Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil I) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 6
Die Tochter der Wäscherin
ОглавлениеHast du ein wenig Zeit für mich, Kuno? Ich habe Verschiedenes mit dir zu besprechen.“
Freiherr Kuno von Lossow blickte zu seiner Gattin empor, die mit diesen Worten in sein Arbeitszimmer getreten war. „Du weißt doch, Helene, dass ich um diese Zeit mit der Erledigung der Post beschäftigt bin und nicht gestört zu werden wünsche“, antwortete er in kaltem, nörgelndem Ton.
Frau Helene von Lossow sah indigniert an ihrem langen, schmalen Nasenrücken herab. „Ich bin es nachgerade gewöhnt, dass du nie Zeit für mich hast, wenn ich dich in dringenden Angelegenheiten sprechen muss.“
Kuno von Lossow räusperte sich hinter der vorgehaltenen Hand, um seinem matten Organ Festigkeit zu geben. „Deine dringenden Angelegenheiten haben, wie ich aus Erfahrung weiß, immer nur einen Refrain: Ich brauche Geld. Also, bitte, spare dir und mir diese Auseinandersetzung, denn ich habe kein Geld, wenigstens momentan nicht.“
Frau von Lossow trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Aber ich brauche dringend eine größere Summe, Kuno. Du weißt, dass nächstens das große Gartenfest in Trassenfelde stattfindet. Dazu brauchen Gitta und ich unbedingt neue Kleider, weil wir …“
„… wieder einmal nichts anzuziehen haben – ich weiß, ich weiß, es ist immer dasselbe“, wehrte er ungeduldig ab. „Könnt ihr denn nicht einmal eine Robe aufarbeiten lassen?“
„Sollen es vielleicht die Spatzen von den Dächern pfeifen, dass in Lossow die Verhältnisse fragwürdig sind? Glaubst du, dass Gitta nur die geringsten Aussichten auf eine annehmbare Partie hat, wenn es bekannt wird, dass du ihr keine Mitgift geben kannst? Und meinst du, dass die Komtesse Trassenfelde Lust haben wird, Botho mit ihrer Hand zu beglücken, wenn die Leute erfahren, wie wenig das Lossower Majorat einbringt? Sie wird sich dann sofort sagen, dass Botho nur nach ihrem Geld trachtet. Wir müssen um jeden Preis den Anschein zu wahren suchen, als lebten wir hier aus dem vollen.“
Kuno von Lossow winkte nervös ab. „Ja, ja, ich weiß schon – alles weiß ich, was du mir sagen willst. Aber ich kann dir nichts geben, jetzt nicht. Da musst du warten, bis ich bei Onkel Heribert gewesen bin. Ich will sehen, ob er mir noch einmal aushilft.“
„Wann fährst du nach Lemkow hinüber?“
„Vielleicht heute Nachmittag.“
Frau von Lossow seufzte tief auf. „Hoffentlich hat dein Besuch Erfolg. Onkel Heribert wäre wohl imstande, uns gründlich zu helfen, wenn er nur wollte.“
„Du vergisst, dass er uns schon mehrere Male ausgeholfen hat“, sagte Kuno.
Seine Gattin machte eine abwehrende Bewegung. „Nein, ich vergesse es nicht. Aber er hat dich bloß immer mit tausend Mark abgespeist. Damit konnte man wohl ein Loch zustopfen, aber eine rechte Hilfe war das nie.“
Ein ironisches Lächeln verzog Kunos Lippen. „Onkel Heribert glaubt eben, dass wir keine Hilfe brauchen. Wir sollen mit dem auskommen, was Lossow uns einbringt. Er meint, das sei eine ganz anständige Summe.“
„Ach, um damit auszukommen, dürfte man sich keinerlei Annehmlichkeiten gestatten. Warum sollen wir mit dem Pfennig knausern? Du bist ja doch Onkel Heriberts Erbe.“
Kuno von Lossow seufzte tief auf. „Wenn das nur so sicher wäre! Onkel Heribert kann testieren, wie er will. Man kann nicht wissen – der alte Herr ist unberechenbar. Er hat manchmal ein so sonderbares Lächeln, das mir gar nicht gefällt. Ich fühlte oft Angst in mir, er könne uns mit seinem Testament einen Strich durch die Rechnung machen.“
Das Gesicht seiner Frau nahm einen erschrockenen Ausdruck an. „Das wäre schrecklich, Kuno. Nein, daran darf ich nicht glauben. Unsere einzige Hoffnung ist doch diese Erbschaft. Nein, nein, diese Möglichkeit ist ja lächerlich! Wem sollte Onkel Heribert sein Barvermögen und Lemkow hinterlassen, wenn nicht dir und deinen Kindern? Wir sind doch seine einzigen Verwandten!“
„Hast du vergessen, dass ich noch einen Bruder habe?“
„Einen Bruder? Aber Kuno, der ist doch schon seit einer Ewigkeit verschollen und sicher nicht mehr am Leben.“
„Wenn das nur so sicher wäre! Es fehlt mir jeder Beweis, dass er tot ist. Manchmal, da ist so eine Angst in mir, er könnte wieder auftauchen. Und dann – ich glaube, Onkel Heribert hat für diesen Bruder Leichtsinn trotz allem eine gewisse Vorliebe gehabt.“
Frau von Lossow machte eine Bewegung mit den Händen, als schiebe sie etwas von sich. „Nein, nein! Wie kannst du nur auf solche Gedanken kommen? Daran wollen wir lieber nicht denken.“
„Ja, du hast Recht, man darf nicht daran denken. Aber nun lass mich allein! Du siehst, hier liegt ein Haufen Postsachen; ich habe zu tun, liebe Helene.“
Die liebe Helene seufzte noch einmal, dann rauschte sie aus dem Zimmer. An der Tür wandte sie sich nochmals um. „Also, bitte, wenn du zu Onkel Heribert fährst, denke daran, dass ich für Gitta und mich tausend Mark nötig habe.“
Er nickte nur stumm, denn er war bereits damit beschäftigt, einen Brief zu öffnen. Er war von seinem Sohn Botho, der in Berlin als Leutnant bei einem Garderegiment diente.
Mit missmutigem Gesicht las Herr von Lossow den kurzen Brief. Er wusste den Inhalt schon voraus. Die Quintessenz dieser Briefe seines Sohnes war Geld, Geld und immer wieder Geld. Botho von Lossow bat seinen Vater um eine größere Summe.
Schauderhaft, ganz schauderhaft! Woher soll ich nur all das Geld nehmen? Es wird wirklich Zeit, dass Onkel Heribert das Zeitliche segnet, sonst weiß ich nicht mehr aus und ein. Aber der alte Herr ist unglaublich widerstandsfähig.
So dachte Kuno von Lossow und legte den Brief seines Sohnes beiseite. Mit einer müden Bewegung fasste er nach einem zweiten Schreiben. Es war die ziemlich energische Mahnung eines Lieferanten um Geld.
Es folgten noch einige ähnliche unliebsame Schreiben, die er alle verdrießlich beiseite warf.
Wie dringlich diese Leute wurden, wenn man einmal nicht gleich bezahlte!
Dann kam ihm ein dicker Brief in die Hände. Er drehte ihn um, damit er die Adresse lesen konnte. Und als er die eigenartig steilen, charakteristischen Schriftzüge erblickte, zuckte er jäh zusammen und starrte wie gelähmt darauf nieder.
Eine matte Röte schoss in sein fahles Gesicht, und die Hand, die den Brief hielt, begann zu zittern.
So saß er eine Weile regungslos. Aber dann gab er sich einen Ruck, schlitzte das Kuvert auf und nahm mehrere eng beschriebene Bogen heraus. Mit scheuem Blick streifte er die Unterschrift auf dem letzten Bogen:
Dein Bruder Fritz!
Kuno von Lossow stöhnte, als hätten seine Augen etwas Furchtbares erblickt. Ein Zittern lief durch seine Glieder, er fiel kraftlos in seinen Sessel zurück. Und wieder ruhten seine weit geöffneten Augen auf dieser Unterschrift.
„Die Toten stehen auf“, murmelte er schreckensbleich vor sich hin. Erst nach einer langen Weile konnte er sich entschließen, den Brief zu lesen. Er lautete:
Lieber Bruder Kuno!
Wenn du diesen Brief in Händen hältst, wirst du wohl erst eine Weile nachdenken müssen, ob es wirklich einen Menschen auf der Welt gibt, der ein Recht hat, dich Bruder nennen zu dürfen. Du hast sicher längst angenommen, ich sei verdorben und gestorben.
Nun, es gab eine Zeit, da war mein Leben keinen Heller wert. Es fehlte nur noch eines Haares Breite, die mich vom Abgrund trennte und vom Tod. Aber ich bin doch nicht elend umgekommen, mein Lebensschiff ist wieder flott geworden. Ohne Hilfe wäre mir das freilich nicht gelungen; ohne diese Hilfe wäre ich – verhungert.
Heute, am 30. Mai, vor fünfundzwanzig Jahren, betrat ich amerikanischen Boden, ein Schiffbrüchiger an Leib und Seele. Du weißt, als unser Vater gestorben war, machtest du mir an Hand der Bücher klar, dass der alte Herr mir in seiner Güte enorme Summen zur Verfügung gestellt hatte. Ich wusste nicht, wo ich das viele Geld gelassen hatte. Damals verstand ich noch nicht zu rechnen. Aber du konntest das umso besser. Du überzeugtest mich, dass ich bereits viel mehr, als mir zukam, verbraucht, dass ich mein Erbe in sträflichem Leichtsinn vergeudet hatte, noch ehe der Vater die Augen schloss. Der gute Vater! Er konnte mir nie einen Wunsch versagen; er hat nicht bedacht, was nach seinem Tod geschehen würde. Also du machtest mir eine Stunde nach Vaters Begräbnis klar, dass ich ein Bettler sei und nichts mehr zu erwarten habe – als zweiter Sohn. Denn das Majorat Lossow gehörte natürlich dir, dem Ältesten. Eigentlich hätte ich dir von Rechts wegen noch etwas herauszahlen müssen. Aber da ich nichts besaß als Schulden, verzichtetest du großmütig auf Rückerstattung, gabst mir sogar noch drei braune Lappen und den guten Rat, über dem großen Teich mein Glück zu versuchen, da ich – wie du meintest – in der Heimat durch meinen Leichtsinn unmöglich geworden sei. Damals war ich so unverständig, dass ich dir diese dreitausend Mark am liebsten vor die Füße geworfen hätte. Aber ich war eben, im Gegensatz zu dir, immer unbesonnen und temperamentvoll. In jener Stunde bezwang ich mich aber, nahm die drei braunen Lappen, zog den geliebten bunten Rock aus und fuhr über den großen Teich. Vorher überlegte ich aber noch, ob ich mich nicht lieber totschießen solle. Auch dachte ich daran, zu Onkel Heribert nach Lemkow zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten. Aber ich erinnerte mich noch zur rechten Zeit, dass Onkel Heribert mir verschiedentlich ob meines Leichtsinns geharnischte Moralpauken gehalten hatte. Ich war überzeugt, dass er sagen würde: „Siehst du wohl, nun hast du, was dir gebührt, nun ist es soweit, wie ich es dir prophezeite. Das wollte ich lieber nicht noch hören – nach der Pelzwäsche, mit der du mich bedacht hattest. Denn vor Onkel Heribert hatte ich einen heillosen Respekt, weil der alte Herr mir mit seiner kernigen, ehrlichen Art stets gewaltig imponiert hat.
Also ich fuhr, der schönsten Hoffnung voll, nach Amerika, um ein Glück zu suchen. Ich dachte, das erhoffte Glück käme dem Freiherrn Fritz von Lossow sofort entgegenspaziert, sobald er amerikanischen Boden unter den Füßen hätte.
Es kam aber ganz anders. Trotz größter Sparsamkeit waren die drei braunen Lappen bis auf den letzten Groschen verzehrt, ehe ich auch nur einen Pfennig verdient hatte. Ich erhielt nirgends Anstellung, nirgends Beschäftigung; immer wurden mir andere vorgezogen, die mehr gelernt hatten oder ihre Kenntnisse praktischer verwerten konnten. Und so brach ich eines Nachts, obdachlos und halb verhungert, ohnmächtig auf der Straße zusammen. Als ich nach Stunden aus meiner Bewusstlosigkeit erwachte, lag ich in einem kleinen Raum, in dem mir zunächst eins auffiel: Wäsche, ganze Stöße blütenweißer Wäsche.
Und dann sah ich noch mehr – über mich neigte sich ein junges, reizendes, frisches Mädchengesicht mit einem wahrhaft mütterlich besorgten Blick in den schönen Augen. Dieses Gesicht gehörte Grete Werner, der Besitzerin der kleinen Wasch- und Plättanstalt, in der ich mich befand. Diese blonde, deutsche Grete war, wie ich später erfuhr, die Tochter eines preußischen Beamten, die nach dem Tod ihrer Eltern ihrem einzigen Bruder über das Meer gefolgt war, weil er in New York eine gute Stelle als Kaufmann erhalten hatte. Die Geschwister standen allein im Leben, und Grete wollte ihrem Bruder die Wirtschaft führen. Aber schon nach wenigen Monaten erlag der Bruder einem Unfall, und Grete stand dem Nichts gegenüber. Außer der üblichen Schulbildung hatte sie nichts gelernt als einen Haushalt zu führen. Aber das energische Mädchen besann sich darauf, dass sie vorzüglich mit dem Bügeleisen umzugehen verstand. Darauf erbaute sie sich im fremden Land eine Existenz. Sie mietete einen kleinen Laden und eröffnete eine Wasch- und Plättanstalt. Fleißig stand sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend hinter Waschfass und Bügelbrett und verdiente bald so viel, dass sie einige Gehilfinnen annehmen konnte.
Verzeihe, dass ich über diese junge Dame so ausführlich berichte; du wirst gleich erfahren, warum ich das tue.
Also ich war auf der Schwelle von Grete Werners kleinem Laden zusammengebrochen. Als sie ihn am frühen Morgen öffnete, fand sie mich bewusstlos. Sie besann sich nicht lange, als sie einen Menschen in Not sah. Hurtig hat sie mich in ihren Laden gezogen und mir ein Glas Wein eingeflößt, und dann, als ich das Wort „Hunger“ stammelte, warme Milch und Kekse. Als ich die Augen aufschlug, rief sie mir mit einem lieben Lächeln ein frohes „Grüß Gott, Landsmann“ zu, so dass ich nicht wusste, ob ich im Himmel war oder in der deutschen Heimat.
Bald wurde mir klar, wo ich mich befand und was mit mir geschehen war. Und wie ein hilfloses Kind habe ich mich von Grete füttern lassen. Ich habe mich zwar furchtbar geschämt, aber gegessen habe ich, bis ich wieder einmal richtig satt war.
Als ich kräftig genug war und aufstehen konnte, führte sie mich in einen schmalen Raum hinter dem Laden, wo ein Diwan stand. „So, Landsmann“, sagte sie, „jetzt legen Sie sich noch ein Stündchen hierher und ruhen sich aus, damit Sie nicht wieder schwach werden. Es wird Sie niemand stören. Sie können unbesorgt sein, einen deutschen Landsmann lässt die Grete Werner nicht im Stich!“ Später hat sie mir allerdings gestanden, dass sie nicht jeden so aufgenommen hätte wie mich. Aber das war sie schon meine Braut, und sie hat mir gebeichtet, dass ich ihr gleich gut gefallen habe. Nun, ich habe das nie begriffen, denn in meinem damaligen Zustand kann ich unmöglich einen vorteilhaften Eindruck gemacht haben.
Als ich mich nun erholt hatte und still in dem kleinen Raum lag, da stieg die bittere Scham in mir empor, dass ich von einem Mädchen ein Almosen annahm. So erniedrigt hatte ich mich noch nie gefühlt. Ich hörte drüben im Laden Grete Werner mit ihren Gehilfinnen hantieren. Da erhob ich mich leise und wollte mich unbemerkt davonschleichen. Aber das Zimmerchen hatte nur einen Ausgang durch den Laden.
Ich blickte durch einen Spalt in dem Vorhang, der das Zimmerchen abschloss, und sah Grete Werner in eifriger Arbeit am Bügelbrett stehen. Sie sah so zierlich und sauber aus, so hübsch und anmutig mit dem weißen Häubchen und der weißen Schürze, und es duftete so angenehm nach frischer Wäsche da stieß ich einen tiefen Seufzer aus. Gleich darauf stand auch schon Grete vor mir und lachte mich freundlich an.
Ich sagte ihr, wie sehr ich mich schämte, und bat sie, mich gehen zu lassen. Sie fragte nur: „Wohin?“ Ich zuckte die Achseln und schilderte ihr meine Lage, ohne zu verraten, dass ich ein Freiherr von Lossow sei. Ich erzählte ihr nur, dass ich leichtsinnig gewesen, an meinem Unglück selbst schuld sei und dass ich mich seit Monaten vergeblich bemüht habe, Arbeit zu finden. Sie sah auf meine Hände herab. Und dann fragte sie mich, ob ich als Austräger bei ihr arbeiten wolle, bis sich etwas Besseres für mich gefunden habe.
Bedenke, Kuno, ich, der Freiherr Fritz von Lossow, sollte Austräger für eine Wäscherin werden! Ich sollte die saubere Wäsche zu Gretes Kunden schaffen und die schmutzige abholen! Sie las mir den Schauder vom Gesicht ab, und ihre Augen blickten mich groß und ernst an, so dass ich meinen Blick senken musste. Dann sagte sie mit fester Stimme: „Arbeit ist keine Schande – ehrliche Arbeit adelt jeden Menschen, wer er auch sei.“
Ich habe mir dieses Wort damals fest eingeprägt und danach gehandelt. Und so wurde ich wirklich Austräger, weil ich nicht verhungern wollte und weil ich mich vor diesem tüchtigen Mädchen schämte, das so tapfer sein schweres Tagewerk verrichtete. Und die blauen Augen machten mir meinen Entschluss leicht. Später sind sie meine Leitsterne geworden, die mir immer genau sagten, ob ich das Rechte tat.
Austräger blieb ich übrigens nicht lange. Ich durfte Grete bald die Bücher führen und mich auf manche Art nützlich machen.
Das war der Anfang. Ich will dich nicht mit Einzelheiten behelligen. Ein Jahr später heiratete ich Grete. Das Geschäft hatte einen unerwarteten Aufschwung genommen. Ich entdeckte nämlich so etwas wie kaufmännisches Genie in mir und kam auf den Gedanken, eine große Waschanstalt zu errichten. Und dann erfand ich ein Bleichmittel. Du weißt, dass ich mich in meinen Musestunden gern mit chemischen Studien beschäftigte. Dieses Bleichmittel ließ ich mir patentieren. Ich fabrizierte es zunächst selbst. Später, als es reißenden Absatz fand, baute ich mir eine kleine Fabrik. Ich fabrizierte Seifen, Wasch- und Toilettenmittel und kosmetische Präparate. Und aus unserer kleinen Waschanstalt wurde eine große Dampfwäscherei.
So arbeiteten wir uns empor. Meine Grete stand mir tapfer zur Seite – als Kompagnon, denn hinter Waschfass und Bügelbrett durfte sie schon lange nicht mehr stehen. Ich habe in dieser Frau einen idealen Weggenossen gefunden. Sie hat mir hohes, reines Glück geschaffen, denn sie war nicht nur resolut und tüchtig, sondern auch klug, geistvoll und feinfühlend, eine Dame im edelsten Sinn des Wortes, obgleich sie einst als schlichte Wäscherin ihr Brot verdienen musste.
Unser Unternehmen florierte unter der Firma G. Werner & Co., denn aus Rücksicht auf dich und Onkel Heribert wollte ich den Namen Lossow nicht auf ein Firmenschild schreiben lassen.
Meine Grete verstand mich auch hierin. Ja, unsagbar glücklich bin ich gewesen an der Seite meiner geliebten, angebeteten Frau – bis zu ihrem Ende. Vor drei Jahren habe ich sie hergeben müssen – zu meinem großen Herzeleid. Aber mir lebt eine Tochter, Ellinor, von zweiundzwanzig Jahren, meiner Grete treues Ebenbild an Leib und Seele. Auch ein Sohn ist unserer Ehe entsprossen. Fred ist jedoch erst fünfzehn Jahre alt.
Du wirst nun fragen, warum ich in all der Zeit nichts von mir hören ließ und warum ich jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, das Schweigen breche.
Das will ich dir sagen.
Erst ging es mir so schlecht, dass ich nicht schreiben wollte. Dann lebte ich in Verhältnissen, die dir unverständlich gewesen wären. Du hättest dich ganz sicher mit Schaudern von einem Menschen abgewandt, der sich sein Brot auf diese Weise verdiente, wie ich es musste. Ich konnte dir das nachfühlen, denn auch in mir lebte noch lange so ein Zipfelchen Hochmut, der unter der Erkenntnis litt, dass ein deutscher Edelmann so niedrige Arbeit zu tun gezwungen war.
Ich hielt es also für besser, dir mit meinem Werdegang nicht das Gemüt zu beschweren. Aber nun muss es geschehen, denn ich gedenke in einiger Zeit nach Deutschland zurückzukehren. Die Sehnsucht nach der Heimat ist schon seit einigen Jahren in mir erwacht. Meine Grete hatte gehofft, mit mir ziehen zu können; auch die empfand Heimweh. Ich muss sie hier zurücklassen. Aber an ihrem Sterbelager habe ich ihr geloben müssen, sobald als möglich mit unseren Kindern nach Deutschland überzusiedeln. Mein Sohn will an deutschen Universitäten studieren, meine Tochter will in deutschen Wäldern leben.
Ich beabsichtige, meine Fabrik in eine Aktiengesellschaft zu verwandeln, und arbeite bereits darauf hin. Es kann jedoch also noch geraume Zeit vergehen, ehe ich hier alles abgewickelt habe. Aber der heutige Tag schien mir geeignet, dir meinen Entschluss mitzuteilen. Da ich in der alten Heimat eine Besitzung kaufen will, könnte es doch sein, dass wir einander begegnen. Und das soll dir nicht unvorbereitet kommen. Wenn du mich nicht kennen willst, so kannst du mir aus dem Weg gehen. Bitte, teile meinen Entschluss auch Onkel Heribert mit, der, wie ich in Erfahrung brachte, noch am Leben ist. Ich lasse ihn grüßen, wenn er es sich von mir gefallen lassen will.
Und nun werde ich diese lange Epistel schließen. Wenn du willst, kannst du mir Nachricht senden an meine hiesige Adresse, die du am Kopf meines Briefes findest. Es genügt, wenn du „G. Werner & Co.“ adressierst mit dem Zusatz „Privat“, denn einen Freiherrn von Lossow kennt man hier nicht. Nur die intimsten Freunde meines Hauses kennen mich unter dem Namen Fritz Lossow.
Hoffentlich hat mein Wiederauftauchen unter den Lebenden dich nicht zu sehr erschreckt. Sicher hast du mich längst zu den Toten gerechnet. Ich hoffe, dass es dir und den deinen wohl geht und begrüße dich als
Dein Bruder Fritz
Mit steigender Erregung hatte Kuno von Lossow diesen Brief gelesen. Seine Empfindungen dabei waren keineswegs angenehmer Natur. Keine Spur von Freude darüber, dass der verschollene, todgeglaubte Bruder noch am Leben war, regte sich in ihm. Hatte er doch nie ein warmes Gefühl für diesen Bruder gehegt, dem er es missgönnte, dass der Vater ihn besonders liebte.
Mit kaltem, ruhigem Herzen hatte er den Bruder damals in die Welt hinausgeschickt. Er entschuldigte sich damit, dass er für seine eigene Familie einzustehen habe, und behauptete, sein Vater habe Lossow schlecht bewirtschaftet und zugunsten seines zweiten Sohnes mehr Geld herausgezogen, als er durfte. Auch jetzt noch schob er seine Kalamitäten auf diesen Ursprung zurück; er wollte nicht eingestehen, dass er selbst daran schuld war, weil er mit seiner Familie auf zu großem Fuß lebte. Jedenfalls wäre es ihm sehr angenehm gewesen, wenn sein Bruder nie wieder aufgetaucht wäre.
Und nun dieser Brief!
Kuno von Lossow war maßlos empört über den Inhalt. Er hätte es viel richtiger gefunden, wenn Fritz verhungert wäre, statt sich in der geschilderten Weise am Leben zu erhalten. Man denke nur: ein Freiherr von Lossow, der sich mit der schmutzigen Wäsche anderer Leute befasste! Einfach unerhört!
Und dann hatte er diese Wäscherin geheiratet; sie hatte ihm Kinder geschenkt, die ein Recht hatten, sich Freiin und Freiherr von Lossow zu nennen! Schauderhaft, ganz schauderhaft!
Zu Geld schien er freilich doch noch gekommen zu sein. Wenn er aus seinen Fabriken eine Aktiengesellschaft machen wollte, mussten seine Geschäfte doch einen großen Umfang haben. Und nun wollte er sich in der alten Heimat eine Besitzung kaufen. Dazu gehörte auch Geld. Aber wie war dieses Geld erworben worden? Pfui, pfui über diesen Menschen, der sich sein Bruder nannte!
Und dieser gewissenlose Mensch wollte sich wohl gar hier in nächster Nähe niederlassen? Was dachte er sich denn? Besaß er denn gar kein Schamgefühl mehr? Mit einer solchen Vergangenheit war man doch unmöglich in der guten Gesellschaft – ganz unmöglich! Wie sollte man sich nur zu ihm stellen? Ihn einfach ignorieren? Aber ging denn das? Würde trotzdem nicht alle Welt wissen, dass dieser Fritz von Lossow der Bruder des Majoratsherrn von Lossow war, derselbe Fritz Lossow, der damals vor die Hunde gegangen war? Man würde nachforschen, wie er zu seinem Vermögen gekommen war. Und dann würde allerlei durchsickern von Seife – Wäsche! Allmächtiger Gott!
Kuno von Lossow zog sein seidenes Taschentuch und trocknete den Schweiß von der Stirn. An das, was ihm bei alledem die meiste Sorge machte – wie Onkel Heribert nach dem Wiederauftauchen seines Neffen Fritz testieren würde – wagte er gar nicht zu denken.
In seiner Bestürzung fasste er die eng beschriebenen Briefbogen zusammen und eilte damit in die Zimmer seiner Frau.
Er lief im Sturmschritt, wie er nie zu laufen pflegte. Ein Diener, der draußen auf dem Gang Türschlösser putzte, sah ihm ganz verwundert nach, als er mit fliegenden Rockschößen den langen Korridor hinabeilte. So hatte er seinen Herrn noch nie laufen sehen.
Atemlos trat Kuno bei seiner Gattin ein. Sie saß am Fenster und blätterte in Modejournalen.
Erstaunt blickte sie auf. Als sie in sein verstörtes Gesicht sah, rief sie erschrocken: „Mein Gott, so sprich doch – was ist geschehen? Hast du schlechte Nachrichten von Botho?“
„Nicht schlechter als sonst. Aber von anderer Seite habe ich schlechte Nachrichten. Denke dir, mein Bruder Fritz – er lebt – hier ist ein Brief von ihm.“
Frau von Lossows Gesicht bekam einen eisigen abwehrenden Ausdruck. „Ah, von ihm? Also ist er nicht tot?“
„Nein, er ist nicht tot, Helene“, antwortete ihr Gatte seufzend.
„Nun – und? Er will wohl Geld von dir haben, nicht wahr?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das nicht, aber – nun, lies nur selbst – ich kann es nicht aussprechen, was dieser Brief enthält – es ist zu furchtbar!“
Mit bebender Hand reichte er ihr den Brief.
Frau Helene nahm ihr Lorgnon. Sie las den Brief hastig durch, schüttelte dabei einige Male unwillig den Kopf und verzog das Gesicht zu einem verächtlichen Ausdruck. Als sie zu Ende gelesen hatte, rief sie empört: „Mein Gott, wie kann ein Freiherr von Lossow so weit herunterkommen! Das ist ja fürchterlich!“
Ihr Gatte nickte. „Ich bin ganz fassungslos vor Entrüstung.“
Frau von Lossow hielt ihr Riechfläschchen an die Nase. „Entsetzlicher Gedanke, dass dieser Mensch uns eines Tages mit seinen Kindern in den Weg treten könnte – mit den Kindern einer Wäscherin! Mein Gott, wenn Botho und Gitta von dieser Verwandtschaft hören, sie werden außer sich sein!“
Kuno von Lossow strich nervös über seinen Scheitel. „Hm – tja – vielleicht können wir es vor ihnen geheim halten. Vorläufig dürfen sie jedenfalls nichts wissen. Aber Onkel Heribert muss es erfahren. Ich werde ihm sagen, dass ich von ihm erwarte, dass er sich lossagt von dem Unwürdigen, der unseren guten alten Namen mit Schmach bedeckt hat. Onkel Heribert ist auch ein Lossow und, Gott sei Dank, sehr stolz auf die Reinheit unseres Namens.“
„Gewiss, Kuno. Wenn er auch seine Schrullen hat, ein echter Edelmann ist er doch, und seinen Namen hält er hoch.“
So sprachen sich die beiden Gatten ihre Angst, dass das Wiederauftauchen des todgeglaubten Bruders ihren Erbaussichten gefährlich werden könnte, von der Seele. Etwas getröstet wollte Herr von Lossow seine Gattin verlassen, als ein Besuch gemeldet wurde. „Herr Baron von Lindeck.“
„Wir lassen bitten. Wenn Sie den Herrn Baron hier hergeführt haben, dann melden Sie dem gnädigen Fräulein den Besuch. Sie ist in ihren Zimmern“, gebot Frau von Lossow dem Diener.
Gleich nachdem sich dieser entfernt hatte, wurde die Tür abermals geöffnet.
Baron Lindeck trat ein.
Er war ein Mann Anfang der Dreißig, eine elegante, ziemlich große Figur, wie aus Stahl und Eisen gebaut. Sein rassiges, scharf geschnittenes Gesicht mit den tief liegenden, stahlblauen Augen war von Licht und Sonne dunkel gebräunt. Er hatte energische, sympathische Züge.
Mit einer artigen Verbeugung trat er auf Frau von Lossow zu und führte ihre ihm huldvoll gereichte Hand an seine Lippen.
Dann Herrn von Lossow begrüßend, sagte er lächelnd: „Ich bitte um Verzeihung, dass ich im Reitanzug in Ihrem Salon erscheine, gnädige Frau. Aber ich wollte nicht an Lossow vorüberreiten, ohne guten Tag zu sagen. Hoffentlich störe ich nicht.“
„Nein, nein, gewiss nicht. Sie wissen doch, Herr Baron, dass Sie uns stets willkommen sind“, erwiderte Frau von Lossow außerordentlich liebenswürdig, ihm einen Platz anweisend.
Sie ließen sich nieder.
Der Baron verneigte sich dankend. „Ich komme soeben von Lemkow, wo ich mit Herrn von Lossow Geschäfte erledigt habe“, sagte er im leichten Plauderton.
„Ah, Sie haben Onkel Heribert Pferde verkauft? Er sprach neulich davon“, sagte Herr von Lossow, gleichfalls sehr liebenswürdig.
„So ähnlich ist es, Herr von Lossow. Eigentlich haben wir die Pferde nur ausgetauscht.“
Herr von Lossow lachte ein wenig. Es war ein dünnes, wässriges Lachen, in dem weder Geist noch Herz lag. „Nun, hoffentlich hat Onkel Heribert Sie dabei nicht übers Ohr gehauen, lieber Baron. Beim Pferdehandel ist ja so etwas erlaubt. Und er versteht sich auf seinen Vorteil.“
„Gewiss, wie jeder tüchtige Landwirt, Herr von Lossow. Ihr Herr Onkel ist zweifellos einer der tüchtigsten. Ich habe schon viel von ihm gelernt, und ich bewundere den alten Herren, der mit seinen siebzig Jahren noch so frisch und scharfblickend ist.“
„Ja – hm – tja – Onkel Heribert ist noch merkwürdig rüstig für seine Jahre“, pflichtete Kuno von Lossow nicht sehr enthusiastisch bei.
Ein leises, verstohlenes Zucken um den Mund Baron Lindecks verriet, dass er ahnte, welche Gefühle Kuno von Lossow in Anbetracht der „Rüstigkeit“ seines Oheims beseelten. Es war bekannt, dass Lossows mit dem reichen Erbe rechneten, obwohl sie natürlich nicht direkt darüber sprachen, sondern nur in Andeutungen.
Frau von Lossow blickte indessen ganz unruhig nach der Tür. Wo bleibt nur Gitta?, dachte sie dabei.
Sie machte sich, als Mutter einer heiratsfähigen Tochter, einige Hoffnungen auf Baron Lindeck. Er war unverheiratet und Besitzer des Majorats Lindeck, das an Lemkow und Lossow grenzte. War auch Lindeck durchaus kein fürstlicher Besitz, so war der Baron doch immerhin eine beachtenswerte Partie.
Endlich öffnete sich die Tür, und herein trat mit lächelndem Gesicht Brigitta von Lossow.
Sie hatte des Vaters Schlankheit geerbt und seine farblosen, kalten Augen, die jedoch in ihrem frischen, jugendlichen Gesicht nicht so unangenehm wirkten. Auch besaß sie zwar dünnes, aber goldig schimmerndes Haar, das, vorteilhaft frisiert, den schmalen Kopf anmutig umgab.
Gitta war ein leidlich hübsches Mädchen mit vornehm lässigen Bewegungen. Sie trug ein weißes, mit Stickerei verziertes Leinenkleid, das wohl berechnet war, ihrem allzu schlanken Wuchs die nötige Rundung zu verleihen.
Baron Heinz Lindeck erhob sich und begrüßte sie artig, aber formell zurückhaltend, wie Männer von guter Erziehung sich geben, wenn sie keine Hoffnungen da erwecken wollen, wo ihnen ziemlich deutlich Avancen gemacht werden. Das geschah allerdings von Gittas Seite sehr auffällig. Auch heute begrüßte sie ihn wärmer und liebenswürdiger als er sie, obwohl sie ziemlich kühl veranlagt war.
Heinz Lindeck gefiel ihr sehr, jedenfalls besser als alle anderen jungen Männer, mit denen sie in Berührung kam. Sie wäre durchaus nicht abgeneigt gewesen, die Hoffnung ihrer Mutter zu erfüllen. Leider jedoch schien der Baron nicht gewillt zu sein, das Gleiche zu tun. Aber das erkannte weder Gitta noch ihre Mutter. Die junge Dame wünschte dringend, Lindeck zu gefallen, und was man wünscht, das glaubt man gern. Seine konventionellen Artigkeiten, die er allerdings jeder Dame erwies, dünkten ihr günstige Zeichen.
Dass er so oft nach Lossow kam, deutete sie sich auch zu ihren Gunsten. Dies geschah jedoch nur, weil Baron Lindeck, wenn er auf geradem Weg zwischen Lindeck und Lemkow verkehrte, direkt an Lossow vorüber musste und dann nicht gut passieren konnte, ohne guten Tag zu sagen.
Mit Heribert von Lossow auf Lemkow verkehrte Heinz Lindeck sehr viel. Heribert von Lossow war befreundet gewesen mit Lindecks Vater und Oheim, und er hatte nun diese Freundschaft auf den jungen Mann übertragen. Trotz des großen Altersunterschieds verstanden sich die beiden Herren vorzüglich und sahen sich fast täglich.
Der Baron hielt sich auch heute nicht länger als nötig in Lossow auf und verabschiedete sich bald nach Gittas Erscheinen.
Als er gegangen war, zog sich Kuno von Lossow wieder in sein Arbeitszimmer zurück, und Mutter und Tochter blieben allein.
„Wo bliebst du nur so lange, Gitta?“, fragte Frau Helene vorwurfsvoll.
„Ich war gerade beim Umkleiden, Mama. Ich habe mich beeilt, so sehr ich konnte“, antwortete Gitta, vom Fenster aus dem Baron nachsehend, der eben davonritt.
***
„Schade! Baron Lindeck kann natürlich annehmen, dass dir an seinem Besuch nichts liegt.“
„Ich kann wirklich nichts dafür, Mama. Meinst du wirklich, dass er sich für mich interessiert?“
Frau von Lossow zuckte die Achseln. „Das kann ich natürlich nicht wissen. Der Baron ist sehr korrekt in seinem ganzen Benehmen. Überhaupt, von selbst kommen die jungen Herren nicht darauf, sich um eine junge Dame zu bewerben. Man muss sie klug beeinflussen, dass sie es tun.“
„Aber wie, Mama?“
„Nun, indem man ihnen zeigt, dass man sich für sie interessiert. Alle Männer sind bei der Eitelkeit zu fassen, sie sind alle eitel, viel eitler als die Frauen. Man müsste Lindeck die Überzeugung beibringen, dass er uns als Schwiegersohn willkommen wäre. Vor allem muss man ihm Gelegenheit geben, sich dir zu nähern, sich mit dir auszusprechen.“
„Gewiss, das leuchtet mir ein. Aber dazu fehlt doch meistens die Gelegenheit, Mama. Wir sind ja nie allein!“
Frau von Lossow lächelte überlegen. „Diese Gelegenheit müsste man eben herbeiführen. Sieh mal, zum Beispiel – der Baron ist viel in Lemkow bei Onkel Heribert. Es ließe sich wohl einrichten, dass du dort mit ihm zusammenträfest. Du bist auch oft bei Onkel Heribert – warum nicht zu gleicher Zeit mit dem Baron? Dann ist es doch leicht, dass du mit ihm zusammen von Lemkow aufbrichst. Er ist meist zu Pferde drüben – du bist es auch. Außerdem siehst du zu Pferd sehr vorteilhaft aus und bist eine gute Reiterin. Der Baron muss dir dann das Geleit geben, da ihr denselben Weg habt. Das übrige, mein Kind, ist dann deine Sache.“
Brittas Gesicht rötete sich, und in ihre farblosen Augen trat ein heller Glanz. „Ja, Mama, das ist eine sehr gute Idee, das ließe sich schon einrichten. Ich danke dir. Du bist doch eine sehr, sehr kluge Frau, die klügste, die ich kenne.“
Frau von Lossow lächelte. „Eine Mutter wird eben scharfsichtig, wenn es sich um das Wohl ihres Kindes handelt“, sagte sie gnädig.
***
Heribert von Lossow schritt, auf seinen Stock gestützt, vor dem Lemkower Herrenhaus im warmen Sonnenschein auf und ab. Seine stattliche Gestalt hielt sich nur wenig gebeugt; unter den weißen, buschigen Brauen hervor blickten die Augen noch scharf und lebhaft in die Welt.
Heribert Lossow war als zweiter Sohn des Majorats Lossow in einer wenig beneidenswerten Lage gewesen, bis ihn vor nunmehr vierzig Jahren Ulrike von Lemkow mit ihrer Hand beglückte. Wirklich beglückt hatte sie ihn, denn er liebte sie aufrichtig um ihrer selbst willen, nicht, weil sie eine reiche Erbin war und ihm mit ihrer Hand zugleich die Anwartschaft auf den schönsten und reichsten Grundbesitz der ganzen Umgebung übergab.
Ulrike hatte mit Heribert Lossow dreißig Jahre lang in glücklicher Ehe gelebt, obwohl die Ehe kinderlos geblieben war. Ein unglücklicher Sturz mit dem Pferd hatte sie schon in den ersten Jahren ihrer Ehe um die Hoffnung gebracht, jemals Mutter werden zu können. Das war der einzige Schatten in dieser sonst so sonnenhellen Ehe gewesen. So war Heribert ohne Leibeserben geblieben. Vor zehn Jahren war ihm die Gattin gestorben. Seitdem lebte er ganz allein auf Lemkow.
Allerdings mühten sich seine Verwandten in Lossow redlich, dass seine Einsamkeit ihm nicht gar zu fühlbar wurde. Jeden Tag war mindestens ein Mitglied der Familie in Lemkow. Über Vernachlässigung von dieser Seite konnte sich der alte Herr nicht beklagen. Aber wie er über die fleißigen Besuche seiner Verwandten dachte, erfuhr niemand. Er nahm zur Schau getragene Liebenswürdigkeit wie etwas Unabwendbares hin. Nur zuweilen huschte ein sarkastisches Lächeln um seine Lippen, und dieses Lächeln ließ allerlei Schlüsse zu.
Während Heribert Lossow sich friedlich im Sonnenschein erging, hörte er einen Wagen herankommen.
Er wandte sich um.
Richtig, da fuhr die Lossower Equipage durch das Einfahrtstor; gleich darauf hielt sie vor der breiten Sandsteintreppe des Herrenhauses.
Aus dem Wagen stieg Kuno von Lossow. Mit seinem liebenswürdigsten Lächeln ging er auf Onkel Heribert zu. „Guten Tag, Onkel Heribert! Ich sehe zu meiner großen Freude, dass du dich wohl befindest.“
Der alte Herr nickte mit einem humorvollen Lächeln. „Ja, ja, Kuno, die Lossows sind ein zäher, robuster Schlag“, antwortete er.
„Ich wollte, ich könnte das in Bezug auf meine Person auch behaupten, Onkel Heribert. Ich bin leider recht wenig kräftig und gesund. Aber das machen die Sorgen, die vielen, vielen Sorgen! Du weißt, Lossow ist nicht sehr ertragsfähig.“
„Nun, nun, es nährt seinen Mann, Kuno“, antwortete der alte Herr gutmütig.
„Oh, die Zeiten sind schlecht, sehr schlecht, Onkel Heribert; man hat zu kämpfen.“
Der alte Herr kannte dieses alte Lied schon. Er wusste aber auch, dass die Erträgnisse von Lossow niemals ausreichten, weil man dort Prunk und Glanz liebte, weil Kuno sich nicht genügend um die Bewirtschaftung des Gutes kümmerte und weil Frau Helene und ihre Tochter in kostbaren Toiletten zwar gut repräsentieren konnten, aber sonst recht wenig Hausfrauentugenden besaßen. Und dass Botho bei seinem teuren Berliner Regiment das Geld mit vollen Händen hinauswarf, wusste der alte Herr. Aber er sagte nie ein Wort darüber.
Kuno hatte den Hut abgenommen und strich glättend mit der Hand über seinen Scheitel. „Ja hm – tja – du merkst nur nichts davon, Onkel Heribert. Du bist allein, wir sind vier. Das ist ein Unterschied. Aber lassen wir das jetzt! Mich führt heute etwas ganz besonderes zu dir. Ich habe dir leider eine sehr unangenehme Mitteilung zu machen. Wenn du mit mir ins Haus gehen wolltest – es ist nämlich – ich möchte nicht, dass uns jemand hören könnte.“
Heribert von Lossow sah prüfend in das Gesicht seines Neffen. Er sah, dass es nervös darin zuckte. Gewöhnlich kam Kuno nach Erwähnung der schlechten Zeit mit einem Anliegen hervor, das die Kasse des alten Herrn in Anspruch nahm. Aber heute lag noch etwas anderes in Kunos Gesicht, das sich der alte Herr trotz seines Scharfsinns nicht deuten konnte.
„Also gehen wir hinein, Kuno.“
Sie schritten nebeneinander ins Haus und betraten das mit behaglichem Komfort ausgestattete Wohnzimmer.
„Nimm Platz, Kuno! Da im Schränkchen findest du Rauchzeug und etwas Trinkbares. Bediene dich!“
„Ich danke dir, Onkel Heribert, aber ich bin viel zu erregt, um etwas genießen zu können.“
„Nun, dann schieß los, Kuno! Was hast du auf dem Herzen?“, fragte der alte Herr gemütlich.
Kuno fingerte nervös an seiner Brusttasche herum. „Es ist etwas Schreckliches, Onkel Heribert. Denke dir, ich habe heute einen Brief erhalten von – von meinem Bruder Fritz. Er lebt noch.“
Es blitzte seltsam auf in den Augen des alten Herrn. Mit einem jähen Ruck richtete er sich empor. „Der Fritz! Ein Lebenszeichen von ihm! Und das nennst du etwas Schreckliches, Kuno? Nun, das muss ich sagen, darauf war ich nicht gefasst. Also der Fritz lebt? Du, das ist doch eine freudige Nachricht!“
„Oh, du wirst schnell genug anderer Meinung sein, wenn du erst alles weißt, Onkel Heribert. Du siehst mich fassungslos. Auch Helene ist außer sich. Schmach und Schande hat er über unseren guten Namen gebracht. Aber was konnte man auch Besseres von diesem Menschen erwarten!“
Heribert von Lossows Gesicht zog sich finster zusammen. „Schmach und Schande – auf unseren Namen? Das hätte ich Fritz nicht zugetraut. Ein Bruder Leichtfuß, dem das Geld nur allzu locker saß, ja, aber doch ein grundehrlicher, anständiger Kerl! Schlecht – nein, für schlecht habe ich ihn nie gehalten. Nun rede aber erst! Was ist geschehen, was hat Fritz getan? Und wo steckt er überhaupt?“
Kuno fingerte wieder an seiner Brusttasche herum. „Also denke dir, eine Wäscherin hat er geheiratet, ein ganz obskures Geschöpf. Sie hat ihm zwei Kinder geschenkt. Freiherr Fritz von Lossow hat in Amerika davon gelebt – es will mir kaum über die Lippen –, dass er die schmutzige Wäsche der Leute zusammentrug, die er von seiner Frau waschen ließ.“ Das stieß Kuno mit allen Zeichen einer tiefen Entrüstung hervor.
Onkel Heribert saß regungslos da. Seine Augen weiteten sich, als blickten sie in weite Ferne, und es wetterleuchtete darin.
Kuno wartete vergeblich auf einen empörten Zornesausbruch des Oheims. Erst nach einer langen Weile sagte der alte Herr ruhig: „Du hättest mir seinen Brief mitbringen sollen, Kuno. Ich möchte das selbst lesen, so, wie er es berichtet.“
Sonst kein Wort, kein Entrüstungsruf, keinen Tadel, kein zorniges Aufbrausen.
Kuno saß ganz beklommen da und fasste nun mit unsicheren Händen in seine Brusttasche. „Ich habe den Brief natürlich mitgebracht, Onkel. Hier ist er.“
Heribert von Lossow nahm den Brief. Bedächtig setzte er die Brille auf und las das Schreiben.
Kuno saß wie auf Kohlen. Er wartete in fieberhafter Unruhe auf den Ausbruch der Empörung, des Zorns, der seiner Meinung nach unbedingt erfolgen musste.
Aber er wartete vergeblich. Ruhig beendete der alte Herr seine Lektüre, dann faltete er bedächtig den Brief zusammen. Eine Weile sah er sinnend vor sich hin. Dann hob er den Kopf und sah Kuno mit großen, ernsten Augen an.
„Gott sei Dank, von Schmach und Schande habe ich in diesem Brief nichts gefunden“, sagte er aufatmend.
Kuno verschlug es fast die Rede. Er schnappte nach Luft und gestikulierte aufgeregt mit den Händen. „Aber, Onkel Heribert, begreife doch! Ein Lossow – und schmutzige Wäsche! Das ist doch haarsträubend, entsetzlich!“
Der alte Herr fuhr über seine Stirn, als wische er etwas fort. „Hm! Schön und erhebend ist der Gedanke, dass ein Lossow auf diese Weise sein Brot verdienen musste, während wir uns hier im Überfluss wohl sein ließen, freilich nicht. Aber nach deiner dramatischen Vorrede war ich auf Schlimmeres gefasst. Danach musste ich ja an Schuld und Verbrechen denken, nicht an ehrliche Arbeit. Der Brief hat mich nur angenehm enttäuschen können – trotz der schmutzigen Wäsche, die darin eine Rolle spielt.“
Kuno starrte ihn mit offenem Mund an. „Nun, das muss ich sagen, deine Gelassenheit setzt mich in Erstaunen. Ich habe das nicht so ruhig hinnehmen können. Bedenke doch nur: ein Lossow und eine Wäscherin! Ein von Lossow hat Kinder, die seinen Namen tragen, und diese Kinder haben eine Wäscherin zur Mutter.“
„Nun ja. Aber dessen ungeachtet scheint mir diese Wäscherin doch eine sehr achtenswerte Person gewesen zu sein. Was willst du? Die Herzogin von Danzig, Marschall Lefebvres Gattin, war auch eine Wäscherin. Und sie soll das Herz auf dem rechten Fleck gehabt haben.“
Kuno starrte den alten Herrn an, als zweifle er an seinem Verstand. „Ja – hm – tja – aber das ist doch ganz etwas anderes zu Napoleons Zeiten. Du lieber Gott, da ist doch alles drunter und drüber gegangen. Aber wir – wir haben doch allezeit die Tradition unseres Geschlechtes heilig gehalten. Ich kann mich keines Falls aus der Geschichte unseres Hauses entsinnen, dass ein Lossow eine nicht standesgemäße Ehe geschlossen hätte. Überhaupt, dies alles, was in dem Brief steht – es ist eine furchtbar schmutzige Geschichte. Du wirst doch mit mir einer Meinung sein, dass es keine Gemeinschaft geben kann zwischen uns und dieser Familie?“
Wieder wetterleuchtete es in den Augen des alten Herrn, und um seinen Mund zuckte es seltsam. „Es ist immerhin die Familie deines Bruders. Davon kannst du mit aller Beredsamkeit nichts wegdisputieren“, sagte er mit leisem Sarkasmus.
Kuno strich zitternd über seinen Scheitel. „Aber lieber Onkel, darüber sind wir doch wohl einig, dass wir es auf keinen Fall dulden dürfen, dass Fritz sich etwa gar in unserer Nähe festsetzt. Das wäre ein Skandal ohnegleichen! Deshalb müssen wir uns unbedingt von ihm lossagen. Es darf keinerlei Gemeinschaft zwischen ihm und uns geben. Nicht wahr, lieber Onkel, das ist auch deine Meinung? Helene ist derselben Ansicht. Wenn Fritz noch einen Funken Ehrgefühl besäße, dann hätte er lieber auch ferner für uns als tot gelten sollen, als uns solche Schmach anzutun.“
Schweigend sah der alte Herr eine Weile in Kunos gehässig verzerrtes Gesicht. Dann fasste er wieder nach dem Brief. „Lass mir den Brief hier! Ich muss das alles noch einmal ruhig durchlesen und darüber nachdenken, wenn ich allein bin. In meinem Alter urteilt man bedächtig.“
Kuno hatte ein Gefühl, als würde ihm der feste Boden unter den Füßen fortgerissen. Er hatte ganz sicher auf einen Zornesausbruch seines Oheims gerechnet. Und nun diese Ruhe, diese Gelassenheit!
Im Drang seiner Gefühle hatte er sogar vergessen, dass er den Oheim um Geld bitten wollte. Das fiel ihm nun erst wieder ein. „Ja – hm tja – ich kann dir ja den Brief hier lassen. Und – was ich noch sagen wollte, lieber Onkel, ich habe außerdem noch etwas auf dem Herzen, eine Bitte. Ich bin in großer Verlegenheit – es sind ja so allerlei unvorgesehene Ausgaben. Auch Botho braucht Geld. Und ja – hm ich möchte dich herzlich bitten, könntest du mir nicht mit fünftausend Mark aushelfen?“
Heribert Lossow erhob sich schweigend. Es kam oft genug vor, dass Kuno sich um Geld an ihn wandte, meist ohne an das Zurückzahlen zu denken. Der Onkel hatte bisher immer gegeben, was Kuno von ihm erbat. Er war ein reicher Mann und stellte nur noch geringe Ansprüche ans Leben. Außerdem besaß er Familiensinn und war kein Knauser. Obwohl ihm Kuno, dessen Frau und Kinder nicht sehr sympathisch waren, blieben sie doch seine Verwandten. Und so half er immer wieder, obgleich er wusste, dass sie nur auf seine Gutmütigkeit spekulierten, dass sie nach seinem Erbe trachteten und dass man in Lossow bei einigem guten Willen ganz gut hätte auskommen können.
Aber der alte Herr rechnete nicht nach und machte keine Vorwürfe. Eine Weile stand er schweigend da, dann sagte er ruhig. „Du kannst das Geld bekommen. Warte einen Augenblick, ich hole es gleich herüber.“ Damit ließ er Kuno allein.
Dieser atmete auf. Nein, nein, er denkt nicht daran, einen anderen als mich zu seinem Erben einzusetzen, sonst würde er mir nicht immer so selbstverständlich aushelfen. Es ist ganz klar, dass er mich allein als seinen Erben betrachtet.
So versuchte sich Kuno zu beruhigen. Aber dann seufzte er wieder tief auf und schüttelte den Kopf über die Gelassenheit des alten Herrn.
Nicht einmal die schmutzige Wäsche hat ihn aus der Fassung gebracht!, dachte er.
Als Heribert Lossow ihm dann die fünftausend Mark ausgehändigt hatte, verabschiedete er sich in ziemlich gedrückter Stimmung. Als der alte Herr allein war, ließ er sich wieder in seinen Sessel nieder und vertiefte sich noch einmal in den Brief Fritz von Lossows. Als er fertig war, musste er plötzlich laut und herzlich lachen.
„Herrgott noch mal! Wie das dem braven Kuno und der stolzen Helene in die Glieder gefahren sein mag!“, dachte er amüsiert. Dann aber wurde er sehr ernst.
„Hm! Nun ja, eine schöne Geschichte ist das nicht. Verflucht peinlicher Gedanke, dass ein Lossow, dem Verhungern nah, auf der Straße gelegen hat. Aber immerhin, er hat sich aufgerappelt, der Fritz, hat sich durchgerungen – da ist doch ein gutes Zeichen für die Lossowsche Rasse! Donnerwetter noch mal! Wie hat dieses prächtige kleine Wäschermädel doch gesagt? Ach ja, hier steht es: ‚Arbeit ist keine Schande – ehrliche Arbeit adelt jeden Menschen, wer er auch sei.‘ Hm, das merke dir auch, Heribert Lossow, und stelle dich nicht im Hochmut über diese brave, tüchtige Grete!“
Er stand langsam auf und trat an ein kleines Schränkchen heran, in dem einige Flaschen Wein und Liköre standen.
Er füllte ein Glas mit goldigem Wein, hielt es gegen das Licht und sagte dann vor sich hin: „Dieses Glas deinem Andenken, Grete, Freifrau von Lossow! Das ist mein Dank, dass du einen Lossow nicht elend verkommen ließest.“
Er trank das Glas in einem Zug leer und ließ sich dann wieder in seinen Sessel nieder. Seine Gedanken spannen weiter.
„Jawohl, sie hat den Adelsbrief im Herzen gehabt, in ihrem ehrlichen, tapferen Herzen. Und wer will zu Gericht sitzen über Fritz von Lossow? Ich nicht, ich nicht, denn ich stand auch einmal vor dem Nichts – als jüngster, rechtloser Sohn eines Majorats. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn meine Ulrike mich nicht in die Sonne gezogen hätte mit ihrem liebevollen Herzen. Und Kuno – was wohl aus dem geworden wäre, wenn er als nachgeborener Sohn vor dem Nichts gestanden hätte? Er soll den Stab nicht brechen, er am wenigsten! Und jetzt setze ich mich hin und schreibe Fritz einen vernünftigen Brief. Ich freue mich, dass er lebt und sich in ehrlicher Arbeit so tapfer durchgerungen hat zu einer gesicherten Lebensstellung. In ehrlicher Arbeit – trotz der schmutzigen Wäsche – bravo, Freifrau Grete! Bravo – ich erkenne dich an als ebenbürtig – jawohl, das tue ich – allen Kunos zum Trotz!“
Dann ging er, den Brief Fritz von Lossows in der Hand, in sein Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Mit energischer Gebärde legte er Briefpapier zurecht und begann zu schreiben:
Mein lieber Fritz!
Du bist im Zweifel, ob ich mir deine Grüße gefallen lassen will. Nun, dafür sollst du schnell Klarheit haben. Also, ich freue mich über deinen Gruß, freue mich, dass du lebst und dass das deutsche Blut dich nun endlich wieder heimwärts treibt. Ich freue mich sehr, dass du ein ganzer Kerl geworden bist; freue mich, dass ich da drüben einen Großneffen und eine Großnichte habe, die eine so tüchtige, prächtige Frau zur Mutter hatten, die einen Lossow vor dem Untergang bewahrt hat. Ich habe der Freifrau Grete von Lossow vorhin einen Hochachtungsschluck geweiht – vom edelsten Rebensaft. Es tut mir wahrhaftig Leid, dass ich diese frischfrohe Frau Grete nicht kennen gelernt habe. Es tut mir ferner Leid, dass du nicht schon heute oder morgen hier sein kannst, denn siehst du, mein lieber Fritz, ich bin inzwischen siebzig Jahre alt geworden und kann jeden Tag abgerufen werden. Da weiß ich nicht, ob ich es noch erlebe, dass du mit deinen Kindern nach Deutschland kommst. Bin ich aber noch am Leben, dann müsst ihr in Lemkow meine Gäste sein, das bitte ich mir aus. Und ihr sollt in Lemkow weilen, solange es euch bei dem alten Onkel Heribert gefällt.
Wenn dir nun dein Bruder Kuno mit allerlei kleinlichen Bedenken in die Parade fährt, so mache dir nichts daraus; er ist eben ein bisschen engherzig und sieht die Welt mit anderen Augen an als wir. Lass es dich nicht kümmern – nimm ihn nicht ernst!
Weil ich nun nicht weiß, ob ich deine Rückkehr noch erlebe, deshalb bitte ich dich, schreibe mir etwas ausführlicher über dein Leben und schicke mir möglichst umgehend eure Fotografien. Denn ich möchte den neuen Lossowschen Familienzweig wenigstens im Bild noch kennen lernen. Vergiss auch nicht, ein Bild von der blonden Frau Grete mit beizulegen!
Ich habe deinen Brief eben erst von Kuno erhalten. Er war natürlich vollständig verdaddert. Na, mir ist es auch ein wenig in die alten, steifen. Knochen gefahren, mein lieber Fritz. Nachträglich hat es mich bös herumgerissen, dass du drüben am Verhungern warst, während wir hier bei den bewussten Fleischtöpfen saßen. Warum bist du nur damals so eilig auf und davon gegangen? Hättest du nicht erst nach Lemkow kommen können, als dich Kuno so kurzerhand aus Lossow hinauskomplimentierte? Den Kopf hätte ich dir nicht gleich abgerissen, wenn dir auch ein kräftiges Donnerwetter gewiss war. Als verständiger Mann muss man schon aus Pflichtgefühl einen so leichtsinnigen Springinsfeld ein bisschen abkanzeln. Das habe ich stets getan, wenn ich dich auf dummen Streichen erwischte, wenn mir auch dabei manchmal vor Vergnügen das Herz im Leib gelacht hat. Warst doch Blut von meinem Blut – ich hab’ es immer gespürt, und es ist mir nahe genug gegangen, dass du ohne Abschied auf und davon warst und all die Jahre verschollen bliebst.
Nun, es sollte wohl alles so sein, es ist ja auch zu deinem Glück ausgeschlagen.
Also schicke mir eure Bilder und ausführliche Nachrichten und sieh zu, dass du bald herüberkommst! Und grüße mir die beiden jungen Lossows – Ellinor und Fred – von ihrem alten Großonkel, der schon seit zehn Jahren als Witwer allein auf Lemkow haust und gar zu gern Menschen mit rotem, warmen Blut, die zu ihm gehören, um sich haben möchte. Und lass dir im Geist die Hand drücken, lieber Fritz, von deinem Onkel Heribert.
„So“, sagte der alte Herr zufrieden. Rasch machte er den Brief postfertig. Dann ging er nachdenklich im Zimmer auf und ab.
***
In Brooklyn auf der Insel Long Island, von der eine Riesenbrücke nach New York hinüberführt, besaß Fritz von Lossow eine hübsche, mit allem neuzeitlichen Komfort ausgestattete Villa. Er bewohnte sie schon seit fünf Jahren mit seiner Familie. Seit dem Tod seiner Frau hatte er eine Hausdame engagiert. Sie hieß Mrs. Stemberg, war eine geborene Deutsche, die sich mit einem Amerikaner verheiratet hatte und schon seit Jahren Witwe war.
Im Auto fuhr Fritz von Lossow täglich nach dem Fabrikviertel von New York, wo sich seine Geschäftsgebäude befanden.
Es war einige Zeit nach den eben geschilderten Vorgängen. Auf dem Balkon im ersten Stock der Villa Lossows stand eine junge Dame von etwa zweiundzwanzig Jahren und schaute prüfend zum Himmel empor. Sie trug ein glatt anliegendes Kleid von lichtgrauer Farbe. Ihre Gestalt war mittelgroß, von jugendkräftiger Schlankheit und edlem Ebenmaß. Der Teint war frisch und rein wie Apfelblüten, und die Augen, schöne, klare, tiefblaue Augen, waren von braungoldigen Wimpern umsäumt. Regelmäßig genug, um unbedingt schön zu sein, waren die fein geschnittenen Züge nicht, aber das strahlende Gesicht war mehr als schön, es war lieb und anmutig und vollreizender Munterkeit und Frische.
„Du kannst es glauben, Fredy, wir bekommen heute kein Gewitter“, sagte die junge Dame, ins Zimmer zurückgewendet. „Komm her und schau dir den Himmel an! Wenn die Wolken so klar begrenzt über der See stehen, ist das Wetter beständig.“
Ein schlanker, kräftig gebauter Knabe von fünfzehn Jahren erschien an der Balkontür. Man sah sofort, dass man Geschwister vor sich hatte.
Fred sah ebenfalls prüfend zum Himmel empor. „Well, Ellinor, du hast Recht, es gibt kein Gewitter.“
„Dann will ich gleich zum Vater fahren, es ist höchste Zeit. Kommst du mit? Wir wollen ihn bitten, heute früher Feierabend zu machen.“
„Nein, ich bleibe zu Hause, ich habe noch an meiner lateinischen Übersetzung zu arbeiten. Vater würde es mir verdenken, wenn ich sie im Stich ließe. Wenn du dann mit Vater heimkommst, bin ich auch fertig. Und dann feiern wir, gelt, Ellinor?“
Die junge Dame nickte und legte ihren Arm um des Bruders Schultern. So traten sie ins Zimmer zurück. Dort neckten sie sich noch eine Weile im jugendlichen Übermut, und ihr frohes Lachen scholl durch das Haus.
Mrs. Stemberg trat lächelnd ins Zimmer.
„Oh, gut, dass Sie kommen, Mrs. Stemberg. Ich wollte Sie noch bitten, dafür zu sorgen, dass die Tafel heute besonders festlich gedeckt wird.“
„Soll geschehen, Miss Ellinor, Ich hätte schon von selbst daran gedacht“, antwortete die alte Dame lächelnd.
Ellinor hatte Befehl gegeben, dass das Auto vorfuhr. Man meldete ihr, dass dies geschehen sei.
„Also ich fahre zum Vater, Fredy!“
„Well, Ellinor!“
„Good bye, my boy!“
„Good bye, darling!“
Wenige Minuten später fuhr das Auto mit ihr davon.
Es währte nicht viel länger als eine Viertelstunde, bis der Wagen vor dem hohen Fabrikgebäude hielt. In Riesenlettern stand an der Fassade: „G. Werner & Co.“ Einige kleinere Gebäude trugen dieselbe Aufschrift.
Ellinor sprang aus dem Wagen und betrat die breite Toreinfahrt. Seitlich führte eine Tür von da zum Fahrstuhl. Der Fahrstuhlführer zog die Mütze zum Gruß.
Ellinor dankte freundlich, gleich darauf schwebte der Fahrstuhl empor.
Eine Minute später trat Ellinor in das Privatkontor ihres Vaters. Fritz von Lossow saß am Schreibtisch. Er war ein stattlicher Mann von dreiundfünfzig Jahren und trug elegante, aber sommerlich bequeme Kleider. Sein glatt rasiertes Gesicht mit dem kurz gestutzten Lippenbart hatte gut geschnittene Züge und erinnerte in Form und Ausdruck an Heribert von Lossow. Das Leben hatte seine ehernen Zeichen in dieses kräftig gefärbte, sympathische Antlitz eingegraben, aus dem die grauen Augen hell aufstrahlten, als sie Ellinor erblickten.
„Oh, mein kleiner Kompagnon! Du kommst spät heute. Willst du noch mit mir arbeiten?“
Ellinor trat neben ihn. „Wenn es sein muss, Vater, ja. Aber wenn es nicht sein muss, möchte ich dich entführen. Kannst du heute ein wenig früher Schluss machen?“, fragte sie, ihre Hand zärtlich über seine Stirn gleiten lassend.
„Warum, Ellinor?“, fragte er lächelnd.
Sie tippte mit schelmischen Ausdruck auf den Kalender, der auf seinem Schreibtisch stand. „Was haben wir heute für ein Datum?“
„Den zweiten Juli.“
„All right – und inwiefern ist das ein wichtiger Tag für Fritz Lossow?“
Es zuckte humorvoll um seinen Mund. „Kann mich nicht entsinnen“, sagte er.
Sie lachte. „Nicht flunkern, Vater! Du bist ein zu guter Kaufmann, um einen so wichtigen Tag nicht im Gedächtnis gebucht zu haben. Heute vor dreiundfünfzig Jahren erblickte Fritz Lossow das Licht der Welt – im Herrenhaus von Lossow – drüben in der deutschen Heimat. Sag’s nur ehrlich: Du wolltest dich bloß um die Geburtstagsfeier drücken. Aber das hilft dir nichts. Fredy und ich haben mit Mrs. Stemberg schon alles vorbereitet. Heute Morgen bist du uns entwischt, aber niemand kann seinem Schicksal entgehen. Ich soll dich heimholen. Fredy büffelt noch an seiner lateinischen Übersetzung, sonst wär er mitgekommen, um dich einzufangen.“
Leuchtend hing Fritz Lossows Blick an dem lebensfrohen Gesicht der Tochter. „Wie du heute wieder deiner Mutter gleichst, Ellinor“, sagte er weich.
Sie umfasste ihn herzlich. „Kannst mir nichts Schöneres und Lieberes sagen, Vater“, antwortete sie bewegt.
Er nickte. „Ja, das ist wie eine höchste Auszeichnung, nicht wahr, mein liebes Kind?“
„Ja, Vater. Und wenn ich dir nur ein wenig die Mutter ersetzen kann, dann bin ich sehr, sehr stolz.“
„Du weißt, dass du es kannst, Ellinor. So wie Mutter allzeit an meiner Seite gestanden hat, als treuer Kamerad, so stehst du jetzt neben mir, deiner Mutter Ebenbild. Wenn ich Mutters Verlust leidlich überwunden habe, so danke ich es nur dir. Ich brauche einen Menschen, mit dem ich alles besprechen kann, wie ich es mit Mutter stets getan habe, sonst ist mir, als ginge es nicht mehr voran. Und so jung du bist, du bist wirklich mein kleiner Kompagnon geworden, der mit meinem Schaffen, mit meiner Arbeit so verwachsen ist, wie es einst deine Mutter war.“
Ellinor reckte sich hoch aufatmend. „Vater, ich habe doch nicht Geburtstag heute, dass du mich so reich beschenkst“, sagte sie bewegt.
Er zog sie fest an sich. „Ich muss dir das einmal sagen, mein Kind – und gerade heute. Ich bin in einer rechten Feststimmung heute, und die Arbeit will mir gar nicht schmecken. Du hast es leicht, mich fortzulocken. Aber erst setze dich mal da hinten auf deinen Platz auf Mutters Platz. Ich will noch etwas mit dir besprechen.“
Ellinor legte schnell Hut und Handschuhe ab und setzte sich an den anderen Schreibtisch, der Rücken an Rücken mit dem des Vaters stand. Diesen Platz hatte Fritz Lossows Frau jahrelang innegehabt, wenn sie mit ihrem Gatten gemeinsam arbeitete. Jeden Tag, bis kurz vor ihrem Tod, hatte sie einige Stunden hier gesessen, alles Wichtige mit ihm beraten. Seit ihrem Tod saß nun Ellinor täglich auf ihrem Platz, um den Vater die entstandene Lücke nicht so schmerzlich empfinden zu lassen. Ein selten schönes und herzliches Verhältnis verband Fritz Lossow mit seiner Familie.
„So, Vater, ich bin bereit“, sagte Ellinor, ihn erwartungsvoll ansehend.
Er nahm einen Brief unter dem Briefbeschwerer hervor und reichte ihn ihr mit strahlenden Augen. „Post aus Deutschland, Ellinor!“
Sie sah überrascht in sein Gesicht. „Just zu deinem Geburtstag! Von deinem Bruder?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nicht von ihm, sondern von Onkel Heribert.“
Ellinor holte tief Atem. „Also gute Nachricht – deine Augen sagen es mir.“
„Lies!“, bat er nur.
Ellinor entfaltete schnell den Brief und las. Ein heller Glanz lag auf ihrem Antlitz, als sie fertig war.
„Ach, ein Prachtmensch ist das, dein Onkel Heribert! Siehst du, Vater, du hast umsonst gefürchtet, er würde nichts mehr von dir wissen wollen. Und wie er von Mutter schreibt! Ach, das hätte sie noch erleben sollen! Sie hätte sich so sehr gefreut. Ich dachte es mir ja gleich, dass deine deutschen Verwandten nur stolz auf dich sein konnten“, sagte sie befriedigt.
Er stützte den Kopf in die. Hand und lächelte sonderbar. „Kind, du kennst diese Menschen nicht, wie ich sie kenne. So wie Onkel Heribert sind sie nicht alle. Gib nur Acht, wie ganz anders mein Bruder sich zu mir stellen wird. Das geht schon aus Onkels Heriberts Worten über Kuno hervor. Nun, darauf war ich vorbereitet; überrascht bin ich nur durch Onkel Heriberts Brief. Wie ich mich freue über seine Auffassung, du glaubst es nicht, Ellinor!“
Sie reichte ihm beide Hände hinüber, und er fasste sie mit warmem Griff. Ein weiches, liebes Lächeln verschönte Ellinors Gesicht. „Ich freue mich mit dir, lieber, lieber Vater“, sagte sie innig.
Dann gleich wieder in ihre heitere Munterkeit verfallend, fuhr sie fort: „Dieser prachtvolle alte Großonkel soll meine schönste Fotografie mit einem Extrabrief von mir bekommen. Ich muss ihm sagen, wie gut ich ihm für seine Worte bin. Gelt, das darf ich doch?“
Der Vater nickte. „Gewiss, Ellinor.“
„Und nun, Vater, hast du noch etwas zu erledigen?“
„Nein, heute nicht.“
„Dann können wir gehen, nicht wahr? Den Brief vergiss nicht zu dir zu stecken, für Fredy, der muss ihn auch lesen.“
Fritz Lossow erhob sich und machte sich zum Ausgehen fertig. Auch Ellinor setzte ihr Hütchen wieder auf und streifte die Handschuhe über.
Im Kontor gab Lossow noch einige Anweisungen. Dann fuhr er mit seiner Tochter nach Hause.
Fredy sprang ihnen im Vestibül entgegen und umschlang den Vater. „Endlich kann ich dir zum Geburtstag gratulieren, Vater. Heute Morgen bist du mir echappiert. Das kostet Strafe.“
Der Vater zog ihn lachend an sich. „Wird’s teuer, Fredy?“
„Ja, den ganzen Rest des Tages bist du mir schuldig. Ich habe viel weniger von dir als Ellinor.“
„Ja, ja, mein Junge. Aber das wird anders, wenn wir erst in Deutschland sind. Dann habe ich mehr Zeit für dich. Wie ging es mit der Übersetzung?“
„Famos, Vater.“
„Bist du fertig?“
„Vor zehn Minuten fertig geworden. Nun komm!“
Fritz Lossow wurde an seinen Geburtstagstisch geführt. Seine Kinder hatten ihm allerlei aufgebaut. Mitten unter den Geschenken stand eine große Fotografie von Fritz Lossows Gattin.
„Mutter muss, wie immer, dabei sein“, erklärte Fred.
Fritz Lossow zog seine Kinder an sich. Seine Augen schimmerten feucht.
Als man dann bei einem würdigen Festmahl saß, bekam Fred den Brief Onkel Heriberts zu lesen.
Auch er strahlte. „Ach, wenn wir nur bald nach Deutschland gehen könnten, Vater! Wird es noch lange dauern?“, sagte er lebhaft.
Fritz Lossow seufzte. „Jahr und Tag kann wohl noch vergehen. So schnell lässt sich das mit den Geschäften nicht alles ordnen. Es ist schon alles im Gang, aber es fordert Zeit und Geduld.“
„Mrs. Stemberg macht auch schon ganz sehnsüchtige Augen, Vater“, sagte Ellinor lächelnd.
Fritz nickte der alten Dame freundlich zu. „Ja, ja, Mrs. Stemberg, das deutsche Blut lässt sich nicht verleugnen. Jahrelang glaubt man es gemeistert zu haben, und wenn man sich dann ganz sicher wähnt, kommt es wieder durch. Nur noch ein Weilchen Geduld, dann geht es in die alte Heimat!“
Die alte Dame lächelte. „Bei mir ist es erst wieder zum Durchbruch gekommen, seit Sie es mir in Aussicht stellten, dass ich Sie nach Deutschland begleiten und meine Stelle in Ihrem Haus behalten darf, Mr. Lossow“, sagte sie sichtlich erregt.
„Geben Sie Acht, wir müssen drüben erst wieder lernen, uns einzugewöhnen“, entgegnete Fritz Lossow launig.
Die Kinder wollten nun allerlei von Deutschland hören. Der Vater erzählte, wie so oft, und auch Mrs. Stemberg warf zuweilen ein Wort dazwischen.
Nach Tisch wurden Fotografien von allen vier Familienmitgliedern für Onkel Heribert herausgesucht. Die besten und neuesten Aufnahmen wurden gewählt. Fred schleppte dann noch verschiedene Amateurfotografien herbei, die er selbst aufgenommen hatte und die das tägliche Leben widerspiegelten.
„Ja, die schicken wir auch mit“, entschied Ellinor. „Das ist dann wie eine Illustration zu unseren Briefen.“
So wurde für Onkel Heribert eine umfangreiche Sendung vorbereitet.
***
Botho von Lossow war daheim angekommen. Er war das verjüngte Abbild seines Vaters. Gleich ihm geistig und körperlich von Mutter Natur nicht sonderlich verschwenderisch ausgestattet, war er der Typ eines mäßig begabten, dafür aber sehr hochmütigen und anspruchsvollen Gardeleutnants. Er sprach geziert und pflegte mit einer gräulichen Grimasse das Monokel ins Auge zu klemmen.
Seine eckigen Bewegungen hatten etwas Steifes, Unjugendliches, und seine schlaffen Züge verrieten zur Genüge, dass er sich mehr, als ihm gut war, auszuleben schien.
Mit seinen Eltern verkehrte er in korrektem Höflichkeitston ohne Wärme und Herzlichkeit; über seine Schwester pflegte er wie über etwas Unwichtiges, Unbedeutendes hinwegzusehen.
Sein Vater hatte ihn zunächst mit Vorwürfen empfangen, dass er schon wieder Geld brauche. Kuno von Lossow war überhaupt in gereizter, schlechter Stimmung, und auch die Mutter zeigte sich weniger zugänglich als sonst.
„Was ist hier nur los, Gitta? Ist ja ’ne schauerlich gereizte Atmosphäre in Lossow! Weshalb haben denn die Eltern so gräuliche Laune?“, fragte Botho seine Schwester.
Gitta zuckte die Achseln. Sie war im Reitkleid, denn sie wartete auf das Vorführen ihres Pferdes; sie hatte vom Ausguck an der Parkmauer aus Baron Lindeck auf dem Weg nach Lemkow reiten sehen. Nun hatte sie Eile, ebenfalls nach Lemkow zu kommen.
„Ich weiß es nicht, Botho. Aber mir ist es auch schon seit einigen Tagen aufgefallen, dass die Eltern nervös und gereizt sind. Ich dachte, du wärst schuld.“
„Ich? Na, erlaube mal – wieso denn ich?“
„Gott, ich dachte, du brauchtest wieder einmal zu viel Geld.“
„Unsinn! Daran liegt diese Gewitterstimmung nicht. Hätte ich das geahnt, wäre ich in Berlin geblieben.“
„Ich denke, du bist nur wegen des Gartenfestes in Trassenfelde gekommen?“
„Na ja, in der Hauptsache natürlich deshalb. Aber man will doch wenigstens im Haus seinen Frieden haben. Wohin willst du denn jetzt?“
„Nach Lemkow.“
„Zu dem ollen Meergreis? Hm, wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich mitgekommen.“
Danach trug Gitta aber gar kein Verlangen. „Du kannst ja morgen hinüberreiten.“
Gittas Pferd wurde vorgeführt.
Lässig half Botho der Schwester in den Sattel. „Bestelle eine Empfehlung von mir an den Alten in Lemkow und melde meinen Besuch für morgen an“, sagte er, sein Monokel ins Auge klemmend.
„Soll geschehen, Botho. Adieu!“
„Adieu, Gitta!“
Sie ritt davon, und Botho ging mit missmutigem Gesicht ins Haus zurück.
Am Abend desselben Tages wurden Botho und Gitta in die Geschichte ihres Oheims Fritz von Lossow eingeweiht.
Die Geschwister waren entsetzt über diese amerikanischen Verwandten.
Gitta war ohnedies ärgerlich. Sie hatte Heinz Lindeck zwar in Lemkow getroffen, aber er hatte behauptet, er habe noch in der Stadt zu tun, und war nicht mir ihr nach Hause geritten.
Botho aber war direkt außer sich. Auch er verwahrte sich schaudernd gegen jede Gemeinschaft mit den Kindern der Wäscherin. Nun verstand er die gereizte Stimmung seiner Eltern nur zu gut.
Als er am nächsten Tag in Lemkow weilte, versuchte er Onkel Heribert begreiflich zu machen, dass ein Offizier die Verpflichtung habe, derartigen Elementen aus dem Weg zu gehen.
Der alte Herr ließ ihn ruhig reden: um seinen Mund spielte dabei jedoch ein sarkastisches Lächeln.
Am nächsten Tag fand das Gartenfest in Trassenfelde statt. Botho umwarb die Komtesse Trassenfelde ohne Unterlass. In seinem übertriebenen Selbstbewusstsein merkte er gar nicht, dass die lustige Komtesse ihn aufzog und sich heimlich über ihn amüsierte.
Wenn er sie durch sein Monokel mit Erobererblicken ansah, musste sie sich beherrschen, um ihm nicht ins Gesicht zu lachen.
„Gehen Sie eigentlich nachts mit dem Monokel schlafen, Herr von Lossow?“, fragte sie ihn scheinbar ganz ernsthaft.
Er setzte ihr sachlich auseinander, dass sie dies nicht anginge, und merkte immer noch nicht, dass ihr der Schalk aus den Augen blitzte.
Und dabei dachte er sich: Wenn ich hier Erfolg haben will, muss ich die Sache zur Entscheidung bringen, ehe diese gräuliche Seifensiederfamilie aus Amerika auftaucht. Denn wenn diese Angelegenheit bekannt wird, dann wird sich die Komtesse schönstens bedanken, in die Familie Lossow einzuheiraten. Schauderhaft, ganz schauderhaft!
Die Komtesse erzählte ihm vergnügt, dass sie im Winter mit ihren Eltern nach Berlin gehe und bei Hof vorgestellt würde. „Ich freue mich auf Berlin“, sagte das reizende Komtesschen. „Gelt, in Berlin ist es amüsant?“
„Sehr, gnädigste Komtesse. Hoffentlich darf ich mir erlauben, sozusagen Führerdienste anzubieten?“
Sie lachte. „Fordern Sie Ihr Schicksal nicht heraus, Herr von Lossow! Den Bärenführer spielen das soll nicht sehr angenehm sein.“
„Es wird mir kolossales Vergnügen sein, gnädigste Komtess.“
„Ach, vielleicht wollen Sie mich als Sehenswürdigkeit aus der Provinz an der Leine herumführen?“, neckte sie.
Er fand, dass die Komtesse unangenehm burschikos sei, ging aber lachend auf ihren Scherz ein.
Er hatte keine Ahnung, dass die Komtesse ihr Herz bereits anderwärts vergeben hatte. Er ahnte nicht, dass sie sich über ihn lustig machte und ihn in drolliger, übermütiger Weise karikierte, als sie später mit ihren Eltern allein war.
Botho aber reiste einige Tage später mit dem schönen Bewusstsein ab, „kolossalen Eindruck“ auf Komtesse Trassenfelde gemacht zu haben. Nun hoffte er auf den Winter. Da wollte er schon dafür sorgen, dass er mit dem Komtesschen ins Reine kam.
***
Einige Wochen waren vergangen, seit Kuno von Lossow den Brief seines Bruders erhalten hatte.
Onkel Heribert erhielt eines Tages ein umfangreiches Briefpaket von Amerika. Darin befanden sich außer einem langen, ausführlichen Brief Fritz von Lossows und einem kürzeren von Ellinor die ausgewählten Fotografien.
Lange und aufmerksam betrachtete der alte Herr die Bilder. Da war zunächst eins von Fritz – seine letzte Aufnahme. In diesem reifen, festen Männerantlitz suchte Heribert Lossow vergeblich die Züge des leichtsinnigen jungen Menschen, der vor fünfundzwanzig Jahren die Heimat verlassen hatte. Nur die offenen Augen waren noch dieselben, und die charakteristischen Lossowschen Züge um Mund und Kinn traten jetzt schärfer hervor.
Dann ruhten die Augen des alten Herrn lange auf Frau Gretes hübschem, lebensfrohem Gesicht. Ihre Augen schauten so klar und offen aus dem Bild heraus, dass der alte Herr befriedigt aufatmete.
Ja, das war das kluge, feine Gesicht einer Dame – trotz alledem. Und dieses Gesicht gefiel dem alten Herrn so, dass er ihm lächelnd zunickte.
Als er Gretes Bild zögernd beiseite gelegt hatte, kam das Freds an die Reihe. Onkel Heriberts Augen strahlten auf. Das war ein Lossow, obwohl er auch der Mutter ähnelte! Das lebensvolle, frische Knabengesicht hielt den alten Herrn lange fest. Zuletzt kam Ellinors Bild an die Reihe. Das betrachtete der alte Herr am längsten, nahm es auch nachher immer wieder zur Hand und schaute in die strahlenden Mädchenaugen hinein.
„Wenn die Grete den Fritz mit solchen Augen angeschaut hat, wenn diese Ellinor wirklich das leibhaftige Ebenbild ihrer Mutter ist, dann verstehe ich, dass er sein Herz an sie verloren hat! Das ist ja ein herrliches Geschöpf, diese kleine Ellinor!“, dachte er.
Mit großem Interesse las er dann den ausführlichen Bericht Fritz von Lossows. Dieser schilderte ausführlich sein Schicksal und seine Erlebnisse. Aus jedem Wort klang Liebe und Verehrung für seine Frau, die als treuer Weggenosse sein Leben mit ihm geteilt hatte.
Der einzige Schmerz, den sie mir zufügte, war der, dass sie von mir ging, als wir den Gipfel erklommen hatten. Solange ich sie nötig hatte im Lebenskampf, war sie bei mir. Nun wir die Früchte unseres Fleißes gemeinsam hätten genießen können, hat sie mich verlassen. Ich werde ihren Verlust nie ganz verwinden, obgleich sie mir in unserer Tochter ihr treues Ebenbild hinterlassen hat.
So hieß es in dem Brief.
Heribert von Lossow erhob sich und trat vor das lebensgroße Porträt seiner Frau, das über seinem Schreibtisch hing. Weich und wehmutsvoll hingen seine Blicke an ihren geliebten Zügen.
„Gelt, Ulrike, wenn ein Mann nach zwanzigjähriger Ehe so von seiner Frau spricht, dann ist sie seiner Liebe wert gewesen? Und den Kindern dieser Frau würdest du die Türen von Lemkow gewiss weit offen halten, das weiß ich. Deshalb tue ich’s in deinem Sinn.“
Am Nachmittag dieses Tages fuhr Heribert von Lossow in die Stadt – zu seinem Notar. Dort wurde sein vor Jahren verfasstes Testament vernichtet und ein neues aufgesetzt.
Befriedigt fuhr der alte Herr dann wieder nach Hause.
Kurz nach seiner Heimkehr wurde ihm Baron Lindeck gemeldet. „Nur herein, lieber Heinz, nur herein! Sie kommen mir gerade recht“, rief der alte Herr seinem Besuch entgegen.
Heinz Lindeck fasste die ihm herzlich gebotene Hand. „Komme ich wirklich nicht ungelegen, Herr von Lossow?“, fragte er lächelnd.
„Ungelegen? Na, das erleben Sie nicht bei mir!“
„Ich komme doch etwas sehr oft nach Lemkow.“
„Mir noch nicht oft genug, Heinz, das wissen Sie.“
„Ich komme auch so gern. Es ist mir immer ein Gewinn, mit Ihnen plaudern zu dürfen, mein väterlicher Freund.“
„Na also, dann begegnen sich unsere Wünsche. Sie haben doch ein Stündchen Zeit für mich?“
„Meine Arbeit für heute ist getan. Sie können ganz über mich verfügen“, sagte Baron Lindeck herzlich. Hier in Lemkow gab er sich ganz anders, viel wärmer und herzlicher als drüben in Lossow.
„Famos. Also kommen Sie, setzen Sie sich zu mir! Ich bin heute besonders gut gelaunt und in mitteilsamer Stimmung, da möchte ich Ihnen mancherlei erzählen. Aber erst lassen wir uns eine Flasche vom Besten kommen.“
Er gab einem Diener Befehl, Wein und Gläser und einen Imbiss zu bringen.
Die Herren ließen sich nieder. Als der Diener den Wein gebracht hatte, füllte der alte Herr die Gläser. „So, Heinz, jetzt stoßen Sie mal mit mir darauf an, dass ich heute ein gutes und gerechtes Werk getan habe. Darauf wollen wir das Glas leeren, Prosit!“
Die Gläser klangen hell aneinander.
„Prosit, Herr von Lossow! Und alle Segensfülle soll dieses gute Werk krönen!“
Sie leerten die Gläser bis zum Grund.
Während der alte Herr sie von neuem füllte, sagte er aufatmend: „Das gebe Gott! Haben Sie Dank für dieses gute Wort. Und zur Belohnung will ich Ihnen jetzt mal etwas Hübsches zeigen, mein lieber Heinz. So etwas sehen Sie nicht alle Tage und in Lemkow schon gar nicht.“
Er holte die amerikanischen Fotografien herbei und suchte die Ellinors heraus. Die hielt er Heinz Lindeck hin. „Da! Was sagen Sie zu diesem Bild?“
Der junge Mann nahm die Fotografie in seine schmale, nervige Hand und betrachtete das Bild. Es zeigte Ellinor Lossow in einem schlichten, aber eleganten weißen Tuchkleid. Ganz glatt schmiegte sich der Stoff um die edel geformte Gestalt. Bis zu den Knien war die junge Dame auf der Fotografie sichtbar. Der feine Kopf mit der reichen Haarfülle war dem Beschauer im Halbprofil zugewandt. Um die Mundwinkel spielte ganz leise der Schalk, und die Augen sahen mit sonnigem Ausdruck in die Welt. Dennoch lag in diesen klaren, frohen Augen zugleich ein sehnsüchtiger Schein, der diesem Mädchengesicht einen eigenartigen Ausdruck gab.
Gefesselt ruhten Heinz Lindecks Augen auf dem schönen, lebensfrohen Gesicht Ellinors.
„Nun?“, drängte der alte Herr erwartungsvoll.
Da richtete sich Heinz Lindeck auf, ohne seinen Blick von dem Bild zu lassen. „Ein reizendes Geschöpf! Diese junge Dame möchte ich kennen lernen. Ich glaube nicht, dass diese Fotografie den ganzen Reiz ihrer Persönlichkeit erschöpfend zum Ausdruck bringt.“
Heribert von Lossow strahlte, als habe man ihm etwas sehr Liebes gesagt. „Nicht wahr, ein süßes Geschöpf? So voll Wärme und Leben!“
„Wenn dieses Bild nicht täuscht, allerdings. Darf man wissen, wer die junge Dame ist?“
„Sie sollen es wissen. Aber Sie dürfen vorläufig keiner Menschenseele etwas von diesem Bild verraten. Also – das ist eine Freiin von Lossow.“
„Eine Verwandte von Ihnen?“, forschte Lindeck lebhaft.
„Jawohl. Meine Großnichte Ellinor von Lossow.“
Heinz Lindeck sah erstaunt auf. „Ich wusste nicht, dass Sie außer Fräulein Gitta von Lossow noch eine Großnichte haben.“
Der alte Herr lachte. „Ja, das weiß ich auch erst seit kurzer Zeit.“ Und er erzählte nun, wie es Fritz von Lossow in Amerika ergangen war. Er las Heinz Lindeck verschiedene Stellen aus dessen Brief vor. Dann zeigte er ihm alle Fotografien.
***
Heinz Lindeck betrachtete sie voll Interesse, aber zuletzt nahm er doch wieder Ellinors Bild in die Hand und versenkte sich in den Anblick des reizenden Gesichtchens. Nur zögernd legte er das Bild endlich aus der Hand.
„Da haben Sie sich sicher sehr gefreut, Herr von Lossow“, sagte Lindeck ernst.
Der alte Herr nickte lebhaft. „Ich – ja. Und ehrlich gefreut habe ich mich, nachdem ich den ersten Schreck überwunden hatte. Es war mir zuerst ein schauderhaftes Gefühl, dass ein Lossow so niedrige Arbeit hatte tun müssen, um sich vor dem Verhungern zu schützen.“
„Nun, es war doch ehrliche Arbeit, Herr von Lossow“, sagte Lindeck ernst.
Heribert von Lossow ergriff mit strahlendem Blick Lindecks Hand und drückte sie fest. „Baron, bravo, mein lieber Heinz! Das hat mir wohlgetan – aus Ihrem Mund. Jawohl, ein ehrlicher Kerl ist er geblieben, der Fritz. Und darauf stoßen wir noch einmal an. Aber was ist denn das? Da draußen kommt ja die Gitta angeritten! Noch so spät – die Teestunde ist ja längst vorüber. Donnerwetter noch einmal, die fällt uns jetzt aber ziemlich oft in unsere gemütliche Plauderstunde!“
Heinz Lindeck sah mit zusammengezogener Stirn durchs Fenster und erblickte nun gleichfalls Gitta. Es war ihm längst unangenehm aufgefallen, dass sie fast jedes Mal in Lemkow erschien, wenn er hier weilte.
Schweigend sahen die beiden Herren einander an, dann blickten sie wieder auf die schlanke Reiterin draußen.
Gitta sah zu Pferd sehr vorteilhaft aus. Der schnelle Ritt hatte ihr sonst so farbloses Gesicht gerötet, und ihre Augen leuchteten erwartungsvoll.
Herr von Lossow erhob sich und nahm die Fotografien vom Tisch zusammen, um sie fortzuschließen. Heinz Lindeck hatte noch einen schnellen Blick auf Ellinors Bild getan, und er bedauerte, dass die Fotografie nun verschwand. Aber er sprach es natürlich nicht aus.
Gleich darauf trat Gitta ins Zimmer.
Beim Anblick des Barons heuchelte sie große Überraschung. „Wie seltsam, Herr Baron, dass wir einander so oft in Lemkow begegnen! Guten Tag, liebes, teures Onkelchen! Wie geht es dir, fühlst du dich wohl?“
„Danke, Gitta. Kommst ja noch so spät heute?“, erwiderte der alte Herr.
„Ja, es war so schön kühl und lockte mich zu einem Ritt heraus. Ich soll natürlich von den Eltern herzlich grüßen. Aber, bitte, meine Herren, behalten Sie Platz; ich setze mich ein wenig zu Ihnen und nasche von diesen leckeren Toasts. Ich darf doch, Onkelchen?“
„Natürlich, Gitta. Willst du auch ein Glas Wein mittrinken?“
„Nein, danke sehr.“
Gitta ließ eine Kaviarschnitte zwischen ihren weißen, etwas langen Zähnen verschwinden, ihre Augen wichen jedoch nicht von Lindecks Gesicht. Dem wurde das ungemütlich. Die Lust, länger zu bleiben, verging ihm. Er erhob sich. „Ich will nicht länger stören.“
„Sie stören doch nicht, Heinz. Bleiben Sie nur noch ein Weilchen“, bat der alte Herr.
„Ich komme ein andermal wieder, Herr von Lossow.“
Der alte Herr war verdrießlich. Er merkte sehr wohl, dass Gitta ihm Heinz Lindeck vertrieb. Das hatte er nun schon einige Male beobachtet. Er hätte aber lieber auf Gittas Gesellschaft verzichtet als auf die Lindecks.
„Warten Sie nur noch fünf Minuten, Herr Baron, dann können wir den Heimweg gemeinsam zurücklegen. Ich wollte mich nur nach Onkelchens Befinden erkundigen“, sagte Gitta schnell.
Das eben hatte Lindeck vermeiden wollen. Aber nun konnte er nicht entweichen, ohne unhöflich zu werden, denn er hatte dieses gemeinsame Heimreiten schon mehrmals unter allerlei Vorwänden verhindert. Zwei- oder dreimal hatte es Gitta nun schon durchgesetzt, mit ihm allein durch den Wald zu reiten, und es hatte immer seiner ganzen Klugheit bedurft, sich aus den ihm gestellten Schlingen zu lösen.
Heinz Lindeck war nicht eingebildet, aber das musste er doch merken, dass Gitta sich auffällig um ihn bemühte. Und das war ihm außerordentlich unangenehm.
Heribert von Lossow beobachtete unter seinen buschigen Brauen hervor die beiden jungen Leute. Auch ihm war es schon aufgefallen, dass Gitta immer auftauchte, sobald Heinz Lindeck bei ihm war. Aber er konnte sich nicht erklären, wie das zusammenhing. Er ahnte natürlich nicht, dass Gitta oft stundenlang im Lossower Park auf dem Ausguck auf der Lauer lag, bis der Baron vorüberkam. Aber dass sich Gitta bemühte, Eindruck auf den Baron zu machen, bemerkte der alte Herr sehr wohl.
Als nach kurzer Zeit die beiden jungen Leute aufbrachen, sah ihnen Herr von Lossow nach.
Da wird die Gitta wohl kein Glück haben. Der Heinz hat nichts, aber auch gar nichts für sie übrig, dachte er.
Heinz Lindeck und Gitta ritten zunächst schweigend nebeneinander her. Erst als sie den Wald erreichten und die Pferde auf dem weichen Waldboden lautlos nebeneinander dahinliefen, sagte Gitta mit einem schelmischen Aufblick in das ernste Gesicht des Barons: „Unsere Seelen müssen in einem geheimen Rapport stehen, Herr Baron.“
Heinz Lindeck schrak empor. Er hatte sich im Geist in den Anblick von Ellinor Lossows Bild versenkt. Das Gesicht der jungen Amerikanerin hielt ihn wie in einem Bann. Darüber hatte er Gittas Gegenwart ganz vergessen.
„Wie meinen Sie das, gnädiges Fräulein?“, fragte er höflich.
Gitta lachte. „Haben Sie noch nicht bemerkt, dass wir fast immer zu gleicher Zeit in Lemkow sind?“
„Das ist doch wohl nur Zufall.“
„Zufall? Ach, welche triviale Auslegung! Wenn es nun nicht Zufall wäre?“
Der Baron wandte ihr sein scharf geschnittenes Gesicht zu und sah sie mit ruhigen, ernsten Augen an. „Was sollte es sonst sein als Zufall?“, fragte er.
Sie errötete, schlug wie spielend mit der Reitgerte in die Zweige und sah dann neckisch zu ihm auf. „Nun, ich meine eben – eine Seelenverbindung zwischen uns.“
Er reckte sich wie abwehrend auf. „Das ist bei zwei Menschen, die sich so wenig kennen, die sich im Grunde innerlich so fern stehen wie wir, wohl ausgeschlossen, mein gnädiges Fräulein“, sagte er in sehr entschiedenem Ton.
Gitta biss sich auf die Lippen. Aber trotz seiner deutlichen Abwehr wollte sie noch nicht begreifen, dass ihre Sache aussichtslos sei. „Oh, ich hoffe doch, dass wir uns sympathisch sind, Herr Baron. Das heißt, von mir weiß ich das natürlich bestimmt. Sie sind mir sehr sympathisch, sind es immer gewesen, solange ich denken kann.“
Heinz Lindeck war das Benehmen der jungen Dame überhaupt peinlich. Er empfand es fast als aufdringlich und konnte doch als Kavalier nichts tun, um sie energisch zurückzuweisen.
„Sie sind sehr liebenswürdig, mir das zu sagen, mein gnädiges Fräulein. Wie geht es übrigens Ihrem Herrn Bruder? Haben Sie kürzlich von ihm gehört?“
So lenkte Baron von Lindeck das Gespräch gewaltsam in andere Bahnen.
Gitta gab bereitwillig Auskunft. Obwohl sie merkte, dass der Baron ablenken wollte, gab sie ihre Sache noch nicht verloren. Sie wusste, dass es nicht leicht war, einen Mann wie Heinz einzufangen. Aber gerade weil es schwer schien, reizte es sie, und sie beharrte eigensinnig darauf, ihn für sich zu gewinnen.
Wenn ich ihm eine große Mitgift als Lockmittel vorhalten könnte, dann würde er wohl schnell zugreifen. Aber ich hoffe, ihn dennoch zu besiegen. Rom ist auch nicht in einem Tag erbaut worden, dachte sie, sich zur Geduld zwingend, und ging auf ein harmloses Thema ein.
So erreichten sie plaudernd die Lossower Parkgrenze. Heinz Lindeck atmete heimlich auf, als er sich hier von Gitta trennen konnte.
Das ist ja unerträglich, dachte er ärgerlich, als er allein war. Und er beschloss, in Zukunft auf einem Umweg nach Lemkow zu reiten, um nicht an Lossow vorüber zu müssen.
***
Kuno von Lossow hatte den Brief seines Bruders noch nicht beantwortet. Er war noch nicht im Klaren mit sich selbst, was er in dieser Angelegenheit tun oder lassen sollte.
Seine Frau hatte ihm geraten, diesen Brief überhaupt nicht zu beantworten. Aber diesmal war Kuno klüger als seine Frau.
„Wenn ich Fritz gar nicht antworte, wird er natürlich herkommen, wenn man ihn nicht daran hindert. Deshalb möchte ich so an ihn schreiben, dass ihm die Lust vergeht, hierher zurückzukehren. Ich werde an sein Ehrgefühl appellieren und ihm begreiflich machen, dass er samt seinen Kindern hier eine sehr zweifelhafte Rolle spielen wird. Aber diplomatisch muss ich dabei vorgehen, meine liebe Helene, und das erfordert reifliche Überlegung.“
Seine Gattin musste ihm Recht geben.
Die Abfassung eines solchen diplomatischen Briefs war aber für Kuno keine leichte Arbeit, darum schob er sie immer wieder hinaus. So war der Sommer vergangen, und der Winter zog ins Land. Da begann plötzlich Heribert von Lossow zu kränkeln.
Der alte Herr fühlte sich gar nicht wohl und merkte, dass seine Kräfte schnell abnahmen.
Mit den Amerikanern war er im regesten Briefwechsel geblieben, ohne dass die Lossower etwas davon ahnten. Vor allen Dingen hatte sich der alte Herr ausgebeten, dass Fred und Ellinor Lossow ihm oft schrieben. Und er freute sich immer sehr über die ungezwungenen, herzlichen Worte der Geschwister. Sie gaben sich offen und rückhaltlos; ihre Art war weit entfernt von der süßen, schmeichlerischen Liebenswürdigkeit Bothos und Gittas, aus der kein warmer Strahl hervorleuchtete.
Fritz von Lossow hielt Onkel Heribert auf dem Laufenden über die Abwicklung seiner Geschäfte. Die Angelegenheit verzögerte sich aber doch länger, als der alte Herr gehofft hatte. Mit wehmütiger Resignation dachte er, dass er die Heimkehr seines Neffen Fritz wohl nicht mehr erleben würde.
Kuno und Helene suchten den alten Herrn immer wieder gegen die „Amerikaner“ aufzuwiegeln, aber er quittierte darüber stets mit einem sarkastischen Lächeln. Er wusste sehr wohl, dass es den Lossowern hauptsächlich um sein Erbe zu tun war.
Sie sollen sich wundern, dachte er jedes Mal grimmig, wenn Kuno in liebloser Weise über seinen Bruder zu Gericht saß.
Seit Heribert von Lossow sich so schwach fühlte, kam Heinz Lindeck noch öfter als sonst nach Lemkow. Er saß oft lange am Lager des alten Herrn, das dieser nicht mehr verlassen konnte. Jetzt kam Gitta nicht mehr jedes Mal hinter ihm her, weil der Baron stets einen Umweg nahm, um ihr zu entgehen.
Sobald die Lossower auftauchten, verschwand der Baron jedes Mal unter irgendeinem Vorwand.
Kuno und seine Frau beobachteten mit unruhigen Augen die zunehmende Schwäche Onkel Heriberts. Ihr ganzes Sinnen und Denken galt jetzt dem Wunsch, dass er sterben möge. Dann glaubten sie gewonnenes Spiel zu haben. Noch war ja Fritz Lossow nicht im Land, noch drohte ihnen durch ihn keine Gefahr.
Der Winter verging, ohne dass Heribert von Lossow wieder zu Kräften gekommen wäre. Als die Vorboten des Frühlings, die ersten lauen Winde, über die Felder wehten und die Sonne den Schnee wegküsste, fand man eines Morgens den alten Herrn tot in seinem Bett. Ganz still war er in der Nacht verschieden.
Die Lossower vernahmen die Trauerkunde mit heimlicher Befriedigung. In fliegender Eile begaben sie sich nach Lemkow, nachdem Kuno von Lossow ein Telegramm an Botho gesandt hatte, das ihn nach Hause rief.
Der alte Diener Heribert von Lossows hatte sofort nach der Stadt an den Notar des alten Herrn telefoniert. Als die Lossower in Lemkow eintrafen, fanden sie den Notar Dr. Holm bereits anwesend.
Zu ihrem Erstaunen zeigte ihnen Dr. Holm eine Vollmacht, die ihn beauftragte, in Lemkow bis nach Eröffnung des Testaments die Oberaufsicht zu führen.
Natürlich wurde er mit Fragen bestürmt, wann das Testament gemacht worden sei und wann es eröffnet werden solle. Auf die erste Frage blieb der Notar die Antwort schuldig; die zweite beantwortete er dahin, dass das Testament eine Stunde nach dem Begräbnis Herrn von Lossows eröffnet werden würde.
Die wenigen Tage bis zur Beerdigung vergingen schnell. Botho war von Berlin gekommen, um dem Großonkel die letzte Ehre zu erweisen. Er war fieberhaft erregt, hoffte er doch, dass nun bessere Zeiten für ihn kommen würden.
Kuno hatte es nicht für nötig gefunden, seinem Bruder Fritz das Ableben Onkel Heriberts zu melden. Nun da er tot war, würde die Angelegenheit mit dem Bruder ohnehin in ein anderes Fahrwasser kommen. Kuno war froh, dass er den „diplomatischen Brief“ an Fritz noch nicht abgeschickt hatte.
Endlich war das Begräbnis vorbei. Das Trauergefolge kehrte in das alte Herrenhaus zurück.
Frau Helene machte, von Gitta wirksam unterstützt, mit stolzer Würde die Honneurs. Gitta sah in der eleganten Trauerrobe sehr gut aus.
Schweigend versammelte sich das Trauergefolge nebst der Dienerschaft von Lemkow im großen Festsaal des Hauses, wo in langen Reihen Stühle aufgestellt waren. Diesen Stuhlreihen gegenüber war für den Notar ein kleiner Tisch aufgestellt.
Als alle Platz genommen hatten und der Notar mit seiner Aktenmappe an den Tisch trat, herrschte atemlose Stille. Baron Lindeck lehnte abseits in einer Fensternische und sah mit ernsten Augen auf die blassen, angespannten Gesichter. Wehmütig dachte er daran, dass er heute vielleicht zum letzten Mal in diesen Räumen weilen würde, wo er stets ein warmes, treues Freundesherz gefunden hatte. Er sah gleichsam mit den Augen seines alten Freundes über die Versammlung hin, und unwillkürlich spielte auch um seine Lippen ein sarkastisches Lächeln.
Frau Helene saß hochaufgerichtet neben ihrem Gatten, der unzählige Male über seinen Scheitel tastete. Botho klemmte das Monokel krampfhaft ins Auge, und Gitta kokettierte selbst in dieser Stunde mit dem Baron.
Nun begann der Notar mit den üblichen Formalitäten. Das Testament wurde von den Siegeln befreit, und Dr. Holm begann vorzulesen.
Unter anderem hieß es in diesem Testament: „Schon vor Jahren hatte ich ein Testament gemacht. Damals wusste ich noch nicht bestimmt, ob mein Neffe, Fritz von Lossow, noch am Leben sei. Heute weiß ich, dass es der Fall ist; darum habe ich das frühere Testament vernichtet und ein neues errichtet.
In diesem rechtsgültigen Testament bestimme ich folgendes: Meine Besitzung Lemkow mit allem Grundbesitz, allen Gebäuden und allem lebenden und toten Inventar vermachte ich ohne jede Einschränkung …“
Hier machte der Notar eine kleine Pause und sah in Kuno von Lossows fieberhaft gespanntes Gesicht.
„… vermache ich ohne jede Einschränkung meinem Neffen, dem Freiherrn Karl Heinrich Fritz von Lossow, der in New York lebt und dessen Adresse meinem Notar bekannt ist. Er ist sofort nach der Testamentseröffnung durch meinen Notar von meinem Letzten Willen zu unterrichten. Fritz von Lossow ist also unumschränkter Herr auf Lemkow. Falls er inzwischen gestorben sein sollte, treten seine beiden Kinder, Fred und Ellinor von Lossow, in seine Rechte ein.“
Es ging wie ein Rauschen durch den Saal. Niemand wagte es, nach diesen Worten Kuno von Lossow und seine Familie anzusehen. Die saßen mit blassen, verzerrten Gesichtern, wie zu Stein erstarrt, und blickten stier vor sich hin.
Dr. Holm fuhr fort: „Ich habe Fritz von Lossow deshalb vor seinem Bruder Kuno bevorzugt, weil Kuno als Erstgeborener seines Vaters bereits das Majorat Lossow geerbt hat, während Fritz als zweiter Sohn leer ausging. Mein Gerechtigkeitsgefühl und meine eigenen Erfahrungen haben mich zu dieser Bestimmung veranlasst. Ich wollte damit einen Ausgleich schaffen. Die einzige Bedingung, die ich Fritz von Lossow stelle, ist, dass er meine Beamten und Diener, die ich als treu, ehrlich und zuverlässig erprobt habe, in seinen Diensten behält. Es soll keiner meiner Angestellten durch diesen Besitzwechsel brotlos werden.
Mein Reitpferd ‚Satir‘ und meinen Brillantring vermache ich zum Andenken meinem jungen Freund Baron Heinz von Lindeck. Der Ring hat ihm immer gut gefallen, und mein treues Reitpferd weiß ich bei ihm in den besten Händen. Er soll beides mit einem letzten Gruß und herzlichen Dank für seine uneigennützige Freundschaft entgegennehmen und mich nicht vergessen.
Mein Barvermögen in der Höhe von dreimalhunderttausend Mark, das, unabhängig von Lemkow, in sicheren Staatspapieren bei der Deutschen Bank, Berlin, deponiert ist, soll folgendermaßen verteilt werden:
Fünfzigtausend Mark erhält jede meiner Großnichten, Brigitta und Ellinor von Lossow, zur Aussteuer von mir. Am Tag ihrer Hochzeit soll ihnen das Kapital ausgezahlt werden. Bis dahin erhalten sie nur die Zinsen zur freien Verfügung. Haben sie sich bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag noch nicht vermählt, so erhalten sie das Kapital an diesem Tag. Ferner erhalten meine beiden Großneffen, Botho und Fred von Lossow, je fünfzigtausend Mark unter denselben Bedingungen.
Fünfzigtausend Mark vermache ich außerdem meinem Neffen Kuno von Lossow, unter der Bedingung, dass dieser Betrag angelegt wird für wirtschaftliche Verbesserungen des Majorats Lossow.
Weitere fünfzigtausend Mark sind als Legate an meine unten verzeichneten Beamten und Diener zu verteilen.
Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen und im Bestreben, möglichst gerecht zu sein, diese Bestimmungen getroffen. Mein Neffe Fritz von Lossow hat die Absicht, nach Deutschland zurückzukehren und sich in seiner Heimat anzukaufen, um seine Tage als deutscher Edelmann zu beschließen. Er wird nun des Suchens nach einer neuen Heimat enthoben; Lemkow soll ihm diese Heimat sein, und ich hoffe, er wird sich mit seiner Familie hier wohl fühlen.“
Darauf folgten noch allerlei nebensächliche Bestimmungen wie auch die Namen der Angestellten, die ein Legat erhalten sollten.
Endlich hatte Dr. Holm den Schluss verlesen.
Totenstille folgte seinen Worten. Der Notar ließ seinen Blick ernst und ruhig über die Versammlung schweifen.
Die Angestellten sahen ergriffen aus, weil ihr verstorbener Herr noch über das Grab hinaus ihr Wohl bedacht hatte. Heinz Lindecks Gesicht zeigte ebenfalls tiefe Ergriffenheit.
Nur vier Menschen weilten in dem weiten Raum, die bitteren Groll im Herzen gegen Heribert von Lossow trugen, das war Kuno von Lossow nebst Frau und Kindern.
Kuno von Lossow sah aschfahl aus und strich immer wieder mit zitternder Hand über seinen Scheitel. Frau Helene saß mit verkniffenem Mund neben ihm. Botho war aus allen Himmeln gestürzt. In seinem Antlitz malte sich eine grenzenlose Verblüffung. Er konnte es nicht fassen, dass die „Amerikaner“ das reiche Erbe schluckten und dass er und seine Angehörigen mit einem „Bettel“ abgefunden wurden. Gitta war ebenfalls bitter enttäuscht. Mit unsicheren Blicken sah sie zu Baron Lindeck hinüber. Er beachtete sie gar nicht. Natürlich, bei einer so kleinen Summe, wie sie ihr zufiel, lohnte es sich nicht für ihn, sich um sie zu bewerben.
Wie ganz anders wäre alles gewesen, wenn ihr Vater Lemkow geerbt hätte! Das war, wie sie aus gelegentlichen Äußerungen ihres Vaters wusste, über eine Million wert! Wahrlich, es tat ihr Leid, sehr Leid, dass sie fast jeden Tag nach Lemkow gegangen war, um Onkel Heribert liebevoll zu umsorgen. Hätte sie eine Ahnung gehabt, wie er testieren würde, dann wäre sie ganz anders zu ihm gewesen. Onkel Heribert war ein ganz boshafter, niederträchtiger Mensch, der sie alle an der Nase herumgeführt hatte …
Die Trauerversammlung löste sich auf. Die benachbarten Gutsbesitzer und einige Offiziere aus der benachbarten Garnison, die dem Verstorbenen, in dessen Haus sie oft Gastfreundschaft genossen, die letzte Ehre gegeben hatten, fuhren heim. Auch Heinz von Lindeck entfernte sich. Niemand wusste so recht, wie er sich gegen die enttäuschten Lossower verhalten sollte. Und alle fühlten das Verlangen, sich über dieses Testament und über den Haupterben, der überraschenderweise wieder auftauchen sollte, zu unterhalten.
Zuletzt fuhren auch die Lossower nach Hause zurück. Nur Dr. Holm blieb in Lemkow, da er als Sachwalter noch allerlei zu regeln hatte.
Mit langen, blassen Gesichtern saßen sich die Lossower im Wagen gegenüber. Kein Wort wurde gesprochen. Erst daheim in seinen vier Pfählen tobte sich Kuno so aus. Der sonst gemessene Mann warf sich auf den Diwan und hämmerte mit den Fäusten darauf herum, als habe er jemand vor sich, der daran schuld war, dass er durch dieses Testament so furchtbar enttäuscht wurde. Das Schlimmste, was er je befürchtet hatte, war gewesen, dass er sich mit Fritz in die Erbschaft würde teilen müssen. Und nun war Fritz der Haupterbe, während er mit einer „Bagatelle“ abgefunden wurde.
Ein brennender Hass gegen den Bruder stieg in ihm auf und ein ohnmächtiger Groll auf den „schwachsinnigen Alten“, der so unverantwortlich testiert hatte.
Während er noch so dalag, unfähig, sich zu beherrschen, eine Beute wütender Verzweiflung, rauschte seine Gattin ins Zimmer. Auch sie hatte sich mit einem Wutanfall in ihren vier Pfählen Luft gemacht und war nun wenigstens fähig, wieder zu sprechen.
„Dein Oheim ist einfach unzurechnungsfähig gewesen, das habe ich schon immer gesagt. Du musst dieses sinnlose Testament anfechten, Kuno“, sagte sie, zitternd vor Entrüstung.
Kuno sprang auf und stierte sie an. „Es ist nichts zu machen nichts! Ich habe den Notar schon gefragt. Das Testament ist unanfechtbar. Oh, dieser erbärmliche Lump drüben in Amerika! Eine Sünde und Schande ist es, dass ihn der schwachsinnige Alte so bevorzugt hat.“
Frau Helene riss an ihrem Taschentuch. „Und nun setzt sich dieser verkommene Mensch hier in unserer nächsten Nähe fest. Es ist, um den Verstand zu verlieren“, sagte sie außer sich …
Tagelang ging man in Lossow mit finsteren Gesichtern umher. Wenn man zusammen sprach, so waren es Verwünschungen gegen die Amerikaner. Besonders Botho konnte sich darin gar nicht genug tun. Dazu kam auch noch in diesen Tagen eine Verlobungsanzeige der Komtesse Trassenfelde, die sich in Berlin mit einem Kameraden Bothos verlobt hatte.
Botho war wieder um eine Hoffnung ärmer.
Aber seitdem diese Verlobungsanzeige eingetroffen war, zeigte sich plötzlich eine merkwürdige Veränderung in Bothos Wesen.
Er tobte nicht mehr gegen die Amerikaner. Wenn seine Angehörigen ihren Herzen Luft machten, war er still und in sich gekehrt.
Eines Tages bei Tisch kam es dann heraus, was seine Sinnesart beeinflusst hatte.
Als seine Eltern und Gitta wieder grollende Reden hervorstießen, sagte er plötzlich in seiner affektierten Redeweise:
„Nun ja, ’s ist ja scheußlich, ganz scheußlich, dass der alte Herr so blöd testiert hat. Ekelhafte Geschichte, wahrhaftig, ist mir auch auf die Nerven gefallen. Aber da hilft nun mal alle Empörung nichts. Papa hat ja gehört, dass das Testament nicht anzufechten ist. Da möchte ich nun zu bedenken geben, dass unsere Lage nicht gebessert wird, wenn wir uns dem neuen Besitzer von Lemkow feindlich gegenüberstellen. Das gibt nur böses Blut in der Nachbarschaft, denn leider Gottes ist die Chose schon überall bekannt. Dein amerikanischer Bruder, lieber Papa, ist eben nicht aus der Welt zu schaffen. Nee, nee, Papa, bitte, lass mich mal erst ausreden, ich bin gerade so hübsch im Zug! Ja – hm – also mit kaltem Blut: Ich will euch mal ’nen Vorschlag machen, der meines Erachtens nicht übel ist. Also, ich hatte da Absichten auf Komtesse Trassenfelde. Aber die hat sich nun überraschenderweise mit einem Kameraden verlobt. Ist also Essig. Na, und glänzende Partien sind verdammt selten. Da denke ich so, Papa: Dein Bruder hat doch eine Tochter. Diese Ellinor ist im heiratsfähigen Alter. Um alle Misshelligkeiten aus der Welt zu schaffen, werde ich mich an die Kleine heranmachen. Ein Scheusal wird sie wohl gerade nicht sein.“
Botho schwieg erschöpft nach dieser langen Rede. Seine Angehörigen starrten ihn an, als habe er botokudisch gesprochen. Seine Mutter fasste sich zuerst. „Unmöglich, Botho! Die Tochter einer Wäscherin und der Majoratserbe von Lossow – das geht doch nicht!“, rief sie entsetzt.
Botho klemmte das Monokel ins Auge. „Ja, wenn du eine andere Lösung weißt, Mama! Ich bin natürlich auch nicht sehr entzückt von der Aussicht auf eine solche Verbindung. Aber immerhin, diese Ellinor ist eine brillante Partie. Man braucht es ja nicht an die große Glocke zu hängen, dass ihre Mutter – hm – na – lassen wir das. Dein Bruder hat drüben große Fabriken besessen – fertig! Überlegt euch das mal!“
So schnell allerdings konnten sich Bothos Angehörige mit diesem Gedanken nicht vertraut machen. Kuno kämpfte mit seinem Groll und Frau Helene mit ihrem Stolz. Gitta rümpfte verächtlich die Nase. Diese Ellinor war ihr verhasst, noch ehe sie sie kannte.
***
Ellinor Lossow saß ihrem Vater in seinem Privatkontor gegenüber, als ein Kontordiener die Post hereinbrachte.
Fritz von Lossow sah sie flüchtig durch und besprach dabei einiges mit seiner Tochter.
Dann stutze er plötzlich. „Ein Schreiben aus Deutschland – mit amtlichen Siegeln – aus Lemkow – und nicht von Onkel Heriberts Hand“, sagte er hastig und öffnete schnell das Kuvert.
Ellinor sah ihn unruhig an.
Zunächst entnahm er dem Kuvert einen Brief. Er war von Dr. Holm und lautete:
Sehr geehrter Herr!
Am 23. März, morgens um vier Uhr, ist der Freiherr Heribert von Lossow auf Lemkow verschieden und heute, am 26. März, beigesetzt worden. Als Sachwalter und Testamentsvollstrecker des Verblichenen habe ich den Auftrag, Sie sofort nach der Beerdigung hiervon zu benachrichtigen. Ferner bin ich beauftragt, Ihnen ein seit Wochen bei mir deponiertes Schreiben und eine genaue Abschrift des Testaments des Verstorbenen zu übermitteln, was ich hiermit tue. Ich bitte ergebenst, die Schriftstücke durchzusehen und mir umgehend mitzuteilen, wann ich Sie oder einen Bevollmächtigten in Lemkow erwarten darf. Ihre Anwesenheit oder die eines Bevollmächtigten ist dringend erforderlich.
Ich empfehle mich Ihnen ergebenst
Dr. Holm, Notar
Fritz Lossow ließ wie gelähmt die Hand mit dem Brief herabsinken und sah Ellinor an.
„Schlechte Nachrichten, Vater?“, fragte sie besorgt.
Er fuhr sich über die Stirn und sagte mit zitternder Stimme: „Onkel Heribert ist tot, Ellinor.“
Sie sprang erschrocken auf und trat zu ihm. „Ach, wie Leid mir das tut, wie furchtbar Leid! Armer Vater! Ein kaum zurückgewonnener Freund ging dir verloren. Wie traurig ist das. Er scheint es vorausgeahnt zu haben, denn in seinen letzten Briefen sprach er von seinem baldigen Tod. Aber wer teilt dir das mit? Dein Bruder? Sendet er dir endlich ein Lebenszeichen?“
„Nein, Kind, er hüllt sich auch jetzt noch in Schweigen. Der Brief ist vom Notar Onkel Heriberts. Aber lass sehen – er schreibt von einem beigelegten Brief Onkel Heriberts. Ah, hier ist er! Komm, wir wollen zusammen lesen, was er uns – das letzte Mal – zu sagen hat.“
Fritz von Lossow öffnete den versiegelten Brief, den er aus dem großen Kuvert nahm. Eng aneinander geschmiegt lasen sie das Schreiben.
Mein lieber Fritz!
Wenn du diesen Brief erhältst, bin ich abgerufen worden, ehe ich dich und die deinen in Lemkow willkommen heißen konnte. Ich fühle, es geht bald zu Ende mit mir – in Bereitschaft sein ist alles. Ich will nicht von hinnen gehen, ohne dir zu sagen, dass meine letzten Lebenstage verschönt wurden durch die Freude an dir und deinen Kindern. Ich hätte sehr gern eure Ankunft noch abgewartet, aber wenn es mir nicht beschieden sein soll, dann muss es auch so gut sein.
Ich will dir aber jedenfalls sagen, dass du mit deinen Kindern in Zukunft eine Heimat in Lemkow haben wirst. Ich hoffe, in Lemkow wird ein neuer, kräftiger und lebenswarmer Lossowscher Stamm von edler, guter Art erblühen.
Du wirst erstaunt sein, warum ich so testiert habe, wie ich’s tat. Es war mir Bedürfnis, Fritz, ich musste es tun. Wenn dir nun dein Bruder Kuno noch ein wenig mehr grollt als zuvor, so lass dich das nicht anfechten. Er ist eben ein anderer Mensch, als du und ich es sind. Du bist Art von meiner Art, das fühle ich. Dir und deinen Kindern gehört meine Liebe und Sympathie. Du wirst in Lemkow schalten und walten in meinem Sinn, das weiß ich. Lemkow ist durch mein liebes, unvergessliches Weib an mich gekommen; ich will, dass ehrliche, warme Herzen in den Räumen schlagen, in denen meine Ulrike von ihrer Geburt an bis zu ihrem Tod gelebt hat. Deshalb nimm aus meinen Händen, was ich dir und deinen Kindern mit Freuden biete.
Und nun lebt wohl! Lasst euch im Geist umarmen und ans Herz drücken. Und Gottes Segen sei mit euch!
Dein Onkel Heribert von Lossow
Vater und Tochter sahen sich mit großen, ernsten Augen an.
„Was ist das? Was soll das heißen? Lemkow uns eine Heimat? Ich Herr in Lemkow? Das verstehe ich nicht“, sagte Fritz Lossow betroffen.
„So lies das Testament, Vater! Ich glaube, dass wir durchaus alles erfahren werden“, drängte Ellinor. Sie lasen nun miteinander auch das Testament. Als sie zu Ende waren, atmeten sie tief und blickten sich mit feuchten Augen an.
„Ach, Vater, lieber Vater, so lieb sind wir Onkel Heribert gewesen! Wie mich das freut! Nicht des Besitzes wegen, nicht um Geld und Geldeswert! Aber dass er uns so hochhielt, dass dieser liebe, prächtige alte Herr dir ein so großes Zeichen seiner Liebe, seines Vertrauens gab! Ach, Vater, das freut mich unsagbar“, sagte Ellinor in verhaltener Erregung.
Fritz von Lossow strich sich fassungslos über die heiße Stirn. „Ich Onkel Heriberts Erbe! Ich Herr auf Lemkow! Herrgott im Himmel, das ist wie ein Traum! Fritz Lossow, der Verfemte, Verstoßene – Fritz Lossow, der die Heimat als Bettler verließ – jetzt soll er heimkehren, hoch geehrt durch eines großherzigen Mannes Vertrauen!“
Tief erschüttert stützte er den Kopf in die Hand, um nicht sehen zu lassen, dass Tränen in seinen Augen standen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich wieder aufrichtete.
„Was aber sollen wir nun tun, Ellinor? Der Notar schreibt, ich soll in dieser Erbschaftsangelegenheit nach Deutschland kommen oder einen Bevollmächtigten schicken. Ich kann aber jetzt unter keinen Umständen hier abkommen, es steht zu viel für mich auf dem Spiel. Und wen sollte ich als Bevollmächtigten schicken? Zu wem könnte ich so großes Vertrauen haben? Ich weiß keinen Menschen.“
Ellinor sah ihren Vater nachdenklich an. Dann richtete sie sich plötzlich straff auf, und ihre Augen leuchteten entschlossen. „Ich wüsste einen, Vater. Jemanden, dem du vertrauen kannst, wie dir selbst.“
„Wen, mein Kind?“
„Deinen kleinen Kompagnon.“
Er blickte sie betroffen an. „Dich, Ellinor?“
„Ja, Vater, mich sollst du schicken!“
„Aber Kind, das geht doch nicht!“
„Warum nicht? Habe ich dich nicht schon in vielen wichtigen Dingen vertreten – und zu deiner Zufriedenheit vertreten?“
„Ja, hier! Aber drüben in Deutschland, das ist etwas anderes. Man würde staunen, wollte ich meine junge Tochter mit solchen Vollmachten ausgerüstet senden.“
„So lass sie staunen, Vater! Sie werden sich das bald abgewöhnen, wenn ich meinen Mann stehe.“
Er lächelte. „Kleiner, tapferer Kompagnon!“
„Also du schickst mich, Vater?“
Fritz Lossow schwankte.
Er sah im Geist die erstaunten Gesichter, wenn Ellinor als seine Vertreterin in Lemkow erschien. Sein Bruder würde gewiss die Nase rümpfen – er sah sein hochmütiges Gesicht im Geist vor sich. Und das rief plötzlich den Trotz in Fritz Lossow wach. Mochte es drum sein!
„Wenn ich dir wenigstens Mrs. Stemberg als Anstandsdame mitgeben könnte“, sagte er zögernd.
Ellinor schüttelte den Kopf. „Nein, Mrs. Stemberg muss hier bleiben. Sonst habt ihr, du und Fred, keine Ordnung. Es ist auch noch so viel vorzubereiten für unsere Übersiedlung. Nein, Vater, daran ist nicht zu denken. Aber zu deiner Beruhigung will ich dir einen anderen Vorschlag machen. Ich werde Nelly mitnehmen.“
Fritz Lossow überlegte. Die alte Nelly stand seit vielen Jahren im Dienst seiner Familie. Sie hatte schon in Grete Werners Waschanstalt Dienst getan und war dann als Kindermädchen beschäftigt worden. In allen Wechselfällen war sie der Familie treu ergeben geblieben; man konnte sich einfach nicht denken, dass Nelly einmal nicht da war, wenn sie gebraucht wurde. Nelly war Irländerin, nicht allzu klug und von auffallender Hässlichkeit, aber treu wie Gold. Schließlich war sie auch zur Not als eine Art Anstandsdame zu gebrauchen.
Nelly als Anstandsdame der Freiin von Lossow in Lemkow! Fritz Lossow musste lachen. „Mit Nelly würdest du dein Kreuz haben, Ellinor. Sie braucht ja viel eher einen Schutz als du.“
Nun lachte Ellinor auch. „Ich schütze mich schon selbst, Vater. Um Nelly brauchst du dich auch nicht zu sorgen.“
„Ja, dann hättest du wenigstens eine ergebene Seele bei dir, das wäre mir schon eine Beruhigung.“
Ellinor warf sich in seine Arme. „Du willigst ein, Vater?“
Er strich ihr über das Haar. „Lass mich’s bedenken – bis morgen. Dann will ich mich entscheiden.“
„Well, Vater, so soll es sein.“
Sie setzten sich wieder einander gegenüber und erledigten ihre Arbeiten, als sei nichts geschehen.
Am nächsten Tag ging ein Schreiben an Dr. Holm ab, in dem Fritz von Lossow diesem mitteilte, dass er selbst nicht abkommen könne, dafür werde er seine Tochter, mit allen Vollmachten ausgerüstet, schicken. Sie würde von Hamburg aus depeschieren, wann sie in Lemkow eintreffen werde.
***
In Lossow hatte man sich allmählich ins Unvermeidliche gefügt und auch Bothos Vorschlag in Erwägung gezogen. Es war doch wohl die einfachste Lösung. Wenn Botho Fritz Lossows Tochter heiratete, konnte der Ausfall, den sie durch das Testament erlitten, wettgemacht werden. Als Erbin ihres Vaters gehörte Ellinore die Hälfte von Lemkow. Das galt gut eine halbe Million. Außerdem partizipierte sie zur Hälfte am Vermögen ihres Vaters, das ja auch ganz ansehnlich zu sein schien. Und schließlich erhielt sie die im Testament ausgesetzte Summe von fünfzigtausend Mark.
Botho rechnete seinen Eltern das alles vor. Zuerst bekam er die Mutter auf seine Seite. Sie redete sich und ihrem Gatten zu, dass Bothos Plan gut sei. Dann bestimmten sie beide den Vater, an seinen Bruder zu schreiben und die Angelegenheit einzuleiten.
Leicht wurde es Kuno von Lossow nicht, nun doch noch an seinen Bruder zu schreiben. Aber auch er sah schließlich ein, dass es am besten sei, aus dem Schiffbruch ihrer Hoffnungen zu retten, was noch zu retten war.
So setzte er sich endlich an den Schreibtisch, um einen „diplomatischen“ Brief zu verfassen. Er lautete:
Lieber Fritz!
Erst heute komme ich dazu, dein Schreiben zu beantworten. Ich habe es Tag um Tag, Woche um Woche verschieben müssen, weil ich jede freie Minute bei unserem leidenden Onkel Heribert in Lemkow verbrachte. Deshalb hat uns sein Testament, da muss ich offen bekennen, sehr befremdet.
Nicht, dass ich dir die Erbschaft missgönnte, aber sein Undank schmerzt mich. Ich kann mir seine Handlungsweise nur so erklären, dass er gehofft hat, aus meinem Sohn Botho und deiner Tochter Ellinor möge ein Paar werden, da sie ja im Alter vorzüglich zusammenpassen. Jedenfalls hat Onkel Heribert mir gegenüber verschiedene Male darauf angespielt, „dass er auf diese Verbindung hoffe“. Es wäre auch nach meinem Dafürhalten die beste Lösung dieser Erbschaftsfrage, denn ich möchte nicht gezwungen sein, das Testament anzufechten, das deutlich genug zeigt, dass Onkel Heribert in seiner letzten Lebenszeit ein wenig schwachsinnig und keinesfalls zurechnungsfähig war.
Wir wollen uns also auf diese gütliche Weise einigen, nicht wahr? Mein Sohn müsste allerdings den Abschied nehmen, wenn er deine Tochter heiratet, denn in seinem Regiment herrschen sehr strenge Regeln bezüglich der Abstammung der Gemahlinnen der Offiziere. Aber das nur nebenbei. Du wirst sicher mit meinem Vorschlag, unsere Kinder zu vermählen, einverstanden sein. Auf diese Weise bleibt es ganz unter uns, dass deine Frau nun – du weißt ja – sehr geringer Abkunft war, woran sich wohl jeder andere Freier stoßen würde. Wenn es dir also recht ist, bestimmen wir unsere Kinder, diese Ehe einzugehen. Mein Sohn wird mir selbstverständlich gehorchen, und ich hoffe, dass auch du deine Kinder in strengem Gehorsam erzogen hast.
Im Übrigen bin ich gern bereit, dich in Lemkow zu vertreten, bis du selbst herüberkommst. Jetzt macht sich der Sachverwalter Dr. Holm in Lemkow breit, als gehöre es ihm. Wenn du mich mit allen Vollmachten ausrüstest, kann ich ihn verabschieden und werde dann alles in meine Hände nehmen, bis du kommst. Du kannst dann drüben in Ruhe deine Geschäfte abwickeln und deine Angelegenheiten ordnen.
Ich hoffe, du ersiehst aus alledem, dass ich dir trotz allem noch brüderlich gesinnt bin. Wir wollen alles Vergangene vergessen sein lassen. Ich begrüße dich herzlich, zugleich im Namen meiner Familie, als
Dein Bruder Kuno
Als dieser Brief in Fritz Lossows Hände kam, war seine Tochter bereits mit Nelly abgereist. Ein bitteres Lächeln umspielte bei der Lektüre des Briefs seine Lippen. Er kannte seinen Bruder nur zu gut, um die „diplomatischen Kniffe“ zu durchschauen. Keinen Augenblick glaubte er, dass Onkel Heribert auch nur an eine Verbindung Ellinors mit Botho gedacht, geschweige denn darüber gesprochen hatte.
Eine Infamie erschien es Fritz, dass Kuno den Onkel als schwachsinnig und unzurechnungsfähig hinstellen wollte und mit dem Anfechten des Testaments drohte. Dass Onkel Heribert bis zu seinem Ende von großer Geistesklarheit und Energie gewesen war, ging aus allen seinen Briefen hervor.
Dieser Brief Kunos kam überhaupt zu spät, um Fritz an seine brüderliche Gesinnung glauben zu lassen. Er nahm ihn als das, was er in Wirklichkeit war: ein ziemlich plumper Schachzug, der ihn zu einer Verbindung zwischen Ellinor und Botho gefügig machen sollte. Nachdem er seinen Groll überwunden, tat er das Beste, was er tun konnte: Er fasste die ganze Angelegenheit mit Humor auf.
Kunos Brief schickte er mit einigen scherzhaften Anmerkungen Ellinor nach, damit sie die Absichten der Lossower erfuhr und sich danach richten konnte.
Zugleich antwortete Fritz seinem Bruder, dass er bereits seine Tochter als seine Vertreterin nach Lemkow geschickt habe und seiner Vertretung somit nicht bedürfe.
Auf den übrigen Inhalt seines Briefs erwiderte er ihm, dass er seiner Tochter in der Wahl eines Gatten völlig freie Hand lassen würde. Ob sie sich für Botho oder einen anderen entschließen würde, wenn sie sich verheiraten wolle, sei natürlich nicht vorauszusehen. Beeinflussen werde er seine Tochter weder für noch gegen Botho.
Ehe dieser Brief in Kuno von Lossows Hände kam, erfuhr er von Dr. Holm, dass sein Bruder, der jetzt nicht abkömmlich sei, seine Tochter als Bevollmächtigte nach Lemkow schicken würde. Die junge Dame sei bereits in Hamburg eingetroffen und habe ihre Ankunft für den übernächsten Tag telegrafisch angemeldet.
Über diese Mitteilung war Kuno von Lossow direkt sprachlos. Mit allen Zeichen der Aufregung eilte er nach Hause und platzte mit dieser welterschütternden Neuigkeit in den Salon seiner Frau, wo sie und Gitta mit Handarbeiten beschäftigt saßen.
Die beiden Damen waren ebenfalls fassungslos. Frau Helene schlug entsetzt die Hände zusammen. „Welche Idee! Seine Tochter als Bevollmächtigte! Sie ist doch kaum zweiundzwanzig Jahre alt“, sagte sie außer sich.
„Und doch ist es so, Dr. Holm sagte mir, sie käme schon übermorgen in Lemkow an.“
„Dann hat dein Bruder Fritz deinen Brief noch nicht gehabt, als sie abreiste. Sonst hätte er doch einfach dich zu seinem Vertreter ernannt.“
„Ja – hm – tja, so wird es wohl sein, meine liebe Helene. Er scheint sich doch gar nicht anders zu helfen gewusst zu haben. Es ist unglaublich, so ein Kind mit einem so verantwortlichen Amt zu betrauen!“
„Und außerdem – wie schrecklich unpassend!“, rief Frau Helene entrüstet. Sie richtete sich energisch empor. „Nun, jedenfalls werden wir bei ihrer Ankunft in Lemkow sein, um sofort einzugreifen, wenn Ellinor irgendwie gegen den guten Ton verstößt. Das sind wir uns selbst schuldig in Anbetracht dessen, dass Ellinor wahrscheinlich Bothos Frau wird. Auf keinen Fall darf sie allein in Lemkow wohnen. Ich denke, wir nehmen sie gleich mit nach Lossow, wo sie bleiben kann, bis ihr Vater nachkommt. Und du, Kuno, kannst Botho gleich schreiben, er soll sich einen längeren Urlaub geben lassen.“ So sprach die kluge Frau Helene.
Nun wurde jedes Für und Wider beleuchtet. Gitta bekam strikte Verhaltungsmaßregeln. Sie sollte sich auf jeden Fall freundschaftlich zu Ellinor stellen, sollte ihr Vertrauen zu gewinnen suchen und für den Bruder bei Ellinor wirken.
Gitta versprach alles. Sie war brennend neugierig auf Ellinor und hoffte, dass sie wenigstens zu allen anderen Glücksgütern nicht auch noch mit Schönheit ausgestattet sei.
In Lemkow war auf Dr. Holms Anordnung hin alles zur Aufnahme von Ellinor Lossow bereit. Dr. Holm hatte keine Ahnung, dass sich die Lossower zur Begrüßung der jungen Dame einfinden würden.
Er hatte auf dem Bahnhof des Garnisonstädtchens Ellinor von Lossow in Empfang genommen. Kein Zug seines Gesichts hatte verraten, was er empfand, als er die junge Dame, allein von einer alten Dienerin begleitet, auf sich zukommen sah.
Die Lemkower Equipage stand am Bahnhof bereit, außerdem ein Gepäckwagen für das Reisegepäck. In ruhiger, umsichtiger Art gab Ellinor Dr. Holm, nachdem er sich vorgestellt und sie begrüßt hatte, Weisung bezüglich des Gepäcks.
Dr. Holm fragte dann, ob Nelly mit dem Gepäck nach Lemkow fahren solle. Aber Ellinor schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, Herr Doktor, Nelly, ist der deutschen Sprache nur ganz wenig kundig. Sie würde sich in der fremden Umgebung ohne mich ängstigen. Wenn Sie gestatten, fährt sie mit uns“, sagte sie ruhig.
Dr. Holm verneigte sich. So fuhren nun alle drei nach Lemkow hinaus. Als der Wagen sich dem alten, stattlichen Herrenhaus näherte, sah Dr. Holm zu seinem Erstaunen Kuno von Lossow mit Gemahlin und Tochter auf der breiten Freitreppe stehen. Gitta hielt einen Blumenstrauß in der Hand. „Wer sind die Herrschaften, Herr Doktor?“, fragte Ellinor leise.
Dieser sah mit einem feinen Lächeln in das hübsche, lebensfrische Gesicht der jungen Dame, die ihm außerordentlich gut gefiel. „Das ist Ihr Oheim, Kuno von Lossow, nebst Gemahlin und Tochter“, erwiderte er ebenso leise.
Es blitzte seltsam in den klaren, tiefblauen Mädchenaugen auf. Ihr Blick richtete sich nun beobachtend auf die drei Menschen, die so feierlich an der Schwelle von Lemkow standen und ihr mit liebenswürdigem Lächeln entgegensahen.
Dr. Holm stieg ab und half Ellinor aus dem Wagen, ehe Kuno von Lossow herbeigekommen war. Ellinor sprach erst einige freundliche Worte mit Nelly, um sie zum Aussteigen aufzufordern, bevor sie sich zu den Lossowern wandte.
Dr. Holm stellte vor.
Kuno von Lossow streckte seiner Nichte beide Hände entgegen. „Sei willkommen in der Heimat, liebe Ellinor!“
Frau Helene küsste Ellinor sogar auf die Wange und sagte einige liebenswürdige Begrüßungsworte. Gitta tat desgleichen, indem sie Ellinor den Blumenstrauß überreichte.
Dabei dachte Gitta unangenehm berührt, diese Ellinor sei viel zu hübsch für eine reiche Erbin.
Ellinor stand ruhig ihren Verwandten gegenüber. Sie fühlte instinktiv das Unwahre und Gemachte im Wesen dieser Menschen. „Ich danke euch sehr für diese Begrüßung, aber ihr hättet euch nicht bemühen sollen“, sagte sie in ruhigem Ton, unfähig, ein wärmeres Empfinden zu heucheln, als sie im Herzen hegte.
Nelly stand mit großen, weit geöffneten Augen hinter Ellinor und sah dieser Begrüßung verständnislos zu.
Frau von Lossow maß die Dienerin mit hochmütigem Blick. „Es ist doch selbstverständlich, dass wir dich hier begrüßen, liebes Kind“, sagte sie süßlich. „Wir wussten von Dr. Holm, dass du ohne deinen Vater kommst; da ist es doch selbstverständlich, dass du mit uns nach Lossow kommst. Du kannst in Lemkow nicht allein wohnen.“
Ellinor neigte das Haupt. „Ich danke dir sehr, liebe Tante, aber ich habe von meinem Vater die Weisung erhalten, in Lemkow zu wohnen. Danach muss ich selbstverständlich handeln.“
„Dein Vater wird es sicher richtig finden, dass du unsere Einladung annimmst“, sagte Kuno hastig.
„Ich muss mich an seine Instruktionen halten, solange er sie nicht widerruft“, erwiderte Ellinor bestimmt.
Sie waren inzwischen in die große Halle getreten.
„Dein Vater wird dir jedenfalls bald andere Instruktionen geben, liebe Ellinor. Ich habe ihm geschrieben, seine Antwort kann jeden Tag eintreffen. Da ich ihm angeboten habe, seine Vertretung in Lemkow zu übernehmen, wird er selbstverständlich gern darauf eingehen. Du kannst dann in aller Ruhe in Lossow leben, bis er kommt“, sagte Kuno von Lossow.
Ellinor sah mit ernsten Augen in des Oheims Gesicht. „Du hast meinem Vater geschrieben – jetzt endlich?“, fragte sie kühl.
Kuno fuhr sich nervös über den Scheitel. Ellinors Wesen irritierte ihn. „Ja – hm – tja – ich bin nicht früher dazu gekommen. Aber dieser Brief wird nun bald alles ändern, davon bin ich überzeugt. Du kannst also unbesorgt mit uns nach Lossow kommen.“
Wieder ließ Ellinor den Blick groß und ernst auf ihm ruhen. „Jedenfalls warte ich erst die Bestimmungen meines Vaters ab.“
„Aber Kind, du kannst doch unmöglich allein in Lemkow wohnen!“, rief Frau von Lossow.
„Warum nicht?“, fragte Ellinor ruhig.
„Weil es sich nicht schickt.“
Die junge Dame richtete sich stolz auf. „Was mein Vater gutheißt, schickt sich ganz gewiss für mich, verehrte Tante. Außerdem habe ich meine alte Nelly bei mir.“
„Eine Dienerin ist doch kein ausreichender Schutz für eine junge Dame.“
Ellinor lachte. „Keine Sorge, ich schütze mich selbst. Aber wir wollen doch näher treten. Darf ich euch eine Erfrischung reichen lassen? Herr Doktor, Sie rufen mir wohl, bitte, den Diener herbei? Mit den Geschäften warten wir, bis wir allein sind. Sie haben doch Zeit?“
Dr. Holm hätte am liebsten hell aufgelacht vor Vergnügen über die verdutzten Gesichter der Lossower und über das schneidige, energische Persönchen. Die Lossower schienen es noch gar nicht zu fassen, dass sie von der jungen Amerikanerin als Besuch behandelt wurden. Es fand sich für sie gar keine Gelegenheit, Ellinor zu begönnern.
Für eine Erfrischung dankten alle drei. Sie sahen entschieden beleidigt aus.
Aber die kluge Frau Helene bezwang sich. „Nun, vorerst müssen wir uns fügen. Aber du wirst uns doch bald besuchen?“
„Sobald ich hier alles Nötige erledigt habe, gern. Jetzt habe ich zunächst mit Herrn Dr. Holm allerlei Geschäftliches zu ordnen.“
Kuno lachte meckernd. „Wie seltsam das aus dem Mund einer jungen Dame klingt! Du solltest noch gar nicht wissen, was Geschäfte sind.“
Ellinor lächelte. „Ich weiß es aber recht gut; sonst hätte mich mein Vater nicht mit dieser Mission betraut.“
Frau voll Lossow zwang sich zu einem süßsauren Lächeln. „Also dann wollen wir jetzt nicht länger stören. Du hast den Reisestaub noch nicht abgeschüttelt und brennst gewiss darauf, an deine Aufgabe zu gehen. Dein Eifer ist ja bewunderungswürdig, obgleich es bei uns nicht üblich ist, dass sich Damen mit so etwas beschäftigen.“
Ellinor lächelte. „Ich weiß, die deutschen Frauen sind in dieser Beziehung etwas rückständig. Aber das wird sich mit der Zeit schon verlieren“, sagte sie unbekümmert.
Frau Helene fühlte sich total geschlagen. Sie vermochte sich kaum noch mit Würde zu verabschieden. Ihren Instruktionen gemäß sagte Gitta beim Abschied: „Wir wollen gute Freundinnen werden, Ellinor. Ich werde dich alle Tage besuchen, bis du Zeit hast, nach Lossow zu kommen.“
Ellinor fand wenig Gefallen an Gitta. „Ist der Weg zwischen Lemkow und Lossow nicht sehr weit?“, fragte sie höflich.
„Es ist nicht so schlimm. Zu Pferd bin ich in dreiviertel Stunden hier.“
„Dann ist es sehr liebenswürdig, wenn du so oft den weiten Weg machen willst.“
„Ich habe ja nichts Wichtiges vor wie du.“
Damit war der Besuch beendet.
Die Lossower fuhren in ihrer Equipage nach Hause.
Ellinor wandte sich aufatmend zu Dr. Holm. „Nun, Herr Doktor, wollen wir an unsere Geschäfte gehen.“
***
Es gab für Ellinor eine Menge Arbeit. Aber ihre Kraft wuchs mit der Aufgabe. Fast jeden Tag fanden Konferenzen mit Dr. Holm, mit dem Verwalter und der Mamsell statt. Aber Ellinor fand sich überraschend gut in alles Neue.
Gitta war gleich am nächsten Tag von Lossow herübergekommen. Man hegte dort allerdings wenig Sympathie für das sichere, selbstständige Auftreten Ellinors, aber da man besonders auf ihre Person spekulierte, hatte man sich entschlossen, das mit in Kauf zu nehmen.
„Man muss nach und nach Einfluss auf sie gewinnen“, meinte Frau von Lossow. „Sie ist wenigstens äußerlich ganz präsentabel. Botho braucht sich nicht mit einer Vogelscheuche abzuquälen. Sie ist sogar sehr hübsch. und versteht sich gut anzuziehen, das ist schon etwas.“
Gitta sollte zunächst Ellinor zutraulich machen, bis Botho kam und die Festung selbst belagern konnte.
Trotz aller. Antipathie hatte Ellinor ihren Verwandten doch einigermaßen imponiert, wenn sie sich das auch nicht eingestehen wollten. Sie warteten nun gespannt auf Fritz von Lossows Antwort auf Kunos Brief.
Ellinor erhielt wenige Tage nach ihrer Ankunft in Lemkow das Schreiben ihres Vaters, dem der Brief Onkel Kunos beigefügt war.
Ellinors Augen sprühten auf. „Ah, also daher die Liebenswürdigkeit! Man spekuliert in Lossow auf meine Hand für den Sohn des Hauses. Ach, Väterchen, wie gut kennst du deine Ellinor. Wenn dieser Vetter Botho seinem Vater und seiner Mutter und Schwester gleicht, dann hat er keine Hoffnung auf den Goldfisch.“
Zu ungefähr derselben Zeit war auch Fritz Lossows Schreiben in Lossow eingetroffen. Es rief große Enttäuschung hervor. Aber schließlich tröstete man sich damit, dass Ellinors Vater wenigstens nicht direkt gegen eine Verbindung Bothos und Ellinors war. Es war nun Bothos Sache, Ellinor zu erobern. Nach Ansicht seiner Eltern konnte ihm das nicht schwer fallen.
Eines Tages erschien Gitta wieder in Lemkow, um Ellinor abzuholen. Sie hatte versprochen, mit nach Lossow hinüberzureiten.
In Lossow wurde Ellinor mit großer Liebenswürdigkeit empfangen. Mit Interesse sah sie sich in Lossow um. Hatte doch ihr Vater seine Kindheit und erste Jugend hier verlebt.
Nach einer Stunde verabschiedete sie sich wieder, damit sie noch bei Tageslicht nach Lemkow zurückkehren konnte.
Kuno von Lossow wollte sie auf dem Heimweg begleiten, aber Ellinor lehnte ab. „Ich danke dir sehr, Onkel Kuno, aber das leide ich auf keinen Fall. Ich weiß von Gitta, dass du nur ungern ein Pferd besteigst. Da ich in scharfem Trab heimkehren will, bin ich in einer halben Stunde am Ziel.“
Da Kuno wirklich nur ungern ausritt, fügte er sich.
„Besuche uns bald wieder, liebe Ellinor!“, bat Frau Helene.
„Gewiss, Tante Helene. Wenn ich ohne Umstände kommen darf, werde ich es mir erlauben. Auf Wiedersehen!“
Sie grüßte mit der Reitpeitsche und ritt davon. Ihre Verwandten sahen ihr mit gemischten Gefühlen nach.
Als Ellinor eine Weile in raschem Trab dahingeritten war, hielt sie das Pferd an und ließ es im Schritt gehen. Tief atmete sie die herrliche Waldluft ein. Sehnsüchtig flogen ihre Gedanken zu Vater und Bruder.
Wenn sie doch erst in Lemkow wären!, dachte sie.
In diesem Augenblick wurde auf ihrem Weg ein Reiter sichtbar, der ihr entgegenkam. Sie stutzten beide und sahen sich mit großen Augen an. Unwillkürlich verhielt der Reiter neben Ellinor sein Pferd.
Es war Baron Heinz Lindeck. Er erkannte in ihr sofort das Original des Bildes, das Heribert von Lossow ihm gezeigt hatte. Die Kunde, dass in Lemkow die neue Herrschaft eingetroffen sei, war auch zu ihm gedrungen.
Er wusste im Augenblick nicht, was er tun sollte. Aber als Ellinor die Zügel straffte und weiterreiten wollte, richtete er sich entschlossen auf.
„Ich bitte um Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, wenn ich es wage, mich hier vorzustellen. Mein Name ist Lindeck – Baron Lindeck auf Lindeck. Ich komme eben von Lemkow, wo ich mich erkundigen wollte, ob es wahr sei, dass die neue Herrschaft angekommen ist. Ich traf jedoch niemand, und ins Haus wollte ich nicht gehen. Nun kann ich mich aber gleich durch den Augenschein überzeugen. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, dass ich – ein wenig formlos die Gelegenheit benutzte, mich hier auf dem Weg vorzustellen.“
In Ellinors Augen leuchtete ein warmer Strahl auf, als sie seinen Namen hörte. Den hatte Onkel Heribert so oft in seinen Briefen erwähnt. Das war Onkel Heriberts „lieber junger Freund“, den er so hoch geschätzt hatte!
Sie neigte anmutig das Haupt, und Heinz Lindecks Blick hing wie gebannt an ihrem schönen, strahlenden Gesicht.
„Sie kennen mich, Herr Baron?“, fragte sie erstaunt.
„Ihr Herr Großonkel hat mir Ihre Fotografie gezeigt.“
„Und danach haben Sie mich gleich erkannt?“
„Ja, sofort. Außerdem aber reiten Sie Diana aus dem Lemkower Stall“, sagte er lächelnd.
Sie zeigte auf sein Pferd. „Ist das Satir?“
„Ja, das ist Satir, jetzt mein liebstes und wertvollstes Pferd, weil es mir Ihr Herr Großonkel, mein väterlicher Freund, hinterlassen hat. Dies ist der Ring, den er mir gleichfalls zum Andenken vermachte. Sie haben doch sicher in dem Testament Ihres Großonkels davon gelesen?“
„Ja, allerdings.“
„Ich darf mich also durch Satir und den Ring sozusagen legitimieren, nicht wahr?“
„Gewiss, Herr Baron. Sie müssen uns viel von Onkel Heribert erzählen. Er hat uns in seinen Briefen mitgeteilt, dass Sie fast täglich in Lemkow waren. Mein Vater wird sich herzlich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
„Wann darf ich mir erlauben, ihn aufzusuchen?“
„Mein Vater wird frühestens im Herbst nach Deutschland kommen.“
Er sah sie überrascht an. „Ihr Vater ist noch nicht in Lemkow?“
„Nein. Er konnte noch nicht abkommen. Da ihn bei der Erbschaftsübernahme jemand vertreten musste, bin ich gekommen.“
Er sah mit sonderbarem Gesicht auf das junge Geschöpf.
Es lag ein großes Erstaunen in seinen Augen, so dass Ellinor lachen musste. „Herr Baron, Sie haben eben ein so zweifelndes, erstauntes Gesicht gemacht, dass ich davon Ihre Gedanken ablesen konnte. Ich bin aber nun schon daran gewöhnt, dass man hier anzunehmen scheint, eine junge Dame sei in geschäftlichen Dingen ganz unbrauchbar.“
Seine Stirn rötete sich. „Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, wenn ich mich nicht besser beherrscht habe. Aber es ist mindestens ungewöhnlich bei uns, dass eine so junge Dame eine so verantwortliche Stelle einnimmt. Daher mein Staunen.“
„Es gibt da nichts zu verzeihen, Herr Baron. Mein Vater hat es mir vorausgesagt, dass man hier jungen Damen ein solches Amt nicht zuweisen würde. Er hat mich auch nicht gern fortgelassen. Aber es ging nicht anders. Mein Vater ist jetzt drüben unabkömmlich, und sonst hat er keinen Menschen, dem er so vertrauen kann wie mir.“
Heinz Lindeck musste sich gestehen, dass diese junge Dame in ihrem ganzen Wesen durchaus nicht dem Idealbild glich, das er sich von ihr gemacht hatte. Und dennoch war er von ihrem Anblick entzückt.
„Da Ihr Herr Vater seine Tochter kennt, wird er auch wissen, dass Sie der Aufgabe gewachsen sind. Aber trotzdem, wenn Sie einer Hilfe bedürfen, mein gnädiges Fräulein, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Ich weiß in Lemkow ziemlich gut Bescheid.“
Sie sah ihn voll reizender Schelmerei an, dass sein Herz unruhig zu klopfen begann. „Ich bin so ehrgeizig, allein fertig werden zu wollen. Darum habe ich schon Onkel Kunos Anerbieten, mir zu helfen, abgelehnt. Schon aus diesem Grund muss ich auch Ihre Hilfe dankend ablehnen.“
Er verneigte sich. „Dann muss ich mich bescheiden. Darf ich mir trotzdem erlauben, morgen in Lemkow meine Aufwartung zu machen?“
„Gewiss, Herr Baron, Onkel Heriberts Freund wird die Pforten von Lemkow jederzeit offen finden.“
„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, mein gnädiges Fräulein.“
Sie neigte das Haupt zum Gruß. „Auf Wiedersehen, Herr Baron.“
Er verneigte sich tief.
Noch ein kurzer Blick Auge in Auge, und sie ritten nach entgegengesetzten Richtungen davon.
In Gedanken versunken setzte Ellinor ihren Weg fort. Sie dachte an Heinz Lindeck. Er hatte ihr gut gefallen. In seinen Augen lag ein warmer Ausdruck, wie ehrliche Menschen ihn haben.
Ganz eigen war ihr ums Herz, sie fühlte sich plötzlich nicht mehr so einsam wie zuvor.
Am nächsten Tag befand sich Ellinor in erwartungsvoller Stimmung – so, als stehe ihr etwas Besonderes bevor. Und doch war dieses Besondere nichts weiter als der Besuch des Barons Lindeck.
Ellinor empfing ihn mit freundlichem Lächeln im Besuchszimmer. So wie ihn, so habe ich mir den echten deutschen Edelmann vorgestellt, dachte sie, als sie ihn begrüßte.
Sie bat ihn, Platz zu nehmen, und ließ sich ihm gegenüber in einen Sessel nieder. Eine weich fließende schwarze Robe, die sie mit einem kleinen Anflug weiblicher Eitelkeit ausgewählt hatte, schmiegte sich reizvoll um ihre schöne, schlanke Gestalt; der blütenfrische Teint und das flimmernde Haar wirkten doppelt leuchtend im Kontrast zu dem schwarzen Kleid.
Er konnte seine Augen nicht losreißen von der entzückenden Erscheinung.
Sie plauderten eine Weile von Onkel Heribert und von Ellinors Vater und Bruder. Auch die Lossower wurden flüchtig erwähnt. Heinz Lindeck erzählte, dass er unterwegs Kuno von Lossow begegnet sei. Er habe jedoch nicht mit ihm gesprochen.
Dann folgte eine kleine Pause. Der Baron sah sich ein wenig unsicher um. „Darf ich Sie bitten, mich mit Ihrer Hausdame bekannt zu machen, mein gnädiges Fräulein?“, sagte er, etwas verwundert, dass diese nicht im Zimmer war.
Ellinor lächelte. „Ich bedaure sehr, Herr Baron. Unsere Hausdame konnte mich nicht begleiten, weil sie drüben nötig war. Meine alte Nelly aber, die mich begleitet hat, ist nur eine schlichte Dienerin und spricht nicht Deutsch.“
Er erhob sich sofort. „Oh, dann bitte ich tausendmal um Verzeihung. Das wusste ich natürlich nicht, sonst hätte ich diesen Besuch selbstverständlich unterlassen.“
Sie sah ihn groß an. „Warum? Wollten Sie meiner Ehrendame einen Besuch machen oder mir?“, fragte sie mit leichtem Spott.
Seine Stirn rötete sich ein wenig. „Ihnen natürlich, mein gnädiges Fräulein. Aber ich hätte doch nicht kommen dürfen, wenn ich gewusst hätte, dass Sie allein sind.“
„Sie finden es unstatthaft, dass ich Sie trotzdem empfangen habe?“
„Jedenfalls ist das bei uns ungebräuchlich.“
„Ach, wie engherzig die Deutschen sind!“, rief Ellinor unmutig.
„Doch nicht, mein gnädiges Fräulein. Wir sehen unsere Damen gern sorgsam behütet.“
„Und dabei verlernen die deutschen Frauen, sich selbst zu behüten, Herr Baron.“
Baron Lindeck sah Ellinor verlegen an. „Jedenfalls will ich nicht länger stören, mein gnädiges Fräulein“, sagte er hastig.
Es war wie ein leiser Schmerz in ihrer Brust. „Sie werden nun natürlich nicht wieder nach Lemkow kommen?“, fragte sie.
Er blickte sie ernst an. „Nein, solange Sie allein hier sind, so gern ich auch möchte.“
Sie zuckte die Achseln. „Wenn Sie so gern möchten – wer hindert Sie daran?“
„Die Rücksicht auf Sie selbst, mein gnädiges Fräulein. Ich möchte Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten.“
Sie warf, sich ebenfalls erhebend, den Kopf stolz zurück. „Dann leben Sie wohl, Herr Baron!“
Heinz Lindeck blieb zögernd stehen und sah sie unsicher an. „Ich glaube, Sie zürnen mir, mein gnädiges Fräulein. Bitte, tun Sie es nicht! Sie werden eines Tages, wenn Sie erst mit unseren Verhältnissen vertraut sind, selbst einsehen, dass ich nicht anders kann.“
„Möglich“, sagte sie kühl.
Er zögerte noch immer. „Ich hoffe, Ihnen zuweilen in Lossow bei Ihren Verwandten begegnen zu dürfen.“
„Vielleicht.“
„Jedenfalls werde ich gleich in Lossow vorsprechen und mich entschuldigen, dass ich Sie besucht habe. Ihr Herr Onkel hat mich ja auf dem Weg hierher gesehen.“
„Tun Sie, was Sie sich schuldig zu sein glauben, Herr Baron“, sagte sie spöttisch.
Er fühlte, dass sie gekränkt war, und das tat ihm weh. „Nicht mir bin ich das schuldig, mein gnädiges Fräulein, sondern Ihnen. Frau von Lossow ist sehr streng in Bezug auf unsere Formen. Erführe sie von meinem Besuch in Lemkow, so könnte sie Ihnen Vorwürfe machen, wenn ich mich nicht entschuldigte und meinen Irrtum klarlegte.“
Ellinor richtete sich stolz auf. „Auf mich brauchen Sie keinerlei Rücksicht zu nehmen, Herr Baron, ich vertrete selbst, was ich getan habe“, sagte sie herb.
Es zuckte in seinem Gesicht. Seine Augen sahen gebannt in die ihren. Es lag so viel Reinheit und Klarheit in diesen tiefblauen Mädchenaugen, dass er sich mit seinen Bedenken kleinlich vorkam. Und doch war ihm der Gedanke, dass irgendjemand das Verhalten der jungen Dame kritisieren könnte, äußerst peinlich.
Hastig, mit einer tiefen Verbeugung, verabschiedete er sich.
Ellinor trat ans Fenster. Hinter den Gardinen verborgen sah sie ihm nach. „Wie kann ein so stolzer aufrechter Mann so kleinlich sein!“, dachte sie, unzufrieden, dass sie sich dadurch bedrückt fühlte.
Der Baron fuhr, unruhig im Herzen und ganz aus dem Gleichgewicht gebracht, nach Lossow.
Frau Helene und Gitta empfingen ihn mit sichtlicher Freude.
Aber sie wurden verstimmt, als sie hörten, dass er in Lemkow Besuch gemacht habe. Als er seine Entschuldigung vorbrachte, schlug Frau von Lossow die Augen gen Himmel.
„Lieber Herr Baron, nicht Sie haben sich zu entschuldigen, sondern wir müssen wegen der Formlosigkeit meiner Nichte um Verzeihung bitten. Sie scheint eine unglaubliche Erziehung genossen zu haben. Wir sind schon aus einem Entsetzen ins andere gefallen. Ellinor muss eben noch manches lernen“, setzte sie seufzend hinzu.
Der Baron trat jedoch energisch für Ellinor ein. „Fräulein von Lossow ist natürlich nach amerikanischer Sitte erzogen und war vollkommen berechtigt, mich zu empfangen. Ich allein bin an allem schuld; ich hätte mich erst überzeugen müssen, ob die junge Dame in Begleitung hier sei. Jedenfalls muss ich Sie dringend bitten, Fräulein von Lossow keinerlei Vorwürfe zu machen.“
Gitta war wütend, dass er so warm Ellinors Partei nahm. „Keine Sorge, Herr Baron! Ellinor lässt sich von niemand Vorwürfe machen. Sie ist immer überzeugt, das Rechte zu tun. Sie ist überhaupt sehr selbstzufrieden und überhebend.“
„Ja, meine Nichte ist unglaublich selbstbewusst“, pflichtete Frau von Lossow eifrig bei. „Die Amerikanerinnen scheinen keine der Tugenden zu besitzen, die an deutschen Frauen gerühmt werden. Wenn ich dagegen bedenke, wie bescheiden und zurückhaltend meine Tochter ist …“
Der Baron stand mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht auf und verabschiedete sich.
Gitta sah ihm fast gehässig nach. „Wie eilig er es hatte, seinen Besuch in Lemkow zu machen, Mama“, sagte sie ärgerlich.
Die Baronin seufzte. „Ja, ja, Kind, es ist auch für dich sehr gut, wenn Botho Ellinor heiratet.“
Am nächsten Tag erschien Gitta wieder in Lemkow. Sie kam sofort auf den Besuch des Barons bei Ellinor zu sprechen. „Mein Gott, Ellinor, wie konntest du Baron Lindeck nur empfangen? Er ist doch ein junger Mann. Mama war ganz außer sich.“
Ellinors Gesicht zuckte. „Sage nur deiner Mutter, sie soll sich nicht aufregen so einer Belanglosigkeit wegen. Meiner Meinung nach war es ganz überflüssig, dass Baron Lindeck sich bei ihr entschuldigte. Ich habe ihn empfangen, wie ich in meines Vaters Haus, auch wenn ich allein war, Gäste zu empfangen pflegte. Dabei ist nichts zu entschuldigen.“
Gitta legte die Fingerspitzen zusammen. „Ach, Ellinor, hier ist das aber nun einmal unschicklich. Du musst dich doch an unsere Sitten gewöhnen. Der Baron fand es auch ganz unglaublich, dass du ihn nicht abweisen ließest.“
Ellinor errötete leicht. „So? Hat er das gesagt?“, fragte sie hastig.
„Natürlich. Er fand es unweiblich.“
Ellinor lachte spöttisch auf, eine große Bitterkeit stieg in ihr empor. „So? Und um sich darüber Luft zu machen, kam er schleunigst nach Lossow?“
Gittas Augen flimmerten falsch und lauernd. Sie kicherte plötzlich wie verschämt in sich hinein. „Ach, weißt du, Ellinor, es wäre ihm natürlich entsetzlich, wenn Mama ihm zürnte. Unter uns – aber du darfst es, um Himmels willen, keiner Menschenseele sagen – versprich mir das erst!“
„Schön, ich verspreche es“, sagte Ellinor scheinbar gleichgültig. Und doch war sie voll unruhiger Spannung.
„Also Baron Lindeck und ich – na, du weißt schon, es ist so etwas wie ein heimliches Verlöbnis nein, eigentlich noch nicht, aber du verstehst schon – wir sind einig miteinander. Er bewirbt sich um mich. Aber verrate es, um Gottes willen, niemand!“
In Ellinor stieg es wie ein heißer Schmerz empor. „Wem sollte ich es denn verraten?“, fragte sie tonlos.
„Nun, zum Beispiel meinen Eltern.“
„Hältst du so etwas vor deinen Eltern geheim, Gitta?“
„Aber natürlich, Ellinor. Davon spricht man doch erst mit den Eltern, wenn es Tatsache ist.“
„Soso! Wie seltsam! Siehst du, Gitta, so etwas würde ich vor meinem Vater nicht verheimlichen, noch weniger aber würde ich es meiner Mutter verheimlicht haben. Ich habe nie Geheimnisse vor meinen Eltern gehabt und werde wohl auch nie welche vor meinem Vater haben.“
„Ach geh, Ellinor, du wirst doch deinem Vater nicht jeden Flirt beichten?“
„Ich flirte nie. Jedenfalls würde ich es nicht hinter dem Rücken meines Vaters tun. Das halte ich nun wieder für unschicklich. Du siehst, wie verschieden unsere Auffassung über das, was sich schickt, ist. Aber lassen wir das. Also zwischen dir und Baron Lindeck spielt so etwas – wie – wie ein ernster Flirt?“, fragte Ellinor mit heimlicher Spannung.
Gitta wurde jetzt wirklich rot. Aber sie wollte Ellinor um jeden Preis als Rivalin unschädlich machen, bevor sich zwischen ihr und dem Baron etwas anbahnen konnte. Deshalb griff sie unbedenklich zu dieser Lüge.
„Ja, Ellinor, er bewirbt sich schon lange heimlich um mich.“
„Und warum tut er das nicht offen? Weshalb verlobt ihr euch nicht?“
„Ach, weißt du, Lindeck hat bisher nicht viel Einnahmen aus seinem Majorat erzielt. Wir hatten gehofft, Onkel Heriberts Testament würde anders ausfallen. Ich bekomme von meinem Vater keine Mitgift, besitze nur das, was Onkel Heribert mir als Aussteuer ausgesetzt hat, und das ist wenig genug. So müssen wir eben noch warten, bis Lindeck ertragsfähiger geworden ist.“
Gitta brachte das alles mit dem Ausdruck größter Wahrhaftigkeit hervor.
Ellinor musste etwas Quälendes, das ihr unverständlich war, in sich niederzwingen. Sie bemühte sich aber, unbefangen mit Gitta zu plaudern.
Als diese sich verabschiedete, erbot sich Ellinor sogar, sie ein Stück zu begleiten. „Ich möchte noch ein wenig laufen, Gitta. Wenn es dir recht ist, lässt du deine Suleika im Schritt gehen und ich gehe nebenher.“
Gittas Pferd wurde vorgeführt. Sie ließ sich vom Reitknecht in den Sattel heben.
Ellinor hatte einen praktischen, weichen Lederhut, den sie stets zur Hand hatte, auf das üppige, goldbraune Haar gedrückt und schritt nun neben Suleika her.
Vor ihnen lag der Wald mit dem zarten, feinen Grün des Frühlings. Die Vögel sangen und zwitscherten, wie sie eben nur im Frühling singen.
Die beiden jungen Damen hingen ihren Gedanken nach und wechselten nur ab und zu flüchtige Worte.
So verging eine gute Viertelstunde. Da sahen sie bei einem Kreuzweg Baron Lindeck auftauchen. Er erblickte sie auch und hielt sein Pferd an, um sie zu erwarten.
In die Gesichter der beiden jungen Damen stieg eine leise Röte. Gitta dachte an ihre Lügen, und Ellinor entsann sich, dass Baron Lindeck sie unweiblich genannt und dass er mit Gitta hinter dem Rücken ihrer Eltern ein Liebesverhältnis hatte.
Ob ihm das nicht unpassender erscheint, als wenn eine junge Dame ganz unbefangen seinen Besuch annimmt?, dachte sie bitter.
Aber sie warf den Kopf zurück, als wolle sie diese Gedanken verscheuchen. Was ging Baron Lindeck sie an? Nichts, gar nichts! Er war Großonkel Heribert lieb und wert gewesen – das hatte sie wohl veranlasst, ihm Sympathie entgegenzubringen. Ob Onkel Heribert es wohl gutgeheißen hätte, dass er heimlich mit Gitta flirtete? Ach, sie wollte gar nicht mehr daran denken. Baron Lindeck war abgetan für sie – gründlich abgetan.
Gitta beugte sich zu Ellinor herab. „Da ist Baron Lindeck, Ellinor. Nicht wahr, du bist nicht böse, wenn ich dich bitte, mich mit ihm allein weiterreiten zu lassen? Wir haben denselben Weg.“
Ellinor sah mit fragendem Blick zu ihr auf. „Ist denn ‚das‘ statthaft, Gitta? Erlaubt ‚das‘ bei euch der gute Ton?“
Gitta spielte mit der Reitpeitsche. „Ach geh, Ellinor, du weißt doch, das ist etwas anderes“, kicherte sie.
„Soso, das ist also etwas anderes? Nun, ich sehe schon, es wird mir nicht leicht werden, zu begreifen, was hier erlaubt und unerlaubt ist.“
Dann kamen sie nahe an Heinz Lindeck heran, der sie artig begrüßte.
Er hatte nur Ellinors Gesicht betrachtet. Diese beobachtete mit heimlicher Spannung, wie er Gitta begrüßte. Aber kein Zug seines Gesichts verriet, dass er sich für sie besonders interessiere. Er begrüßte sie sogar sehr förmlich und zurückhaltend.
Oh, was für ein Heuchler ist er! Wie gut kann er sich verstellen, dachte Ellinor. Und wieder war der leise, heimliche Schmerz in ihrer Brust.
Gittas Gesicht zeigte eine gewisse Verlegenheit, als sie sagte: „Meine Kusine hat mir eben gesagt, dass sie mich nicht weiter begleiten will, Herr Baron. Da führt mir auch schon ein glücklicher Zufall einen neuen Begleiter in den Weg. Sie sind natürlich auch auf dem Heimweg, nicht wahr?“
Er verneigte sich, wenig entzückt, und wandte sich an Ellinor. „Sie haben sich heute nicht Dianas Rücken anvertraut, mein gnädiges Fräulein?“
„Nein, ich wollte meiner Kusine nur ein Stück Weg das Geleit geben. Aber nun kehre ich um. Adieu, meine Herrschaften!“ So sagte Ellinor ziemlich brüsk, drehte sich schnell um und ging davon.
Der Baron sah ihr einen Augenblick betroffen nach. Ihre schlanke, elastisch ausschreitende Gestalt verschwand zwischen den Bäumen. Wie sicher und zielbewusst sie ihren Weg verfolgte!
Sie schaute nicht mehr zurück. „Meine Kusine ist leider etwas formlos, Herr Baron. Sie müssen ihr verzeihen“, sagte Gitta in seine Gedanken hinein.
Er schrak zusammen. „Ich wüsste nicht, was ich zu verzeihen hätte, gnädiges Fräulein“, antwortete er.
***
Botho war zu einem längeren Urlaub in Lossow angekommen. Gleich am ersten Nachmittag fuhr er mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Lemkow hinüber. Ellinor war gerade von einem Ritt über die Felder in Begleitung des Verwalters zurückgekehrt. Sie hatte eben ihr Reitkleid gegen ein schlichtes Hauskleid vertauscht.
So schritt sie nun ihren Verwandten entgegen.
Mit mutwillig blitzenden Augen sah sie sich den Vetter an, der sofort in seiner gezierten Art einige Komplimente offerierte. Mit Eleganz entfaltete er alle Künste eines Herzensbrechers und ahnte in seinem übertriebenen Selbstbewusstsein nicht, wie komisch er auf Ellinor wirkte.
Also, das ist der schneidige Gardeleutnant? Und den soll ich heiraten?, dachte sie, kaum ihre Lachlust bezwingend.
Als Botho sich nach etwa einer Stunde mit Mutter und Schwester entfernte, sah ihm Ellinor, hinter dem Store verborgen, nach.
Diesen Vetter kann man wirklich nur humoristisch nehmen, sonst wird er unerträglich, dachte sie bei sich.
Wenn das Botho geahnt hätte!
Er fuhr mit der festen Überzeugung nach Lossow zurück, dass er „kolossalen Eindruck“ gemacht hatte.
„Die Kleine war ja ganz baff, als sie mich sah! Konnte vor Überraschung gar nicht sprechen. Na ja, weiß ja, wild sind die Mädels alle auf so einen schneidigen Leutnant. Übrigens ’n ganz hübscher Racker, die kleine Amerikanerin – kann mir schon gefallen. Werde die Chose kurz und schmerzlos machen, ohne langes Hangen und Bangen.“
So sprach Botho, durchdrungen von seiner Unwiderstehlichkeit, zu seinen Angehörigen.
Gitta hatte Ellinor gesagt, dass am nächsten Nachmittag um vier Uhr in Lossow Tennis gespielt werden solle. Baron Lindeck sei auch von der Partie.
Ellinor hatte zugesagt. Dass der Baron da sein würde, lockte sie, obgleich sie sich das nicht eingestehen wollte.
Ich will nur sehen, bis zu welchem Grad der Vollkommenheit er sich verstellen wird, dachte sie, den unsinnigen Schmerz, der sie stets befiel, wenn sie an Heinz Lindeck dachte, tapfer niederkämpfend.
Obwohl nun Botho wusste, dass Ellinor am Nachmittag nach Lossow kommen würde, ritt er doch am Vormittag nach Lemkow hinüber.
Ellinor saß über ihre Wirtschaftsbücher gebeugt in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Sie sah Botho kommen, und in ihren Augen blitzte es auf.
Als er sich durch den Diener anmelden ließ, hob sie nicht einmal den Kopf von der Arbeit. „Sagen Sie Herrn von Lossow, ich bedaure, ihn nicht empfangen zu können.“
Mit diesem Bescheid kehrte der Diener zu Botho zurück.
Dessen Gesicht zeigte keinen geistvollen Ausdruck. Etwas verdutzt trat er den Rückzug an.
Als Ellinor am Nachmittag in Lossow eintraf, war Baron Lindeck bereits zugegen. Er saß mit den Geschwistern auf der Terrasse, als der Wagen hielt, dem Ellinor im Tenniskleid entstieg.
Wie der leibhaftige Frühling, dachte Heinz Lindeck, als sie so frisch und kraftvoll auf ihn zuschritt.
Botho sprang auf, auch Gitta und der Baron erhoben sich.
„Ich bin ganz böse, mein verehrtes Bäschen“, sagte Botho, nachdem er Ellinor begrüßt hatte.
„Auf mich, Vetter?“
„Ja, auf dich, reizendes Bäschen.“
Sie musterte ihn mutwillig. „Darf ich wissen, warum?“
Er klemmte das Monokel ein. Sein Tennisanzug hing weit und faltig um seine hagere Figur. Ellinor verglich ihn unwillkürlich mit dem Baron, der auch im Tenniskostüm eine elegante, kraftvolle Erscheinung bot. Welch ein Unterschied war zwischen diesen beiden jungen Edelleuten!
„Weil du mich heute Morgen in Lemkow hast abweisen lassen“, sagte Botho vorwurfsvoll.
Ellinor blickte ihm mit ironischem Lächeln ins Gesicht. Dann sah sie zu Heinz Lindeck hinüber. „Lieber Vetter, Sie wissen doch, dass ich allein in Lemkow wohne und nach deutscher Sitte einen jungen Herrn nicht allein empfangen darf. Fragen Sie nur Herrn Baron von Lindeck, wie unweiblich das sein würde, wollte ich es tun!“
Heinz Lindecks Gesicht rötete sich unter ihrem spöttischen Blick. Botho aber rief eifrig: „Oh, verehrtes Bäschen, ich als dein Vetter mache da entschieden eine Ausnahme.“
Ellinor blickte ihn mutwillig an. „Nein, ich lasse keine Ausnahmen mehr gelten, denn ich will mich bemühen, hier nach deutschen Anschauungen zu leben. Also, Sie werden in Lemkow immer verschlossene Türen finden, wenn Sie nicht in Begleitung Ihrer Eltern oder Ihrer Schwester kommen. Nicht wahr, Gitta, du genügst in diesem Fall als Ehrendame?“
Botho ließ seine Schwester gar nicht zu Worte kommen. „Das gilt nicht, Bäschen! Dagegen protestiere ich! Und vor allem protestiere ich dagegen, dass du mich immer mit dem steifen ‚Sie‘ traktierst. Ist doch Unsinn zwischen uns. Du nennst doch Gitta auch du. Ich beanspruche das gleiche Recht.“
Ellinor sah mit blitzenden Augen zu dem Baron hinüber. „Was meinen Sie, Herr Baron? Sie sind unparteiisch in diesem Fall und wohlvertraut mit allem, was sich schickt. Darf ich zu meinem Vetter ‚du‘ sagen oder ist das nach deutschen Verhältnissen unschicklich?“
Er sah ihr groß und ernst in die Augen.
Dass sie ihn verspotten wollte, fühlte er sehr wohl, aber er nahm es ihr nicht übel. Frei und großzügig, wie sie erzogen war, mussten ihr seine Bedenken kleinlich erschienen sein.
„Ihr Spott trifft mich ganz mit Unrecht, mein gnädiges Fräulein. Aber ich bitte Sie, mir zu glauben, dass ich es gut meinte, als ich Sie darauf aufmerksam machte, dass bei uns in Deutschland alleinstehende junge Damen keine Herrenbesuche empfangen dürfen.“
In Ellinors Gesicht stieg eine leichte Röte unter seinem ernsten Blick, in dem eine stumme Bitte lag. Wäre sie durch Gittas lügnerische Mitteilungen nicht gegen ihn beeinflusst gewesen, sie hätte ihm wohl jetzt freimütig die Hand gereicht und gesagt: „Ich danke Ihnen, dass Sie mich auf einen Fehler aufmerksam machten.“ Aber so lag ihr eine andere Entgegnung auf den Lippen. Sie wollte ihn fragen: „Meinten Sie es auch gut mit mir, als Sie nach Ihrem Besuch schleunigst zu meiner Tante fuhren und mich bei ihr als unweiblich verklagten?“
Gitta merkte jedoch, dass die Unterhaltung für sie unangenehm zu werden drohte, und trat schnell an des Barons Seite. „Wenn wir bis zur Teestunde eine Partie spielen wollen, dürfen wir nicht länger zögern“, sagte sie hastig.
Ellinor unterließ die Frage, die ihr auf den Lippen schwebte. Sie wandte sich ab, weil es ihr weh tat, zu sehen, dass Gitta so selbstverständlich, als gehöre sie zu ihm, neben den Baron trat.
„So wollen wir zum Tennisplatz gehen“, sagte sie aufatmend.
„Einen Augenblick, Bäschen! Du musst mich erst feierlich in meine vetterlichen Rechte einsetzen“, rief Botho eifrig.
Ellinor wandte sich ihm zu. „Also gut, Vetter, ich akzeptiere das ‚Du‘, da wir doch nun einmal verwandt sind. Noch einen Moment Geduld, Gitta, ich möchte nur deinen Eltern guten Tag sagen. Gleich bin ich wieder hier.“
Sie eilte leichtfüßig ins Haus. Gitta forderte lächelnd den Baron auf, mit ihr vorauszugehen. Botho blieb, auf Ellinor wartend, stehen.
Der Baron ging nur ungern mit Gitta. Als sie ihm jedoch, nachdem sie außer Hörweite waren, schelmisch zuflüsterte: „Mein Bruder und Ellinor werden uns Dank wissen, dass wir sie ein Weilchen allein lassen“, da wäre er am liebsten umgekehrt.
Aber dann warf er den Kopf zurück. Nein, einen Botho brauchte er nicht zu fürchten! Wenn Ellinor an ihm Gefallen fand, dann war sie nicht die Ellinor, die er zu kennen glaubte, für die in seinem Herzen ein großes, heiliges Gefühl zu keimen begann.
Als Ellinor aus dem Haus kam, stand Botho wartend da und schwenkte grüßend das Rakett. „Nun komm, mein schönes Bäschen!“, sagte er mit feuriger Betonung.
Sie schritt neben ihm her. Um ihre Lippen zuckte es mutwillig. „Komplimente zwischen Verwandten sind unzulässig und unnötig, Vetter“, sagte sie abweisend.
„Aber liebe Ellinor, wenn du wüsstest, wie entzückend ich dich finde.“
Sie blickte ihn spöttisch an. „Das interessiert mich gar nicht. Aber etwas anderes erfüllt mich mit brennendem Interesse.“
„Was denn, teure Ellinor?“
„Die Frage, ob du beim Tennisspiel das Monokel im Auge behältst.“
Er sah sie verdutzt an, so dass sie Mühe hatte, ernst zu bleiben. Da es ihr aber gelang, fühlte sich Botho bewogen, ihre Frage ernst zu nehmen, er hielt ihr darüber einen langen Vortrag, den er damit illustrierte, dass er das Monokel diverse Male aus dem Auge nahm und wieder einklemmte.
Sie konnte währenddessen ihren Gedanken nachhängen. Gittas Lachen und Plaudern klang zu ihr herüber, untermischt von den Tönen einer sonoren Männerstimme. Sie wehrte sich gegen das schmerzliche Gefühl, das immer wieder in ihr aufsteigen wollte, und zwang sich zu einer lustigen Stimmung.
Auch während des Spiels war sie scheinbar übermütig und heiter. Sie neckte sich mit Botho, zog ihn ein wenig auf und lachte über ihn, nur um ihre Gedanken von dem Baron und Gitta abzulenken.
Mit dem Baron wechselte sie nur die beim Spiel üblichen Worte und überließ ihn geflissentlich Gittas Gesellschaft.
Als sie nach beendetem Spiel ins Haus zurückkehrten, hielt sich Botho wieder an Ellinors Seite, während Gitta neben Lindeck herging.
Kuno von Lossow und seine Gemahlin standen auf der Terrasse. Sie blickten zufrieden auf die beiden Paare.
„Wenn sich doch Baron Lindeck Gitta endlich erklären wollte“, sagte Frau Helene mit einem Seufzer.
„Hast du Hoffnung, dass dies geschieht?“, fragte ihr Gatte überrascht.
„Nun, jedenfalls verkehrt er mit keiner anderen Dame so viel wie mit Gitta. Er ist doch auch wirklich heiratsfähig mit seinen dreiunddreißig Jahren. Ich wüsste nicht, dass er sich um andere bemüht.“
„Das sind leider keine stichhaltigen Argumente. Ich dachte, du hättest begründetere Hoffnung.“
Frau Helene zuckte die Achseln. Antworten konnte sie nicht mehr, da der Baron mit Gitta herangekommen war. Auch Botho und Ellinor erschienen gleich darauf.
Die jungen Leute wollten den Tee auf der Terrasse einnehmen, aber Frau Helene protestierte. „Nein, nein, die Sonne ist hinter den Bäumen verschwunden, und ihr seid erhitzt. Ich habe drinnen den Teetisch decken lassen“, sagte sie und schlang wie in mütterlicher Zärtlichkeit ihren Arm um Ellinors Schulter, sie so ins Haus führend.
Man nahm am Teetisch Platz. Gitta füllte die Tassen und kredenzte sie anmutig lächelnd. Als sie dem Baron eine Tasse reichte, fragte sie schelmisch: „Zwei Stücke Zucker – sonst nichts, nicht wahr?“
Er verneigte sich artig. „Es ist sehr liebenswürdig, dass Sie sich das gemerkt haben, gnädiges Fräulein.“
„Oh, ich habe Ihnen doch schon manche Tasse Tee kredenzt, da ist das nicht schwer zu merken. Und lieben Gästen muss man es doch behaglich machen“, sagte Gitta neckend und sah den Baron fast zärtlich an.
Es zuckte in seinen Augen wie Wetterleuchten, und seine Stirn rötete sich vor Unwillen über Gittas unangebrachte Vertraulichkeit. Sein Blick flog zu Ellinor hinüber, und da sah er in ihren Augen einen seltsamen Ausdruck. Wie heimliches Forschen lag es darin und wie schmerzlicher Zorn. Dieser Ausdruck gab ihm zu denken.
Was lag nur in diesem sonderbaren Blick, was bedeutete er?
Schnell hatte sich Ellinor wieder von ihm weggewandt und plauderte eifrig mit Botho, der neben ihr saß, während Gitta neben dem Baron Platz genommen hatte. Zwischen den beiden jungen Paaren saßen Frau Helene und ihr Gatte.
Baron Lindeck hatte nicht viel Aufmerksamkeit für Gitta übrig, obwohl er notgedrungen mit ihr plaudern musste. Seine Augen flogen immer wieder zu Ellinor hinüber. Ihr reizendes, lebensfrisches Antlitz entzückte ihn immer von neuem. Wie köstlich der blütenfrische Teint wirkte. Es lag etwas Herzerfrischendes, Reines und Unberührtes über ihrer ganzen Erscheinung.
Als Botho mit seinen faden Komplimenten und Beteuerungen gar zu sehr ins Zeug ging, war Lindeck zumute, als müsse er diesen Gecken wie ein lästiges Insekt von Ellinors Seite scheuchen.
***
Wochen waren vergangen. Botho hatte sich die größte Mühe gegeben, Ellinor für sich zu gewinnen. Sie nahm seine Huldigungen niemals ernst und ließ keinen Zweifel darüber, dass er sich verglich um sie bemühte und dass er keine Hoffnung habe, bei ihr je sein Ziel zu erreichen. Aber Botho merkte nicht, dass Ellinor ihn entweder aufzog oder abweisend behandelte. Er glaubte, Ellinor ziere sich nur nach Mädchenart ein wenig, ehe sie sich ergab.
„Wenn ich nur zuweilen mit ihr allein sein könnte, dann wäre ich längst am Ziel“, sagte er oft zu seinen Angehörigen.
Vergeblich suchte er ihr allein zu begegnen, vergeblich lauerte er ihr auf, wenn sie ausritt oder ausging. Stets wusste sie ihm geschickt zu entkommen.
Sein Urlaub war nun ziemlich abgelaufen, in zwei Tagen musste er abreisen.
Sein Vater und seine Mutter drängten. Auch Gitta brannte darauf, dass Botho sich Ellinor sicherte, denn sie merkte, dass trotz all ihrer Diplomatie der Baron sich Ellinor zu nähern versuchte.
Um den Bruder zu einem entscheidenden Schritt zu veranlassen, verspottete sie ihn, so dass Botho wütend wurde und sich verschwor, Ellinors Jawort noch vor seiner Abreise zu erhalten.
„Sorge dafür, dass ich heute, wenn wir in Lemkow sind, eine halbe Stunde allein und ungestört mit Ellinor bleibe, dann wird alles entschieden sein“, sagte er zu Gitta.
Gitta versprach ihm dieses Alleinsein auf jeden Fall zu verschaffen.
Ellinor empfing die Geschwister in einem reizenden kleinen Salon, der mit zu den Gemächern der einstigen Herrin von Lemkow gehörte, die Ellinor jetzt bewohnte. Es war ein sehr behaglicher, stimmungsvoller Raum, der so recht zum Plaudern mit gleichgestimmten Seelen oder zum Träumen einlud.
Ellinor hatte soeben gesessen und geträumt. Nun schritt sie den Geschwistern entgegen.
Botho küsste ihr mit einem feurig sein sollenden Augenaufschlag die Hand. „Es ist für lange Zeit das letzte Mal, dass ich nach Lemkow komme, teuerste Ellinor. Morgen geht mein Urlaub zu Ende“, sagte er, als habe er ihr etwas für sie sehr Betrübendes mitzuteilen.
Ellinor lachte ungerührt. „Will das Vaterland nicht länger auf deine Dienste verzichten, Vetter?“, fragte sie neckend.
Er lachte. Es war ein dünnes, farbloses Lachen. „Nein, mein reizendes Bäschen, das Vaterland braucht mich zu nötig.“
Ellinor funkelte ihn mutwillig an. „Du bist dir wenigstens deines Werts bewusst“, sagte sie spöttisch. Zu Gitta gewendet, fuhr sie fort: „Du Gitta, musst nun wieder ohne deinen Bruder auskommen, während ich den meinen bald hier haben werde. Wie mir mein Vater gestern schrieb, wird Fred bereits Mitte Juli mit unserer Hausdame hier eintreffen. Mein Vater kommt dann einige Wochen später nach. Ich freue mich so sehr auf Fred!“
Sie hatten Platz genommen. Botho saß an Ellinors Seite. „Dein Bruder ist aber doch noch sehr jung, Ellinor. Von ihm wirst du nicht viel haben.“
Ellinor hob die leuchtenden Augen empor; „Oh, Fredy ist klüger und verständiger als – nun, als manch anderer junger Mann, der doppelt so alt ist wie er.“
„O weh, also ein frühreifes Bürschchen“, spottete Gitta.
„Warte, bis du ihn kennst“, erwiderte Ellinor ruhig.
Gitta lachte. „Nun ja, ich mache ja nur Scherz. Aber jetzt muss ich erst mal die Lemkower Mamsell aufsuchen. Mama hat mich beauftragt, mir von ihr das Rezept zu dem Rumobst geben zu lassen, das in Lemkow immer so vorzüglich ist.“
„Bleib doch, Gitta! Ich kann ja Mamsell rufen lassen.“
„Nein, nein, ich weiß, sie wird leicht ungemütlich, wenn man sie von der Arbeit abruft. Sucht man sie dagegen in ihrem Reich auf, so ist sie viel zugänglicher. Ich möchte auch noch ein paar andere Rezepte haben.“
Gitta hatte sich erhoben und schritt zur Tür. Dort wandte sie sich noch einmal lächelnd um. Aber Ellinor bemerkte, dass sie dem Bruder einen raschen, bedeutungsvollen Blick zuwarf.
Wie in Abwehr richtete sich Ellinor in ihrem Sessel steif empor.
Sie wusste, weshalb Gitta sie mit Botho allein ließ. Zugleich erkannte sie aber auch, dass Botho heute wahrscheinlich nicht von seinem Vorhaben abzubringen sei. Wenn er also durchaus einen Abfall erleben wollte, nun, sie konnte ihn nicht daran hindern. Deutlich genug hatte sie ihm schon zu verstehen gegeben, dass er bei ihr nichts zu hoffen habe. Entweder war er zu sehr von sich eingenommen, um das verstehen zu wollen, oder er hatte es wirklich nicht verstanden.
So saß sie nun, die schlanken Hände auf die Sessellehne gestützt, vor ihm und sah ihn ruhig an.
Er ging denn auch sofort auf sein Ziel los. „Teure Ellinor, ich preise den Zufall, der mir dieses Alleinsein mit dir beschert, zumal ich – hm – ja, zumal ich etwas auf dem Herzen habe. Was es ist, das wirst du wohl ahnen, mein reizendes Bäschen. Heute will und muss ich es dir sagen, denn morgen muss ich fort. Und dieses – hm – ja – dieses Hangen und Bangen soll zwischen uns ein Ende nehmen. Also kurz und soldatisch – ich bin verliebt in dich, teure Ellinor. Sozusagen bis über beide Ohren! Wahrhaftig, ich liebe dich rasend, süße Ellinor, seit ich dich zuerst gesehen habe.“
Sie sah ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an. „So schnell ist das gegangen, Vetter?“, fragte sie mit leisem Spott.
„Ja, hm, wahrhaftig, sozusagen Liebe auf den ersten Blick, Ellinor. Ich war gleich total in dich verschossen, als ich dich sah. Auf Ehre, hast kolossalen Eindruck auf mich gemacht. Und siehst du, da unsere Väter doch sozusagen wünschen, dass wir uns heiraten, damit die unglückliche Erbschaftschose ins rechte Fahrwasser kommt, deshalb ist das natürlich sehr angenehm, nicht wahr? Wir passen famos zusammen, auf Ehre. Habe natürlich sofort gemerkt, dass du auch nicht abgeneigt bist. Ist ja auch das gescheiteste, wir vermählen uns, nicht wahr? Ich liebe dich wahrhaftig ganz ungeheuer, Ellinor. Hoffe, du bist von gleichen Gefühlen für mich beseelt. Wäre natürlich riesig nett, wenn wir uns verlobten, ehe ich abreise. Papa und Mama würden dich mit offenen Armen empfangen, alles ist dann in schönster Ordnung.“
Er atmete tief auf, als er das alles glücklich heraus hatte. Ellinor hatte ihn ein paar Mal unterbrechen wollen, aber er schnarrte das alles ohne Aufenthalt, wie eingelernt, herunter. Trotz seiner Siegessicherheit irritierten ihn Ellinors Augen. Sie sahen ihn so groß und ernst an, wie noch nie zuvor.
Und sehr ernst und ruhig antwortete sie nun: „Lieber Vetter, ich glaube allerdings, dass wir beide von ganz denselben Gefühlen füreinander beseelt sind – das heißt auf gut deutsch und ehrlich übersetzt: Wir sind einander vollständig gleichgültig. Du liebst mich ebenso wenig, wie ich dich liebe. Du möchtest aber gern, dass ich dich heirate, weil die Verhältnisse passend scheinen. Leider muss ich dich da enttäuschen. Ich werde niemals einwilligen, deine Frau zu werden.“
Bothos fades, blasses Gesicht rötete sich in fassungslosem Staunen. „Aber – aber – warum denn nicht, Ellinor? Das ist doch nicht dein Ernst! Bedenke doch nur, der künftige Majoratsherr von Lossow bietet dir seine Hand – trotz – ja obwohl doch deine Mutter – hm nun – sagen wir – sehr bürgerlich war.“
„Sag nur ruhig: Obwohl deine Mutter eine Wäscherin war. Du brauchst dich nicht zu scheuen, es auszusprechen!“
„Hm, ja – also gut. Du musst doch einsehen, dass sich jeder deutsche Edelmann daran stoßen würde.“
Sie sah ihn mit funkelnden Augen an. „Du stößt dich ja auch nicht daran!“
„Ich? Ja – hm – ja, siehst du, weil es doch bei uns sozusagen in der Familie bleibt. Ein anderer würde nicht so leicht darüber hinweggehen.“
Ellinor erhob sich zu ihrer ganzen schlanken Höhe. „So mag es der andere bleiben lassen, Vetter. Und nun Schluss damit. Jetzt will ich Gitta holen, um zu sehen, ob sie die wichtigen Rezepte von Mamsell erhalten hat.“
Sie ging schnell hinaus.
Botho von Lossow war abgereist mit dem schrecklichen Gefühl, dass auch ein schneidiger Leutnant einen regelrechten Korb erhalten kann.
Zu Hause hatte es noch eine sehr erregte Szene gegeben. Botho musste für seine Siegessicherheit bitter büßen. Vater und Mutter ließen es nicht fehlen an Vorwürfen, die er im Grunde gar nicht verdiente. Natürlich grollten sie Ellinor am meisten.
Noch heftiger war der Groll Gittas gegen Ellinor. Sie war wütend, dass Botho abgefallen war, denn sie wünschte dringend, dass Ellinor für Baron Lindeck unerreichbar sei. Musste sie doch sehen, dass er sich jetzt sehr viel mit Ellinor beschäftigte.
Gitta redete sich jetzt allen Ernstes ein, Heinz Lindeck habe früher ernste Absichten auf sie gehabt. Sie war fest überzeugt, dass der Baron sich nur um Ellinor bemühte, weil diese reicher war als sie.
So herrschte in Lossow eine erbitterte Stimmung gegen Ellinor. Es fielen hässliche Worte über die junge Amerikanerin. Diese ließ sich vorläufig klugerweise in Lossow gar nicht sehen.
Baron Lindeck kam einige Male in der Hoffnung, Ellinor zu sehen, nach Lossow. Gitta kam ihm stets außerordentlich liebenswürdig entgegen, aber Ellinor erwähnte sie gar nicht. Dann fragte er eines Tages direkt, ob die junge Dame krank sei, da man sie gar nicht mehr sähe. Da antwortete Gitta mit gehässigem Ausdruck, Ellinor habe den Eltern Veranlassung gegeben, ihr zu zürnen, man sei ihr sehr böse.
Heinz Lindeck wollte nicht neugierig sein, er forschte nicht weiter nach. Aber da er sehr scharfsinnig war, kombinierte er ganz richtig, Botho sei jedenfalls mit einem Korb abgezogen und Ellinor deshalb in Ungnade gefallen.
So sehr ihn das freute, so betrübt war er, Ellinor nun nicht mehr in Lossow sehen zu können. Wenn ihn der Zufall jetzt nicht einmal in ihren Weg führte, war es möglich, dass er sie nicht eher sah, bis ihr Bruder und die Hausdame nach Lemkow kamen. Und doch wurde ihm jeder Tag zur Ewigkeit, an dem er sie nicht sah.
Auch Ellinor dachte mehr, als für sie gut war, an Heinz Lindeck. Jetzt, da sie nicht nach Lossow kam und auch Gitta nicht sah, glaubte sie, jeder Tag müsse die Entscheidung bringen. Tagtäglich fragte sie sich, ob der Baron nun wohl seine Werbung bei Gittas Eltern vorgebracht habe. Sie zürnte sich selbst, dass sie immer daran denken musste; sie sagte sich, der Baron müsse ihr völlig gleichgültig sein – aber das Herz ist eben ein eigenwilliges Ding, das sich nicht regieren lässt.
***
„Meinst du nicht, Mama, dass es unklug ist, wenn wir uns Ellinor fernhalten? Wenn jetzt ihr Bruder und die Hausdame nach Lemkow kommen, womöglich sind sie schon da, dann wird Baron Lindeck sicher drüben Besuch machen. Und dann weiß man nicht, was geschieht. Ich möchte mich doch nicht so ohne weiteres beiseite schieben lassen. Bestimmt hat der Baron Absichten auf die reiche Erbin.“
„Meinst du wirklich, Gitta?“, fragte die alte Dame hastig.
Mutter und Tochter saßen sich im Salon gegenüber.
„Gewiss, Mama, wenn man da nicht energisch vorbeugt. Warum sollte er auch nicht? Sie ist ja eine glänzende Partie. Es werden noch andere so klug sein wie Botho“, sagte Gitta bitter.
„Das muss um jeden Preis verhindert werden, Gitta. Noch gebe ich unsere Sache nicht verloren – weder die deine noch die Bothos.“
„Aber dazu müssen wir unbedingt wieder mit Ellinor einlenken.“
„Ja, du hast Recht. Ich habe auch schon daran gedacht. Von selbst kommt sie nicht wieder!“
„Nein, das tut sie gewiss nicht.“
„Hm. Also, weißt du, Gitta, reite heute Nachmittag hinüber nach Lemkow, mit der Begründung, ihren Bruder auch in meinem Namen begrüßen zu wollen. Dann wirst du ja auch gleich hören, ob der Baron schon drüben war. Ellinors Sentimentalität muss uns ein Mittel sein, sie diplomatisch gegen den Baron einzunehmen. Gib dein und Bothos Ziel noch nicht auf!“
„Ja, Mama, aber du könntest mir mit deiner Klugheit ein wenig helfen und raten. Ellinor hat wohl auch schon gemerkt, dass der Baron mir gegenüber nicht Ernst macht. Was soll ich ihr da sagen?“
Die beiden Damen sprachen leise und erregt weiter und schmiedeten einen regelrechten Plan.
Am Nachmittag ritt Gitta wirklich nach Lemkow.
Sie wurde von Ellinor freundlich empfangen, als sei nichts geschehen.
Gitta fragte nach Fred, und Ellinor sagte ihr, sie erwarte ihn und Mrs. Stemberg am nächsten Tag.
Im Lauf des Gesprächs kam Ellinor dann auch auf das Thema, das Gitta so sehr am Herzen lag. „Ist Baron Lindeck in letzter Zeit viel mit dir zusammen getroffen, Gitta?“
In Gittas Augen flimmerte es seltsam. Sie machte ein trauriges Gesicht und seufzte. „Nein, er lässt sich nicht mehr sehen“, sagte sie trüb.
Ellinor betrachtete sie forschend. „Wie kommt das, Gitta? Ich habe immerzu auf eure Verlobungsanzeige gewartet.“
Gitta seufzte wieder, senkte den Kopf und sah auf ihre Hände herab, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. „Ach, wer weiß, ob da noch. etwas draus wird“, sagte sie bitter.
Ellinors Herz klopfte zum Zerspringen. „Warum nicht? Habt ihr euch erzürnt?“
Gitta richtete sich seufzend auf. „Ich will es dir sagen, Ellinor. Du bist schuld daran.“
Ellinor erschrak so, dass ihr Herzschlag auszusetzen drohte. „Ich?“
„Ja, du – natürlich, ohne es zu wissen und zu wollen. Ach, ich muss dir einmal mein Herz ausschütten, und ich will dich auch zugleich warnen. Also höre! Ehe Onkel Heribert starb, bewarb sich Lindeck schon um mich; wahrscheinlich in der Voraussetzung, in mir die reiche Erbin zu sehen. Seit Onkel Heriberts Testament und deinem Auftauchen hier zog er sich von mir zurück und näherte sich dir. Nein, nein, sage nichts, es kann dir nicht entgangen sein. Ich weiß, dass du ihn nicht ermutigt hast. Das wäre ja auch schlecht von dir gewesen, da ich dir doch anvertraut hatte, wie es um mich und ihn stand. Du bist die bessere Partie von uns beiden – das gibt bei ihm den Ausschlag. Du wirst bald merken, was für schöne Augen, für süße, feurige Worte er machen kann, um ein Mädchenherz zu betören. Doch das gilt ja deinem Geld, und ich kann zusehen, wie ich es ertrage.“
Ellinor war bleich geworden, und ihre Augen funkelten vor Zorn. „Oh, wie niedrig – wie infam! So also ist das? Nun wird mir manches klar! Aber er soll sich getäuscht haben, der edle Herr. Hat er mich unweiblich gescholten, so nenne ich ihn unwert, den Namen Mann zu führen! Ich danke dir, Gitta, für dein Vertrauen. Preise dich glücklich, dass du nicht die Frau eines so niedrigen, berechnenden Charakters geworden bist!“
Bebend vor Zorn und Entrüstung stieß Ellinor diese Worte hervor. Und dabei erfüllte sie ein namenloser Schmerz.
Gitta beobachtete ungerührt die Wirkung ihrer schlau berechneten Worte und war zufrieden.
***
Von Ellinor am Bahnhof erwartet, war Mrs. Stemberg mit Fred Lossow eingetroffen. Nach einer überaus herzlichen Begrüßung saßen sie einander im Wagen gegenüber, und was hatten sich die Geschwister alles zu sagen!
„Ist alles gut gegangen? Hattet Ihr eine gute Reise? Ist nun drüben alles im Haushalt erledigt, Mrs. Stemberg? Ach, ich möchte tausend Fragen auf einmal tun“, sagte Ellinor erregt.
„Ich habe dir auch mindestens tausend Fragen vorzulegen, Ellinor“, behauptete Fred.
„Sollen dir alle beantwortet werden.“
Die Fragen und Antworten flogen herüber und hinüber.
Dann kamen sie auf Lemkower Gebiet; über Wiesen und Felder ging die Fahrt und dann durch den herrlichen Wald.
Fredys Augen strahlten. „Schön! Wunderschön! Ach, Ellinor, ich habe die letzten Wochen kaum noch ertragen können, und Vater fiebert vor Sehnsucht, dass er uns nachfolgen kann.“
Als der Wagen bei einer Wegbiegung um die Ecke fuhr, begegnete ihnen Baron Lindeck zu Pferd. Ellinor wurde dunkelrot unter dem Grußblick seiner Augen.
Fredy sah die Röte im Antlitz der Schwester, und er blickte voll Interesse auf den stattlichen Reiter. „Wer war das, Ellinor?“
Sie fuhr sich mit dem Tuch über das erhitzte Gesicht. „Das war Baron Lindeck.“
„Ah, den Namen kenne ich schon! Das ist Onkel Heriberts junger Freund, dem er sein Reitpferd hinterlassen hat.“
„Ja, Fredy, er ritt ‚Satir‘.“
Der Knabe wandte sich nochmals nach dem Reiter um. „Du Ellinor, Baron Lindeck gefällt mir.“
„So schnell bist du dir darüber klar?“, frage sie mit mattem Lächeln.
Fredys kluge Augen richteten sich forschend auf der Schwester Gesicht, ihr Benehmen gab ihm zu denken. Er fühlte instinktiv, da war etwas Fremdes in der Schwester, an das er nicht rühren durfte.
So sagte er nur: „Ja, Ellinor, du weißt doch, bei mir gibt es Sympathien und Antipathien auf den ersten Blick. Und für was ich mich da sozusagen im Flug entscheide, das ist meistens gerechtfertigt.“
Schon am übernächsten Tage machte Heinz Lindeck Besuch in Lemkow.
Ellinor und Fredy standen gerade auf der breiten Freitreppe, als der Wagen des Barons vorfuhr. Einen schönen Anblick bot das sich zärtlich umschlungene Geschwisterpaar!
Heinz Lindeck ließ seine Augen voll Wohlgefallen auf ihnen ruhen. Ellinor trug ein duftiges weißes Kleid mit schwarzer Stickerei. Sie sah herrlich aus mit dem sanften Rot der Freude auf den Wangen. Wie eine junge Königin schritt sie ihm entgegen.
Aber er merkte auch, dass sich bei seinem Anblick ein Schatten über ihr Antlitz breitete und dass die klare Stirn sich wie im Schmerz zusammenzog.
Fredy hatte den Baron sofort erkannt. Mit einem schnellen Blick sah er zu seiner Schwester auf. Da war wieder der unsichere Ausdruck in ihrem Gesicht.
Sie hatten beide zu den Ställen hinübergehen wollen, um ein Reitpferd für Fred auszusuchen. Nun gingen sie mit dem Baron ins Haus zurück und ließen Mrs. Stemberg rufen. Ellinor und der Baron mussten an seinen ersten Besuch in Lemkow denken.
Mrs. Stemberg, in der der Baron eine sehr kluge, sympathische Dame kennen lernte, machte in untadeliger Weise die Honneurs des Hauses. Der Baron fühlte sofort den harmonischen Grundton, der in der Familie Fritz Lossows zu herrschen schien, heraus, und doppelt betrübte ihn der scharfe Ton, den Ellinor ihm gegenüber anschlug.
Desto herzlicher und freundlicher kam ihm Fred entgegen. Beide fühlten sich sofort zueinander hingezogen.
Fred bat Lindeck, mit nach den Ställen zu gehen, um ein Pferd für ihn aussuchen zu helfen. Ellinor wollte es erst verhindern. „Wir dürfen den Herrn Baron nicht belästigen, Fredy“, sagte sie rasch.
Aber Fredy lachte und hing sich in des Barons Arm. „Nicht wahr, das belästigt Sie nicht? Sie helfen mir doch gern, Herr Baron?“, fragte er treuherzig.
Heinz Lindeck hätte den Knaben am liebsten ans Herz gedrückt. Er fasste aber nur seine Hand mit festem, warmem Griff. „Ich hoffe und wünsche, dass Sie davon immer überzeugt sind und über mich verfügen, mein junger Herr.“
„Ach, sagen Sie bitte Fred zu mir, Herr Baron, ein Herr bin ich noch nicht“, lachte. der Knabe vergnügt.
„Wenn Sie erlauben, gern, lieber Fred.“
Sie gingen nun in die Ställe hinüber, Ellinor zwischen Fred und dem Baron. Freds Munterkeit riss Ellinor mit fort. Entzückt lauschte der Baron ihrem warmen, frohen Lachen.
Er kannte den ganzen Lemkower Stall und fand sofort ein passendes Pferd für Fred. Es hieß „Favorit“ und war ein schön gebautes, schlankes Tier mit schmalem Kopf und schlanken Fesseln.
Fred brannte darauf, einen Versuch mit „Favorit“ zu machen.
„Schade, dass Sie nicht zu Pferd hier sind, Herr Baron“, meinte er.
„Warum?“
„Dann hätten wir Sie ein Stück Weg begleitet.“
„Fredy, sei nicht so voreilig!“, sagte Ellinor hastig. „Ich weiß nicht, ob es sich in Deutschland schickt, dass man einem Gast das Geleit gibt. Der Herr Baron ist in solchen Fragen sehr empfindlich.“
Lindecks Stirn rötete sich jäh. Er fühlte nur zu gut, dass Ellinor ihm heute sehr schroff gegenüberstand. Aber er hielt es für besser, den Ausfall zu ignorieren.
„Es wäre wundervoll gewesen, Fred“, sagte er lächelnd. „Nun tut es mir herzlich Leid, dass ich im Wagen gekommen bin. Aber vielleicht machen wir morgen einen gemeinsamen Ausflug zu Pferd? Vielleicht nach Trassenfelde oder Lindeck, wenn Ihr Fräulein Schwester es gestattet? Diese Gegenden sind Ihnen wohl noch unbekannt, gnädiges Fräulein?“
„Ach, ja, Ellinor, du bist dabei, nicht wahr? Bitte, bitte!“
Ellinor musste nachgeben – und trotz der heimlichen Selbstvorwürfe tat sie es gern.
***
Am nächsten Tag holte der Baron die Geschwister wirklich zum gemeinsamen Spazierritt ab.
Sorglich kontrollierte er Favorit und gab Fred allerlei gute Ratschläge, wie er das Tier zu behandeln habe.
„Ich habe es zu Lebzeiten Ihres Herrn Großonkels manchmal geritten“, sagte er, dabei beobachtete er zugleich Diana, die unter Ellinors Führung zuweilen nervös zur Seite sprang.
„Mir scheint, mein gnädiges Fräulein, Diana ist sehr unruhig“, sagte er besorgt.
Ellinor warf den Kopf zurück. „Mag sein“, erwiderte sie kurz.
„Dann sollten Sie aber lieber ein anderes Pferd reiten.“
Sie zuckte die Achseln. „Ich kenne Dianas Mucken und weiß, wie ich mit ihr dran bin.“
In demselben Augenblick scheute Diana und bäumte sich hoch auf. Es kam so unerwartet, dass Ellinor beinahe aus dem Sattel geworfen worden wäre. Sie behielt jedoch ihre Geistesgegenwart und behauptete ihren Platz. Schon hatte auch der Baron Diana am Zügel gefasst.
Als Ellinor in sein Gesicht blickte, merkte sie, dass er bleich geworden war und dass seine Augen in heißer, zärtlicher Sorge auf ihr ruhten.
Da schwankte sie vor heimlicher Erregung einen Moment haltlos im Sattel. Aber sofort hatte sie sich wieder in der Gewalt.
„Lassen Sie, bitte, den Zügel los, Herr Baron! Diana will sich einmal auslaufen“, sagte sie hastig. Dann jagte sie davon.
Fred und der Baron folgten ihr.
Auch Fred hatte in des Barons Antlitz die zärtliche Sorge um die Schwester gesehen.
„Sie sollten Ihren Einfluss geltend machen, Fred, dass Ihr Fräulein Schwester Diana nicht mehr reitet“, stieß der Baron erregt hervor.
Der Knabe sah ihn mit hellen Augen an. „Ich will es versuchen, Herr Baron.“
Sie hatten Ellinor inzwischen erreicht. Sie wandte sich, anscheinend ganz ruhig, lächelnd um. „Sehen Sie, Herr Baron, Diana ist nun ganz artig.“
Die Herren ritten Ellinor zur Seite. Aber während Fred und der Baron sich lebhaft unterhielten, blieb sie merklich still. Sie musste immer daran denken, dass der Baron so blass ausgesehen und dass seine Augen so voll zärtlicher Sorge auf ihr geruht hatten, als sie vorhin aus dem Sattel zu stürzen drohte.
Heinz von Lindeck kam nun fast täglich nach Lemkow. Er ließ sich nicht abschrecken durch Ellinors abweisendes Wesen. Auch dadurch nicht, dass Gitta von Lossow oft anwesend war.
Ellinor beobachtete ihn scharf im Verkehr mit Gitta, und doch sah sie nur immer dasselbe: dass er Gitta gegenüber die strengsten, aber auch die kältesten Formen bewahrte und dass Gitta trotz alledem sehr liebenswürdig zu ihm war.
Sie begriff Gitta nicht. An ihrer Stelle wäre sie ganz anders zu dem Verräter gewesen.
Mit Fred hatte sich der Baron innig befreundet. Dieser hatte ihn schon einige Male in Lindeck besucht. Ellinor war immer merkwürdig neugierig und interessiert gewesen, wenn Fred wieder nach Hause kam. Sie forschte ihn aus, wie der Baron in Lindeck lebte, wie es dort aussah und wie er sich in seinem eigenen Haus gab. Nach tausend scheinbar gleichgültigen Dingen fragte sie. Fred berichtete bereitwillig und ausführlich. Er merkte nur zu gut, dass Ellinor sich brennend für alles interessierte, was mit dem Baron zusammenhing, obgleich sie sich stets so abweisend und gleichgültig zu ihm stellte.
Der kluge kleine Mann machte sich über die beiden seine eigenen Gedanken. Sie kamen ihm wie die beiden Königskinder vor, die aus irgendeinem Grund nicht zusammenkommen konnten.
***
„Fredy, ich reite mit dem Verwalter aufs Feld hinaus. Es soll eine neue Mähmaschine probiert werden. Kommst du mit?“, sagte Ellinor, zu ihrem Bruder ins Zimmer tretend.
Fredy sah von seinem Buch auf. „Nein, Ellinor, heute nicht. Baron Lindeck will mich um elf Uhr abholen.“
Ellinor strich ihm zärtlich das Haar aus der Stirn. „Du hast ja kaum mehr Zeit für mich, Fredy. Ich werde noch eifersüchtig auf den Baron.“
Er schlang die Arme um ihren Hals. „Aber Ellinor! Ich habe ihn zwar sehr gern, aber so lieb wie dich doch nicht. Da brauchst du nicht eifersüchtig zu werden.
Sie lächelte. „Nein, nein, ich sagte das ja nur aus Scherz. Also sehen wir uns zu Mittag wieder?“
„Ja, Ellinor. Darf ich den Baron zu Tisch einladen?“
Ellinor wandte sich ab. „Wenn du es absolut willst. Auf Wiedersehen, Fredy!“
„Ellinor, willst du mit nicht sagen, was du gegen Baron Lindeck hast?“
Ellinor wurde rot und wich seinem Blick aus. „Lass mich, Fredy, quäle mich nicht! Ich – ich kann es dir nicht sagen“, stieß sie hervor und eilte aus dem Zimmer.
Fred schüttelte den Kopf und sah ihr, in Gedanken versunken, nach.
Ellinor bestieg in erregter Stimmung ihr Pferd und ritt an des Verwalters Seite aufs Feld hinaus. Sie besprachen dabei allerlei Geschäftliches, aber Ellinor war heute nicht so bei der Sache wie sonst.
Diana hatte schon wiederholt ihr Missfallen darüber, dass ihre Herrin heute die Zügel mit unruhigen Händen regierte, durch allerlei Seitensprünge ausgedrückt. Ellinor achtete jedoch nicht darauf. Endlich waren Ellinor und der Verwalter an ihrem Ziel angelangt. Sie hielten die Pferde an. Der Verwalter sprang ab und trat zu den Arbeitern, die soeben die neue Maschine in Gang bringen wollten.
Ellinor saß wie verträumt auf ihrer Diana und achtete kaum auf die Umgebung. Ihre Augen schauten nach dem Wald hinüber. Und plötzlich zuckte sie zusammen: Da drüben ritt Heinz Lindeck – so weit entfernt, dass sie ihn kaum erkannte, aber ihr Herz wusste, dass er es war.
Unsicher tasteten ihre Hände nach dem Zügel. In demselben Augenblick streifte ein Arbeiter mit einer Garbe an ihr vorüber, und die reifen Ähren stachelten Diana in die Flanken. Unglücklicherweise blitzte, zu gleicher Zeit eine geschwungene Sense so grell im Sonnenlicht, dass es wie ein Blitz herüberzuckte. Da bäumte sich die ohnedies nervöse Diana hoch auf und raste haltlos davon.
Der Verwalter war vor Schrecken erst gelähmt, dann aber sprang er in höchster Eile auf sein Pferd, um seiner jungen Herrin zu folgen.
Aber sein schwerfälliger Gaul kam nur langsam vorwärts. Und an einem breiten Wassergraben streikte er überhaupt, während Diana den Graben längst in rasender Flucht übersprungen hatte.
Durch das Geschrei der Leute war Baron Lindeck drüben am Waldrand aufmerksam gemacht worden. Er sah das Tier mit der im Sattel schwankenden Reiterin über die Felder jagen. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn. Er allein sah sofort, dass das Tier in direktem Kurs auf den großen Steinbruch zuraste. Wurde Diana nicht vorher zum Stehen gebracht, war Ellinor verloren.
Ehe er noch diesen Gedanken klar erfasst hatte, jagte er schon im schnellsten Tempo querfeldein, mitten über die Felder weg, direkt auf den Steinbruch zu. Er sagte sich, dass er den Steinbruch um jeden Preis früher erreichen musste als das scheue Tier. Nur wenn er Diana entgegenreiten und sie aufhalten konnte, war Ellinor zu retten, sonst stürzte sie mit Diana in den Steinbruch.
Die Zähne fest zusammengebissen – jeder Muskel wie Stahl gespannt – halb stehend im Steigbügel, so jagte er dahin. Mit den Augen schien er das scheue Tier bannen zu wollen, noch ehe er es erreichte. So näherten sich die beiden Pferde in beängstigender Schnelligkeit von verschiedenen Seiten dem Steinbruch. Jetzt konnte der Baron Ellinors bleiches Gesicht erkennen. Sie saß mit zusammengepressten Zähnen und geschlossenen Augen im Sattel, als wolle sie den sicheren Tod nicht vor sich sehen.
Noch eine wahnsinnige Anstrengung, und der Baron hatte einen kurzen Vorsprung gewonnen. Geschickt parierte er sein Pferd, und nun setzte er sich fest in den Sattel. Jede Bewegung musste genau berechnet werden. Seine Muskeln spannten sich, seine Augen funkelten in wilder Entschlossenheit.
Ellinor hörte einen scharfen Zuruf. Weit öffnete sie die Augen. Da flog etwas Dunkles auf sie zu. Sie erkannte nicht, was es war, so plötzlich kam es daher. Ehe sie nur einen Gedanken fassen konnte, fühlte sie einen gewaltigen Stoß, einen furchtbaren Ruck, der sie aus dem Sattel warf.
Baron Lindeck hatte Diana kurz vor dem Steinbruch erreicht, hatte mit eiserner Faust das rasende Tier zurückgerissen. Die beiden Pferdeleiber prallten hart aneinander. Dann war der Baron mit einem Satz aus dem Sattel und fing die fallende Ellinor in seinen Armen auf.
In diesem Moment höchster Erregung von jauchzender Freude über die Rettung des geliebten Mädchens erfüllt, war er nicht Herr über sich. Er presste das halb bewusstlose Geschöpf wie im Krampf an seine schweratmende Brust. „Ellinor! Ellinor!“
Wie in Qual und Lust zugleich entrang sich ihr Name seinen Lippen. Und unfähig, sich zu beherrschen, drückte er seine Lippen auf ihren blassen Mund. In unermesslicher Seligkeit fühlte er, dass ihre Lippen den Druck der seinen zurückgaben. Wie betäubt lag Ellinor in seinen Armen, traumhaft glitt ein Lächeln über ihr Antlitz ein süßes, hingebendes Lächeln. Ihr Kopf lag still an seinem klopfenden Herzen, und ihre Augen strahlten zu ihm auf – weltvergessen – glückselig.
„Ellinor, Ellinor!“, jauchzte er auf und wollte ein zweites Mal ihre Lippen berühren. Da war es aber, als erwache sie aus einem Traum. Ihre Augen blickten groß und starr, ihr Körper straffte sich plötzlich in jäher Abwehr. Ein Ausdruck des Entsetzens lief über ihre Züge. Mit einem Ruck richtete sie sich, ihre Lage begreifend, empor.
Heiße, brennende Scham war plötzlich in ihr, dass sie sich hatte küssen lassen von diesem Mann, der Gitta Lossow um Geld verraten hatte, der sich um sie bewarb, weil sie reicher war als Gitta. Mit einem Aufschrei riss sie sich los als er sie halten wollte, schlug sie ihm ins Gesicht und stieß ihn zurück.
„Unverschämter, was wagen Sie!“, rief sie außer sich.
Er starrte sie entgeistert an. „Ellinor!“, rief er entsetzt, aus allen Himmeln gerissen.
Sie richtete sich zitternd zu ihrer ganzen Größe empor und sah mit einem unbeschreiblichen Blick, in dem Scham, Stolz und Verzweiflung brannten, in sein bleiches, zuckendes Gesicht.
„Ich heiße für Sie Fräulein von Lossow, und ich möchte lieber tot da unten im Steinbruch liegen, als Ihnen mein Leben verdanken. Ich hasse, ich verabscheue Sie!“, stieß sie in wilder Erregung hervor.
Er war totenbleich geworden, und seine Augen sahen sie an, dass sie vor Schmerz und Qual hätte aufschreien mögen.
So standen sie sich gegenüber Auge in Auge – in furchtbarer Erregung. Ob es Minuten oder Sekunden waren, dass sie so verharrten keiner wusste es.
Dann sagte Heinz Lindeck langsam, mit schwerer Stimme: „Warum – warum würden Sie lieber sterben wollen, als mir ihr Leben zu verdanken? Warum hassen und verabscheuen Sie mich?“
Sie erzitterte, und dunkles Rot schoss in ihr Gesicht. „Das wollen Sie wissen – das?“
„Ja.“
Sie richtete sich plötzlich straff empor, und ihre Augen blickten kalt. „Ich will es Ihnen sagen. Weil Sie in erbärmlicher Berechnung meine Kusine Gitta vernachlässigen, nachdem Sie sich um sie beworben haben; weil Sie jetzt mich glauben machen wollen, dass Sie mich lieben, während Sie doch, nur kühl berechnet haben, dass ich die bessere Partie bin. Gitta hat mir alles erzählt. Oh, ich verachte einen Mann, der sich um Geld verkauft, noch mehr als eine Frau, die dasselbe tut. So, Herr Baron, nun habe ich Ihnen Ihre Frage wohl erschöpfend beantwortet.“
Dies alles stieß Ellinor mit großer Heftigkeit hervor.
Würde er nun gehen?
„Verzeihen Sie“, entgegnete er das. „Sie haben eben gesagt, dass Sie mich verachten. Warum aber hassen Sie mich? Gleichgültige Menschen hasst man nicht.“
Eine Flamme schlug in Ellinors Gesicht, und in ihren Augen drückte sich eine Qual ohnegleichen aus. „Das fragen Sie noch?“, stieß sie zitternd hervor. „Sie sind sehr kühn, Herr Baron. Ich hasse Sie, weil Sie mich in unerhörter Weise beleidigt haben – ich – ich brauche Sie doch nicht zu erinnern, in welcher Weise.“
Seine Augen glühten. „Nein“, sagte er langsam, „es bedarf keiner Erinnerung. Der Schlag von Ihrer Hand brennt in meinem Gesicht und er wird brennen, bis die Schmach gelöscht ist. Wissen Sie, wie ein Schlag von Frauenhand in ein Männerantlitz gesühnt werden muss?“
Die letzten Worte klangen wie eine heiße Bitte an ihr Ohr. Ellinor aber raffte noch einmal all ihre Kraft zusammen: „Ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll – Ihre Kühnheit oder Ihre Ausdauer. Ich habe nichts zu sühnen, ich vergalt nur eine Beleidigung mit einer anderen.“
Er strich sich über die Stirn. „Sie haben mich angeklagt. Ich will versuchen, mich zu rechtfertigen?“
„Ich will nichts mehr hören!“
Er richtete sich hoch empor, und seine Augen blickten ernst und ruhig. „Jeder Verbrecher darf sich verteidigen, wenn er angeklagt ist. Auch ich verlange dieses Recht.“
Ellinor zwang ein spöttisches Lächeln auf ihre blassen, zitternden Lippen. „Also gut. Reden Sie!“
Er holte tief Atem. „Es bedarf nicht vieler Worte, mich zu rechtfertigen. Was Ihnen Gitta von Lossow von mir gesagt hat, ist Lüge“, sagte er feierlich.
Sie starrte ihn an. „Lüge?“
Wie ein Schrei entrang sich dieses Wort ihren Lippen. Er nickte. „Ja, Lüge! Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich mich nie um Gitta von Lossow beworben habe. Gitta Lossow hat nicht den Schein eines Rechts an mich. Nie habe ich mehr als die konventionellsten Höflichkeiten für sie gehabt. Ihr gegenüber bin ich noch zurückhaltender gewesen, wie gegen jedes andere weibliche Wesen, weil ich keinen, auch nicht den leisesten Irrtum in ihr aufkommen lassen wollte. Wenn ich geahnt hätte, was für Lügen sie Ihnen erzählt hat! Wie konnten Sie das nur glauben, Ellinor? Ihre Kusine hat mir angedeutet, wahrscheinlich in der Absicht, mich von Ihnen zurückzuhalten, dass Sie mit Ihrem Vetter Botho so gut wie verlobt seien. Ich habe nicht daran geglaubt, Ellinor. Ich wusste, dass eine Ellinor einen Botho Lossow nie lieben konnte. Ich wusste, dass sich eine Ellinor ohne Liebe nie einem Mann zu eigen geben würde. Mir hätten tausend Menschen von dieser Ellinor die schlimmsten Dinge erzählen können – ich hätte unentwegt nur an Ellinors reine, klare Augen geglaubt. Denn ich habe Sie geliebt, Ellinor, von der ersten Stunde an, da ich sie sah. Und diese Liebe ist gewachsen von Tag zu Tag, sie hat Besitz ergriffen von mir, trotz meiner Gegenwehr. Denn ich fühlte Ihr feindliches Wesen mir gegenüber, und ich habe mehr darunter gelitten, als ich Ihnen sagen kann. So, Ellinor, nun wissen Sie alles. Und nun sehen Sie mir in die Augen und sagen Sie, ob Sie mich noch immer für einen erbärmlichen Schurken halten!“
Sie stand vor ihm wie in Glut getaucht. Und zusammenschaudernd sagte sie leise: „Ist es denn möglich, dass ein Mensch solche Lügen ausspricht – dass Gitta das alles gegen ihre Überzeugung gesagt hat?“
„Fragen Sie die junge Dame in meiner Gegenwart, Ellinor, wenn Sie mir nicht glauben wollen.“
Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Ach – dann – dann können Sie mir nie verzeihen, was ich Ihnen angetan habe.“
Er löste sanft ihre Hände von ihrem Gesicht. Und als sie scheu zu ihm aufsah, kniete er vor ihr nieder, ihre Hände fest in den seinen haltend. „Ellinor, fühlst du nicht, wie heiß und stark meine Liebe ist? Gibt es etwas, das Liebe nicht verzeihen kann?“
Sie blickte zitternd vor aufwallender Seligkeit in sein geliebtes Gesicht. Ach, wie viel Liebe leuchtete ihr da entgegen!
„Ellinor, liebst du mich?“, flüsterte er in heißer Zärtlichkeit.
Sie erschauerte vor der tiefen, heiligen Glut, die aus seinen Augen strahlte. Den vergehenden Blick in den seinen senkend, sagte sie: „Ja – ich liebe dich -liebe dich unsagbar – liebte dich zu meiner Qual, als ich dich meiner Liebe unwert glaubte. Ich wäre gestorben daran.“
Er presste sein heißes Gesicht in ihren Schoß, sie fühlte, wie er erbebte. „Ellinor – Ellinor!“ Wie ein Stöhnen brach es aus seiner Brust.
Mit zitternden Händen tastete sie über sein geneigtes Haupt. Da richtete er sich auf und sah sie an – ein feuchter Schimmer lag in seinen Augen.
„Vor dir kniet ein verfemter Mann, Liebste. Sein Antlitz ist gezeichnet von Frauenhand. Siehst du meine Wange brennen? Lösche aus, was du mir angetan, mein Lieb. Eher darf ich mein Liebstes nicht küssen, ehe diese Schmach nicht von mir genommen ist.“
Zitternd nahm sie sein Haupt in beide Hände, und ihre Lippen streiften sanft und leise über seine Wange.
Da riss er sie an sich. Und nun brannten seine Lippen heiß und innig auf ihrem Mund in einem Kuss, der nicht enden wollte und der alle Daseinswonnen umfasste.
Alles versank um die beiden Liebenden. Sie bemerkten nicht den Verwalter, der seiner Herrin angstvoll gefolgt war und beim Anblick der beiden eine Weile stumm verharrte, ehe er sich mit einem Schmunzeln umwandte, um aufs Feld zurückzureiten. Sie bemerkten auch nicht Fred, der, von einem Arbeiter zu Hilfe gerufen, versonnen an einem Baum lehnte. Nur leise Vogelstimmen hörten sie, die ein traumhaftes Lied sangen, als wollten sie in süßen Tönen verkünden, dass sich zwei junge Menschenherzen gefunden hatten in seliger Liebe.
Endlich lösten sich ihre Lippen, und die Augen tauchten strahlend ineinander, bis sich wieder die Lippen fanden.
Sie hatten sich noch so unendlich viel zu sagen, und wie schön sich’s zu zweien dahinschritt!
Sie waren bis an den Wald gekommen. Da sahen sie plötzlich Fred vor sich.
Er warf seine Reitmütze hoch empor und stieß einen Jauchzer aus.
Ellinor flog auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. Er drehte sie wirbelnd im Kreis und küsste sie. Dann warf er sich in Heinz Lindecks Arme. „Jetzt bist du mein Schwager – gelt, Heinz?“
„Ja, mein kleiner, getreuer Adlatus.“
„Na, Gott sei Dank!“
***
Heinz Lindeck und Ellinor hatten vereinbart, dass sie mit der Bekanntgabe ihrer Verlobung warten wollten, bis Ellinors Vater da war.
Heinz kam nun täglich nach Lemkow. Jede freie Minute brachte er in Ellinors Gesellschaft zu. Es war eine wunderherrliche Zeit für das junge Paar. Ein eigener, süßer Reiz lag in ihrem Verkehr. Vor den Leuten mussten sie den formellen Ton festhalten, aber sobald sie einige Minuten allein waren, gaben sie sich selig dem Zauber ihrer Liebe hin.
Ganz seltsam gestaltete sich ihr Zusammensein in Gittas Gegenwart. Es wurde besonders Ellinor schwer, mit Heinz so zu verkehren, dass Gitta nichts merkte.
Heinz Lindeck hatte sein Verhalten gegen Gitta in keiner Weise geändert. Er blieb höflich, aber formell ihr gegenüber. Auch jetzt noch suchte Gitta ihn zuweilen zu einer gemeinsamen Heimkehr zu bewegen. Aber er wich ihr stets aus.
Schon in den ersten Augusttagen traf Fritz von Lossow in Lemkow ein.
Fred und Ellinor hatten den Termin seiner Ankunft absichtlich geheim gehalten, damit die Lossower sich nicht zur Begrüßung einfanden. Nach der langen Trennung wollten sie ihren Vater erst einmal für sich allein haben. Selbst Heinz Lindeck hatte Ellinor gebeten, erst dann zu kommen, wenn sie ihm Nachricht schickte.
Nun war Fritz von Lossow in dem festlich geschmückten Lemkow angekommen.
Das Wiedersehen zwischen Vater und Kindern war sehr bewegt. Das Glück, seine Kinder wiederzuhaben, strahlte dem Vater nur so aus den Augen.
Es waren Stunden reinsten Glücks, die Fritz von Lossow jetzt beschert wurden. Jedes Fleckchen in seiner Umgebung erinnerte ihn an vergangene Tage. Ellinor und Fred führten ihn überall umher, und Ellinor erstattete ihm Bericht über alles.
Er drückte ihren Arm fest an sich. „Hast alles gut gemacht, kleiner Kompagnon. Ich bin stolz auf dich, Ellinor. Du hast deine Aufgabe glänzend gelöst“, sagte der Vater, als sie von ihrem Rundgang zurückkamen.
„Bist du zufrieden, lieber Vater?“
„Ja, mein Kind. Und nun sollst du auch einen besonderen Wunsch frei haben.“
Sie umfasste den Vater und sah ihn mit feucht schimmernden Augen an. „Den halte ich schon bereit, Vater.“
Er lächelte. „Ei, das scheint ja etwas ganz Besonderes zu sein.“
„Ja, Vater. Aber ehe ich den Wunsch ausspreche, muss ich dir eine große Dummheit berichten, die ich gemacht habe. Ohne die ist es nämlich nicht abgegangen.“
Fritz von Lossow lachte. „Soso, Dummheiten hast du auch gemacht? Also los – beichte!“
Ellinor atmete tief auf. „Also: Ich habe ein Pferd geritten, das ich nicht immer meistern konnte. Das Pferd ist mit mir durchgegangen.“
Fritz Lossow fuhr erbleichend empor und umfasste seine Tochter. „Um Gottes willen! Es ist dir doch nichts passiert?“
„Nein, Vater, aber wenn Baron Lindeck nicht gewesen wäre, hättest du deine Ellinor nicht wiedergesehen.“
„Ellinor!“, rief der Vater entsetzt und außer sich vor Schrecken.
Sie schmiegte sich fest an ihn an. „Ich bin ja heil und gesund, mein lieber Vater – ängstige dich doch nicht!“
Er umschlang sie heftig, als sei sie noch in Gefahr und er müsse sie schützen. „Erzähle mir, wie das geschehen ist“, stieß er mit bebender Stimme hervor.
Sie erzählte von ihrem gefährlichen Ritt, und Fritz von Lossow erzitterte noch nachträglich beim Gedanken an die Gefahr, in der sein Kind geschwebt hatte. Als sie zu Ende erzählt hatte, sagte er bewegt: „Also Baron Lindeck verdanke ich es, dass ich mein Kind lebend wiedersehe? Oh, Ellinor, wie will ich ihm danken! Ich will zu ihm und ihm die Hand drücken. Nie werde ich ihm das vergessen.“
Sie errötete und sah ihn schelmisch an. „Lieber Vater, er wird selbst kommen – und deinen Dank – einfordern.“
Betroffen sah er sie an. „Das klingt ja so besonders, Kind? Du wirst doch nicht …“
Sie nickte. „Doch, lieber Vater. Kaum war ich in Deutschland, da verlor ich mein Herz. Und nun ist es mein großer Wunsch, lass mich glücklich sein mit Heinz Lindeck!“
Sanft strich er über ihr Haar. „Kaum habe ich dich wieder, da soll ich dich schon von mir lassen“, sagte er wehmütig.
„Ich gehe ja nicht weit fort, Vater. Lindeck ist ja unser Nachbar.“
Er lächelte. „Ja, ja, darüber muss ich noch froh sein. Nun, unwert ist dieser Baron Lindeck meiner Tochter wohl nicht, sonst hätte sie ihm nicht ihr Herz geschenkt.“
Stolz leuchteten ihre Augen. „Gottlob, er ist ein echter, rechter Mann ohne Furcht und Tadel. Aber auf das Herz seiner Tochter kannst du dich da gar nicht verlassen. Deine Ellinor hat ihn auch geliebt, als sie ihn unwert glaubte.“
„Du sprichst in Rätseln, Kind.“
Sie lachte leise. Und dann erzählte sie von Gittas Lüge.
Aufmerksam hörte der Vater zu. Als sie mit ihrem Bericht zu Ende war, zog er seine Tochter fest an sich. „Die da drüben in Lossow dachten es böse mit uns zu machen – aber Gott hat es anders gefügt. Nun schicke gleich einen Boten nach Lindeck, Ellinor, und lasse deinem Heinz sagen, dass ich ihn erwarte. Ich muss mich doch wohl gut mit ihm stellen, damit er mir noch ein Plätzchen im Herzen meiner Tochter gönnt.“
Ellinor küsste ihn innig. „Daraus kann dich nichts und niemand verdrängen, mein lieber Vater.“
***
Heinz Lindeck folgte Ellinors Ruf sofort und wurde in Lemkow mit offenen Armen empfangen; auch von Fritz von Lossow.
Die beiden Männer fanden sofort Gefallen aneinander. Nach einer kurzen Unterredung waren sie miteinander einig. Nicht zum wenigsten hatte Heinz so leichtes Spiel bei seinem Schwiegervater, weil er ihm die Tochter vor einem furchtbaren Tod errettet hatte.
„Du hast jetzt teil an Ellinors Leben, mein lieber Sohn, wie ich teilhaben möchte an dem deinen. Mache mir mein Kind glücklich, Ellinor verdient es. Dann will ich dich segnen und allzeit hochhalten in meinem Herzen.“
So sagte Fritz Lossow zum Schluss dieser Unterredung.
Am Nachmittag desselben Tages fuhr Fritz von Lossow mit seinen Kindern nach Lossow hinüber. Er hatte sich nicht erst angemeldet. Ganz unerwartet stand er vor seinem Bruder.
Nach reichlich fünfundzwanzig Jahren war dieses erste Wiedersehen für die Brüder etwas aufregend. Kuno von Lossow war ziemlich fassungslos, als er die imponierende Erscheinung des Bruders vor sich sah. Aber selbst in dieser Stunde fand er keinen warmen Herzenston.
Frau Helene begrüßte den Schwager mit huldvoller Miene, und Gitta war sehr liebenswürdig.
Die drei mussten zum Tee bleiben.
„Wir wollen uns doch einmal gemütlich ausplaudern, lieber Schwager“, sagte Frau Helene mit gnädigem Lächeln.
Als sie dann alle um den Teetisch saßen und von diesem und jenem gesprochen hatten, kam Kuno von Lossow auf den Punkt, der ihm am meisten am Herzen lag.
Er hatte sich inzwischen bei einem Berliner Rechtsanwalt genau erkundigt, ob er das Testament Heribert von Lossows nicht anfechten könne. Aber auch dieser hatte ihm denselben Bescheid gegeben wie damals Dr. Holm.
So blieb Kuno keine andere Hoffnung mehr als eine Verbindung Bothos mit Ellinor.
Und er konnte die Zeit nicht erwarten. Gleich heute musste er es zur Sprache bringen. Mit süßlicher Miene begann er: „Mein lieber Fritz, es wird Zeit, dass wir uns über die Testamentsfrage einigen. Offen gestanden, es widerstrebt mir, dass wir einander deshalb etwa gar vor Gericht zerren müssten. Du kennst meine Ansicht, und ich bitte dich, deinen Einfluss auf Ellinor geltend zu machen, dass sie sich besinnt und Bothos Hand annimmt. Sie hat den armen Jungen kurzerhand abgewiesen, aber ich habe das noch nicht für Ernst genommen. Das letzte Wort hast du doch wohl zu sprechen, lieber Bruder. Und so bitte ich dich denn, schaffe die peinliche Frage durch ein Machtwort aus der Welt. Botho liebt Ellinor und ist noch immer bereit, ihr seine Hand zu reichen.“
Fritz von Lossow hatte einen raschen Blick mit Ellinor gewechselt. Nun sah er seinen Bruder mit ernsten Augen an. „Es gibt da keine peinliche Frage zu lösen, Kuno. Ich habe mich genau informiert, Onkel Heriberts Testament ist unanfechtbar. Selbst wenn du wolltest, könntest du nichts dagegen tun. Wie ich dir schon schrieb, hat meine Tochter selbst über ihr Schicksal zu entscheiden. Ein Machtwort, wie du es meinst, würde ich niemals zu ihr sprechen. Übrigens …“
„Verzeih, lieber Vater“, rief in diesem Augenblick Fredys helle Knabenstimme, „aber was du jetzt sagen willst, gestatte mir zu sagen. Ellinor hat mir versprochen, dass ich es verkünden darf.“
Fred erhob ich bei diesen Worten. „Also, meine lieben Verwandten“, sagte er feierlich, „ich, als jüngster Spross der Lossows, teile euch mit, dass meine Schwester Ellinor sich mit dem Baron Heinz Lindeck verlobt hat.“
Die Wirkung dieser Worte war sehr auffallend. Kuno und Helene von Lossow machten geradezu versteinerte Gesichter, und Gitta fuhr kerzengerade in die Höhe und starrte Ellinor feindselig an.
„Ah – so also ist das!“, zischte sie. „Aber du hast ihn mir ja von Anfang an ausspannen wollen. ohne dein Dazwischenkommen wäre ich Baronin Lindeck geworden. Du nimmst mir alles – alles!“
Ellinor wollte sprechen, aber ihr Vater hob die Hand. „Lass, mein Kind, wir wollen nicht mehr an dem allen rühren.“
Und zu seinen Verwandten gewendet fuhr er fort: „Ich sehe ein, unser Auftauchen hat euch manche Hoffnung zerstört. Gott hat es so gewollt, daran können wir Menschen nichts ändern. Ich bitte euch, lasst uns trotzdem Frieden miteinander halten. Und noch eins, lieber Bruder. Als ich damals, am Todestag unseres Vaters, hier vor dir stand und du mit mir abrechnetest, da wiesest du mir nach, dass ich dreißigtausend Mark mehr verbraucht habe, als mir zukam. Außerdem gabst du mir noch dreitausend Mark. Folglich schulde ich dir dreiunddreißigtausend Mark. Diese Summe hat sich, da ich sie dir nicht verzinste, durch Zins und Zinseszins in diesen langen Jahren auf mehr als das Doppelte vermehrt. Gott sei Dank bin ich jetzt in der Lage, diese Summe samt den Zinsen zurückzuzahlen. Und ich bitte dich, mir zu gestatten, dass ich dieses Kapital dem Heiratsgut deiner Tochter zufüge.“
Kuno und seine Frau hatten sich aus ihrer Erstarrung noch kaum gelöst. Aber nun flog ein Blick zwischen ihnen hin und her. Dann sahen sie auf Gitta, die nicht wusste, was sie zu Fritz von Lossows Anbieten sagen sollte. Gitta sowohl wie ihre Eltern rechneten in aller Geschwindigkeit aus, dass sich das Kapital, das ihnen hier angeboten wurde, immerhin auf siebzigtausend Mark belaufen mochte.
Kuno von Lossow fuhr ordnend über seinen Scheitel, räusperte sich und sagte zögernd: „Ja – hm – tja, natürlich. Ich hätte – hm – tja ich hätte dich natürlich nie an diese Schuld gemahnt. Aber wie die Sache liegt, ist es wohl recht und billig, wenn du das Geld mit Zins und Zinseszins zurückerstattest. Ja – hm – tja – du scheinst wohl in Amerika dein Glück gemacht zu haben.“
In Fritz von Lossows Gesicht zuckte es wie Wetterleuchten. „Ja, dank meiner lieben, unvergesslichen Frau, die mir treu zur Seite gestanden hat, bin ich heute in der Lage, ohne jede Beschwerde dieses Geld zurückzuerstatten.“
Er zog ein Scheckbuch hervor und schrieb einen Scheck aus. „Willst du mir, der Ordnung halber, eine Quittung darüber ausstellen?“, fragte er in geschäftsmäßigem Ton.
„Ja – gewiss, ich will gleich in mein Arbeitszimmer gehen.“
Mit diesen Worten verschwand Kuno von Lossow. Er war froh, einige Minuten allein sein zu können.
Seine Gattin hatte inzwischen überlegt, dass es doch eigentlich unklug sei, sich mit so reichen Verwandten zu überwerfen. Dieser Amerikaner schien ja der reine Krösus zu sein, da er siebzigtausend Mark wie eine Lappalie behandelte und sie freiwillig auszahlte, ohne dass er darum ersucht worden war.
Als Kuno nach einer Weile mit der ausgefüllten Quittung zurückkam, sagte Frau Helene süßlich: „Über alledem haben wir vor Überraschung ganz vergessen, Ellinor zu ihrer Verlobung Glück zu wünschen. Unser armer Botho wird diesen Schlag freilich nicht leicht verwinden, denn er hatte Ellinor sehr lieb gewonnen. Und ich denke doch, dass unsere wiederangeknüpften verwandtschaftlichen Beziehungen dadurch nicht getrübt zu werden brauchen.“
„Ja, natürlich – hm – tja – selbstverständlich“, beeilte sich Kuno zu versichern.
Fritz von Lossow sah mit seltsamem Ausdruck auf diese drei Menschen. „Es soll mich freuen, wenn wir in Frieden nebeneinander wohnen können“, sagte er ruhig.
Man beglückwünschte nun Ellinor regelrecht zu ihrer Verlobung. Auch Gitta brachte es über sich, einen Glückwunsch hervorzubringen.
Bald darauf verabschiedete sich Fritz mit seinen Kindern. Als sie im Wagen saßen und das Lossower Herrenhaus hinter sich hatten, umfassten Fritz von Lossows Augen mit ernstem Blick seine Kinder.
„Gottlob, wir sind wieder in der Sonne! Ich habe gefroren in meinem Vaterhaus – gefroren bis ins innerste Mark. Und doch hatte ich so große Sehnsucht nach der Stätte, wo ich meine Kindheit verlebte. Jetzt will ich nicht mehr zurückblicken auf jene fernliegende Zeit. Mein Leben, mein richtiges Leben begann, als ich eurer herrlichen Mutter zuerst in die Augen sah nur bis zu jener Stunde will ich jetzt noch meine Erinnerungen pflegen.“
An der Wegscheide von Lossow und Lemkow, an derselben Stelle, wo Heinz Lindeck Ellinor zuerst begegnet war, hielt ein Reiter. Wie ein Standbild hob er sich ab vom blauen Himmel.
„Heinz!“, rief Ellinor erglühend.
Fritz von Lossow ließ den Wagen halten. Sie stiegen alle aus, und Heinz Lindeck sprang vom Pferd. Zu Fuß gingen sie weiter – über Lemkower Grund und Boden. Voran Fritz von Lossow, den Arm um Freds Schulter gelegt – hinter ihnen ein glückseliges Paar.
Um die Weihnachtszeit wurde Ellinor von Lossow die Gattin von Baron Heinz Lindeck.
Gitta von Lossow verlobte sich ein Jahr später mit einem Regierungsrat, und Botho von Lossow bewarb sich neuerdings um die Tochter eines neugeadelten Großindustriellen.