Читать книгу Der eingemauerte Mann - Heidemarie Pläschke - Страница 9
Was Liebe wirklich ist, hat er vorher nicht gewusst
ОглавлениеVöllig ahnungslos steht die sich mit ihren immerhin achtzig Kilo bei einer Höhe von 168 Zentimetern nicht gerade ansprechend findende Mara splitterfasernackt in der Saunahalle der Ostsee-Therme von Scharbeutz und trocknet ihre halblangen brünetten Haare ab, als sie bemerkt, dass ein gutaussehender dunkelhaariger Mann sie betrachtet und heftigst anlächelt.
„Ups, wer ist denn das?“, überlegt Mara, „kenne ich ihn?“ Nein, sie meint diesen umwerfenden Mann noch nie gesehen zu haben, kann seinem wunderschönen Lächeln nicht widerstehen und lächelt zurück, denn schaden kann es ja nicht.
Wann immer sich ihre Blicke begegnen, trifft sein zauberhaftes Lächeln sie mitten ins Herz. Mara zieht ihren Bademantel an und geht extra einen anderen Weg, um sich ein Glas Wasser zu holen, aber nichts zu machen, seine liebevoll lächelnden Blicke verfolgen sie; und sie lächeln sich wieder und wieder an. Als Mara in den Ruheraum will, muss sie an ihm vorbei und versucht, den Titel des Buches zu erspähen, in das er hin und wieder schaut, wenn er sie nicht gerade anlächelt, und übersetzt bedeutet: „Fatales Siegen“. Dabei denkt sie, dass es anstrengend sein müsste, so etwas in der Sauna zu lesen, aber gut, jedem das Seine.
Der Ruheraum ist überfüllt; Mara sagt im Vorbeigehen zu ihrem Traummann: „Wegen Überfüllung geschlossen.“ Wieder lächeln sie sich intensivst an.
Mara macht es sich auf einem Sessel bequem und schließt die Augen. Als sie nach einer Weile ihre Augen wieder öffnet, ist der Stuhl, wo gerade noch der tolle Mann gesessen hat, leer.
Eine Freundin kommt vorbei und sie schwatzen ein wenig. Ihr gegenüber schwärmt Mara auch gleich von diesem tollen Mann. Monja, blond, schlank und vierzehn Jahre jünger als Mara, bemerkt: „Der ist mir vorhin auch schon aufgefallen, aber mich hat er nicht angelächelt.“
„Monja, der ist total mein Typ mit seinem schönen Körper, dieser bräunlichen Haut und den schwarzen Haaren. Aber ich sage dir, so ein Mann kann nicht mehr frei sein. Bestimmt ist er verheiratet und hat drei Kinder.“ Mara traut ihren Augen nicht, als ihr göttlicher Prinz sie plötzlich durch einen Wasserstrahl hindurch anlächelt und ist überglücklich. Jetzt benutzt er das Tauchbecken vor ihrer Nase und sogar mit dem Kopf unter Wasser. „Baah, dieser Körper“, denkt sie, „den könnte ich auf der Stelle vernaschen.“
Maras leise Hoffnung, er könnte sich zu ihnen gesellen, verfliegt, als sich dieser Supermann wieder auf seinen Stuhl setzt und versucht weiterzulesen, was ihm aber schwerzufallen scheint.
„Bestimmt traut er sich nicht, weil wir hier jetzt zu zweit sind“, denkt Mara laut und will auch nach Hause, denn sie ist schon ein paar Stunden hier.
Auf halbem Weg schießt Mara die Geschichte ihrer Freundin Marion durch den Kopf, die sich als Studentin nicht getraut hatte, dem Mann ihres Herzens ihre Liebe zu gestehen, der damals genauso dachte, weil er meinte, bei ihr keine Chance zu haben. Als sie sich ungefähr zwanzig Jahre später zufällig begegneten, erzählten sie es sich. Beide bedauerten, dass er inzwischen verheiratet war und zwei Kinder hatte. Deswegen wollte Marion jetzt keine weiteren Verabredungen. Damals hatte sie ihre Chance vertan und war nun mit fünfundvierzig Jahren immer noch Single. Natürlich kann niemand sagen, ob es gut gegangen wäre, aber trotzdem ist es traurig, denn so intensiv wie diese Liebe, meistens ist es die erste, werden nachfolgende seltener. Somit geht wohl auch nicht immer die Devise auf, dass der Mann der Jäger ist und in der heutigen Zeit wohl noch weniger.
Mit diesen Gedanken geht Mara nun mutig zu ihrem Lächelprinzen, stellt sich dicht neben ihn und hört sich sagen: „Wollte mich nur verabschieden.“ Wieder strahlen seine hübschen Augen Mara an während seine helle Stimme sagt: „Wie schade.“ Mara wäre fast geschmolzen bei dieser liebevollen Stimme und fragt: „Und jetzt?“
Er antwortet: „Hmm, nächsten Sonntag vielleicht?“
„Da werde ich nicht hier sein, denn wir machen einen Ausflug nach Schwerin.“ Er strahlt Mara an und überlegt bis er sagt: „Ich habe noch eine Visitenkarte von der Firma.“
„Super“, freut sich Mara; und sie gehen gemeinsam zum Umkleideschrank, in dem er in seinem Gepäck kramt und eine schon etwas verschlissene Karte hervorzieht, wobei er wie beiläufig sagt: „Hanno.“
„Mara.“
„Sie können mich gerne anrufen, aber ich muss eben mal überlegen, wie denn unsere neue Telefonnummer ist, denn wir stellen gerade auf ISDN um. Hanno versucht nun die neue Nummer zu rekonstruieren, aber ist sich unsicher. Mara meint, dass er sie doch anrufen könnte. Da kein weiteres Stück Papier zur Verfügung steht, reißt Hanno diesen Rest einer Visitenkarte noch einmal durch, der nun nur noch so ein Streifen ist, und bittet Mara, ihre Telefonnummer aufzuschreiben.
Sie verabschieden sich und wünschen sich einen guten Tag.
Zufrieden mit sich und der Welt fährt Mara an diesem 2. Pfingsttag, den 04. Juni 2001, in ihre Wohnung zurück.
Gespannt wartet Mara am nächsten Tag, ob Hanno sie anruft.
Schon 8.05 Uhr klingelt ihr Telefon und am anderen Ende fragt eine Stimme: „Rate mal, wer hier ist?“
„H’m, weiß nicht“, ist sich Mara unsicher und will nichts Falsches sagen, denn seine Stimme hatte sie schließlich am Telefon noch nie gehört, und bittet: „Nun, sag mal.“
„Wenn ich verspreche, ich rufe an, dann rufe ich auch an.“
Mara mit einem Freudenschrei: „Hanno!“
Hanno entschuldigt sich, dass er so früh anruft, denn die Telefonnummer, die er ihr aufgeschrieben hat, wäre nicht ganz richtig gewesen und er will nicht, dass Mara keinen Anschluss bekommt und dass er jetzt zum Zahnarzt muss. Die ganze Nacht hätte er schlecht geschlafen und möchte Mara wiedersehen. Zwar hat er jetzt Urlaub, aber sein Terminkalender ist schon brechend voll. Trotzdem schaufelt sich Hanno den Mittwoch frei und sie verabreden sich zu 18 Uhr an der Schwimmhalle. Er wollte pünktlich sein und nicht wollen, dass Mara auch nur fünf Minuten warten muss.
Aber etwas brennt Mara noch unter den Nägeln und sie fragt: „Darf ich dir noch eine Frage stellen?“
„Ja.“
„Bist du verheiratet?“
„Ja.“
„S c h e i ß e!“, platzt es aus Mara heraus. „Gar nicht scheiße, ich erkläre es dir morgen. Ich will dich nicht belügen.“
„Und bleibst du verheiratet?“
„Ich muss dich erst noch einmal sehen. Du hast mich gestern, als ich dich sah, total aus der Bahn geworfen. Ich lebe gar nicht mehr auf dieser Welt. Habe dir was geschrieben und möchte dabei sein, wenn du es liest.
Habe sofort meinen Termin am Mittwoch umgestoßen, um Zeit für dich zu haben. Vielleicht rufe ich nachher noch einmal an. Jetzt muss ich zum Zahnarzt. Darf ich dich nachher noch einmal anrufen?“
„Du darfst mich jederzeit anrufen“, taumelt Mara vor Glück.
Noch eine ganze Weile hängt Mara ihren Gedanken nach, bevor sie sich aufraffen kann, ihren Grillkamin weiter abzuspachteln. Natürlich hat sie das Telefon in Hörweite und jedes Klingeln weckt in ihr die Hoffnung, dass er es sein könnte.
Endlich um 18.40 Uhr hört sie Hannos liebe Stimme am anderen Ende der Leitung sagen: „Bin auf dem Heimweg und wollte dir nur sagen, dass ich mich auf morgen freue. Wie war denn dein Tag?“
„Habe Essen gemacht und den Kamin abgespachtelt, aber nicht, dass du denkst, ich wäre zu selbstständig; kann nur nicht immer nach Hilfe schreien und mache das, was ich kann, selber.“ Hanno: „Ich habe zwar nicht zwei linke Hände, aber alles kann ich auch nicht. Freue mich auf morgen.“
„Ich freue mich auch auf morgen und danke für deinen Anruf.“ Mara ist selig.
Am nächsten Tag steht Mara schon früh auf, denn sie hat sich viel vorgenommen: Saugen, Kamin streichen, einkaufen und dann noch einmal den Kamin streichen, duschen und was ziehe ich an, sollte ich mich dekorieren?
Ihr Sohn Julian hat ihr die Gartenpforte gestrichen und den Pfosten gerichtet; nun wünscht er sich ein großes Eis.
Da klingelt das Telefon und Hanno fragt, ob er auch etwas früher kommen könnte. „Ja, natürlich, gerne“, hört sie sich sagen. „Schaffe ich noch das Eis? Ach, da ist noch Dreck an der Pforte. Nun aber dalli.“
„Julian, kannst du mir bitte helfen? Ich habe noch nichts gegessen, nur ein Viertel vom Apfel und Zähne muss ich auch noch putzen. Ja, das Eis mache ich dir sofort.“
Gerade noch so geschafft, da steht Hanno auch schon vor der Haustür und strahlt Mara durch die Scheiben an und Mara strahlt zurück. Sie öffnet die Tür und bittet Hanno hineinzukommen. Hanno überreicht ihr einen wunderschönen Blumenstrauß mit den Worten: „Ich hoffe, du magst so etwas.“
„Aber natürlich, Dankeschön, wie lieb von dir.“ Hanno ist sichtlich unsicher, wie er Mara begrüßen soll, ob Hand geben oder doch umarmen, da nimmt Mara ihm diese Entscheidung ab, indem sie ihn einfach liebevoll umarmt.
Mit beiden Händen hält Hanno einen Brief hoch und sagt: „Und dann habe ich dir noch dieses mitgebracht.“
„Oh, so einen dicken Brief für mich. Gleich werde ich ihn lesen, aber ich denke, ich sollte erst einmal diese wunderschönen Blumen (drei rote Gerbera, drei weiße Rosen und eine Rispe mit weißen Blüten von schönem Blattwerk umgeben) ins Wasser stellen. Mara schaut im Wohnzimmer nach einer passenden Vase und entscheidet sich für einen blauen Krug im Landhausstil, wobei sie überlegt, die blaue Manschette, da sie farblich nicht so gut zum Krug passt, zu entfernen, da bittet Hanno sie: „Du, lass das mit den Blumen erst einmal, lass sie bitte dort stehen. Komm, ich möchte mich auf dich konzentrieren. Bitte lies jetzt den Brief.“
„Okay, mache ich im Wohnzimmer“, und sie gehen hinein. Mara nimmt am Esstisch Platz, weil sie dort besseres Licht hat, und setzt ihre Lesebrille auf.
Hanno möchte lieber auf dem Sofa sitzen und sie beobachten; so fragt Mara ganz aufgeregt: „Bin ich traurig, wenn ich den gelesen habe?“
„Nein, das glaube ich nicht. Habe mal so aufgeschrieben, wie es mir gegangen ist und auch was von mir, damit du mich ein wenig kennenlernst.
Mara holt den Brief aus dem Umschlag und sagt: „Kann mich nicht erinnern, dass ich je einen Liebesbrief bekommen habe. Alles mit Füller geschrieben und sieben Seiten lang. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals und sie beginnt zu lesen:
Timmendorfer Strand, Pfingstdienstag,
05. Juni 2001
Teure!
Es ist mir entfallen, ob wir uns duzten oder siezten. Wenn ich nun spaßeshalber die zweite Person Plural verwende, so nicht aus Nostalgie, sondern aus Verlegenheit. „Ruf an!“ oder „Rufen Sie an!“ sagtet Ihr gestern, heute morgen leichthin, als wir miteinander sprachen und ich Euch mit der Bemerkung zu halten suchte, ich hätte Euch noch etwas zu sagen. Jetzt schreibe ich. Ihr wisst ja nicht, auf welchen gerade fruchtbaren Boden Eure Aufforderung, etwas zu sagen, fiel. Ihr konntet nicht ahnen, dass ich, der wildeste aller Schreiber, mir gerade bei Euch vorgenommen hatte, nicht zu schreiben.
Alles begann mit Briefen. Aber nicht deshalb wollte ich nicht schreiben, damit keine Liebschaft begänne – ganz im Gegenteil: Ich bin rasend interessiert daran, mit Euch Unmengen von Kaffee und Tee, von Whiskey und Wein zu trinken. Euch dabei glühend anzufunkeln und ständig in größter Unaufdringlichkeit zu beschwören, doch eine wilde Liaison mit mir einzugehen. Aber ich wollte dieses Ziel endlich einmal ohne das Mittel des Briefes erreichen; ich wollte endlich einmal ohne diese Krücke auskommen. Mühelos und elegant gewunden kommen in Briefen die Geständnisse daher, unwidersprochen kann ich die Argumente der Leidenschaft ausbreiten, stammeln, toben, schluchzen – und wonach immer mir zumute ist. Nie wird man unterbrochen, nie heißt es: „Fassen Sie sich!“ Ein-zwei-drei hat man das Herz der Begehrten erobert. – Ihr zweifelt?
Als Ihr gestern den Raum betratet, erloschen augenblicklich all meine anderen Interessen. Gerade war ich im Begriff gewesen, ein besonders schwieriges Kapitel der Schlacht von Agincourt zu verstehen, doch sofort ließ ich meine Bemühungen fahren, um Euch fortan zu beobachten; ich hoffe, möglichst unauffällig. Wie sehr es um mich geschehen war, konnte ich nicht nur an dem Zerfall meiner beruflichen Interessen messen, sondern Eurem Haar wie Körper, erregten schlagartig mein Entrücken. Dazu Eure vorbildliche Nase, Euer prüfender Blick. –
Ich war schwach, bin es noch immer, und wie lange ich es sein werde, hängt von Euch ab.
Das Äußere allein hätte bewirkt, dass mir in den nächsten Tagen und vielleicht auch Wochen die unvermeidlich wollüstigen Gedanken gemacht und Euer Bild hervorgerufen hätte, um mir den Jammer des Alltags zu versüßen. Meine Verknalltheit schlug dann jäh vom Bauch in Kopf und Herz, als ich Euch sprechen hörte. In diesem Augenblick empfand ich eine rasende Solidarität, eine so göttlichgeile Komplizenschaft, eine impertinente Sicherheit, dass wir uns verstehen würden.
Fortan war es um mich geschehen.
Ich liebe Euch, versteht Ihr, und ich sehe nicht ein, wieso ich ein anderes Wort dafür verwenden sollte. Diese Vorsicht mit dem Wort „Liebe“, dieses bedächtige Antasten, ob es auch wahrhaftig Liebe sei, was man da empfindet, dieses ständige Zweifeln und Abwägen hält die Liebe in einer unguten künstlichen Höhe; da mache ich nicht mit.
Eben dies hätte ich Euch so gerne noch gesagt, Ihr hättet gelächelt und mir freundlich zugenickt, dass ich betrunken sei. Ich hätte auf der Nüchternheit meiner Aussage bestanden und versucht eine Verabredung mit Euch festzumachen.
Ihr werdet nun möglicherweise sagen: Was will der denn? So ein Briefchen, ob es nun schmeichelt oder belästigt, ist nicht so übel; besser solche Botschaften per Brief, als wenn er mir mit roten Ohren im Treppenhaus Geständnisse gemacht hätte. –
Aber glaubt mir, ich blicke auf eine 20-jährige Erfahrung als Liebesbriefschreiber zurück. Ich weiß, warum ich Bedenken habe. Lasst mich kurz die Geschichte meiner Liebschaften erzählen, damit Ihr wisst, warum ich Euch einerseits gerne schreibe, andererseits Briefe als Hindernis ansehe.
Mein Mangel bestand immer darin, aus dem Rudel der Bewerber nicht überdeutlich hervorzuragen. Weder war ich ja ein besonders guter Fußballspieler noch ein fantastischer Säufer, nie war ich größer, stärker, intelligenter, gutaussehender, reicher als andere, immer nur guter Durchschnitt, also auch nie so armselig bemitleidenswert, dass ich via Mitleid hätte die Liebe der Frauen erschleichen können. Was also tun zwischen all den Rivalen? Als Verachter des waltenden Darwinismus war mir das drängende Gebuhle zuwider, das in den Dörfern, Kleinstädten, Großstadtvierteln, Schulklassen, Universitäten und auch auf allen Festen von einer Handvoll Männer um die schönste Frau am Platz veranstaltet wird.
Hier entdeckte ich den Brief als segensreiches Mittel mir in aller Ruhe Gehör zu verschaffen und ungestört vom Treiben der Nebenbuhler mein eindeutiges Anliegen möglichst vieldeutig vorzutragen.
So wie jetzt saß ich schon in jungen Jahren am Tisch, tunkte, um mir vollends wie ein Schillerscher Held vorzukommen, eine altertümliche Feder ins Tintenfass, beleckte hastig das Kuvert, eilte zum Postkasten und hatte das wohlige Gefühl, das Menschenmögliche getan zu haben. Mit dem Brief hatte ich ein geheimes Band geknüpft, und kaum eine Frau konnte sich einem entziehen. Jetzt trafen mich zwischen allen Rivalen hindurch schöne Blicke; wir waren Vertraute, noch ohne ein Wort gesprochen zu haben; und schon suchte sie mein Gespräch, und mühelos bahnte sich etwas an.
Ich legte damals mehr Wert auf eine geniale Handschrift als auf den Inhalt und weiß daher nicht mehr so recht, was in diesen Briefen stand. In jedem Fall übertrafen sie die lächerlichen Botschaften meiner Rivalen. Ich schilderte Begegnungen, wie ich sie mir gewünscht hätte, Begegnungen an Waldesrändern mit Abendsonnenbeleuchtung („die Rehe ganz rot vor Romantik“ – an diese Wendung und ihren Erfolg erinnere ich mich gerade mit Schrecken), Begegnungen in fernen Eisenbahnen, auf trägen Schiffen, in London oder Paris.
Natürlich erreichte ich nicht immer mein Ziel, aber meist entwickelten sich aus meinen brieflichen Vorstößen spannende Liebesgeschichten. Warum wurden aus diesen Geschichten kein großer Roman? Liegt es an der Vergänglichkeit der Liebe? An das zwangsläufige schnelle Ende der Liebesflattermägen weigere ich mich zu glauben. Es kann nicht das Wesen der Liebe sein, dass sie so rasch verblüht! Ihr pflichtet mir doch bei?
Nein, es lag wohl daran, dass die Wirklichkeit meinen Briefen nicht standhielt. Ich beschrieb den Geruch von Balkons in der Septembersonne, den Geschmack reifer Tomaten und dazwischen unbeschwert das Liebespaar. In Wirklichkeit saßen wir in miesen Kneipen bis zur Sperrstunde herum und dachten an nichts anderes als die Unerfüllbarkeit unserer Wünsche. Die Qualität meiner Briefe war ihr Erfolg, aber auch ihr Manko.
Lange aber sah ich immer nur den Erfolg und kam mir vor wie ein Zauberkünstler.
Könnt Ihr verstehen, meine Teure, dass mir der Erfolg meiner Briefe allmählich auf die Nerven ging? Solange ich in den Zwanzigern war, wurden sie offenbar noch als romantische Grußbotschaften eines poetisch veranlagten Helden entgegengenommen, als hervorragendes, aber noch irgendwie normales, Liebeszeichen. Als ich aber die Dreißiger erklommen hatte und mich in einem Alter befand, wo kein Mensch mehr für irgend etwas Zeit hat und am wenigsten für Briefe, wo die Handschriften der Erfolgreichen bereits zu verkümmern beginnen, wo Frauen nicht mehr viel von den Männern erwarten als die Bestätigung dessen, dass sie gefühllose geile Böcke sind, als ich in diesem Alter war und immer noch meine Briefe schrieb, kannte das Entzücken der Frauen kein Halten mehr. Ich hatte das Gefühl, durch meine Briefe zum wandelnden Anachronismus zu werden. Wo kein Mensch mehr schrieb, wo alles nur noch telefonierte, schrieb ich mit leichter Hand seitenlange Briefe. Wie rührend. Wie liebenswert. Ich glaube es war ganz egal, was ich schrieb, Hauptsache es schrieb einer, das war schon toll genug. Diese wunderbaren Briefe! Glaubt mir, ich konnte das Lob nicht mehr hören. Bloß, weil kein Schwein mehr vernünftige Briefe schrieb, hatte ich den großen Erfolg. Ich deckte mit meinen Briefen das poetische Defizit frustrierter Frauen. So war es wohl. Ich will aber nicht wegen meiner Briefe geliebt werden, sondern wegen mir. Bestehe ich nicht aus Fleisch und Blut? Ich hatte das Gefühl, meine Teuerste, dass einigen Frauen meine Briefe wichtiger waren als meine Anwesenheit. Nahm man mich nur in Kauf, um sich den Briefeschreiber zu bewahren? Dieser völlig unüberprüfbare Verdacht ließ mich nicht los. Ich begann auf meine eigenen Briefe eifersüchtig zu werden.
Nachtrag nach unserem Telefongespräch:
Ich möchte der geläufigen Unterstellung trotzen, dass Poeten immer nur ins Papier hineinlieben – alles nur sublimierte Sehnsucht am Schreibtisch und nicht die Hitze der wirklichen Sehnsucht in den Adern. Der hier schreibende rasende Verehrer gehört nicht zur Gattung der Schreibtischtäter. Natürlich drosselt ein so schönes Kapitel wie gestillte Sehnsucht und befriedigtes Verlangen den erotischen Schub des Literaten. –
Erfüllung aber sollte kein Grund sein, sich nur noch den zweifelhaften Wonnen der unrealisierbaren Liebe hinzugeben. Die Liebe und die Liebschaften müssen nur frisch, überraschend und kompliziert genug sein, dann geben sie den Stoff für das Schreiben – und ich hoffe der gute alte Körper kommt auch nicht zu kurz dabei.
Es umschlingt Euch herzlich
Euer treuer Verehrer
P.S.:
Telefonnummer, echter Name des Verfassers und Arbeitgeber klebten auf einem separaten gelben Zettel unten rechts, dessen Inhalt ich aber aus Persönlichkeitsrechten hier nicht näher erwähnen möchte.
Mara ist hingerissen vor Entzücken. Während des Lesens amüsieren sie einige Stellen, andere lassen sie vor Glück fast zerspringen.
Voll konzentriert nimmt Hanno jeden Gesichtsausdruck und jede Betonung seiner Teuersten war.
Nach dem Lesen sagt Mara zu Hanno: „Dankeschön“, steht vom Tisch auf, geht zu ihm, der auf dem Sofa sitzt, und gibt ihm spontan einen dicken Kuss auf den Mund. Hanno sagt noch, dass er Mara dies alles doch im Treppenhaus nicht hätte sagen können.
„Stimmt“, pflichtet Mara ihm bei, „und den Brief kann ich immer wieder lesen.“
Maras jüngerer Sohn Julian (19 J.), der noch im Haus wohnt, kommt während des Lesens ins Wohnzimmer; und Mara macht beide miteinander bekannt. Dann zieht Julian sich in sein Zimmer zurück.
Nun taucht er wieder auf und Mara sagt, dass sie in die Stadt wollen.
Julian folgt ihnen bis vor die Tür.
An der Gartenpforte weist Mara noch auf Schmutz am Pfosten hin und Hanno sagt zu Julian: „Du kannst alles gemacht haben und noch mehr, das sieht keiner, aber das kleine Wenige, was du vergessen hast, das wird bemerkt.“
Wie selbstverständlich gehen sie Hand in Hand zu Hannos Auto, und Julian sieht ihnen scheinbar zufrieden nach.
Hanno bemerkt, dass er zwar nie lügen würde, aber jetzt musste er seiner Frau nicht so ganz die Wahrheit sagen.
Hanno will in Ruhe mit Mara reden.
Er parkt sein Auto, und sie gehen Hand in Hand durch die Innenstadt, aber schon komisch, dass so viele Lokale noch geschlossen haben. Dann entdecken sie eines mit Biergarten und Hanno küsst erfreut Mara auf den Mund.
Das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber nagt schon an ihm und er mag sich gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn Bekannte ihn in Begleitung einer attraktiven Frau sehen würden und er sagt: „Ja gut, das wäre, was es will, also dich kennenzulernen und das Andere eben, dass ich Gefahr laufen muss, gesehen zu werden.“
Mara will wissen, wie lange Hanno schon verheiratet ist und er sagt: „Seit 1995.“
Das kann Mara kaum glauben und meint erstaunt: „Ich dachte, dass du schon zwanzig Jahre verheiratet bist.“ Er: „So alt bin ich doch noch gar nicht.“ Mara bekommt einen Schreck wegen des Alters und fragt nach: „Wie alt warst du denn, als Ihr geheiratet habt?“
„Siebenundzwanzig, also bin ich dreiunddreißig und meine Tochter ist fast vier. Ich weiß, dass du älter bist, aber das ist mir völlig egal. Ich liebe dich. Da ist doch das Alter egal, und wenn du achtzig wärest. Na ja, vielleicht doch etwas viel, oder sechzig. Ich liebe dich. Dabei hält er Maras Hände und streichelt sie liebevoll. So einen Mann hat sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt, so was von lieb. Mara kann sein Alter einfach nicht glauben und er zeigt ihr seinen Personalausweis. „Nein, das darf doch nicht wahr sein; ich habe überhaupt keine Chance. Ich bin schon fünfzig und du dreiunddreißig, verheiratet mit Kind. Das ist doch völlig aussichtslos. Ich kann und will nicht mehr kämpfen, das habe ich mein ganzen Leben lang getan.“
„Du brauchst auch nicht zu kämpfen und du hast sogar große Chancen. Wegen des Alters treffen wir jetzt eine Vereinbarung, sage mir bitte, wenn ich zu jung für dich bin und ich sage dir, wenn du zu alt für mich bist. Ich habe mit deinem Alter keine Probleme und du?“
„Nun ja, eigentlich habe ich mit deinem Alter auch keine Probleme.“
„Schließe jetzt deine Augen.“
Hanno streichelt ihr Gesicht und fragt danach. „Was hast du gefühlt?“
„Wie gut es deine Frau hat; ich beneide sie.“
„Ja, sie hat es so gut. Bis Pfingstmontag war ich der Meinung, dass meine Ehe okay sei, aber von dem Moment an, als ich dich in der Sauna gesehen habe, weiß ich es nicht mehr, denn dich liebe ich.“
Mara steckt ihre Hand in den Ärmel seines Hemdes und streichelt die Haut seiner Arme bis ihre Hand seinen Bauch erreicht.
Hanno: „Du weißt, was jetzt passiert? Ich kann jetzt nicht aufstehen. Verändere dich nicht; bleib so wie du bist; sei einfach nur du selbst. So habe ich dich kennengelernt und so liebe ich dich.“
Hanno stellt Mara Fragen und schreibt ihre Antworten, ohne dass Mara es sehen kann, auf einen Bierdeckel, den er jetzt umdreht.
Nachdem Mara geantwortet hat, dreht Hanno den Bierdeckel wieder auf die andere Seite.
„Komisch“, bemerkt Mara, das sind ja meine Antworten. Wie kann das angehen?“
„Ich kann dich verstehen und habe das Gefühl dich schon sehr ewig zu kennen.“
Eigentlich wollten sie noch etwas essen, aber die ganze Aufregung hat jeglichen Hunger auf Essbares vertrieben.
Hanno: „Ich möchte dich noch einmal so sehen wie in der Sauna.“ Mara hat Bedenken, dass er sie für ein leichtes Mädchen halten könnte und nur seinen Jagdtrieb befriedigen würde wollen.
Das sagt sie zu Hanno, als sie das Lokal verlassen, und er antwortet: „Ich fahre dich jetzt nach Hause, überlege es dir auf dem Weg, aber ich kann auch warten.“
Vor Maras Haus steigt Hanno wie selbstverständlich aus dem Auto aus, und sie gehen ins Haus.
Im Wohnzimmer nimmt Hanno auf dem Sofa Platz, Mara setzt sich auf sein Bein und Hanno sagt: „Mir ist, als ob ich dich schon ewig kenne.“
„Mir geht es genauso. Du, sag mal, weißt du noch, was du gestern gegen 11 Uhr gemacht hast?“
„Ich hatte mich eine Viertelstunde ins Klo eingeschlossen, weil ich Angst hatte, dass man es mir ansehen würde und Fragen stellen könnte.“
Mara: „Zur gleichen Zeit habe ich ganz stark an dich gedacht und total intensiv.
Ist das Telepathie?“
„Muss wohl so sein.“
Sie schmusen inniglich und können es vor Sehnsucht kaum noch aushalten. Wie von Geisterhand getrieben landen sie im Schlafzimmer, ziehen sich gegenseitig küssend aus. Nackt nebeneinander liegend stellt Hanno fest: „Es ist schon schön, nur neben dir zu liegen. Mir ist, als ob ich dich schon ewig kenne.“
Voller Zärtlichkeit streichelt Hanno Mara, die ihn ebenfalls streichelt bis sie es beide nicht mehr aushalten und Mara ihn endlich spüren möchte. Immer wieder fragt Hanno: „Liebst du mich auch wirklich, denn ich liebe dich so sehr.“
Mara: „Ja, ich will dich mit Haut und Haaren.“
Er: „Ich bin kein Mann der schnellen Entschlüsse, aber ich bin süchtig nach dir. Du schmeckst so gut und riechst so gut, deine Haare, deine Haut, deine ganze Art. Ich liebe dich.“
„Ich will dich aber deiner Familie nicht wegnehmen.“
Hanno: „Ich stehe jetzt neben mir. Wenn ich es schaffe, komme ich am Freitag wieder, aber ich habe eine Menge Termine.“
Im Weggehen will er noch einmal von Mara hören, dass sie ihn liebt.
„Ich liebe dich, mein Herzblatt, komm gut nachhause.“
Dann schließt sich die Haustür.
Mara steht jetzt alleine im Hausflur, friert, fühlt sich leer, ist glücklich und traurig zugleich. Sie bleibt ganz still im Wohnzimmer sitzen und trinkt ein Bier.
Dann geht sie schlafen und weint, weil alles so aussichtslos ist, sie will keine Ehe zerstören und spricht mit sich selber: „Ich will trotzdem hoffen, aber auf was? Wunder geschehen, was für Wunder? Egal, nein, nicht egal. Ich liebe ihn und würde ihn gerne für mich alleine haben, weiß aber, dass das nicht geht.“
Mit langen Selbstgesprächen und von Tränen gestreichelt schläft Mara irgendwann ein.