Читать книгу Das Gänsemädchen von Dohrma - Hedwig Courths-Mahler - Страница 3

1. Kapitel.
Im Armenhaus.

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Inhaltsverzeichnis

»Mutterle, mein liebes, gutes Herzensmutterle, hast Du wieder so arge Schmerzen? Soll ich Dir Deine Medizin geben, damit Du schlafen kannst?«

Die kranke Frau im Bette holte mühsam Atem und sah mit einem wehen, jammervollen Blick in das ängstlich besorgte Gesicht ihres Kindes, eines etwa elfjährigen Mädchens.

»Nein, mein Marthchen, laß nur, es hilft ja doch nichts mehr; hab’ ja schon soviel Medizin geschluckt. Ach, die Schmerzen, die Schmerzen! Aber nein, nicht weinen, meine Martha, nicht weinen, das tut mir noch viel weher als alle Schmerzen, das kann ich nicht ertragen!«

Martha schluckte tapfer die Tränen hinunter und zwang sich, zu lächeln.

»Ich weine ja nicht, Mutterle, schau nur, schon lach ich wieder. Gelt, nun ist Dir ein klein wenig besser? Und nun wirst Du ganz gewiß bald wieder gesund. Es hat schon so arg lange gedauert, Deine Krankheit — solange — ach, ich weiß gar nicht mehr, wie es war, als Du noch nicht so lahm und krank im Bette lagst!«

Die Kranke nickte wehmütig und sorgenschwer.

»Kaum weiß ich’s selbst noch, mein liebes Kind. Viel, viel zu lang lieg’ ich auf meinem Schmerzenslager, wo ich Euch nur eine Last bin. Meine böse Krankheit hat all unseren früheren Wohlstand aufgezehrt. Vaters Stellmacherei bringt so gut als nichts mehr ein. In der Sorge um mich hat er sein Geschäft vernachlässigen müssen, und sein früherer Geselle nimmt ihm nun alle Kundschaft weg, weil er jünger und schneller ist, und billiger.

Seit er sich als Vaters Konkurrenz hier niedergelassen hat, geht es mit Riesenschritten abwärts mit uns. Und in Haus und Hof — lieber Gott im Himmel, da geht alles drunter und drüber, ich fühle es, wenn ich’s auch nicht sehen kann!«

»Ach, mein Mutterle, sorg’ Dich doch darum nicht, Das kommt alles wieder in die Reihe, wenn Du gesund bist!« sagte Martha liebreich tröstend und streichelte zärtlich die blassen Wangen der Mutter.

»Nein, nie mehr kann das wieder gut werden, mein liebes Kind. Jahrelang lieg’ ich gelähmt auf meinem Lager, seit ich mir damals nach der Überanstrengung bei der Ernte die schlimme Erkältung zugezogen habe. Ich wollte immer alles selber tun, wollte mit Vater zusammen voranstreben, damit es unsere Kinder besser haben sollten als wir.

Und es war bis dahin alles so gut gegangen, wir kamen voran mit jedem Tag. Aber es sollte nicht so weiter gehen. Mit meiner bösen Krankheit fing das Unglück an. Das war der erste Schlag, der uns traf. Und ich muß hier liegen wie ein Stück Holz und muß zusehen, wie alles um mich her in Trümmer geht. Ich kann nicht mehr schaffen und arbeiten, und meine Krankheit kostet soviel Geld. Alles ist aufgebraucht, was wir durch jahrelangen Fleiß erworben haben.

Die Haushälterin, die Vater ins Haus nehmen mußte, sieht nur auf ihren Vorteil, nicht auf den unseren Vater hat auch allen Mut verloren, seit uns das zweite Unglück traf, seit Dein Bruder, unser Gustävle, beim Baden im See ertrank. Da hatte er keine Lust mehr am Schaffen, und das machte sich der Geselle zunutze und machte selbst eine Stellmacherei auf.

So gings schnell bergab mit uns, und Vater ist über all das Unglück ganz tiefsinnig geworden. Ach, womit haben wir all dies Elend verdient!«

Martha Berger konnte nun ihre Tränen nicht mehr zurückdrängen, aber sie barg ihr Gesicht in dem Kissen der Mutter.

»Mein armes, liebes Mutterle, wenn ich doch helfen « könnte, wenn ich doch groß wäre und alles wieder gut machen könnte!« sagte sie, halberstickt von Tränen.

Die Mutter streichelte matt und unbeholfen mit der gelähmten Hand das schöne, goldblonde Haar ihres Kindes.

»Mein Marthchen, wenn mich die Angst und Sorge um Dich nicht am Leben erhielte, dann möchte ich wohl meine Augen für immer schließen und ausruhen von allem Elend und allen Schmerzen. Aber ich sorge mich , so sehr um Dich, um Deine Zukunft. Der Gedanke, was aus Dir werden soll, läßt mir Tag und Nacht keine Ruhe.

Das Gustävle ist ja nun im Himmel bei den lieben Engeln, um ihn brauch ich mich nicht mehr zu sorgen Aber Du! Du solltest, so dachte ich mir immer, etwas Tüchtiges lernen, Lehrerin solltest Du werden. Der Herr Lehrer hat uns so oft gesagt, wie klug und fleißig Du bist, wie schnell Du lernst und begreifst. Aber dazu fehlt es uns nun an Geld.«

»Wir haben ja weiter nichts als Schulden, furchtbare, drückende Schulden, und nicht ein Stein von diesem Hause gehört uns mehr. Wenn ich mich doch nicht so schrecklich um Dich sorgen müßte! Was soll aus Dir werden?«

Martha erhob sich, mühsam ihre Fassung erzwingend.

»Sorg’ Dich doch nicht, Mutterle! Wart nur, wenn ich erst groß bin, wenn ich erst konfirmiert bin, dann schicken wir die Haushälterin fort und dann schaffe ich an Deiner Stelle fleißig von früh bis spät. Vater wird sich dann auch schon wieder aufrappeln. Wir hegen und pflegen Dich dann zusammen, sollst schon wieder Freude am Leben haben. Es muß doch einmal wieder alles besser werden, daran glaube nur. Der liebe Gott verläßt uns nicht!«

Die Kranke schloß, von Rührung überwältigt, die Augen und tastete nach der Hand ihres Kindes.

»Mein Marthchen, mein liebes, gutes Marthchen, ich wollte gern alle Not und Schmerzen tragen, wenn ich nur über Dein Schicksal beruhigt wäre!«

Martha richtete sich straff auf und reckte ihren jungen, kräftigen Körper und ihre festen, runden Arme. Kampfesmutig blitzten ihre Augen.

»Da, schau her, Mutterle, wie groß und stark ich schon bin. Hab doch keine Angst um mich, ich find mich schon durchs Leben. Du sollst Dich nicht sorgen, um nichts, um gar nichts, sagt der Herr Doktor. Mußt ihm auch folgen, sonst kann er Dich nicht wieder gesund machen. Gelt, Du tust es mir zuliebe und sorgst Dich nicht mehr. Glaub doch d’ran, daß noch alles wieder gut wird.

Und ans Sterben darfst Du überhaupt nicht denken, das leid’ ich nicht. Gleich bist Du nicht mehr so verzagt, ja? Und jetzt machst Du schön die Augen zu und schläfst ein, so recht fest und gut, das stärkt Dich sehr, und da weißt Du gar nichts mehr von Sorgen und Schmerzen!«

Sie küßte die Mutter innig und schloß ihr mit liebevoller Hand die Augen.

Die Kranke hielt gehorsam die Augen geschlossen, aber zwischen den Lidern quollen Tränen hervor.

Martha wischte sie behutsam fort und sprach noch leise und beruhigend auf die Mutter ein. Diese lag dann ganz still und ruhig, wie unter einem friedlichen Zauber.

Martha freute sich, weil sie glaubte, die Mutter sei eingeschlafen.

Da schlich sie sich dann auf den Zehenspitzen aus der Stube, um hinüber in die Werkstätte zu gehen und dem Vater ein wenig Mut einzusprechen.

Sie merkte nicht, daß ihr die Augen der Mutter in stummer Qual folgten.

Frau Berger schlief nicht, wie Mattha glaubte. Sie blieb aber still und reglos liegen und überdachte in gramvoller Pein ihr schlimmes Schicksal.

Früher, als sie noch jung und gesund war, wie schön war da das Leben gewesen, wenn es auch viel Mühe und Arbeit gebracht hatte. Was waren es für frohe, glückliche Jahre gewesen, als sie die Frau des fleißigen Stellmachers Friedrich Berger geworden war.

Sie fingen ganz klein und bescheiden an, kamen aber bald voran und konnten sich nach einigen Jahren das hübsche kleine Anwesen kaufen, wenn sie auch vorläufig noch eine kleine Hypothek aufnehmen mußten.

Es ging immer besser. Friedrich Berger war ein tüchtiger Mensch, und die Bauern ließen alles bei ihm arbeiten. Bald hatte er soviel zu tun, daß er einen Gesellen annehmen mußte, der auf der Wanderschaft zu ihm kam. Dieser war auch tüchtig, und nun wurde doppelte Arbeit geschafft.

Und sie selbst arbeitete unermüdlich in Haus und Hof und Garten. Auch ein Stück Feld und Wiese kauften sie dazu. Es ging alles gut und das Glück schien im kleinen Stellmacherhause eine bleibende Stätte gefunden zu haben.

Mit einem Male aber wurde alles anders. Ein Unglück folgte dem anderen.

Die fleißige Frau übernahm sich bei der Arbeit und wurde krank. Da sie sich nicht rechtzeitig schonte, blieb sie schließlich völlig gelähmt auf dem Krankenlager liegen.

Und von da an ging es abwärts. Die Krankheit kostete viel Geld, Friedrich Berger wurde mutlos, als ihm der zärtlich geliebte Sohn ertrank. Die Haushälterin und der Geselle wirtschafteten in ihre Tasche, und ein Bauernhofbesitzer, von dem Berger eine größere Summe zu fordern hatte, machte Bankrott, und Berger kam um das Geld.

Das Unglück lähmte ihn und er wurde nachlässig in der Arbeit. Der Geselle nutzte das für sich aus und machte sich selbständig. Da verlor Berger seine Kunden und wurde über all dem Leid ganz tiefsinnig.

Mit Riesenschritten ging es abwärts. Es wurden Schulden gemacht, immer neue Schulden, und nun stand der völlige Zusammenbruch vor der Tür.

Die Kranke fühlte das alles mehr, als sie es wußte, und in ihrer Ohnmacht verzehrte sie sich in Angst und Sorge, so daß ihr Zustand immer schlimmer wurde. Der Jammer um Mann und Kind zehrte an ihrer letzten Lebenskraft. —

Martha hatte draußen der Haushälterin gesagt, sie möge recht ruhig sein, die Mutter schlafe. Mürrisch hatte ihr diese geantwortet, sie mache schon von selbst keinen Lärm.

Seit im Stellmacherhause nichts mehr zu holen war, hatte die Haushälterin schlechte Laune.

Martha ging nun in die Werkstätte. Hier fand sie ihren Vater untätig auf einem umgestürzten Rad sitzend, den Kopf in die Hände vergraben.

So saß er jetzt oft in qualvolle Grübeleien verloren. Das unverdiente Unglück hatte seine Lebenskraft gebrochen.

Er rührte sich auch nicht, als Martha eintrat. Sie eilte auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Vater, lieber Vater!« rief sie ängstlich besorgt.

Er ließ die Hände sinken und stierte sie mit trüben Augen an. Wirr und unordentlich hing ihm das graumelierte Haar und der Bart ums Gesicht.

»Aus ist’s, Martha, ganz aus!« stieß er heiser hervor.

»Was denn, lieber Vater, was denn?« fragte sie beklommen.

»Alles ist aus, alles. Hinaus müssen wir, ins Armenhaus. Die Hypothek ist gekündigt und alle wollen ihr Geld haben — alle. Wie die hungrigen Wölfe fallen sie über uns her, aus Angst, daß sie ihr Geld verlieren. Kanns Ihnen ja nicht verdenken. Aber das überleb ich nicht, daß ich hinaus muß ans meinem Häuschen, ins Armenhaus, ich, der Friedrich Bergen der immer ein redlicher Mann war. Nun ins Elend, in die Schande. Und unser Mutterle, Martha, unser armes Mutterle! Ich bring’s nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß sie hinaus muß aus dem Häuschen, ich kann es nicht, ich kann es nicht!«

Verzweifelt fuhr er sich durch das aufgewühlte Haar.

Martha umfaßte ihn mit einem schluchzenden Jammerlaut.

»Vater, lieber Vater, gibt es keine Hilfe mehr?«

Da sprang er jäh empor und schüttelte das Haupt. In wildem Schmerz barg er den Kopf in seinen Händen.

Ein dumpfer, gequälter Schrei brach aus seiner Brust, als müsse sich seine ganze Not dadurch Luft machen.

Als Martha sich dann, still vor sich hinweinend, neben ihn stellte und ihn umschlingen wollte, riß er sich plötzlich los und stürmte hinaus ins Freie. —

Tagelang irrte er wie geistesabwesend im Walde umher, bis er kraftlos zusammenbrach.

Er wagte sich nicht wieder in sein Haus, weil er es nicht über sich vermochte, seiner armen Frau mit der Unglücksbotschaft den Todesstoß zu versetzen.

Einige Bauern fanden ihn halb verhungert und in wirren Fieberreden im Walde am Boden liegend.

Inzwischen war die Katastrophe über sein Haus hereingebrochen. Seine Frau starb vor Schreck, als sie erfuhr, daß sie als Bettler das Haus verlassen und im Armenhaus untergebracht werden sollten.

Sie war über das Verschwinden ihres Mannes schon außer sich geraten, nun brach ihr Herz, und sie schloß die milden Augen für immer.

Die Haushalterin hatte zusammengerafft, was sie noch erbeuten konnte, und verließ das Haus. Martha stand hilflos und wie gelähmt all diesem Unglück gegenüber.

Vom Totenbett der Mutter lief sie hinaus ins Freie, um den Vater zu suchen.

Der Schäfer Gottfried Thomas, der die Schafe des Herrn von Dohrma hütete, sagte ihr, daß er den Vater vor einigen Tagen habe im Walde verschwinden sehen.

Mitleidig streichelte er das goldblonde Köpfchen des weinenden Kindes, aber helfen konnte er ihr nicht, konnte nicht einmal mit nach ihrem Vater suchen, da er seine Herde nicht verlassen durfte.

So irrte Martha allein weiter, und als sie an der Waldgrenze anlangte, kamen ihr die Bauern entgegen mit dem Vater, den sie im Walde gefunden hatten.

Sie trugen ihn, mürrisch über die schwere Last, ins Armenhaus. Martha schritt weinend neben ihm her.

So hielten Vater und Tochter ihren Einzug in das gefürchtete Armenhaus.

Friedrich Berger war ein Bettler geworden, aber es kam ihm nicht zum Bewußtsein. Sein Geist hatte in der schrecklichen Zeit gelitten wie sein Körpern.

Als ihm Martha sagte, daß die Mutter tot sei, da lachte er grell und schneidend aus, daß es allen, die es hörten, kalt über den Rücken lief.

Und seit der Zeit starrte er stumm und teilnahmslos vor sich hin.

Das armselige Lager, auf das man ihn gebettet hatte, konnte er bald wieder verlassen. Aber sein Geist klärte , sich nicht wieder. Dampf vor sich hinbrütend, saß er Tag um Tag auf einem Fleck, und niemand hätte in der zusammengesunkenen Gestalt den stattlichen, lebensfrohen Mann von früher wiedererkannt.

Die arme, kleine Martha stand den auf sie einstürmenden Schicksalsschlägen machtlos gegenüber.

Sie war noch ein Kind und konnte nichts tun, als sich in ihr hartes Schicksal ergeben.

Mit rührender Liebe umgab sie den unglücklichen Vater und suchte ihn zu trösten, obwohl sie selbst des Trostes bedurft hätte. Es gelang ihr aber nicht, ihn aus seinem verstörten Hinbrüten aufzurütteln.

Niemand stand ihr zur Seite, niemand schien sich um sie und den Vater zu kümmern.

Die Bauern knurrten, daß der Stellmacher der Gemeinde zur Last fiel, und doch hätte ihm keiner eine Arbeit anvertraut.

Er sprach gar zu wirre Dinge und starrte die Menschen mit einem so furchtbaren Ausdruck an, daß sich niemand in seiner Nähe aushalten mochte.

Niemand fiel es ein, dem armen Kinde zu Hilfe zu kommen. Man ließ es mit dem verstörten Manne allein.

Aber zum Glück sollte sich schließlich doch ein Mensch der Not des armen Kindes erbarmen.

Der Lehrer des Dorfes Dohrma, dessen Lieblingsschülerin Martha war, kehrte von einem Urlaub zurück, den er erhalten hatte, um seinen verstorbenen Vater zur letzten Ruhe zu geleiten.

In seiner Abwesenheit war die Katastrophe über die Familie Berger hereingebrochen. Nun hörte er von seiner Frau, daß man die arme Martha mit dein verstörten Vater ins Armenhaus gebracht habe.

Sofort suchte er sie auf und erkannte, daß man das arme Kind nicht mit dem kranken Manne allein lassen durfte.

Am liebsten hätte er Martha zu sich genommen, aber er hatte selbst vier Kinder, die bei seinem schmalen Einkommen kaum satt zu essen hatten, auch widersetzte sich seine Frau, daß noch ein Esser mehr ins Haus kommen sollte.

Nun ging der gutherzige, mitleidige Lehrer von einem Bauern zum anderen und bat um Aufnahme für Martha Berger.

Aber alle wiesen ihn ab, jeder hatte eine andere Entschuldigung, eine andere Ausrede.

Ja, wenn Martha erwachsen und als Magd zu gebrauchen gewesen wäre, dann hätte sich wohl dieser und jener leicht dazu verstanden, sie aufzunehmen, dann hätte man einen billigen Dienstboten an ihr gehabt. Aber Kinder sind unnütze Brotesser, und manche Bauern sind geizig und hart.

Der Lehrer fand keine Unterkunft für Martha.

Schweren Herzens entschloß sich der gute Mann endlich, den Gutsherrn Moritz von Dohrma selbst aufzusuchen und ihn zu bitten, Martha eine Unterkunft im Herrenhause von Dohrma zu gewähren.

Er zog seinen besten Rock an und machte sich auf den Weg.

*

Das Gutshaus wurde allgemein im Dorfe das Schloß genannt, obwohl es gar kein schloßähnliches Gebäude war.

Wohl war es sehr groß und geräumig, und eine breite Sandsteintreppe führte zur Veranda empor, aber es hatte eine schlichte, graugetünchte Fassade mit langen Fensterreihen.

Das einzige, was an ein Schloß gemahnte, war der dicke, runde Eckturm, an dessen Westseite eine Uhr angebracht war, die für ganz Dohrma, für Dorf und Gut die Tageszeiten angab. Dieser Turm hatte wohl dem Gutshaus den stolzen Namen »Schloß« eingetragen.

Die Herrschaft, die dieses Schloß bewohnte, war sehr stolz und vornehm.

Die Herren von Dohrma waren von altem Adel und saßen schon seit Jahrhunderten auf ihrem ererbten Besitz,. Frau von Dohrma war eine gebotene Gräfin Echingen.

Der jetzige Gutsherr, Moritz von Dohrma, besaß einen einzigen Sohn, namens Artur.

Dieser war zu der Zeit, da unsere Geschichte beginnt, fünfzehn Jahre alt, also vier Jahre älter als Martha Berger.

Die Verhältnisse auf Dohrma waren nicht sehr glänzend. Nicht nur, daß der Aufwand sehr groß war, Herr von Dohrma hatte auch Verbindlichkeiten zu erfüllen, an denen er selbst nicht Schuld trug.

Von alters her hatte stets der älteste Sohn der Familie das Gut mit allen seinen Liegenschaften geerbt: waren nun noch andere Kinder vorhanden, so wurden dieselben mit einem entsprechenden Kapital abgefunden.

Selbstverständlich war es für den erstgeborenen Sohn meistens mit Schwierigkeiten verknüpft, diese Kapitalien an seine Geschwister herauszuzahlen, wenn aber die Geschwister ihre Kapitalien auf dem Gute stehen ließen, so waren wieder viele Zinsen zu entrichten.

In dieser Lage befand sich auch Herr von Dohrma.

Der Wert der Besitzung war ja im Laufe der Jahre immer gestiegen, und es war daher möglich gewesen, die von früher her noch aus dem Gute lastenden Hypotheken zu vergrößern, das heißt also, größere Kapitalien hypothekarisch aufzunehmen, aber dies hatte Herrn von Dohrma umso weniger über seine Schwierigkeiten hinweghelfen können, als er mit seiner Familie, wie bereits gesagt, ein sehr vornehmes Haus führte.

Einschränkungen wollte sich aber Herr von Dohrma nicht auferlegen. Wäre er nicht ein wirklich tüchtiger Landwirt gewesen, der aus dem Gute möglichst viel herauszuholen verstand, dann wäre es wohl schon längst zu einem Zusammenbruch gekommen. —

Die Verhältnisse aus Dohrma wurden immer schwieriger.

Moritz von Dohrma schimpfte auf die schlechten Zeiten und vergaß dabei ganz, die sehr großen Ansprüche zu berücksichtigen, die er und seine Familie an die Erträgnisse des Gutes stellten.

Dohrma hatte jetzt einen Wert von etwa zweihundertundfünfzigtausend Mark und war, wie schon gesagt, stark verschuldet.

Sein Besitzer verlangte jedoch, daß es ihm außer den zu zahlenden Zinsen noch sehr hohe Erträgnisse abwerfen sollte. Da war es freilich kein Wunder, daß er nicht zufriedengestellt werden konnte.

Doch dies nur nebenbei, um zu erklären, wie es um die Zeit unserer Erzählung auf dem Gute aussah, nach welchem der Lehrer Seifert seine Schritte lenkte, um für die arme Martha ein Unterkommen zu erbitten.

Als er nach Herrn von Dohrma fragte, wurde er nach dessen Arbeitszimmer gewiesen.

Im Vorraum zu diesem Arbeitszimmer, wohin von dem großen, dielenartigen Hausflur eine Tür führte, saß an einem Pult auf einem hohen Drehsessel der Sekretär des Herrn von Dohrma, Johannes Spiegel.

Dieser war ein kleines, mageres Männchen, den die Natur sehr stiefmütterlich behandelt hatte. Er hatte einen Höcker und schiefe Schultern und bewegte den Kopf in einer seltsamen Weise schnell hin und her, wenn er mit jemand sprach.

Dreißig Jahre mochte er zählen, aber trotz seiner mißgestalteten Figur hatte er ein gutgeformtes Gesicht und kluge, etwas schwärmerisch blickende Augen.

So zufrieden und heiter, wie Johannes Spiegel, fand sich selten ein Mensch in sein hartes Schicksal. Er trug sein körperliches Mißgeschick wirklich mit Humor und Seelengröße und war bei allen Menschen beliebt.

Wo er weilte, gab es fast immer lachende, frohe Gesichter, man belustigte sich über seine komische Redeweise.

In seiner Jugend wollte Johannes Spiegel ein großer Dichter werden und übte sich von Kind auf darin, in gereimter Rede zu sprechen.

Er dachte, durch diese Übung sein erträumtes Ziel zu erreichet, hatte jedoch sonst nicht das geringste Talent dazu.

Nach mannigfachen Fehlschlägen hatte er eingesehen, daß er es als Dichter zu nichts bringen werde, und war dann froh gewesen, als ihn Herr von Dohrma als Schreiber und Sekretär anstellte.

Das Reimen aber hatte er nicht mehr lassen können, es war ihrn zur zweiten Natur geworden, und es gewährte ihm innige Befriedigung, alles, was er zu sagen hatte, in gereimter Rede hervorzubringen.

Darin hatte er es zu einer großen Fertigkeit gebracht. Nie war er um einen passenden Reim verlegen, wenn er auch zuweilen etwas gewaltsam damit verfuhr. —

Als der Lehrer Seifert zu dem Herrn Sekretär ins Vorzimmer trat, drehte sich dieser, wie er immer zu tun pflegte, mit seinem lederüberzogenen Drehsessel schnell um.

»Guten Tag, Herr Sekretär!« sagte Seifert freundlich.

Spiegel sprang von seinem Sessel herunter und reichte ihm mit einer possierlichen Verbeugung die Hand.

»Ei guten Tag! Zurück von der Reise,

Ich möchte sagen – erfreulicherweise.«

So sagte er vergnügt.

»Ja, Herr Sekretär, schon seit einigen Tagen bin ich zurück. Und ich habe nun ein Anliegen an den gnädigen Herrn. Ob er wohl für mich zu sprechen sein wird?«

Johannes Spiegel nickte lebhaft und bewegte den Kopf wie ein munterer Vogel hin und her.

»Sie brauchen nicht zu bangen,

Der Herr wird Sie empfangen.«

»Kann ich gleich zu ihm hineingehen, ist er allein?«

Spiegel legte ihm die Hand auf den Arm.«

»Er spricht jetzt mit dem Juden

Doch wird er sich wohl sputen,«

sagte er belehrend.

»Ah, Vetter Samuel ist bei ihm. Da komme ich doch wohl ungelegen?«

»Das soll Sie nicht vertreiben,

Sie können ruhig bleiben.«

Spiegel schob dem Lehrer einen Stuhl hin und kletterte wieder auf seinen Drehsessel.

Während er in seinen Papieren blätterte, sprach er noch einiges mit dem Lehrer, immer in gereimter Rede.

Er teilte ihm mit, daß der gnädige Herr geschäftlich mit dem Juden Veitel Samuel unterhandelte und daß dieser wohl das nächste Getreide wieder auf den Halmen kaufen würde. [Das heißt also, bevor es geerntet wird.]

Es war ein offenes Geheimnis in Dohrma, daß Veitel Samuel sehr viel Geld in Dohrma stecken hatte. Auch die Hypotheken mit denen Dohrma belastet war, gehörten ihm. —

Nach einer Weile kam Vettel Samuel aus dem Zimmer des Herrn von Dohrma. Er klopfte Spiegel auf die Schulter.

»Hab’ ich vorhin gar nicht gehabt Zeit zu fragen, wie es Ihnen geht, Herr Sekretär!«

Dieser drehte lächelnd den Kopf.

»Ich danke — sozusagen

Kann ich mich nicht beklagen.«

Und zum Lehrer gewendet, fuhr er fort:

»Nu: einen Augenblick,

Ich komme gleich zurück.«

Damit verschwand er im Zimmer des Gutsherrn, um den Lehrer anzumelden.

Veitel Samuel begrüßte inzwischen den Lehrer sehr höflich und bescheiden.

Niemand hätte dem in einem langen, abgeschabten Rock steckenden, hageren Juden angesehen, daß er ein reicher Mann war und im Grunde genommen der eigentliche Besitzer von Dohrma.

»Der Herr Lehrer wollen gewiß sprechen mit dem gnädigen Herrn über die kleine Martha Berger!« sagte er in seiner jüdischen Sprechweise, das schwarze Käppchen in der Hand haltend und den Lehrer eindringlich betrachtend.

Seifert sah ihn überrascht an.

»Sie wissen das, Herr Samuel?«

Dieser zuckte die Achseln und lächelte eigentümlich. »Warum soll ich nicht wissen? Weiß doch im Dorf jedes Kind, daß Sie sich bemühen, unterzubringen das arme Kind des Stellmachers bei guten Leuten. Is e’ braver Mann gewesen, der Stellmacher und hat nicht verdient so e’ Schicksal. Und das Kind — es is e’ christliches Kind und gehört in e’ christliches Haus, sonst, wahrhaftigen Gott, sonst würde ichs nehmen auf in meinem bescheidenen Haus.

Hat mir die kleine Martha doch beschützt meinen Sohn Isaak. Als er hat begleitet seinen Vater ins Dorf, sind über ihn hergefallen die wilden Dorfrangen und haben ihn wollen werfen mit Steinen. Mit ausgebreiteten Armen hat sie sich gestellt vor den schwachen Knaben und hat ’n beschützt und hat ’n abgewischt die Tränen mit ihrem eigenen Taschentuch.

Das wird der Veitel Samuel nie vergessen, und er wird vergelten der Martha eines Tages, was sie hat Gutes getan an seinem Sohne. Es wird schon kommen eine Zeit. Ich kann warten ——— der Jüd’ ist geduldig.

Und nun wünsch’ ich Ihnen eine gute Verrichtung, Herr Lehrer. Hoffentlich werden Sie haben Glück beim gnädigen Herrn. Er is e’ vornehmer Herr und is nicht knickerig und sparsam wie die Bauern im Dorf. Und dies Haus hier is e’ großes Haus und e’ christliches Haus, es wird Platz drin sein for e’ armes Kind, was is schutzlos und verlassen.

Und wenn sich weigert der gnädige Herr — nu — da kommen Sie zum Veitel Samuel und er wird einlegen ein gutes Wort beim gnädigen Herrn. — Guten Morgen, Herr Lehrer!«

Damit ging Veitel Samuel in seiner gebückten, bescheidenen Haltung hinaus.

In seinen klugen Augen, die unter den buschigen Brauen hervorblitzten, lag ein seltener Ausdruck. Scharf flog sein Blick gleichsam in alle Ecken, alles erfassend, was er sah.

Draußen aus dem großen Rasenplatz vor dem Herrenhause spielte Artur von Dohrma mit seinen beiden Hunden. Er hielt eine lange Peitsche in der Hand und knallte damit übermütig in der Lust herum.

Als er sah, daß Veitel Samuel ängstlich am Hause hinschlich, um der Peitschenschnur auszuweichen, ließ er sie ihm erst recht um die Nase tanzen und knallte ihm ein paarmal übermütig um die Beine.

Die Ängstlichkeit des Juden erschien ihm verächtlich, und um ihn noch mehr zu erschrecken, hetzte er die scharfen Hunde auf ihn, die sich in Veitel Samuels langen Rock verbissen.

Der Jude duckte sich mit lautem Wehgeschrei, und aus seinen Augen flog ein Blick auf den schlanken, herrischen Junker, in dem sich alles aussprach, was er empfand. — —

Artur war nicht schlecht, nicht von niedriger Gesinnung, nur falsch erzogen, und deshalb ließ er den Juden seine Überlegenheit fühlen, ahnungslos, daß dieser ein größeres Recht hatte auf den Grund und Boden, auf dem er stand, als der Junker selbst. — —

Mit verächtlichem Lachen rief Artur endlich die Hunde zurück.

Da blickte ihn Veitel Samuel noch einmal an. In diesem Blick lag die ganze Qual eines geächteten Volkes, in dessen Herzen der Wunsch brennt: »Aug’ um Auge, Zahn um Zahn.«

Artur hatte gerade noch einmal die Peitsche zum Schlage erhoben. Vor diesem Blick sank ihm die Hand wie gelähmt zurück. Dunkle Röte trat plötzlich in sein hübsches, stolzes Gesicht.

Es wurde ihm mit einem Male bewußt, daß er sich an einem Wehrlosen vergriffen hatte, und er schämte sich. Zu stolz aber, sich das einzugestehen, pfiff er seinen Hunden und ging scheinbar gleichgültig davon.

Veitel Samuel rannte eiligst zum Tor hinaus, so daß seine Rockschöße hinter ihm herflatterten. Erst als er draußen in Sicherheit war, blieb er stehen und warf noch einen Blick zurück.

»Der Veitel Samuel vergißt nix — nix Gutes — nix Schlechtes — er wird nicht vergessen die Hunde und die Peitsche! sagte er heiser vor sich hin und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn.«

*

Inzwischen war der Lehrer Seifert An Herrn von Dohrma ins Zimmer getreten.

Dieser saß an seinem Schreibtisch und stieß den Rauch einer Zigarette erregt und hastig von sich. Er war ein stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, mit gebräuntem, gutgeschnittenem, aber etwas hochmütigem Gesicht. Das graumelierte Haar und der starke Lippenbart waren militärisch verschnitten. Er trug eine graue Joppe, Reithosen und Reitstiefel, man sah, daß er nicht lange vom Felde heimgekehrt war.

Auf seinem Gesicht lag noch ein ärgerlicher Zug. Es war ihm schwer gefallen, Geld von Veitel Samuel flüssig zu machen. Der Jude wurde in letzter Zeit schwierig und wollte nichts mehr vorschießen. Nur nach langem Drängen hatte er das gewünschte Geld herausgerückt.

Moritz von Dohrma wandte sich nach Seifert um.

»Na, Schulmeister, wollen sich wohl vom Urlaub zurückmelden? Härten sichs sparen können. Oder haben Sie sonst ein Anliegen? Dann bitte kurz und bündig, hab keine Zeit!«

Seifert brachte nun ohne Umschweife sein Anliegen vor.

Herr von Dohrma machte ein verdrießliches Gesicht dazu. Er war so gar nicht in der Stimmung, wohlzutun und mitzuteilen.

»Donnerwetter nochmal, Schulmeister, also die Tochter des bankerotten Stellmachers wollen Sie mir aufhalsen? Denken wohl, Dohrma ist so ’ne Art Versorgungsanstalt für die Witwen und Waisen der Dohrmaer Dorfbewohner. Haben mir doch erst voriges Jahr die alte Kätner-Lene ins Haus gebracht!«

»Gnädiger Herr, die Kätner-Lene macht sich doch nützlich als Gänsehüterin und verdient ihr Brot!«

»Na ja — vorläufig noch. Aber wie lange, dann klappt sie vollends zusammen und ich muß ihr dann das Gnadenbrot geben. Man hat ohnedies soviel Mäuler zu stopfen, essen ja alle wie die Scheunendrescher. Na — und nun die Stellmachergöre, so ein Kind ist doch ein ganz nutzloser Brotesser. Natürlich, die Bauern halten sich so was vom Leibe und dann muß ich ran. Lieber Gott — bei den schlechten Zeiten. Sie denken wohl, unsereinem fällt das Geld nur so herein, hm?«

»Nein, gnädiger Herr. Aber ich habe schon überall vergeblich angeklopft, und das arme Kind kann doch unmöglich mit dem geistig unzurechnungsfähigen Vater zusammen im Armenhaus bleiben. Wenn ich nicht selber Kinder hätte, ich würde dem gnädigen Herrn nicht lästig gefallen sein!«

»Na ja, weiß schon, sind so ’n Mensch mit etwas zartem Gemüt. Und da soll ich nun natürlich klein beigeben. Was soll ich denn hier in Dohrma mit dem Mädchen anfangen?«

»Auf dem Gute findet sich vielleicht eine leichte Beschäftigung, damit sie ihr Brot nicht ganz umsonst ißt, gnädiger Herr!«

»Hm! Na, ich wills mir mal überlegen: also in Gottes Namen, bringen Sie das Mädchen her, wenn’s denn durchaus sein muß; ich will mal sehen, wo und wie ich sie anstellen kann!«

Damit war Martha Bergers Schicksal besiegelt.

Am nächsten Morgen brachte sie der Lehrer ins Gutshaus.

Der Abschied vom Vater war herzzerreißend, nur das Versprechen des Lehrers, daß sie alle Tage einmal nach dem Vater sehen, ihm das ärmliche Stübchen in Ordnung halten und ihm sonst einige Handreichungen tun dürfe, vermochte sie ein wenig zu trösten.

In den Mägdekammern im Dachgeschoß fand sich ein Winkelchen, wo man Martha ein Lager aufschlug.

Als der Lehrer, Martha an der Hand führend, den Gutshof betrat, kam eben Frau von Dohrma in einer hocheleganten, kostbaren Sommertoilette aus dem Hause, um mit ihrem Sohne Artur eine Ausfahrt zu machen.

Der Wagen stand schon vor der Tür.

Sie raffte das Kleid zusammen und blickte hochmütig ; über die zitternde Kleine in ihrem schlichten, geflickten Kittelchen hinweg.

Artur wandte den Kopf nach Martha um, als er an den Wagen trat.

Gerade fiel ein Sonnenstrahl über ihr blondes Köpfchen, so daß das Haar goldig aufglänzte.

»Das ist Martha Berger, Mama, die Tochter des Stellmachers, der jetzt im Armenhause ist. Sie soll in Dohrma bleiben, Papa hat es der Mamsell gesagt!« erklärte Artur seiner Mutter und blickte noch immer zu Martha hinüber.

»Ach, kümmere Dich doch nicht um solche Leute, mein Sohn. Das ist nichts für Deinesgleichen!« antwortete diese und lehnte sich im Wagen zurück.

Artur stieg ebenfalls ein.

Er sah in seinem feinen Anzug sehr vornehm aus. Dabei mußte er aber doch denken, daß die kleine Martha ein liebes Gesicht und schönes, goldenes Haar hatte, und eigentlich viel hübscher aussah, als die kleine Komtesse Hohenberg, deren Eltern er jetzt mit seiner Mutter besuchen wollte.

Als er von diesem Besuch wieder nach Hause kam, war sein erstes, die Mamsell zu fragen, was nun mit Martha geschehen solle.

Er erhielt den Bescheid, daß diese vorläufig in der der Küche beschäftigt werden sollte beim Kartoffelschälen und Gemüseputzen. —

Bald darauf schlenderte Artur nach der Küche und stellte sich breitbeinig, die Hände in den Taschen, mit seinem stolzen Gesicht vor Martha Berger hin.

Sie saß allein in der Küche und schälte Kartoffeln. Ängstlich blickte sie mit ihren großen, schönen Augen zu ihm auf und strich sich verlegen mit der verkehrten Hand eine lockige Haarsträhne aus dem Gesicht. Dabei entfiel ihr die Kartoffel, die sie hielt, und rollte vor Arturs Füße.

Unwillkürlich wollte dieser sich danach bücken, um sie aufzuheben, denn Martha gefiel ihm sehr gut, und ihr schönes Haar fand er wundervoll. Aber gleich fiel ihm die Mahnung seiner Mutter ein.

Und er schämte sich der guten, menschlichen Regung und stieß mit dem Fuß nach der Kartoffel.

»Gib doch besser acht auf Deine Arbeit, Du!« sagte er herrisch.

Martha hatte sich hastig nach der Kartoffel gebückt und da traf sie sein ausschlagender Fuß heftig an der Hand.

Ihr Gesicht zuckte schmerzlich. Sie barg die Hand unter der Schürze und biß die Zähne zusammen, um nicht weinen zu müssen. Ihre Augen blickten ihn groß an.

»Sieh’ Dich doch vor, Du bist sehr ungeschickt!« sagte er ärgerlich, weil ihr Blick ihm ein unbehagliches Gefühl verursachte.

Martha wollte auffahren und ihm eine zornige Antwort geben. Aber da fiel ihr ein, daß er sie dann bei seinem Vater verklagen könnte und man sie aus dem Hause weisen würde.

Dunkelrot wurde ihr Gesicht im Gefühl der Demütigung, die sie erleiden mußte, aber sie sagte kein Wort.

»Na, kannst Du Dich nicht entschuldigen?« stieß er hervor. Es ärgerte ihn, daß sie so still und beherrscht blieb.

»Ich hab’ Dir nichts zuleide getan!« antwortete sie leise, aber fest.

»Ganz egal — Du hast Dich zu entschuldigen. Und daß Du es nur weißt, für Deinesgleichen bin ich Junker Artur, und Du hast Sie zu mir zu sagen!«

Sie preßte die Lippen fest aufeinander.

»Nun, wird’s bald? Wirst Du wohl gleich sagen:

»Verzeihen Sie, Junker Artur!« rief er, gereizt durch ihren passiven Widerstand.

Sie hob den Kopf und sah ihn fest an.

»Sie sind ein sehr böser Junker Artur. Ich habe nichts Böses getan und brauche nicht um Verzeihung zu bitten, lieber sterbe ich!« stieß sie hastig hervor, dabei liefen zwei schwere Tränen über ihre Wangen.

Ihr Ehrgefühl empörte sich über die ungerechte Behandlung und das Herz tat ihr weh, daß dieser schöne, stolze Knabe so häßlich gegen sie war.

Als Artur ihre Tränen sah, wurde er dunkelrot, wandte sich schnell ab und verließ die Küche.

Martha sah ihm mit schmerzverzogenem Gesicht nach und kühlte die geschundene Hand in dem Wasser, in dem sie die Kartoffeln abwusch.

Sie seufzte tief auf. Sicher ging Junker Artur nun zu seinem Vater und verklagte sie. Und dann bekam sie mindestens Schelte oder mußte gar wieder fort von Dohrma.

Ängstlich blickte sie auf, als nach einer Weile die Mamsell eintrat.

Diese machte jedoch ein ganz freundliches Gesicht und gab Martha eine Scheibe Brot, welche mit Pflaumenmus bestrichen war.

»Da, iß, Du armes Hascherl«, und sei recht fleißig, hörst Du?« sagte sie lächelnd und strich ihr übers Haar.

Martha hätte ihr die Hand küssen mögen, so dankbar war sie für die kleine Freundlichkeit. Und sie überlegte ob sie der Mamsell sagen sollte, was sich zwischen ihr und I Junker Artur zugetragen hatte; aber die Scheu schloß ihr den Mund.

Und das war ganz gut, denn sonderbarerweise hatte sich Junker Artur nicht über sie beschwert, überhaupt niemand gesagt, daß er mit ihr gesprochen hatte.

In den nächsten Tagen kam er sehr oft in die Küche und meist, wenn Martha allein darinnen war.

Immer wieder suchte er sie durch sein hochmütiges, herrisches Wesen zu reizen und trieb es soweit, bis sie in Tränen ausbrach oder ihm eine zornige Antwort gab.

Seine Eltern hatten keine Ahnung, daß er sich soviel mit dem Bettelkinde beschäftigte, und er selbst wußte nicht recht, was ihn immer wieder in die Küche zog zu dem kleinen Mädchen.

Daß sie ihm trotz ihres ärmlichen Kleidchens und trotzdem sie das Kind eines Armenhäuslers war, sehr wohl gefiel, gestand er sich nicht ein, und so suchte er sein Wohlgefallen hinter einem hoffärtigen Wesen zu verstecken.

Freundlich und gut gegen sie zu sein, wie er es sich heimlich wünschte, das ließ sein falscher Stolz nicht zu, den seine Eltern, vor allein seine Mutter, in ihm großgezogen hatten.

Da er aber nicht darauf verzichten wollte, Martha zu sehen und mit ihr zu sprechen, so quälte er sie mit seinen hochmütigen Worten.

Gab sie ihm dann endlich eine zornige Antwort, dann freute er sich heimlich an dem Funkeln ihrer großen, sprechenden Augen, und brach sie in Tränen aus, dann lief er davon, mit sich und der Welt unzufrieden.

Martha fürchtete sich vor seinem Anblick, obwohl sie sein hübsches, stolzes Gesicht und seinen seinen Anzug bewunderte. Sobald er in die Küche trat, wußte sie, daß eine neue Demütigung ihrer harrte.

Bisher hatte sie in ihrem Leben nur Liebe und Güte erfahren. Die Eltern waren gut und zärtlich zu ihr gewesen; der Herr Lehrer hatte sie gern gehabt und ihren Fleiß gelobt. Alle Menschen waren freundlich zu ihr gewesen.

Jetzt hörte sie von allen Seiten nur raue Worte. Niemand nahm sich ihrer liebreich an, und selbst die gutherzige Mamsell sprach selten ein freundliches Wort zu ihr, denn sie hatte viel zu tun und wenig Zeit, sich um Martha zu kümmern.

Aber alles das tat ihr nicht so weh, wie des Junkers kränkendes Verhalten.

Und dennoch — blieb er einmal einen Tag aus, dann blickte sie immer in heimlicher Erwartung nach der Küchentür, ob er nicht kam.

So vergingen Wochen, ohne daß sich etwas in Marthas Leben geändert hätte.

In der Dämmerstunde lief sie ins Dorf zu ihrem Vater und brachte sein Stübchen in Ordnung, wusch ihn und kämmte ihm Haar und Bart, denn er saß den ganzen Tag teilnahmslos aus einem Holzschemel und starrte vor sich hin.

Nur selten sprach er einmal ein klares Wort zu Martha oder blickte sie mit Verständnis an. Dann freute sie sich jedes mal und hoffte immer aufs neue, er könnte noch einmal wieder gesund werden.

Der Lehrer hatte Martha auch gesagt, es sei nicht ausgeschlossen, daß ihr Vater wieder ganz gesund würde, aber dazu gehöre ein tüchtiger Arzt und andere Lebensbedingungen.

Wo sollte aber das arme Kind einen tüchtigen Arzt hernehmen, und wie sollte sie dein Vater eine andere Lebensweise ermöglichen? Sie war ja so arm, so furchtbar arm. —

*

Als nun einige Zeit vergangen war, wurde die alte Kätner-Lene, die in Dohrma die Gänse hütete, schwer krank.

Es war niemand da, der ihren Posten übernehmen konnte, und da bestimmte Herr von Dohrma Martha dazu.

Sie mußte nun an Stelle der Kätner-Lene frühmorgens die Gänseherde aus die Weide hinaustreiben, und kam am Abend wieder mit ihren Schützlingen heim.

Dann huschte sie noch schnell zum Vater und sank dann, wenn sie heimkam, auf ihrem Lager in tiefen, traumlosen Schlaf, bis sie wieder geweckt wurde.

Da die alte Kätner-Lene starb, behielt Martha den Posten als Gänsemädchen.

Wenn das ihre Mutter erlebt hätte, die ihr Kind so gern zur Lehrerin hatte machen wollen!

Das Gänsemädchen von Dohrma

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