtiger Mensch!“

Helene nickte glückstrahlend.

„Ja, Käthe, das ist er.“

Jetzt kam auch Maria mit dem Kaffeetablett herein.

„Nun wünschte ich nur noch für meine Maria ein solches Glück, wie ihr beide es gefunden habt“, sagte die Mutter, ihrer Ältesten liebevoll die Wangen streichelnd. Maria zeigte ihr sanftes resignierendes Lächeln.

„Eine von uns muss bei dir bleiben, Mutter. Und eine alte Jungfer gehört nun mal zum eisernen Bestand einer Familie“, scherzte sie.

Käthe sah sinnend in das stille Gesicht Marias. Ob sie nicht schließlich doch den besten Teil erwählt hatte? Sie war wenigstens innerlich frei.

Aber sie schob diesen Gedanken von sich.

„Wie soll das nun werden, wenn Helene auch noch fortgeht, Mutter? Du und Maria, ihr könnt doch mit dem Mädchen nicht alles allein tun? Vater muss euch dann entschieden eine Hilfe engagieren“, sagte sie ernst.

Die Mutter machte ein bedrücktes Gesicht.

„Das wird schwer halten, Käthe. Ich glaube nicht, dass Vater das tun wird. Jedenfalls wage ich gar nicht, ihn darum zu bitten.“

„Dann sage ich es ihm, Mutter.“ Die Mutter schüttelte ängstlich den Kopf.

„Ach nein, lass nur – er ist leicht so schlechter Laune, das weißt du doch. Vor Ostern wird Helene nicht heiraten. Und nach Ostern kommt Wally nach Hause. Sie ist dann der Schule entwachsen, und wir haben eine neue Hilfe.“

„Aber Wally wollte doch so gern das Examen machen, Mutter! Sie hat gar keine Lust zur Hausarbeit und hat mich gebeten, ein gutes Wort für sie beim Vater einzulegen.“

Die Mutter sah erschrocken auf.

„Ach, das kostet ja eine Menge Geld! Und Vater ist gar nicht für so etwas.“

Käthe drückte die Mutter ans Herz.

„Armes Mütterchen, kaum bist du eine Sorge los, kommt schon wieder eine neue. Aber ich habe Wally mein Wort gegeben, mit Vater zu sprechen, und das will ich auch halten. Und dann sage ich ihm auch gleich Bescheid wegen eines zweiten Hausmädchens.“

Die Mutter seufzte.

„Warte nur wenigstens bis nach dem Weihnachtsfest, sonst müssen wir alle unter Vaters schlechter Laune leiden“, sagte Helene.

„Ja, Helene hat Recht!“, rief die Mutter, des Aufschubs froh.

„Also gut, ich warte, bis die Festwoche vorüber ist. Und ich passe eine günstige Stunde ab. Vielleicht lade ich den Vater zu einem Frühstück auf dem Brandnerhof ein, damit ihr bei der Explosion weit vom Schuss seid.“

Die Mutter wollte schelten über diesen despektierlichen Ton, aber ihre drei Töchter sahen sie lachend an. Und lachende Gesichter sah die arme Mutter so selten. Da schwieg sie denn.

Noch ein halbes Stündchen saßen sie nun beisammen. Käthe musste vom Brandnerhof und von ihrem Gatten erzählen. Sie blieb aber nur bei Äußerlichkeiten.

Dann kamen die Brüder aus den Gewächshäusern und hatten Hunger und Durst. Sie begrüßten Käthe freundlich. Da der Vater nicht da war, gaben auch sie sich frischer und freier. Käthe musste denken, wie viel trauter und gemütlicher es daheim sei, wenn der Vater fehlte. Aber sie sprach es nicht aus. Als sie sich später verabschiedete, sagte sie: „Ich fahre morgen in die Stadt, Mutter, und bringe Wally gleich mit heraus.“

Die Mutter lächelte.

„Du verwöhnst Wally. Seit du sie einige Mal mit dem Auto abgeholt hast, ist ihr der Milchwagen nicht mehr gut genug als Beförderungsmittel.“

Da musste Käthe lachen.

„Ach, Mütterchen, für den Milchwagen hat sie nie geschwärmt. Das war immer ein wunder Punkt in ihrem Dasein. Also lasst ihr und mir das Vergnügen. Und sorgt euch nicht, wenn Wally nicht gleich nach Hause kommt, ich behalte sie bis zum Abend auf dem Brandnerhof und bringe sie dann selbst nach Hause, um Helene Glück zu wünschen. Bis dahin wird ja die Verlobung perfekt sein.“

„Wird es auch deinem Mann recht sein, wenn du Wally so lange drüben behältst? Stört ihn ihr lautes Wesen nicht?“, fragte die Mutter.

„Nein, nein, Mutter. Er mag Wally sehr gern und neckt sich gern mit ihr. Da sei nur außer Sorge.“

Damit ging Käthe davon.

Als sie dann aber daheim beim Abendessen ihrem Gatten gegenübersaß, fragte sie doch: „Ich will morgen, da ich in der Stadt Einkäufe zu besorgen habe, Wally mit herausbringen. Stört es dich, wenn ich sie bis zum Abend bei mir behalte?“

Georg sah lächelnd in ihre bittenden Augen.

„Wally stört mich nicht, Käthe. Aber selbst wenn sie es täte, brauchtest du darauf keine Rücksicht zu nehmen. Du kannst auf dem Brandnerhof tun und lasen, was du willst, kannst dir zu Gast einladen, wen du magst. Du vergisst immer wieder, dass du die Herrin vom Brandnerhof bist.“

Sie schüttelte hastig das Haupt.

„Nein, nein, die bin ich nicht. Deine Mutter ist Herrin hier. Aber selbst wenn ich es wäre, würde ich doch nie Gäste einladen, die dir lästig sind.“

Er lachte gutmütig.

„Das hast du aber bei Wally gewiss nicht zu befürchten. Sie ist mir eine sehr angenehme Gesellschaft.“

„Obwohl sie so wild und laut ist?“

„Obwohl oder gerade deshalb. Es steckt Leben in dem Mädel und ein gesunder, kräftiger Wille. Ich glaube, die wird deinem Vater einmal zu schaffen machen. Die duckt er nicht so leicht.“

Käthe seufzte.

„Ach, du weißt nicht, wie er es versteht, jeden Willen zu brechen – auch wenn er noch so stark ist.“

Er fasste über den Tisch nach ihrer Hand.

„Auch dich hat er niedergedrückt. Ich weiß, dass auch du früher sehr lustig und übermütig warst. Wally hat es mir erzählt, was ihr gemeinsam für lustige Streiche vollführt habt.“

Käthe errötete und zog ihre Hand aus der seinen.

„Ach, Wally ist ein wenig vorlaut.“

„Jedenfalls muss ich ihr einen Vertrauen erweckenden Eindruck machen, sonst würde sie mir nicht alles anvertrauen.“

Sie lächelte, und dieses Lächeln verwirrte ihm die Sinne. Er umfasste die Armlehnen seines Sessels, als müsse er sich zurückhalten.

„Für dich hat Wally schon immer geschwärmt“, sagte Käthe mit leiser Schelmerei, die ihn entzückte.

„So? Habt ihr zuweilen von mir gesprochen?“, fragte er.

Käthe nickte lebhaft.

„Oft! Du warst uns immer sehr interessant“, entfuhr es ihren Lippen. Aber dann wurde sie dunkelrot und fügte schnell hinzu: „Ich meine Wally. Sie sah in dir so eine Art Märchenprinz.“

Seine Augen hatten aufgeleuchtet bei ihren ersten Worten. Nun erlosch der frohe Glanz wieder.

„Natürlich nur Wally“, sagte er mit leiser Bitterkeit. „Du brauchst das nicht zu betonen.“

Ihr Herz schlug bis zum Hals hinauf.

Wenn er wüsste, dachte sie erschauernd. Wie sehr ich ihn immer bewundert habe!

Sie wechselte schnell das Thema, und er ging darauf ein.

***

Am nächsten Morgen, als Käthe an den Frühstückstisch trat, um wie immer nachzusehen, ob es an nichts fehlte, ehe Georg erschien, stieg ein seltsam aufdringlicher Duft zu ihr empor.

Sie stutzte. Eine unklare Erinnerung machte sie unruhig. War das nicht derselbe schwüle Geruch, der ihr in Ostende an Georgs geschiedener Frau aufgefallen war?

Aber wie sollte dieser Duft hier auf den Frühstückstisch gelangen? Sie hob das feine Näschen und sog die Luft ein. Und da empfand sie ganz deutlich, dass die auf dem Tisch liegenden Postsachen diesen Duft ausströmten. Unwillkürlich nahm sie die Briefe, die neben Georgs Platz lagen, und sah sie durch. Es waren lauter Geschäftsbriefe. Nur einer hatte ein anderes Aussehen. Er war fliederfarben und hatte ein schmales, längliches Format. Dieser Brief war so stark parfümiert.

Käthe blickte mit einem seltsam bangen Gefühl darauf nieder. Die Adresse war von einer Damenhand geschrieben, und der Poststempel verriet München als Aufgabeort. Von Georgs Mutter hatte Käthe einmal gehört, dass Georgs geschiedene Frau in München lebte. Rasch, als verbrenne sie sich, legte sie den Brief wieder zurück. Aber das Herz tat ihr weh, als gehe ein Riss mitten durch.

Gleich darauf trat Georg ein.

Mit einem festen Händedruck begrüßte er Käthe, wie er es jetzt immer tat, ohne sie zu küssen.

„Guten Morgen, Käthe! Gut geschlafen?“

„Danke, sehr gut. Du hoffentlich auch? Du warst schon draußen und wirst hungrig und durstig sein“, antwortete sie, ihm die Tasse füllend.

„Ja, ich habe Appetit“, sagte er und setzte sich ihr gegenüber. Käthe bediente ihn und bemerkte dabei, dass er plötzlich die Luft prüfend einzog.

„Es riecht hier so sonderbar. Hast du Parfüm an dir, Käthe?“, fragte er unbehaglich.

Käthe schüttelte den Kopf.

„Nein, ich parfümiere mich nie“, antwortete sie leise.

Georg hatte aber nun bereits entdeckt, wo der Duft herkam. Einen Moment starte er betroffen auf den fliederfarbenen Brief hinab. Dann rötete sich seine Stirn jäh, und mit einem schnellen Seitenblick auf Käthe ließ er ihn, ohne ihn zu öffnen, in seiner Brusttasche verschwinden.

Gleich nach dem Frühstück erhob er sich, um in sein Arbeitszimmer zu gehen. Ehe er hinausging, blieb er an der Tür stehen und wandte sich um.

„Wie ist es, Käthe, willst du nicht lieber mit dem Schlitten in die Stadt fahren? Über Nacht ist reichlich Schnee gefallen. Wally macht gewiss eine Schlittenfahrt großen Spaß.“

„Du bist sehr gut, Georg, daran zu denken. Wenn es nicht zu viele Umstände macht, nehme ich das Anerbieten dankbar an, zumal ich selbst auch sehr gern Schlitten fahre.“

Er trat einen Schritt zurück ins Zimmer.

„Das hättest du doch eher sagen können.“

Sie machte sich am Tisch zu schaffen.

„Ich wusste ja nicht, ob es gehen würde. Und ich will dir nicht mit meinen Wünschen lästig fallen.

Er lachte kurz und sonderbar auf.

„Lästig fallen? Ach, Käthe, wenn du wüsstest, wie gern ich dir jeden Wunsch erfülle, du würdest mir öfter die Freude machen, einen zu äußern.“

Sie zwang ein Lächeln in ihr Gesicht.

„Du solltest nicht so unvorsichtig sein, mir das zu sagen. Wenn ich dich nun beim Wort nähme?“, versuchte sie zu scherzen.

Seine Augen strahlten.

„Tue es nur! Vielleicht hast du gleich einen Wunsch auf Lager?“, forschte er, auf den Scherz eingehend.

Sie zögerte eine Weile. Dann hob sie die Augen.

„In meinem Schreibtisch liegt eine Menge Geld, Georg. Mutter hat mir gesagt, es sei mein Eigentum, ich solle davon nehmen, wenn ich irgendetwas brauche. Aber für mich brauche ich nichts – gar nichts, ich habe ja hier alles in Hülle und Fülle. Nun ist aber Weihnachten vor der Tür, und ich möchte so gern meiner Mutter und den Schwestern eine kleine Freude machen. Darf ich zu diesem Zweck von dem Geld nehmen?“

Er lachte gutmütig, trat zu ihr heran und schüttelte sie ein wenig an den Schultern.

„Du Kindskopf! Dazu brauchst du doch nicht erst meine Erlaubnis einzuholen! Natürlich darfst du, und wenn du mehr brauchst, musst du es mir sagen, damit ich deine Kasse wieder fülle.“

„Ach – es sind ja zweihundert Mark“, wehrte sie erschrocken ab.

Wieder lachte er.

„Das dünkt dich wohl ein großer Reichtum?“

Sie nickte. „Ich habe noch nie so viel Geld besessen.“

Er fasste ihre Hand und zog sie an die Lippen.

„Käthe, liebe kleine Käthe, alles, was mein ist, ist dein. Vergiss das nicht! Und kaufe, was du willst“, stieß er hervor.

Und dann ließ er sie los und ging hastig hinaus.

Sie stand regungslos und schaute ihm nach. Wie ein Schwindel hatte es sie gepackt. „Käthe, liebe kleine Käthe“, klang es ihr in den Ohren. Wie er das gesagt hatte! Es lag ein Ausdruck darin, der sie erzittern ließ. Sie hob die Hand, die er geküsst hatte, empor und presste ihre Lippen auf dieselbe Stelle, die er mit den seinen berührt hatte.

Aber dann sanken ihre Arme schlaff herab. Sie dachte wieder an den parfümierten Brief, und ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken.

Lieber Georg!

Du wirst mir hoffentlich gestatten, dass ich dich noch so nenne. Ich erlaube mir die vertrauliche Anrede in der Erinnerung an jene schönen Tage, da sich noch nichts trennend zwischen unsere Herzen geschoben hatte. Was auch später zwischen uns getreten ist und obwohl ich dich – nicht so leichten Herzens, wie du wohl glaubst – verließ, mein Herz ist bei dir zurückgeblieben.

Ich habe wieder einmal so recht deutlich empfunden, dass die einzig wahre Liebe meines Herzens doch dir allein gehörte. Glaube mir, nur die Verhältnisse rissen mich von dir. Ich konnte auf dem Brandnerhof nicht leben. Die strengen, kalten Augen deiner Mutter töteten alle Lebensfreude in mir – und ich war doch so gern froh. Ich sehe ein, dass ich in ihrem Sinne nicht dem Ideal einer Schwiegertochter entsprach, aber ich war doch noch so jung und unbedacht. Mit der Zeit hätte ich mich wohl in alles gefunden, aber man hatte keine Geduld mit mir – auch du nicht.

Aber geschehen ist geschehen, ich will niemanden anklagen als mich selbst. Und ich will mich nicht länger mit der Vergangenheit befassen, sonst muss ich weinen über mein verfehltes Leben. Ich bin sehr unglücklich geworden mit meinem zweiten Mann. Eine furchtbare Zeit liegt hinter mir. Mein Mann hat mir vorgespielt, ein fürstliches Einkommen sei ihm sicher, seine Bilder würden mit Riesensummen bezahlt. Aber das entsprach leider nicht der Wahrheit. Er verkauft nur selten ein Bild, und wir leben von der Hand in den Mund. Georg, deine arme Lotte lebt ein schreckliches Dasein. Wir haben Schulden. Das kleine Vermögen, das ich von meiner Tante erbte, ist längst verzehrt. Und gerade jetzt befinde ich mich in einer furchtbaren Lage. Wenn wir bis Neujahr nicht zweitausend Mark beschaffen können, werden unsere Möbel gepfändet und wir auf die Straße gesetzt.

In meiner Not wende ich mich an dich. Ich weiß, du bist gut und edel. Hilf mir und sende das Geld! Es ist für dich nur eine Kleinigkeit. Und ich weiß sonst nicht aus oder ein. In der Erinnerung an die schönsten Stunden unserer Liebe bitte ich dich – hilf mir! In besseren Zeiten gebe ich dir das Geld zurück. Bitte, lieber, lieber Georg, hilf! Sei versichert, dass ich nie aufhören werde, dir zu danken und dich zu lieben. Meine Adresse findest du am Anfang des Briefes.

In der Hoffnung, dass du mich nicht umsonst bitten lässt, verbleibe ich für ewig

Deine Lotte

Georg knitterte das Schreiben ärgerlich in seiner Hand zusammen.

„Komödie!“, stieß er zwischen den Zähnen hervor.

Er kannte zur Genüge Lottes verlogene Art, um nicht zu wissen, was er von diesem Brief zu halten hatte. Er war nicht mehr der leichtgläubige Tor wie früher. Ganz anders, als die Schreiberin erwartet hatte, wirkten diese Worte auf ihn ein. Verächtlich dachte er, dass sie wohl gar im Einverständnis mit ihrem wenig ehrenwerten Gatten dieses Schriftstück verfasste, um ihm die gewünschte Summe abzulocken.

Einem ersten Impuls folgend, wollte er den Brief vollständig ignorieren. Aber sein ritterliches Empfinden bestimmte ihn, Lottes Bitte zu erfüllen; immerhin war sie kurze Zeit seine Frau gewesen.

Kurz entschlossen nahm er zwei Tausendmarkscheine und steckte sie in ein Kuvert, adressierte es und steckte es in seine Brieftasche, um es selbst zur Post zu bringen. Nicht ein Wort schrieb er dazu. Ihren Brief zerriss er in kleine Stücke und warf sie achtlos in seinen Papierkorb. Dann verließ er das Haus.

Käthe hatte inzwischen mit der Köchin über das Mittagessen verhandelt.

Kurze Zeit nachdem Georg das Haus verlassen hatte, verließ sie die Küche, um sich zu ihrem Zimmer zu begeben. Draußen auf dem Korridor begegnete ihr eines der Zimmermädchen. Es kam aus Georgs Arbeitszimmer, das heute gründlich gesäubert werden sollte, und trug den gefüllten Papierkorb vor sich her, um ihn draußen zu entleeren.

Käthe nickte ihr freundlich zu und ging weiter. Als sie eben die Treppe nach dem ersten Stock hinaufgehen wollte, sah sie auf dem Teppichläufer einen Papierschnitzel liegen, das dem gefüllten Papierkorb entfallen war. Käthe beugte sich herab und nahm es auf. Mit einem tiefen Seufzer sah sie darauf nieder. Ohne sich recht bewusst zu werden, las sie auf dem Papierschnitzel die Worte:

… lieber, lieber Georg … nie aufhören … zu lieben … für ewig …

Deine Lotte

Käthe hielt sich wankend am Geländer der Treppe, ein Frostschauer ging durch ihren Körper. Wie im Krampf biss sie die Zähne aufeinander und wendete das Stück Papier um. Mit toten, leeren Augen starrte sie nun noch auf die Worte der Rückseite nieder.

… Vergangenheit … ich weine über … sehr unglücklich … furchtbare Zeit

Käthe seufzte tief und schwer. Diese abgerissenen Worte schienen ihr der endgültige Beweis für ihre Vermutungen.

Mit schweren Schritten stieg sie langsam die Treppe empor und ging in ihr Zimmer, um sich für die Fahrt in die Stadt anzukleiden.

Unwillkürlich behielt sie das Stück Papier in ihrer Hand. In ihrem Zimmer angelangt, barg sie es in der hübschen kleinen Schmuckschatulle, die ihr Georgs Mutter geschenkt hatte. Sie wollte es aufbewahren, damit sie immer daran erinnert wurde und sich nicht, wie vorhin erst wieder, als Georg liebe kleine Käthe zu ihr gesagt hatte, in trügerischen Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft verlor.

***

Pünktlich um ein Uhr fuhr der Schlitten bei Frau Dr. Birkner vor. Wally stürzte jubelnd aus dem Haus und flog Käthe an den Hals. „Käthe! Ach, Käthe, das ist ein himmlisch feiner Schlitten! Darf ich mit dir nach Hause fahren?“, rief sie strahlend.

„Ja, Wally. Georg hat ihn extra für dich anspannen lassen“, erwiderte Käthe lachend.

Wally zappelte vor Wonne. „Ach du, Georg ist ein famoser Mensch! Warte nur einen Augenblick, gleich bin ich wieder da. Frau Doktor muss uns vom Fenster aus abfahren sehen.“

Sie stürzte ins Haus zurück, und gleich darauf erschien Frau Dr. Birkner, eine kleine, rundliche Dame mit gutmütigem Gesicht, am Fenster und winkte Käthe lächelnd zu.

Wally kuschelte sich wohlig neben der Schwester unter die warmen Pelzdecken.

„Hm, mächtig fein ist das, Käthe! So weich ist der Pelz. Und feine Plüschpolster. Ach du, lass doch bitte den Kutscher erst mal um den Marktplatz fahren und dann durch die Marienstraße, da wohnen eine Menge Schulfreundinnen von mir. Ich will mich doch ein bisschen dicke tun mit dem Schlitten.“

Lächelnd gab Käthe dem Kutscher Bescheid.

Heinrich nickte vergnügt und knallte lustig mit der Peitsche. Dies Peitschengeknall und das Geläut der Schellenbehänge, die über den Pferderücken hingen, lockten viele Leute an. Und die auf der Straße waren, blieben stehen, um das hübsche Gefährt und die noch hübscheren Insassen zu betrachten.

Wally lehnte sich stolz zurück und strahlte die Leute an. Und als wirklich einige ihrer Schulfreundinnen in Sicht kamen, zappelte sie vor Vergnügen und winkte sich fast die Arme aus.

Als sie dann die Stadt hinter sich gelassen hatten, lehnte sich Wally fest an die Schulter der Schwester.

„Käthe, es ist furchtbar nett von euch, dass ihr mich so oft abholt. Neulich, als mich Georg mal mit dem Auto abholte, sind auch alle Leute stehen geblieben. Famos ist das! Na, überhaupt, Georg ist ein Prachtmensch – für den gehe ich durchs Feuer.“

Käthe nickte.

„Ja, er ist sehr gut.“

„Gut? Das klingt viel zu flau. Na ja, ich weiß, du spielst dich immer auf die Vernünftige aus, wenn von deinem Mann die Rede ist. Du, junge Frauen sind wohl immer schrecklich langweilig?“

„Danke“, sagte Käthe lächelnd.

„Mokiere dich nur nicht über mich! Früher warst du nicht so grässlich würdevoll. Aber ich weiß Bescheid. Damit willst du nur verstecken, dass dein Herz lichterloh brennt für deinen Herrn und Gebieter.“

Käthe wurde rot.

„Aber, Wally, du bist ein schreckliches Mädel! Wenn das nun der Kutscher hört!“

„Ach wo! Der steckt ja bis über die Ohren in seinem Pelzkragen.“

***

Als die Schwestern auf dem Brandnerhof eintrafen, stand Georg schon wartend am Fenster.

Er wandte sich ihnen lächelnd zu, begrüßte Wally mit einigen Scherzworten und reichte Käthe die Hand. Wally sah das mit augenscheinlichem Missfallen. Dann sagte sie in ihrer freimütigen Art: „Ach so, ihr geniert euch vor mir. Na, ich drehe mich so lange um. Ihr könnt euch ruhig einen Kuss geben.“

Und mit einer energischen Bewegung wandte sie dem jungen Ehepaar den Rücken.

Käthe wurde blutrot und verlegen, Georg sah sie mit einem seltsamen Blick an, aber sie hielt die Augen gesenkt. Er erbarmte sich aber ihrer Verlegenheit und sagte lächelnd: „So, Wally, du kannst dich wieder umdrehen.“

Wally schwenkte herum.

„Gott, das ging ja riesig schnell“, sagte sie unzufrieden, und ihre Augen flogen von einem zum anderen. Sie wunderte sich, dass Käthe so verlegen war. Aber sie sagte nichts darüber, Georg lenkte ihre Aufmerksamkeit ab.

„Wir dürfen doch nicht solange auf das Essen warten lassen. Ich wette, du hast einen guten Appetit von der Schlittenfahrt mit heimgebracht.“

Wally nickte vergnügt.

„Na, da wirst du etwas erleben“, sagte sie.

Wally sorgte bei Tisch für eine muntere Unterhaltung, ohne das Essen dabei zu vernachlässigen. Georg lachte einige Mal laut und herzlich über ihre drolligen Bemerkungen. Auch Käthe musste lachen und war angeregter und heiterer als sonst. Es machte ihr sichtlich Vergnügen, die Schwester zu bewirten.

Sie saßen länger als sonst bei Tisch. Wally widmete sich mit Hingabe dem Dessert, und Georg zündete sich eine Zigarette an. Es war sehr behaglich.

Nach dem Dessert wurde Käthe auf eine Weile abgerufen.

Wally lehnte sich in ihren Sessel zurück und sagte aufatmend: „Bei euch ist es einfach himmlisch. Und wenn Käthe nicht meine liebste Schwester wäre, könnte ich sie beneiden. Du bist ein Prachtmensch, Georg.“

Er verneigte sich amüsiert und sagte neckend: „Ja, ja, Wally, ich weiß schon, dass ich seit langer, langer Zeit dein Schwarm bin, schon ehe ich das Vergnügen hatte, dein Schwager zu sein.“

Wally zog eine kleine Grimasse.

„Woher willst du denn das wissen?“

„Von Käthe natürlich. Sie hat mir verraten, dass du sehr für mich geschwärmt hast.“

Wally zuckte die Achseln.

„Na, so wie Käthe noch lange nicht. Sie hat noch viel toller für dich geschwärmt als ich. Ich habe das nur so zur Gesellschaft mitgemacht.“

Er richtete sich interessiert auf.

„Weißt du das genau?“, fragte er hastig.

„Na, ich bitte dich! Natürlich hat sie das nie so offen gezeigt wie ich, aber ich kenne doch meine Käthe.“

Georg fuhr sich über die Stirn, die sehr heiß geworden war. Unbeherrscht sprang er auf.

Hatte Käthe wirklich früher ein wärmeres Interesse für ihn gehabt?, und war dieses Interesse ertötet durch sein unverzeihliches Verhalten bei seiner Werbung?

Es lief ihm heiß und kalt über den Rücken bei dieser Frage.

***

Viel zu schnell verstrichen Wally die wenigen Stunden auf dem Brandnerhof. Sie hatte mit Käthe das ganze Haus vom Keller bis zum Speicher durchstreift, war in den Ställen und Vorratskammern gewesen und hatte dann mit dem jungen Ehepaar eine behagliche Teestunde gehalten.

Nun war es an der Zeit, nach Hause zu gehen, und Wally schlüpfte seufzend in ihren Mantel.

Auch Käthe machte sich fertig, um die Schwester heimzubegleiten. Als sie dann beide herunterkamen, stand Georg zum Ausgehen fertig in der Diele.

„Willst du auch noch ausgehen, Georg?“, fragte Käthe.

„Ich will nur dich und Wally begleiten. Du bist sonst auf dem Rückweg allein.“

Wally war tief beglückt, denn Schwager und Schwester hatten sie für die Weihnachtsfeiertage zu Gast geladen. Ihr Mäulchen ging lebhaft wie ein Mühlwerk. Erst in der Nähe der elterlichen Wohnung wurde sie merklich stiller.

„Jetzt geht’s ins Schattenreich“, sagte sie halb ernsthaft, halb scherzend.

„Zeus thront aber doch im Olymp, Wally“, neckte Georg.

„Ja, Zeus ist eigentlich kein passender Name für Vater. Käthe, du hast es gut, du gehst nachher mit deinem Mann wieder in dein schönes, friedliches Heim.“

Käthe zog die Schwester an sich. Und es kam ihr so recht zum Bewusstsein, dass Wally mit ihren Worten Recht hatte.

„Ja, Wally, ich habe es sehr gut und will dem Geschick dankbar sein“, sagte sie mit einem warmen Ausdruck und sah Georg mit einem dankbaren Blick an.

Seine Augen leuchteten auf, dass sie erbebte. Aber sie drückte die Hand aufs Herz und dachte an den Papierschnitzel daheim in ihrem Schmuckkästchen.

Sie fanden drinnen im elterlichen Wohnzimmer den übrigen Teil der Familie mit Pastor Seltmann. Man war gerade mit dem Abendessen fertig, das dem Brautpaar zu Ehren einen etwas festlichen Anstrich bekommen hatte.

Georg und Käthe mussten nun ein Glas Wein trinken und auf das frohe Ereignis anstoßen.

Der Vater schien sehr milde gestimmt und erzählte Anekdoten, die Brüder taten sich, die seltene Gelegenheit benützend, an dem leichten Moselwein gütlich und rauchten dabei eine von Vaters sonst ängstlich gehüteten Zigarren.

Käthe fing einen glückstrahlenden Blick des Brautpaars auf, und ein leiser Seufzer stahl sich über ihre Lippen.

Georg hörte diesen Seufzer und sah, wie Käthes Blick trübe an dem Brautpaar hing.

Zog sie Vergleiche? Dachte sie an ihre eigene nüchterne Verlobung? Er erhob sich plötzlich und mahnte zum Aufbruch, und Käthe folgte ihm willig.

Ohne ein Wort legte er draußen ihren Arm in den seinen. Sie wollte ihn erst zurückziehen, aber da sagte er ruhig: „Der Weg ist glatt.“

Da ließ sie ihren Arm in dem seinen.

Er begann nun ein belangloses Gespräch und kam dann auf Wally zu sprechen.

Und da erzählte ihm Käthe, dass Wally einen Beruf erlernen wollte. Sie sagte ihm, dass sie Wally versprochen habe, beim Vater ein gutes Wort dafür einzulegen.

Sofort erbot sich Georg, seinerseits Wallys Wunsch bei ihrem Vater zu unterstützen. Dass er sich im Stillen vornahm, die Kosten für Wallys Ausbildung zu, übernehmen, falls der Amtmann die nicht tragen wollte, erwähnte er nicht.

Hätte sich doch Wally heute bei ihm eine Stufe in den Himmel gebaut durch die Erzählung von ihrer und Käthes Schwärmerei.

Diese Erzählung hatte ihn mit neuem Mut und neuer Hoffnung erfüllt. War er Käthe früher nicht gleichgültig gewesen, hatte sie vor ihrer Verlobung Sympathie für ihn gehabt, dann ließ sich doch vielleicht wieder wecken, was er durch seine anfängliche Gleichgültigkeit und sein unkluges Benehmen verscherzt hatte. Jedenfalls wollte er nicht müde werden, um ihr Vertrauen und um ihre Liebe zu ringen.

***

Anna Brandner war mit dem festen Vorsatz vom Brandnerhof abgereist, nicht eher zurückzukehren, bis sie von Georg hörte, dass zwischen dem jungen Paar alles im Klaren war.

Aber zu ihrem Leidwesen klang weder aus Käthes noch aus Georgs Briefen bisher der erhoffte Unterton jauchzender Lebensfreude. Die törichten Kinder quälten sich also noch immer und fanden nicht zueinander.

Schweren Herzens fasste sie also den Entschluss, noch nicht heimzukehren. Stattdessen erhielten Georg und Käthe am Tage nach Wallys Besuch einen Brief, der folgendermaßen lautete:

Meine lieben Kinder! Ihr habt gewiss angenommen, dass ich zum Weihnachtsfest heimkehren würde. Diese Absicht habe ich jedoch geändert. Meine Schwester hat mich so dringend gebeten, dieses eine Weihnachtsfest einmal in ihrem Haus zu verleben.

Dass meine liebe Käthe alles gut versorgen wird, weiß ich. Die Tabelle – was die Leute zu erhalten haben und wie sie in früheren Jahren beschenkt wurden, ist darauf verzeichnet – liegt in meinem Schreibtisch bei den Wirtschaftsbüchern. Danach kann sich Käthe richten. Im Übrigen weißt du, Georg, Bescheid, wenn ihr etwas unklar ist.

Und nun sollt ihr hören, was eure alte Mutter noch für kühne Reisepläne geschmiedet hat. Wir, meine Schwester und ich, wollen Anfang Januar nach Genf reisen, um unsere andere, seit Jahren gelähmte Schwester einmal wiederzusehen. Wir sind alle drei nicht allzu weit von den Siebzig entfernt, und es ist wohl besser, wir verschieben dieses Wiedersehen nicht länger. Wir haben uns vor fünfzehn Jahren das letzte Mal gesehen. Jetzt trifft es sich gut, dass wir beide abkommen können, und wir haben uns in Genf schon angemeldet.

Ihr müsst also noch eine Weile ohne eure Mutter auskommen, und ich hoffe, dass ihr mich dann, wenn ich heimkehre, umso freudiger begrüßen werdet.

Ich lege für Käthe noch einen Zettel bei, auf dem ich allerlei Gegenstände verzeichnet habe. Käthe wird mir das alles in einen der Rohrplattenkoffer packen und in den nächsten Tagen als Eilgut an meine hiesige Adresse schicken.

Meine Weihnachtsgaben für euch sende ich mit der Post. Und ich hoffe, ich erhalte am Weihnachtsabend von euch ein Zweiglein eures Tannenbaums mit der Versicherung, dass ihr glücklich seid. Ich grüße und küsse euch beide mit innigen Segenswünschen

Eure Mutter

Georg hatte den Brief zuerst gelesen und reichte ihn dann Käthe hinüber.

Als sie zu Ende gelesen hatte, fragte er: „Was sagst du nun dazu, Käthe? Mutter überlässt uns hier unserem Schicksal. Wird es dir nicht zu schwer werden, in der kurzen Zeit hier alles allein zu richten für die Leute? Ich kann dir dabei leider nur wenig helfen.“

Käthe gab ihm lächelnd den Brief zurück.

„Ich freue mich, wenn ich arbeiten kann. Es soll alles nach dem Wunsch deiner Mutter geregelt werden.“

***

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Käthe hatte alle Hände voll zu tun. Und dass sie mit Lust und Liebe bei der Sache war, sah man ihren leuchtenden Augen an.

Noch nie hatte Georg sie so gesehen.

Zum ersten Mal war es Käthe vergönnt, die Wünsche vieler Menschen zu erfüllen. Und wie ein Rausch kam es über sie, als sie für Mutter und Geschwister einkaufte. Sie hatte erst nur die Hälfte des Geldes verbrauchen wollen, aber als sie anfing, war bald der ganze Reichtum erschöpft. Ihr Schreibtischfach war nun leer. Als sie am nächsten Tag Quittungen hineinlegen wollte, sah sie erstaunt, dass abermals zweihundert Mark darin, lagen.

Georg hatte stillschweigend die erschöpfte Kasse wieder gefüllt. Tränen schossen ihr in die Augen.

Wie gut er ist!, dachte sie.

Und als sie ihm gleich darauf begegnete, stammelte sie einige Dankesworte.

Er wurde verlegen.

„Aber Käthe, ich bitte dich, beschäme mich nicht! Was ist da zu danken? Du musst ein andermal sagen, wenn du dich verausgabt hast. Ich entdeckte es nur zufällig. Und nun bitte kein Wort mehr davon!“

Georgs ganzes Wesen beunruhigte Käthe im Stillen ungemein. Sie ahnte nicht, dass er mit jedem Wort, mit jedem Blick um ihre Liebe warb. Seine Güte rührte sie, aber sie hielt sie nur für einen Ausdruck der Dankbarkeit, dass sie ihn von dem Zwang erlöst hatte, ihr Zärtlichkeiten erweisen zu müssen.

Jeden Tag nahm sie den unseligen Papierschnitzel in die Hand und prägte sich recht eindringlich ein, dass es für sie keine Hoffnung gab, dass sich ihr Georgs Herz einst zuwenden könnte.

Es waren ungefähr acht Tage verstrichen, seit jener parfümierte Brief auf dem Frühstückstisch lag, als ihr wiederum der schwüle Duft aus den Postsachen entgegenschlug.

Sie biss die Zähne zusammen vor Schmerz und schob mit zitternder Hand die Briefe auseinander. Und wirklich – da lag wieder solch ein schmales Kuvert in zarter Fliederfarbe, mit derselben Handschrift und dem Poststempel München. Käthe schlug die Hände vor das Antlitz und stöhnte qualvoll auf. Dunkel und trübe lag die Welt wieder vor ihr, sie fragte sich bitter, ob sie es dulden musste, dass diese Frau immer wieder ihren Frieden störte. Sie gehörte doch jetzt einem anderen Mann und hatte Georg einst herzlos verlassen. Was wollte sie nun noch von ihm, weshalb schrieb sie ihm immer wieder?

Sie fühlte, dass sie diese Frau hasste mit einer Inbrunst; wie sie noch nie einen Menschen gehasst hatte. Und der brennende Wunsch stieg in ihr auf, diesen abscheulich duftenden Brief zu vernichten, ehe ihn Georg gelesen hatte.

Aber dann sank sie mutlos in einen Sessel. Wozu sollte das nützen? Damit löschte sie doch nicht aus, was in Georgs Herzen für seine erste Frau lebte.

So saß sie und wartete, bis er eintrat. Sie sah, dass er den bewussten Brief wie neulich schnell in seine Brusttasche gleiten ließ, ohne ihn zu lesen. Aber die Falte zornigen Unmuts auf seiner Stirn sah sie nicht.

Schweigend saßen sie einander gegenüber, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Endlich richtete Georg einige Fragen an Käthe, die sie, so ruhig sie konnte, beantwortete. Dabei fiel es ihm auf, dass sie sehr blass aussah.

„Du wirst dich doch nicht überanstrengen, Käthe? Mir scheint, du siehst blass aus“, sagte er besorgt.

„Ich habe nur Kopfweh, das wird an der Luft besser werden“, sagte sie schnell, wurde aber dabei so rot, dass alle Blässe verschwunden war.

Georg las erst später, als er allein war, Lottes Brief. Er war wieder in überschwänglichen Worten abgefasst und enthielt eine Danksagung für das gesandte Geld.

Georg zerriss ihn und warf ihn in den Papierkorb. Für ihn war diese Angelegenheit erledigt, und er hoffte nur, dass Lotte ihm nicht mit einer neuen Bettelei lästig fiel.

Käthe war ihren häuslichen Geschäften nachgegangen. Als sie eben aus der Küche über den Korridor schritt, kam das Dienstmädchen aus dem Amtmannshaus auf sie zugestürzt und meldete ihr, der Amtmann habe einen Schlaganfall erlitten und sie möge sofort nach Hause kommen.

Käthe erschrak und machte sich, hastig einen warmen Mantel umhängend, auf den Weg. Georg hatte inzwischen das Haus verlassen, und so konnte sie ihm keine Nachricht geben.

Als Käthe zu Hause ankam, fand sie ihren Vater, gelähmt und der Sprache beraubt, mit blaurotem Gesicht auf seinem Lager liegend.

Schon seit langer Zeit hatte der Arzt den Amtmann ermahnt, ein mäßiges Leben zu führen. Mancherlei Vorboten hatten sich gezeigt, die ihn hätten warnen müssen. Aber er hatte alle Mahnungen unbeachtet gelassen. Am Abend vorher hatte er wieder schwer gezecht. Mit der wüstesten Laune war er aufgestanden, hatte seine Angehörigen ärger als je drangsaliert und war dann fluchend hinausgegangen.

In den Gewächshäusern hatte er einen Arbeiter so gepeinigt, dass der ihm den Gehorsam versagte. Da hatte ihn der Amtmann zornentbrannt entlassen, und darauf hatte sich der Arbeiter einmal Luft gemacht und hatte dem Amtmann, in Gegenwart seiner Söhne, gründlich die Wahrheit gesagt und ihn einen elenden Leuteschinder genannt, den der Teufel schon noch mal holen würde.

Darüber hatte sich der Amtmann so aufgeregt, dass er, von Wut übermannt, mit einer Hacke auf den Arbeiter losgegangen war.

Seine Söhne wollten ihm in den Arm fallen, aber ehe sie so weit kamen, ließ der Vater plötzlich die Hacke fallen und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

Und nun lag der große, starke Mann röchelnd auf seinem Bett.

Die ganze Familie des Amtmanns, außer Wally, war anwesend, und alle sahen sich mit bleichen Gesichtern an. Der Anblick des Vaters war grauenvoll.

Trotz des Bemühens des Arztes verschied der Amtmann, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, eine halbe Stunde nach Käthes Eintreffen.

Die Kinder umstanden fassungslos sein Sterbelager. Sie konnten es kaum glauben, dass der Mann, der sie alle unterjocht, der sie noch vor einer Stunde gescholten und drangsaliert hatte, nun leblos vor ihnen lag.

Keiner von ihnen verlor durch den Tod des Vaters etwas Unersetzliches. Er hatte ihren Herzen fremd und kalt gegenübergestanden. Und doch waren sie alle durch seinen jähen Tod bedrückt. Trotz allem war es der Vater, der nun starr und kalt vor ihnen lag.

Wirklichen Schmerz empfand nur die Mutter. Sie hatte an der Seite ihres Mannes ein freudloses, armseliges Leben geführt, war von ihm gekränkt und gedemütigt worden. Und doch hatte sie diesem Mann einst die ganze Liebe ihres jungen Herzens geschenkt, war in gläubigem Vertrauen mit ihm gegangen, ohne zu fragen, wohin. In aller Not und Drangsal war diese Liebe nicht gestorben. Es war die echte, rechte Liebe gewesen, die diesem Toten gehört hatte, jene Liebe, von der es heißt: Sie höret nimmer auf, sie trägt und duldet alles.

Weinend, wie zerbrochen, lag sie neben dem Toten auf den Knien und streichelte seine kalten Hände.

Die Kinder weinten um den Schmerz der Mutter, den sie doch nicht verstehen konnten. Pastor Seltmann, den man gerufen hatte, versuchte sie zu trösten, aber es gelang ihm nicht.

Käthe kehrte erst nach einigen Stunden nach Hause zurück. Georg war inzwischen auf einem benachbarten Gut gewesen. Er war kurz vor Käthe heimgekehrt und wusste noch nicht, was sich im Amtmannshaus zugetragen hatte.

Käthe trat ihm blass, aber gefasst entgegen.

„Georg, mein Vater ist gestorben“, sagte sie leise.

Er blickte sie betroffen an.

„Dein Vater, Käthe? Das ist doch nicht möglich!“

„Doch, Georg. Er ist einem Schlaganfall erlegen, es ist sehr schnell gegangen. Ich komme eben von daheim.“

Er fasste ihre Hände.

Käthe erzählte ihm alles. Sie war in einen Sessel geglitten, und er stand neben ihr. Sie sprach, ohne ihn anzusehen.

Er strich sanft und leise über ihr Haar.

„Tut es sehr weh, Käthe?“

Da hob sie den Blick.

„Nur der Mutter wegen, Georg. Du weißt ja, der Vater ist unserem Herzen fremd gewesen. All unsere Liebe gehörte der Mutter. Vaters jäher Tod hat uns natürlich erschüttert, aber das geht nicht so tief, wie wenn andere Menschen ihren Vater verlieren. Nur die arme Mutter – kannst du es glauben, dass sie willig ihr Leben hingäbe, könnte sie Vater damit wieder erwecken? Sie ist ganz gebrochen. Alles ist vergessen, was er ihr je zuleide getan hat. Sie liebt ihn noch immer. Ich kann das nicht fassen.“

Er atmete tief auf.

„Weil du die Liebe nicht kennst, Käthe“, sagte er leise.

Sie presste die Hände fest zusammen. Ach, wenn er wüsste, wie falsch seine Annahme war! Und dann sagte sie sich, dass er sehr gut ihre Mutter verstehen musste. Hatte doch auch seine Liebe zu seiner geschiedenen Frau alle Kränkungen überdauert, die sie ihm zugefügt hatte, liebte er sie doch heute noch, obwohl sie ihm die Treue gebrochen und Schmach über ihn gebracht hatte.

Die Liebe höret nimmer auf, dachte sie erschauernd. Auch in ihrem Herzen würde sie nie aufhören, trotz aller Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit.

„Kann ich deiner Mutter irgendwie von Nutzen sein?“, fragte Georg nach einer Weile.

„Helenes Verlobter ist drüben, und die Brüder auch. Aber du könntest doch wohl manches ordnen. Seltmann ist wenig energisch, und die Brüder sind so gar nicht gewöhnt, etwas selbstständig zu bestimmen. Vater hat sie ja immer unter Druck gehalten.“

„Dann werde ich gleich nach Tisch hinübergehen.“

„Ich bin dir sehr dankbar dafür. Und wenn es dir recht ist, können wir gleich zu Tisch gehen. Ich habe der Köchin schon Bescheid gesagt. Dann will ich in die Stadt fahren. Mutter bat mich, Wally von Vaters Tod in Kenntnis zu setzen. Wally weiß ja noch nichts. Ich will sie gleich mitbringen und sie für ein paar Tage von der Schule losbitten.“

„Gut, gut, Käthe, richte alles ein, wie es dir gut dünkt und verfüge ganz nach Belieben. Ich werde gleich nach dem Auto telefonieren. Lass nur inzwischen die Suppe auftragen! Ich fahre dann mit dir und sehe, wo ich bei deiner Mutter helfen kann.“

Sie reichte ihm ihre Hand und drückte die seine fest.

„Ich dank dir tausend Mal.“

Er sah stumm in ihr blasses Gesicht und in ihre leidvollen jungen Augen. Und er musste denken, ob sie wohl seine Frau geworden wäre, wenn der Vater früher gestorben wäre, ehe er sie zu dieser Ehe gedrängt hatte.

Eine Stunde später befand sich Käthe auf dem Weg zur Stadt, während sich Georg im Amtmannshaus bemühte, durch seine ruhigen, bestimmten Anordnungen Ruhe in die verwirrten Gemüter zu bringen.

***

Im Amtmannshaus gab es diesmal keine Weihnachtsfeier. Die Erwachsenen fanden sich damit ab, aber für Wally wäre ein stilles Fest sehr traurig gewesen. Und so war beschlossen worden, dass sie die Weihnachtsferien auf dem Brandnerhof verleben sollte. Wally war sehr zufrieden damit. Sie half Käthe eifrig bei den Weihnachtsvorbereitungen und fand dabei ihre Fröhlichkeit wieder. Käthe und Georg halfen ihr nach Kräften dabei.

Sie war aber ein sehr helläugiges Geschöpf und besaß eine scharfe Beobachtungsgabe. Im steten Zusammenleben mit Schwester und Schwager machte sie bald allerlei Entdeckungen, die sie nachdenklich stimmten.

Zuerst fiel ihr auf, dass sich Georg und Käthe niemals küssten, auch dann nicht, wenn sie sich allein glaubten. Und das Verhalten der jungen Eheleute zueinander erschien ihr sehr merkwürdig. So gütig und freundlich Georg auch zu ihrer Schwester war und so sehr sich Käthe bemühte, alles zu tun, was er wünschte und verlangte – etwas schien Wally doch dabei nicht in Ordnung zu sein.

Nachdem sie das erst einmal herausgefunden hatte, achtete sie auf alles und fand noch mancherlei, was ihr zu denken gab.

Gegen ihre sonstige Gewohnheit, alles, was ihr durch den Kopf ging, auszuplaudern, behielt sie aber vorläufig ihre Beobachtungen für sich.

So kam das Weihnachtsfest heran. Am Tag vor dem Heiligen Abend lag wieder ein fliederfarbener stark duftender Brief unter Georgs Postsachen auf dem Frühstückstisch.

Wally und Käthe waren zusammen ins Zimmer getreten und warteten auf Georg.

Als sich Wally dem Tisch näherte, hob sie witternd das Näschen.

„Du, Käthe, wie riecht es denn heute hier so sonderbar?“, fragte sie.

Auch Käthe hatte bereits den ihr unangenehmen Geruch bemerkt. Sie wurde sehr blass, und ohne auf die Schwester zu achten, schob sie die Briefe hastig auseinander und hob ein fliederfarbenes Kuvert empor. Wally merkte, dass ihm der starke Duft entströmte.

„Ph! Dieser Brief riecht ja grässlich!“, sagte sie schaudernd.

Käthe schob den Brief schnell wieder unter die anderen Postsachen und wandte ihr Gesicht, das erbarmungswürdig blass aussah, Wally zu.

„Bitte, erwähne in Georgs Anwesenheit kein Wort über diesen Brief und dieses Parfüm“, sagte sie hastig.

Wally blickte die Schwester betroffen an.

„Was ist denn damit, Käthe?“, fragte sie erschrocken.

„Nichts, nichts – frage mich nicht! Und vor allem: Sprich nicht ein Wort davon, wenn Georg hier ist! Sonst – ja, sonst bin ich dir ernstlich böse.“

Wally sah nachdenklich aus.

„Na ja doch, Käthe, sei nur ruhig! Wenn du es nicht willst, brauch ich ja nicht darüber zu sprechen. Aber ist das so wichtig?“

Käthe schüttelte nur stumm den Kopf. Ihre Stirn war im Schmerz zusammengezogen und um den Mund grub sich ein herber Leidenszug. Sie wandte sich ab, um Wallys forschendem Blick zu entgehen, und trat ans Fenster.

Wally sah ihr grübelnd nach.

Gleich darauf trat Georg ein.

Man ließ sich am Frühstückstisch nieder, und Wally sah dann sehr wohl, dass Georg hastig und mit einem scheuen Blick zu Käthe den parfümierten Brief in seine Brusttasche verschwinden ließ und dass sich Käthe, die es gleichfalls gesehen haben musste, einen Augenblick mit geschlossenen Augen in den Sessel zurücklehnte.

Wally verzehrte heute ihr Frühstück ohne Genuss. Sie plauderte auch nicht wie sonst munter drauflos, sondern zerbrach sich vergeblich den Kopf, was das alles heißen sollte. Eins schien ihr aber gewiss – die Entfremdung, die ohne Zweifel zwischen Georg und Käthe bestand, hing irgendwie mit dem dummen Brief zusammen.

Es lag heute wie eine dumpfe Beklemmung zwischen den drei Menschen. Fast schweigend nahmen sie das Frühstück ein und gingen dann auseinander.

Stiller als sonst lief Wally heute im Haus umher. Sie liebte ihre Schwester und Georg zu sehr, um nicht betrübt zu sein, dass an ihrem Glück etwas fehlte. Sie wünschte sich sehnlichst, dieses Leid abwenden zu können. Wenn sie es nur erst hätte beim rechten Namen nennen können!

Käthe zu fragen, wagte sie nicht.

Dass eine dritte Person mit im Spiel sein musste, war für sie nicht schwer zu erraten. Und dass diese dritte Person der Verfasser jenes stark duftenden Briefes war, stand bei ihr fest.

Wer war dieser Verfasser? War es ein Herr oder eine Dame? Vielleicht gar Georgs Mutter? Aber nein, Frau Brandner schrieb doch immer sehr liebe Briefe an Käthe, und die waren nicht auf farbiges Papier geschrieben, dufteten auch nicht so widerlich stark.

Darüber grübelte Wally angestrengt, als sie mit Käthe drüben im großen Saal die langen Tafeln mit Geschenken für die Leute belegte und die beiden großen Tannenbäume schmückte.

Bis Mittag waren die Schwestern mit ihrer Arbeit fertig und gingen hinauf, um sich umzukleiden. Wally war eher damit fertig und lief zu Käthe hinüber.

Käthes kleine hübsche Schmuckkassette stand offen auf dem Toilettentisch.

„Brauchst du Schmuck, Käthe?“, fragte Wally, sich neugierig über die Kassette beugend.

Käthe war in Gedanken versunken und achtete nicht auf sie.

„Nur meine schwarze Jettbrosche, Wally.“

„Soll ich sie dir geben?“

„Ja, bitte!“

Wally nahm die Brosche aus der Kassette und hob dann, um sich Käthes Schmucksachen zu betrachten, auch den Einsatz heraus, der sich in zwei Fächer teilte. Und da wehte ihr plötzlich jenes eigentümliche Parfüm entgegen, das von dem Brief, der sie so sehr beschäftigte, ausgegangen war.

Verwundert blickte sie in die Kassette hinein und sah einen Papierschnitzel liegen von derselben eigenartigen Fliederfarbe, wie sie jener Brief gehabt hatte.

Sie unterdrückte einen Ruf der Überraschung. Rasch und verstohlen nahm sie den Zettel heraus und betrachtete ihn. Ohne Gewissensbisse las sie die abgerissenen Worte auf beiden Seiten. Sie verstand den Sinn nicht. Nur eins wurde ihr klar: dass dieser gräuliche Brief von einer Lotte kam und an Georg gerichtet war.

Während sie noch grübelnd darauf niedersah, hatte sich Käthe umgewandt.

Erschrocken trat sie heran, nahm das Papier aus Wallys Hand, warf es in die Kassette und schloss sie hastig zu. Sie sah dabei so verstört aus, dass Wally erschrak. Sie warf sich plötzlich, alle Zurückhaltung vergessend, in Käthes Arme.

„Käthe, ach, liebe Käthe, was ist das mit diesem Brief? Der grässliche Duft scheint mir den ganzen Brandnerhof zu erfüllen und alle Lebensfreude zu ersticken“, stieß sie hervor.

Käthe hatte sich stets beherrscht. Niemand sollte ihren Schmerz kennen lernen. Nur die verschwiegenen Wände ihres Zimmers hatten bisher ihre Tränen gesehen. Aber bei diesem Ausruf der Schwester, der ihr enthüllte, dass Wally mehr gemerkt hatte, als sie sollte, brach ihre Fassung zusammen. Am ganzen Körper zitternd, warf sie sich, das Gesicht in den Händen bergend, auf ihr Bett.

Wally kniete erschrocken neben ihr nieder und umfasste sie liebevoll.

„Käthe, ach, liebe Käthe, ich merkte ja schon lange, dass dich etwas quält und drückt. Willst du mir deinen Kummer nicht anvertrauen? Ich bin ja noch jung und dumm, aber ich habe dich so herzlich lieb und möchte dir helfen. Sag mir doch, was dich bedrückt, Herzenskäthe! Es wird dich sicher erleichtern, wenn du jemandem deinen Kummer offenbaren kannst. Was hat es mit diesem Brief für eine Bewandtnis? Von einer Lotte ist er, an Georg gerichtet, und Georg hat ihn schnell eingesteckt und nach dir gesehen, ob du es auch nicht bemerkt hast. Und du hast blass und unglücklich ausgesehen, als du den Brief unter den anderen fandest. Ich habe gar nicht mehr froh sein können und immer gegrübelt, was das nur alles zu bedeuten hat. Sag es mir doch! Ich sorge mich so schrecklich um dich. Keine ruhige Stunde habe ich mehr, wenn du mich nicht an deinem Kummer mittragen lässt.“

Käthe versuchte gewaltsam, sich zu fassen.

„Ach, Kind, vergiss, dass ich so haltlos war. Es ist wirklich nichts als eine törichte Stimmung. Denke nicht mehr daran, ich bitte dich“, sagte sie hastig.

Aber Wally umfasste sie nur fester und schüttelte energisch den Kopf.

„Nein, Käthe, so lasse ich mich nicht abspeisen. Du hilfst mir in jedem Kummer, immer finde ich Halt und Stütze bei dir. Nun will ich auch meinen Teil an deinen Sorgen. Du sollst und musst dein Herz erleichtern. Und wenn du mir nicht sagst, was dich bedrückt, dann gehe ich zu Georg. Ja, das tue ich. Dann muss er mir Rede und Antwort stehen.“

Käthe richtete sich entsetzt auf.

„Um Gottes willen nicht, Wally! Das darfst du nicht – es wäre mein Tod“, stieß sie angstvoll hervor.

„Dann sag mir selbst, weshalb du so traurig bist!“

„Nein, mein Kind. Ich bin ja- gar nicht traurig, sieh, ich bin schon wieder ganz ruhig. Vergiss alles, lass dir dein Herz nicht schwer werden davon.“

„Aber ich möchte dir helfen, Käthe.“

Käthe schüttelte müde den Kopf.

„Mir kann kein Mensch helfen, Kind.“

Wally schluckte ihre Tränen hinunter.

„Aber ich kann dir helfen, dein Leid zu tragen. Denk nicht, dass ich ein ganz dummes Ding bin. Ich hab zu Hause manches Schwere erlebt und bin wirklich viel älter als meine Jahre, wenn es sich um ernste Dinge handelt. Ich gebe mich nicht eher zufrieden, als bis du dir dein Herz erleichtert hast. Du sollst sehen, es ist dir eine Wohltat, wenn du dich aussprichst“, bettelte sie.

Da gab Käthe endlich den Widerstand auf. Die Sehnsucht, sich einmal alles Leid vom Herzen zu reden, kam über sie. Einem Menschen nur einmal klagen, was sie bedrückte – musste das nicht wirklich eine Wohltat sein? Und wer stand ihr näher als die junge Schwester, mit der sie von jeher Leid und Freud getragen hatte?

Halb wider Willen begann sie mit leiser Stimme zu beichten. Dass Georg nicht sie liebe, sondern noch immer seine erste Frau, von der jene parfümierten Briefe herrührten. Dass aber ihr eigenes Herz Georg gehörte, schon so lange sie denken könne, und dass sie ihn zu ihrer eigenen Qual täglich lieber gewonnen hätte.

„Du musst nicht schlecht von Georg denken, Wally. Er kann ja nichts dafür, dass sein Herz noch immer an der Frau hängt. Mich hat er nur geheiratet, weil seine Mutter es wünschte. Ich habe es von Anfang an gewusst, dass er mich nicht aus Liebe heiratete. Aber so schwer habe ich es mir nicht gedacht, mit einem Herzen voll Liebe neben einem Mann zu leben, der mich nicht wiederliebt. Georg ist gut, unsagbar gut, er möchte mir alles leicht machen, und es tut ihm gewiss Leid, dass er mich nicht lieben kann. Aber seine Güte bedrückt mich mehr, als sie mir über das alles hinweghilft, denn sie zeigt mir immer wieder, wie beneidenswert glücklich ich mit einem Mann, wie er es ist, hätte sein können, wenn er mich liebte, wie ich ihn.“

Sie schwieg, und von neuem brachen ihre Tränen hervor.

Wally saß zu ihren Füßen und umschlang ihre Knie.

„Ach, wie traurig ist es, dass Liebe sich nicht gebieten lässt! Wenn ich bedenke, dass Mutter Vater noch über den Tod hinaus liebt, Georg dieser schlechten Frau im Herzen anhängt und dass du ihn lieben musst, obgleich es dir nur Kummer macht, so wünsche ich mir, dass ich sie nicht kennen lerne, diese Liebe. Mir scheint, sie bringt viel mehr Unglück als Glück. Wie sehr bedaure ich dich, meine arme liebe Schwester. Grässlich muss das sein, einen Mann zu lieben, der einen nicht wiederliebt. Und ich hätte doch darauf geschworen, dass Georg dich furchtbar lieb hat. Aber an all dem Unglück ist nur diese Lotte mit ihren gräulichen Briefen schuld. Ich hab schon einen Groll auf sie – einen Groll, ich kann dir nicht sagen, wie groß.“

So sagte Wally von Schluchzen unterbrochen, und streichelte tröstend die Hand der Schwester. Sie sprach ihr gut zu, wie eine Mutter ihrem unglücklichen Kind. Es war, als hätten die Schwestern ihre Rollen vertauscht.

Käthe gewann zuerst ihre Fassung wieder. Sie erhob sich.

„Wir müssen hinunter, Wally, gleich ist Essenszeit“, sagte sie mit erzwungener Ruhe. „Und du darfst nun nicht mehr an das alles denken.“

„Ist es dir denn nicht ein wenig leichter ums Herz geworden, Käthe?“

„Doch, Wally, ich bin nun schon halb getröstet“, versicherte Käthe.

Sie wusch sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser, um die Tränenspuren zu beseitigen.

„Sieht man noch, dass ich geweint habe?“, fragte sie ängstlich.

„Nur noch ein wenig. Aber das tut auch nichts. Lass doch Georg ruhig merken, welches Leid er dir zufügt. Dann sieht er wenigstens sein Unrecht ein“, antwortete Wally grollend.

„Von einem Unrecht kann keine Rede sein, Wally. Georg soll sich um keinen Preis bewusst sein, mir ein Unrecht zuzufügen. Es würde ihn niederdrücken und doch nichts helfen. Deshalb habe ich ihm ja auch gesagt, dass ich ihn nicht liebe und nur seine Frau geworden bin, weil ich mich vor Vater fürchtete.“

Wally sah sie betroffen an.

„Das hast du ihm gesagt?“

„Ja, das war ich meinem Stolz schuldig. Und so haben wir einander nichts vorzuwerfen. Wir gehen nebeneinander her wie gute Freunde. Das ist alles. Und es ist ja auch so gut. Ich bin sonst wirklich ganz damit zufrieden. Nur manchmal – wie vorhin – bin ich töricht und wünsche mir Unerreichbares. Aber das geht schnell vorüber. Sieh, jetzt bin ich schon wieder vernünftig! Nicht wahr, Wally, du denkst nicht mehr an die törichte Aufwallung von vorhin? Sieh mal, welch ein schönes, gutes Leben habe ich trotzdem auf dem Brandnerhof! Kann ich mir wohl mehr wünschen, ohne unbescheiden zu sein? Denk an Mutters Los! Wie viel besser habe ich es doch! So gut ist Georg zu mir, freundlich und rücksichtsvoll. Ich bin undankbar, mich zu beklagen, nicht wahr? Und Mutter darfst du ja nichts von alledem sagen, überhaupt keinem Menschen, hörst du, Wally. Das bleibt unter uns.“ So versuchte Käthe nachträglich, den Eindruck ihrer Beichte abzuschwächen, Wally nickte mechanisch. Aber in ihrem Kopf rumorten allerlei erregte Gedanken. Sie hätte sich am liebsten still in einen Winkel gesetzt und das alles ruhig überdacht.

Aber jetzt musste sie zuerst einmal Käthe hinunter in den Speisesaal folgen. Bei Tisch war sie still und nachdenklich und widmete sich dem Menü nicht mit der sonst üblichen Inbrunst.

Georg fragte sie neckend, ob sie sich schon auf die Weihnachtsleckereien trainieren wollte.

Sie schüttelte aber nur den Kopf und gab ihm nicht, wie sonst, eine muntere Antwort.

Immer wieder blickte sie verstohlen in Georgs Gesicht. Einmal fing sie einen Blick auf, den er zu Käthe hinüberwarf. Solch einen Blick hatte sie noch nie in Männeraugen gesehen Sie konnte ihn nicht deuten, wusste nur, dass er sie ganz seltsam berührte. In ihrem Köpfchen arbeitete es unruhig.

Warum sah Georg Käthe so eigentümlich an? Warum machte er ein so niedergeschlagenes Gesicht? Sah er, dass Käthe geweint hatte, und rührte sich nun das Gewissen in ihm?

Wie war es nur überhaupt möglich, dass er Käthe nicht lieben konnte? Sie war doch sicher tausend Mal besser als jene abscheuliche Lotte, die ihm davongelaufen war und von der die Leute nur Schlechtes sprachen. Ob er denn nicht sah, wie unglücklich Käthe war? Er musste ja ein Herz von Stein haben, wenn ihn das nicht rührte. Und so ein hartes Herz hatte er doch nicht. Er war sonst so ein guter Mensch.

Ach, dachte sie, wenn ich ihm doch nur einmal so recht ins Gewissen reden könnte! Ob das nicht helfen würde, ob er dann nicht zur Vernunft käme?

Es sah wirklich unruhig aus in Wallys Köpfchen. Und nicht einmal die gefüllten Omeletten mit Aprikosenmarmelade entrissen sie ihren Sorgen.

***

Der Heilige Abend war angebrochen. Im großen Saal des Brandnerhofs standen die Leute um die langen Tafeln, jeder an seinem bestimmten Platz.

Georg hielt eine kurze Ansprache, dankte den Leuten für treue Pflichterfüllung und sagte, dass er ihnen immer ein guter und gerechter Herr bleiben wollte. Dann wurde gemeinsam ein Weihnachtslied gesungen, und darauf durften die Leute ihre Geschenke in Empfang nehmen.

Es gab frohe und zufriedene Gesichter. Alle wurden reich beschenkt, so dass niemand sich beklagen konnte, zu kurz gekommen zu sein.

Nachdem den Leuten ihr Recht geworden war, eilten Käthe und Wally auf einen Sprung nach Hause, um Käthes Geschenke für ihre Lieben dorthin zu tragen.

Inzwischen wollte Georg alles zur Bescherung für Wally und seine Frau vorbereiten. Kaum eine Stunde waren die Schwestern fortgewesen, nun kamen sie, erfrischt von dem Gang in der kalten Winterluft, wieder zurück. Georg nahm ihnen lächelnd die Mäntel ab und führte sie, ihnen rechts und links den Arm reichend, ins Zimmer, wo die Bescherung aufgebaut war.

Eine Flut von Licht strahlte ihnen entgegen, auf zwei Tafeln unter dem Tannenbaum waren für die Schwestern Geschenke ausgebreitet. Zuerst führte Georg die Schwestern an Wallys Tafel.

„Das Baby kommt zuerst an die Reihe. Kleine Kinder sind immer ungeduldig“, neckte er lächelnd.

Wally stand wie erstarrt. Da waren all ihre heimlichen Wünsche erfüllt. Kleiderstoffe, eine Pelzjacke, reizende Handschuhe, Gürtel, Handtasche, feine Tücher und Schleifen, Bücher und Naschwerk in Fülle und eine entzückende kleine goldene Uhr.

Käthe hatte das alles auf Georgs Wunsch einkaufen müssen.

Wally überflog erst alles mit den Augen und zappelte vor Wonne und Aufregung. Und dann umarmte sie abwechselnd Schwester und Schwager, weinte und lachte durcheinander und gebärdete sich ganz wie ein glückstrahlendes Kind.

Momentan vergaß sie alles, was ihr während der letzten Tage so schwer auf der Seele gelegen hatte. Es dauerte lange, bis der Freudensturm sich legte und Wally an die anderen denken konnte. Sie gab sich endlich einen Ruck.

„So, nun will ich aber erst mal ein Weilchen vernünftig sein, jetzt kommt doch Käthe an die Reihe, nicht wahr? Oder nein, Käthe, jetzt wollen wir zwei erst Georg beschenken, damit sind wir schneller fertig.“

Georg machte ein erstauntes Gesicht.

„Wie, ich soll auch etwas bekommen? Ich habe doch gar nicht gefolgt“, scherzte er.

Wally lachte.

„Georg, du musst wahrlich recht schlecht gefolgt haben, da das Christkind dich so stiefmütterlich bedacht hat. Schau, das ist alles, was ich dir geben kann. Wenig, mit Liebe. Ein Schelm gibt mehr, als er hat.“

Sie überreichte ihm eine hübsche Kreidezeichnung, die den Brandnerhof darstellte. Sie war nicht talentlos und hatte das Charakteristische des alten Hauses recht gut herausgearbeitet. Georg freute sich aufrichtig und gab Wally zum Dank einen herzlichen Kuss.

„Das hast du gut gemacht, Wally. Ich habe gar nicht gewusst, dass du eine kleine Künstlerin bist.“

„Freust du dich wirklich ein wenig darüber?“, fragte sie zaghaft.

„Sehr freue ich mich – mein Wort darauf.“

Nun trat Käthe mit gerötetem Gesicht und bangen Augen zu ihm heran.

„Ich kann dir noch weniger bieten als Wally, Georg. Talente habe ich leider nicht – und ein kostbares Geschenk konnte ich dir nicht machen, da ich es mit deinem Geld hätte bezahlen müssen. Nimm vorlieb mit meinem guten Willen, dir eine kleine Freude zu machen! Ich habe ja nichts anderes zu verschenken.“

Er dachte, dass sie ihm wohl ein kostbares Geschenk machen könne, das für ihn alle Schätze der Welt aufwiegen würde. Aber er sprach es nicht aus. Stumm nahm er aus ihrer Hand einen kunstvoll gestickten Wandspruch: Danach man ringt – das gelingt.

Georg sah darauf nieder, und dann blickte er mit einem jähen Aufstrahlen in ihre Augen.

Wally sah dieses Aufstrahlen und starrte ihn atemlos an. Mein Gott, dachte sie, wie er Käthe nun wieder ansieht!

Auch Käthe hatte dieser Blick zusammenzucken lassen. Sie wurde sehr bleich und presste die Lippen aufeinander.

„Käthe“, sagte Georg leise, „ich will diesen Spruch für eine gute Vorbedeutung halten, dass mein heißester Wunsch doch noch in Erfüllung geht. Ich danke dir. Du konntest mir kein schöneres Geschenk machen.“ Er küsste ihre Hand, die leise in der seinen zitterte, und fuhr dann fort: „Und nun komm zu deinen Geschenken und sieh, ob ich das Rechte für dich traf. Ausgesprochen hast du keinen Wunsch, so musste ich zu erraten suchen, was dir Freude machen könnte.

Er führte Käthe an ihre Tafel. Da lag aufgebahrt, was Liebe nur ersinnen und erdenken kann. Auch von Anna Brandner war ein kostbares Geschenk für Käthe gekommen, eine Perlenschnur mit einem Schloss von kleinen Brillanten. Georg aber hatte verschwenderisch seine Gaben ausgestreut für die Frau, die er über alles liebte. Käthe starrte mit umflorten Augen darauf nieder. Und ein weher, bitterer Gedanke durchzuckte ihr Herz.

Er überhäuft mich mit Geschenken, um sich loszukaufen – weil er mir nicht geben kann, wonach ich hungere und was ich nie erlangen werde.

Sie schauerte wie im Frost. Krampfhaft biss sie die Zähne aufeinander, um die Erregung niederzuzwingen, die in ihr aufstieg. Aber es half nichts. Plötzlich schossen ihr heiße Tränen in die Augen. Sie verlor die mühsam erzwungene Fassung. Ein wildes Aufschluchzen, und ehe nur Georg oder Wally fassen konnten, was geschehen war, floh sie aus dem Zimmer.

Die beiden Zurückbleibenden sahen sich erschrocken an. In Georgs Gesicht zuckte es wunderlich, und er sah sehr unglücklich aus.

Wally schluckte einige Mal. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Was ist mit Käthe, Wally? Begreifst du das?“, forschte Georg betreten.

Wieder schluckte Wally krampfhaft. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine große Erregung wider. Und plötzlich brach sich Bahn, was sie nicht länger zurückhalten konnte.

„Ach, das halte ich nicht mehr aus, das kann ich nicht mehr mit ansehen! Nun hat sie doch ihr Kummer wieder übermannt“, schluchzte sie.

„Was denn für Kummer, Wally?“, drängte Georg erregt.

Wally wischte zornig ihre Tränen fort. „Ach, über die grässlichen Briefe. Ja, die sind an allem schuld. Und dass du es nur weißt, ich finde es sehr unrecht von dir, dass du Käthe damit quälst. Das muss ich dir sagen, und wenn du mir gleich all die schönen Sachen hier wieder fortnimmst. Du dürftest es gar nicht leiden, dass diese abscheulichen Briefe immerfort ins Haus kommen und Käthe immer wieder so tollen Kummer machen.“

Georg starrte sie an, als rede sie in einer fremden Sprache mit ihm. Er verstand sie nicht.

„Was soll das heißen? Von was für Briefen sprichst du?“, stieß er hervor.

Wally atmete tief. „Ach, nun ist es mir im Zorn herausgefahren, aber jetzt ist es auch egal. Ich meine natürlich die gräulichen parfümierten Briefe auf fliederfarbenem Papier von deiner ersten Frau, worüber sich Käthe so schrecklich grämt. Und ich muss dir auch sagen, dass ich es gar nicht nett von dir finde, dass du noch mit dieser abscheulichen Lotte korrespondierst, wo du doch eine so süße, entzückende Frau hast wie Käthe. Du hättest sie nicht heiraten sollen, wenn du diese Lotte noch immer lieb hast.“

Georg trat plötzlich hart an Wally heran und fasste mit krampfhaftem Druck ihre Hand. Sein Gesicht zuckte in furchtbarer Aufregung, und in seinen Augen brannte ein unruhiges Feuer.

Wally stieß einen leisen Schmerzensruf aus und duckte sich zusammen, als fürchte sie, Schläge zu bekommen.

Er merkte es gar nicht, dass sie seine Bewegung so falsch auffasste.

„Wally“, sagte er hastig und mit heiserer Stimme. „Was du mir sagst, klingt mir wunderlich, und doch, Kind, sei jetzt um Gottes willen mal ein recht vernünftiges Mädchen und gib mir genau Antwort auf alles, was ich dich frage. Es gilt vielleicht Käthes Glück und auch das meine. Willst du?“

Wally richtete sich auf und sah gespannt in sein Gesicht. Böse sah er gar nicht aus, aber sehr erregt.

Sie atmete hastig. „Ja, frag nur“, sagte sie atemlos und voll Eifer. Es kam ihr eine Ahnung, als müsse diese Unterredung mit Georg seltsame Dinge zutage fördern.

„Also – woher weißt du das von den Briefen?“

„Von Käthe weiß ich’s.“

„Von Käthe?“

„Ja, als gestern so ein Brief auf dem Frühstückstisch lag und so gräulich roch, da wurde Käthe sehr blass und traurig. Und als ich über den hässlichen Geruch sprach, da verbot sie mir energisch, in deiner Gegenwart etwas über den Brief zu sagen. Na, und ich hatte doch schon in den letzten Tagen gemerkt, dass etwas zwischen euch nicht in Ordnung ist. Und da passte ich auf, wie du den Brief schnell wegstecktest und Käthe die Augen zumachte, als wolle sie das lieber nicht sehen. Als wir uns für Mittag umkleideten, war ich bei Käthe im Zimmer. Und als ich für sie eine Brosche aus ihrer Schmuckkassette nahm, da sah ich darin ein abgerissenes Stück von so ’nem fliederfarbenen Brief liegen. Darauf stand was von ‚Deiner ewigen Lotte‘ und ‚lieber Georg‘ und ‚nie aufhören, Dich zu lieben‘ und ‚verfehltes Leben‘ und so’n Zeug. Ja, und als Käthe sah, dass ich den Zettel erwischt hatte, hat sie ihn mir schnell weggerissen. Und da war es dann auch mit ihrer Fassung vorbei, wie eben jetzt, und sie hat geweint. Ich ließ nicht nach mit Bitten, sie solle mir doch ihren Kummer anvertrauen. Erst wollte sie natürlich nicht, und als ich ihr sagte, ich würde dich dann nach diesen Briefen fragen, da sagte sie: ‚Um Gottes willen, das wäre mein Tod.‘ Ja, und da hat sie mir ihr Herz dann ausgeschüttet. Ja, und schrecklich unglücklich ist sie, dass du deine erste Frau noch immer liebst und von ihr gar nichts wissen willst. Sie hat es schon immer geahnt, dass du bloß diese Lotte lieben kannst, aber seit den Briefen hat sie es ganz genau gewusst. Und darüber ist sie nun so unglücklich, dass es dich erbarmen müsste.“

Wally schwieg erschöpft. Georg hatte ihr die Worte vom Mund gelesen und sah sie immer noch mit denselben brennenden Blicken an.

„Und darüber ist sie unglücklich?“, wiederholte er fassungslos.

Wally nickte. „Natürlich, das kannst du dir doch denken.“

Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber wie denn, Wally, wie kann sie deshalb unglücklich sein? Sie liebt mich doch nicht und ist nur gezwungen meine Frau geworden, weil es dein Vater wollte.“

Wally machte eine abwehrende Bewegung. „Da hat sie eben geflunkert, weißt du, weil sie zu stolz war. Das heißt – sie hat wirklich nicht deine Frau werden wollen, aber nicht, weil sie dich nicht liebt, sondern weil sie fühlte, dass du sie nicht wiederliebst. Vater ließ ihr aber keine Wahl. Und dann hat sie gehört, dass du zu deiner Mutter sagtest, du wärest in deiner zweiten Ehe noch unglücklicher als in der ersten. Na, und da hat sie dann ganz stolz getan und hat dir gesagt, dass sie dich nicht liebt. Aber ich finde, das ist Unsinn, denn wie solltest du dann wissen, dass sie so schrecklich unglücklich ist. Aber sie sagt, lieber will sie sterben, als dich merken lassen, wie lieb sie dich hat.“

Georg stieß plötzlich einen seltsamen Ton aus, und dann hob er Wally hoch empor und sah ganz sonderbar verklärt und glücklich aus.

„Lieber Gott, du bist ja wohl närrisch geworden!“, rief sie erschrocken.

Er setzte sie wieder nieder und küsste sie auf den Mund. „Wally, Prachtmädel, in Gold lasse ich dich fassen, wenn das alles wahr ist, was du mir gesagt hast.“

Sie sah ihn kopfschüttelnd an. „Na, weißt du, ich wollte dir gar nichts Angenehmes sagen, sondern dir mal grob kommen.“

Er schüttelte sie und strahlte sie wie ein Verzückter an. „Ist auch wirklich alles wahr, Wally? Weißt du genau, dass Käthe bloß geflunkert hat, als sie mir sagte, sie liebe mich nicht?“

„Ja, doch, es ist ganz gewiss und wahrhaftig wahr. Ich weiß nun freilich nicht, ob ich nicht eine Riesendummheit begangen habe, dir das alles zu verraten. Käthe ist mir sicher bitterböse, wenn sie es erfährt. Aber ich wollte endlich der Quälerei mit den dummen Briefen ein Ende machen. Und du musst mir versprechen, dass das geschieht.“

Georg lachte auf. „Das verspreche ich dir, mein Prachtkerl. Und sei ruhig – ein ganz herrliches Werk hast du vollbracht, du hast einen Blinden sehend gemacht.“

Wally atmete unruhig. „Ich verstehe dich nicht. Aber wenn du nur Käthe nicht mehr quälst und deiner Lotte keine Briefe mehr schreibst, dann hat mein Reden doch etwas genützt.“

Er streichelte über ihr Haar. „Sehr, sehr viel hat es genützt, Wally. Und ich habe überhaupt keine Briefe an meine erste Frau geschrieben, nur drei empfangen. Es ist alles anders, als du denkst, kleine Wally, ganz anders. Aber das sollst du erst später erfahren. Jetzt musst du mir noch weiter helfen, Käthe glücklich zu machen. Willst du?“

Wally nickte eifrig. „Ja, ja, sag’s nur, was ich tun soll! Und wenn es noch so schwer ist, ich schaffe es schon.“

Er lachte glücklich vor sich hin. „Nein, schwer ist es gar nicht. Du sollst bloß ganz ruhig, als sei nichts vorgefallen, hier bei deinen Geschenken bleiben. Käthe wird sicher bald zurückkommen. Wir tun dann beide ganz unbefangen, hörst du?“

„Ja, ja. Und weiter?“

„Und weiter achtest du darauf, wenn ich deine hübsche Zeichnung vom Brandnerhof in die Hand nehme, um sie zu betrachten. Das ist ein Zeichen für dich, dass du verschwinden sollst unter irgendeinem Vorwand. Du bleibst dann so lange fort, bis ich dich wieder rufe, und achtest ein bisschen darauf, dass uns keiner von den Leuten stört. Verstanden?“

Wally nickte. „Hm! Aber erst versprich mir, dass du Käthe nicht kränken willst.“

Er lächelte versonnen. „Ach, du dumme Wally, lieber ertrage ich selbst das größte Leid, als dass ich Käthe wissentlich ein Härchen krümme.“

Sie stutzte. Und dann rüttelte sie ihn an den Armen. „Du, am Ende ist es gar nicht wahr, dass du die andere noch lieb hast?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nicht wahr. Ich habe keine andere lieb als Käthe. Bist du nun zufrieden?“

Sie umschlang ihn mit einem halb unterdrückten Jubelruf und küsste ihn auf den Mund. Vor Aufregung traf sie mehr die Nasenspitze, aber das störte sie nicht.

Sie musste sich dann aber ein Weilchen setzen. Selbst für ihre kräftige Natur war das ein wenig zu viel Aufregung.

„Ach Gott, mir ist vor lauter Freude ganz schwach, Georg“, seufzte sie.

Georg hob lauschend den Kopf. „Still! Käthe kommt. Geh an deinen Platz.“

Wally sprang auf, trat an ihre Tafel heran und kramte eifrig in ihren Sachen. Georg setzte sich in einen Lehnstuhl und stützte den Kopf in die Hand. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und Käthe trat zögernd ein. Der Glanz ihrer Augen und die geröteten Lider zeugten von den vergossenen Tränen. Aber um die Lippen hatte sie ein befangenes Lächeln gezwungen.

Georg verschlang sie fast mit den Augen. Nie war sie ihm schöner erschienen als mit diesem hilflosen Lächeln.

Sie trat langsam auf ihn zu. „Ich muss dich um Verzeihung bitten, Georg, dass ich vorhin davonlief. Es war nur … Ich hatte … Es kam so über mich. Ich bin jetzt wohl ein wenig nervös. Es hat in den letzten Tagen durch Vaters Tod zu viel Aufregung für mich gegeben. Nun habe ich die schöne Feier gestört. Bitte, verzeih mir.“

Georg zwang sich, ein ruhiges Gesicht zu zeigen.

„Du brauchst dich wirklich nicht zu entschuldigen, Käthe. Wer kann für Stimmungen! Hoffentlich hast du dich nun beruhigt.“

„Ja, gewiss“, sagte sie leise.

„Willst du dir nun deine Geschenke ansehen? Du hast mir noch gar nicht gesagt, ob ich auch das Richtige für dich getroffen habe.“

Sie trat an ihre Tafel heran.

„Es ist alles zu schön und zu kostbar für mich und viel zu viel.“

Wally lugte verstohlen zu Käthe hinüber, sagte aber kein Wort.

Als sich Käthe eine Weile mit ihren Geschenken befasst hatte, nahm Georg mit einem verstohlenen Blick zu Wally die Kreidezeichnung auf.

„Wirklich, Wally, das hast du sehr hübsch gemacht“, sagte er anerkennend. Sie wusste, dass dies ihr Stichwort war.

„Wenn es dir nur gefällt, Georg. Ich hätte ja eine so tolle Freude, wenn ich’s recht gemacht hätte“, sagte sie bedeutungsvoll. Und dann legte sie ihre Sachen hin, die sie in der einen Hand hatte, und mit den Worten: „Einen Durst habe ich! Ich muss mir in der Küche ein Glas Wasser geben lassen. Gleich bin ich wieder da“, ging sie schnell aus dem Zimmer. Georg rührte sich nicht und sah sehr interessiert auf die Zeichnung hinab. Und dann sah er sich den Wandspruch an, den ihm Käthe gestickt hatte.

„Danach man ringt – das gelingt“, sagte er. „Ein schöner Spruch, Käthe.“

Käthe hatte gedankenlos eines ihrer Geschenke nach dem anderen durch ihre Hände gleiten lassen, ohne zu wissen, was sie tat. Die jammervolle Stimmung, die sie vorhin so plötzlich übermannt hatte, zitterte noch in ihr nach.

„Es ist ein altdeutscher Spruch, den ich in einem Buch drüben im Bibliothekszimmer fand. Einer deiner Vorfahren hat ihn als Widmung für seinen Sohn hineingeschrieben. Er gefiel mir und gab mir den Gedanken ein zu dieser Arbeit.“

„Die du außerordentlich kunstvoll gestickt hast“, sagte er, an ihre Seite tretend.

Sie machte eine hastig abwehrende Bewegung.

„Es ist so wenig, was ich dir geben konnte“, sagte sie gequält.

Da legte er den Spruch schnell beiseite, und ehe sie wusste, was er tun wollte, hatte er sie schnell in seine Arme genommen.

„Ich bin auch nicht zufrieden damit, Käthe. Mehr, viel mehr will ich von dir.“

Sie erzitterte und versuchte sich zu befreien. Angstvoll sah sie zu ihm auf.

„Lass mich – oh, lass mich!“, flehte sie leichenblass und verzagt.

Sie fürchtete einen leidenschaftlichen Ausbruch seiner Sinne. Aber als sie in seine Augen blickte, sah sie einen ganz anderen Ausdruck, als sie gefürchtet hatte, darin.

„Nein, Käthe, ich lasse dich nicht. Ganz fest halte ich dich und gebe dich nicht frei, bis du mir noch einmal ganz klar und bestimmt sagst: Ich liebe dich nicht! Aber ansehen musst du mich dabei. Deinem Mund allein glaube ich es nicht mehr, auch deine Augen müssen mir die Wahrheit deiner Worte bezeugen.“

Sie bog erschauernd den Kopf zurück und schloss die Augen. „Wozu das alles? Bitte, lass mich los!“, rief sie.

Er sah sie an, dass sie bis ins Innerste erschrak. Und nun jagte dunkle Glut in ihr Gesicht.

„Nein, ich lasse dich nicht“, sagte er mit verhaltener Glut. „Hier halte ich dich gefangen, in meinen Armen an meinem Herzen. Und nun sage mir, dass du mich nicht liebst! Sage es mir, wenn du kannst.“

Sie wollte die Lüge aussprechen und konnte es doch nicht. Schauer der Erregung flogen über sie hin, und wie gebannt hing ihr Blick an seinen Augen, in denen es leuchtete wie in verhaltener Glückseligkeit. „Quäle mich nicht – ach, quäle mich nicht!“, rief sie in höchster Not.

Da bettete er sanft und zärtlich ihren Kopf an seiner Brust.

„Liebling, süße törichte Käthe, nun ist’s genug der Qual – für uns beide. Sieh mich an und lies in meinen Augen. Sieht ein Mann so die Frau an, die er nicht liebt? Was waren wir für Toren, meine Käthe. Wie blind war ich, dass ich es dir je glaubte, so blind wie du, mein Liebling, als du glaubtest, mein Herz gehöre einer anderen. Dir allein gehört es, lange, lange schon – mit jeder Faser, mit jedem Schlag.“

Wie ein Strom von Liebe ergossen sich seine Worte über sie. Sie sah wie im Traum zu ihm empor, bange und zagend und doch mit einer aufkeimenden Hoffnungsfreudigkeit. Ihre Sinne verwirrten sich. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und verlor fast das Bewusstsein. Er ließ sie sanft in den Lehnstuhl gleiten und kniete, sie innig umfassend, vor ihr nieder.

„Komm, Käthe, mein süßes, geliebtes Weib! Sieh mich an und sage mir, dass du mir glaubst, wenn ich dir sage, dass ich dich – dich allein liebe, dass keine andere neben dir Platz hat in meinem Herzen.“

Sinnend strich sie über die Stirn.

„Ach, es ist ja nicht möglich – kann ja nicht sein. Soviel des Glücks … Nein, nein, du hast mich doch nur zur Frau genommen, weil es deine Mutter wünschte.“

„Ja, Käthe, das gestehe ich offen ein. Nur meiner Mutter zuliebe entschloss ich mich zu einer zweiten Ehe. Und es war mir gleichgültig, wem ich meine Hand reichte. Ich hatte dich vorher kaum einmal ordentlich angesehen, wusste nichts von dir und deiner Wesensart. Aber bald erwachte in mir das Interesse an dir. Und von Tag zu Tag wurdest du mir sympathischer. Doch war das nicht die rechte Liebe. Dann aber traf ich dich im Garten, weißt du, an den Beerenbüschen. Und ich sah dich vor mir in deiner ganzen jugendfrischen Schönheit. Von dem Tag an liebte ich dich, Käthe, und meine Liebe wurde stärker und tiefer, je mehr ich dich kennen lernte. Aber zu meinem Schmerz merkte ich, dass dich meine Zärtlichkeiten peinigten und quälten. Aus dieser Stimmung heraus sagte ich meiner Mutter, dass mich die zweite Ehe unglücklicher mache als die erste. Das hast du wohl leider gehört. Aber was ich danach mit Mutter besprach, kannst du nicht vernommen haben, sonst wäre uns viel Qual erspart worden. Und nun nimm das harte Wort zurück, das dir dein verletzter Stolz diktierte, sag mir, dass du mich liebst, wie ich dich liebe, dass du nun ganz mein eigen sein willst, mit Leib und Seele.“

Käthe hatte in seine Augen geblickt, schauerte zusammen unter dem Sturm der Gefühle. Als er nun schwieg, sagte sie leise, mit bebender Stimme: „Ich will und kann nicht mehr lügen. Ja, Georg, ich liebe dich, unsagbar, grenzenlos. Willig würde ich sterben für meine Liebe. Ich glaube, sie war immer in mir – seit ich dich kenne – und ist groß und stark geworden in allem Leid. Aber ich wage es noch immer nicht, zu glauben, dass mir ein so großes Glück beschieden sein soll.“

Er lachte glückselig auf. „Käthe, törichte Käthe, sieh mich doch an!“

Sie sahen sich tief in die Augen, und Käthe erzitterte vor Glück in seinen Armen.

„Aber die Briefe deiner ersten Frau, Georg? Ich weiß, dass du Briefe von ihr erhalten hast.“

Er schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Diese verwünschten Briefe, mein armer Liebling! Hätte ich nur geahnt, dass sie dir Schmerz bereiten!“

Sie sah ihn errötend an. „Woher weißt du das?“

Liebevoll presste er sie an sich.

„Ein Vöglein hat es mir gesungen – unter dem Tannenbaum. Aber davon nachher. Jetzt will ich dir die Sorge mit den Briefen vom Herzen nehmen. Es waren Bettelbriefe und ein Dankschreiben für zweitausend Mark, die ich, ohne ein Wort, als Unterstützung an eine Abenteuerin sandte. Und dir zur Beruhigung will ich hinzufügen, dass ich im Herzen längst fertig war mit ihr, als ich daran dachte, eine zweite Frau zu nehmen. Ich sagte dir nichts von diesen Briefen, weil ich mich dieser Frau noch immer schäme. Aber es war ein Glück, dass du ein Schnitzelchen von einem der Briefe so sorgsam in deiner Schmuckkassette verwahrtest. Wer weiß, was noch für Unheil entstanden wäre!“

Käthe wurde blutrot.

„Woher weißt du von diesem Papierschnitzel?“

„Das sag ich dir erst, wenn du mir freiwillig die Arme um den Hals legst und mir einen Kuss gibst. Ach Liebling, du hast mich wahrlich genug gequält. Nun mache es gut!“

Käthe sah ihn in scheuer Glückseligkeit an. Und dann warf sie sich in seine Arme und presste ihre Lippen in süßer Glut auf die seinen.

Wally musste sehr lange warten, bis Georg sie herbeirief. Aber dann fand sie auch zu ihrer großen Freude zwei glückstrahlende Menschen, die sie in die Mitte nahmen und abwechselnd herzten und küssten. Sie schluckte ihre Rührung tapfer hinunter und rief: „Na, Gott sei Dank, dass ihr endlich vernünftig geworden seid! Und mir ist schon ganz schlecht vor Hunger. Das Festmahl verbrutzelt in der Küche, dass es einem das Herz im Leib umdreht. Die Köchin ist in Verzweiflung, wäscht ihre Hände schon ’ne ganze Stunde in Unschuld und wollte mit Gewalt bei euch eindringen. Ich hatte Not, sie euch fernzuhalten. Nun seid so gut und kommt endlich zu Tisch! Die Kerzen sind auch schon fast abgebrannt auf dem Tannenbaum.“

„Wir stecken neue auf, Wally. Und ganz verbrutzelt wird das Festmahl hoffentlich noch nicht sein – ich habe nämlich auch Hunger“, sagte Georg lachend.

Sie gingen alle drei ins Speisezimmer. Und das Essen war trotz Wallys schwarzer Prophezeiung ganz vorzüglich. Es wurde eine frohe Tafelei. Zwischen Suppe und Braten gab Georg schnell ein Telegramm an seine Mutter durch.

auf dem brandnerhof ist unter dem tannenbaum das glück eingezogen stopp gruß und kuss stopp georg und käthe

Eigentlich hätte Anna Brandner nun heimkehren können. Aber erstens hatte sie nun mal ihre Reise nach Genf geplant, und dann dachte sie auch, dass die jungen Leute sicher nicht böse wären, wenn sie sich eine Weile allein gehören konnten.

Sie kehrte erst kurz vor Ostern heim und kam gerade noch zurecht, um Helenes Hochzeitsfeier mitzumachen.

Im Amtmannhaus schien jetzt die Sonne hell und warm in alle Winkel. Wally war seit kurzem für immer heimgekehrt und wurde bald eine tüchtige Stütze im Haushalt. Trotzdem gab es schon seit einiger Zeit ein zweites Hausmädchen bei Suntheims. Seit des Amtmanns Tod schien Segen auf diesem Haus zu ruhen. Die Brüder hatten mit Georgs Hilfe neue günstige Verbindungen angeknüpft. Sie vergrößerten das Geschäft bedeutend, und bald machte sich ein gewisser Wohlstand bemerkbar.

Frau Suntheim lebte auf, nachdem sie ihren Schmerz überwunden hatte.

Maria hatte sich in heiterer Resignation darein gefunden, später einmal für die Kinder ihrer Geschwister eine hilfsbereite, gute Tante zu werden.

Amtmanns Käthe aber war die glücklichste Herrin vom Brandnerhof, die es je gegeben hatte. Nie wieder trübte eine dunkle Wolke den Himmel ihres Glücks.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil I)

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