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Kapitel 5
ОглавлениеEmmet
Als der vierte Juli kam, war Jeremey mein bester Freund.
Seit Langem hatte ich gespürt, dass er mein bester Freund sein konnte, aber an diesem Feiertag kam alles zusammen. Wir gingen zur Parade im Stadtzentrum – nur wir beide, ohne unsere Eltern. Wir liefen über den Rummel im Bandshell Park. Wir überlegten, im Wasserpark schwimmen zu gehen, aber es waren zu viele Menschen dort, also fuhren wir mit dem Fahrrad zum Ada Hayden. Das ist ein Park mit einem Wasserspeicher, auf dem man Boot fahren kann, und vielen befestigten Wanderwegen. Es war ein heißer, heißer Tag, aber es machte mir nichts aus. Ich war mit Jeremey zusammen.
Er begleitete unsere Familie, um das Feuerwerk vom Hügel an der Sixth Street zu beobachten – durch die Bäume verpassten wir ein paar der kleineren Feuerwerkskörper, aber es war nicht voll, nicht laut und alle unsere Nachbarn waren dort. Während wir auf der Decke saßen, eingesprüht mit Anti-Mückenspray, das nach Vanille roch, und die Kinder beobachteten, die mit Wunderkerzen den Hügel zum Fußballfeld hinunterrannten, wurden meine Gefühle intensiver. Ich war glücklich. So glücklich.
Ich wollte immer noch, dass Jeremey mein fester Freund wurde, und manchmal glaubte ich, dass er vielleicht auch schwul sein könnte, aber selbst wenn wir nur Freunde sein sollten, würde das für mich in Ordnung gehen. Er war mein bester Freund, die Art von engem Freund, die man als Mensch mit Autismus nur sehr schwer bekommt. Es kann knifflig sein, uns kennenzulernen. Aber Jeremey wusste bereits mehr über mich als irgendjemand sonst, selbst mehr als meine Eltern und Althea.
Als das Feuerwerk über uns im Himmel explodierte, wurde der Drang, ihm meine Gefühle zu offenbaren, immer größer. Ich hatte Angst, dass meine glücklichen Gefühle aufhören würden, wenn er nicht auch dachte, dass wir beste Freunde waren, und befürchtete, dass mein Autismus den Moment zerstören würde. Also schrieb ich ihm eine Nachricht, obwohl er direkt neben mir saß.
Jeremey, du bist mein bester Freund. Meine Brust wurde vor Nervosität ganz eng. Ich hoffe, das ist in Ordnung, fügte ich hinzu, ehe ich auf Senden drückte.
Sein Handy gab ein leises Klingeln von sich. Ich hielt den Atem an und hasste zum ersten Mal meine Superkraft, alles aus dem Augenwinkel sehen zu können. Ich konnte nicht anders, als ihn dabei zu beobachten, wie er das Handy aus der Tasche zog, die Nachricht las und zurückschrieb. Als mein Handy im Heartbeat-rhythmus in meiner Hand vibrierte, hätte ich die Nachricht beinahe nicht gelesen. Es tat mir leid, dass ich ihm überhaupt geschrieben hatte. Wenn er sagte, dass es nicht in Ordnung war, würde all mein Glück in sich zusammenfallen.
Aber als ich endlich den Mut fand, die Nachricht zu lesen, sah ich: Du bist auch meiner.
Lächelnd wippte ich auf der Decke. Ich hatte einen besten Freund.
Ich wünschte, er wäre mein fester Freund. Wenn er es wäre, hätte ich ihn gefragt, ob ich seine Hand halten dürfte.
Aber ich tat es nicht. Stattdessen genoss ich den Rest des Feuerwerks mit meinem besten Freund.
Wir trafen uns jeden Tag, meist am Nachmittag. Für gewöhnlich spielten wir Videospiele oder gingen spazieren. Manchmal saßen wir auf meiner Veranda und sagten kein Wort. Jeremey las gern und als meine Mom das herausfand, gab sie ihm ihren alten Kindle, der mit allerlei Büchern vollgestopft war.
Außerdem zeigte ich Jeremey den The Blues Brothers-Film, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Es hatte mir gefallen, ihm den Film zu zeigen, aber als wir angefangen hatten, ihn zu sehen, hatte ich keinen großen Spaß. Ich hatte mich so sehr bemüht, nicht autistisch zu sein.
The Blues Brothers ist nicht nur mein Lieblingsfilm. Es war eines der ersten Dinge, die ich mir merkte. Mein Dad liebt den Film auch und hat ihn sich immer angesehen, als ich klein war. Meine Mom war deshalb wütend auf ihn gewesen, weil ich herumgelaufen war und den Film zitiert hatte oder die Sätze aus dem Film nutzte, um zu sprechen. Wenn ich etwas von meiner Mom wollte, fragte ich: »Hast du meine Käsecreme mitgebracht, Junge?«
Ich wollte keine Käsecreme, aber für mein Gehirn war es der einzige Weg, um nach etwas zu fragen, indem ich den Satz aus dem Film nutzte. Wenn ich mit meinen Bausteinen spielte, stellte ich sie in einer Reihe auf und zählte sie, indem ich die Stelle zitierte, an der der Wärter (der von Frank Oz gespielt wird, der Miss Piggy und anderen Figuren der Muppets Show seine Stimme geliehen hat) das Inventar von Jake Blues' persönlichem Besitz aufzählte. »Eine Timex Digitaluhr, zerbrochen. Ein unbenutztes Präservativ. Ein benutztes. Ein schwarzes Anzugjackett.«
Und wenn ich etwas nicht tun wollte, sagte ich nicht einfach nein. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Auf. Keinen. Verdammten. Fall.«
Ich erinnere mich nicht daran, aber Mom sagte, dass ich, seit ich vier Jahre alt war, bis zur ersten Hälfte des Kindergartens nur in Filmzitaten gesprochen hatte. Das mache ich nicht mehr, aber manchmal flüstert mir mein Gehirn Sätze aus dem Film zu, wenn es der Meinung ist, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, sie auszusprechen. Manchmal zitieren auch Durchschnittsmenschen Filme und andere Durchschnittsmenschen lachen über den Witz. Aber bei mir lachen sie anders, wenn ich The Blues Brothers zitiere, also mache ich es nicht in der Öffentlichkeit.
Meinem Dad gefällt es allerdings, wenn ich zitiere, weil er der Meinung ist, dass ich einen hervorragenden Elwood Blues abgebe. Im Auto fragt er manchmal Was ist das? Und ich weiß, dass ich jetzt die Szene nachsprechen soll, in der sie den Cadillac gegen ein Mikrofon eintauschen. Ich sage ihm immer wieder, dass die Szene nur richtig ist, wenn er mich fahren lässt, da Elwood immer fährt. Er sagt nein, ich würde versuchen, wie im Film über eine Brücke zu springen. Was nicht stimmt. In Ames gibt es keine Klappbrücken.
Es macht Spaß, den Film mit meinem Dad zu zitieren, aber es gibt ein Problem, wenn ich den Film sehe, vor allem mit jemandem, der kein Teil meiner Familie ist. Jedes Mal, wenn ich den Film sehe, spreche ich den Text der Schauspieler mit. Ich bin schon besser darin geworden, nicht jeden Satz laut auszusprechen, aber in meinem Kopf spreche ich jedes einzelne Wort mit. Ich habe das Drehbuch online gelesen, als ich in der Highschool war, und wenn ich den Film jetzt sehe, spreche ich sogar die Bühnenanweisungen mit. Mein Dad spricht seine Lieblingssätze mit mir und es macht ihm nichts aus, wenn ich viel mitspreche.
Wenn autistische Menschen Fernsehsendungen oder Filme zitieren, so wie ich es getan habe, als ich klein war, spricht man von Echolalie. Jetzt habe ich keine Echolalie. Wenn ich jetzt spreche, gehören die Wörter zu einhundert Prozent mir. Manche Autisten können jedoch niemals damit aufhören, Fernsehsendungen oder Filme nachzuplappern, oder sogar das, was die Person ihnen gegenüber gerade gesagt hat. Das liegt an den Gehirnoktopussen.
Die Leute sollten nicht lachen oder unhöflich das Gesicht verziehen, wenn ein autistischer Mensch etwas nachplappert. Einige können nicht anders und die meisten, die es können, müssen hart daran arbeiten, es nicht zu tun. Selbst jetzt fällt es mir schwer, nicht ununterbrochen The Blues Brothers zu zitieren. Wenn ich den Film sehe, ist es fast unmöglich, zu widerstehen.
Ich war nervös, wie Jeremey auf mein autistisches Zitieren reagieren würde. Ich wollte nicht, dass er mich für seltsam hielt und entschied, dass wir nicht mehr beste Freunde sein sollten. Also saß ich auf dem Rand der Couch, versuchte, nicht zu wippen, nicht zu summen und mehr als alles andere, nicht zu plappern, bis Elwood und Jake die Nonne verlassen, die sie Den Pinguin nennen. Zum ersten Mal hatte es mir nicht gefallen, The Blues Brothers zu sehen.
Dann kam mein Dad ins Wohnzimmer und sagte: »Ihr müsst lernen, mit Nonnen auf andere Weise zu sprechen.«
Ich wippte vor und zurück. »Dad, der Satz kam schon.«
»Ich weiß. Aber er gehört zu meinen Lieblingssätzen.« Dad ließ sich auf seinen Lieblingssessel fallen, den großen, dicken mit einem Hocker direkt vor dem Fernseher. Er grinste, als Curtis den Jungs sagte, dass sie zur Kirche gehen mussten.
Das war ein weiterer kniffliger Teil für mich. Normalerweise singe ich mit James Brown. Dieses Mal sang ich nicht, zitierte nicht. Nicht, als mein Dad es tat. Noch nicht einmal, als er sagte: »Ja, Jesus, heiliger verdammter Bastard Christus, ich habe das Licht gesehen.« Und ich tanzte nicht mit Elwood, was der schwierigste Teil von allen war.
Als sie darüber sprachen, die Band wieder zusammenzubringen, runzelte Dad die Stirn. »Emmet, fühlst du dich gut?«
Ich nickte und starrte auf den Boden. Ich sah den Film, aber normalerweise sah ich ihn mir an, indem ich meinen Blick auf den Fernseher richtete. Heute konnte ich es nicht, weil ich mit Sicherheit anfangen würde zu plappern.
Zuerst sagte Dad nichts dazu. Schließlich lächelte er Jeremey jedoch an. »Wie gefällt dir der Film? Ich hab gehört, dass du ihn zum ersten Mal siehst.«
»Er ist gut.« Jeremey lächelte zurück. »Er ist lustig.«
»Du musst Emmet dazu bringen, dass er den Elwood für dich macht. Er kennte jede Zeile. Jede Neigung von Dan Aykroyds Kopf. Als wir mal in den Urlaub gefahren sind, hat er für mich den ganzen Film nachgespielt, während wir auf einen Abschleppwagen gewartet haben. Die besten zwei Stunden meines Lebens.«
Ich hörte auf, mich zu wiegen und sah am Kopf meines Vaters vorbei. Ich erinnerte mich daran, auf einer dunklen Straße neben dem Auto gesessen und den Film für meinen Dad nachgespielt zu haben. Ich hatte nicht gewusst, dass dies der beste Moment seines Lebens gewesen war. Es war definitiv nicht meiner. Ich hatte nur schwer auf den Steinen sitzen können.
»Normalerweise«, fuhr mein Dad fort, »wenn Emmet und ich den Film zusammen sehen, geben wir die besten Zitate rauf und runter zum Besten. Was bedeutet, dass wir den ganzen Film mitsprechen, weil er so großartig ist. Du musst mir also verzeihen, wenn ich trotzdem mitspreche. Emmet möchte nett sein und dich den Film ohne unsere Kommentare sehen lassen, aber er hat mehr Kontrolle als ich.«
Jeremeys Lächeln wurde breiter. »Oh, bitte sprecht mit! Ich wünschte, ich könnte mir Dinge so gut merken, damit ich auch mitmachen kann!«
»Emmet kann sich genug Dinge für die ganze Welt merken.« Dad zwinkerte mir zu. Dann zog er eine Braue nach oben und sprach gemeinsam mit John Belushi. »Zuerst tauschst du unseren schönen Cadillac für ein Mikrofon ein, danach hast du mich über die Band belogen und jetzt bringst du mich glatt wieder in den Knast zurück.«
Ich hatte noch immer ein wenig Angst, den Film vor Jeremey nachzuplappern, aber mein Gehirnoktopus war so böse auf mich, weil ich ihm nicht erlaubt hatte mitzusprechen, und mein Dad sah mich direkt an, während er auf mein zweitliebstes Zitat aus dem Film wartete. »Sie werden uns nicht kriegen. Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs.«
Jeremey lachte – und meine Brust machte flatter, flatter, flatter. Es war die Art von Lachen, die Durchschnittsmenschen bekamen, wenn sie zitierten und einen guten Witz machten. »Oh mein Gott – Emmet, du hast dich genau wie er angehört.«
»Wart's nur ab«, sagte mein Dad. »Wenn wir ihn dazu bringen können, dass er zur Szene im Ballsaal tanzt, wird das für den Rest des Jahres dein bester Tag werden.«
Jetzt zitierte ich ein bisschen mehr. Ich wollte nicht die ganze Zeit plappern, aber Dad tat es und kurze Zeit später beobachtete Jeremey mich mehr als den Film und sah mich an, als würde er darauf hoffen, dass ich etwas sagte, also gab ich nach und plapperte.
»Du willst von diesem Parkplatz runter. In Ordnung.«
Ich liebte es, Elwood beim Fahren zuzusehen und die Szene im Einkaufszentrum brachte mich zum Lachen. Autofahren sah so spaßig aus. Ich war in einem Freizeitpark mal Gokart gefahren. Das hatte Spaß gemacht. Ich war oft gegen die Wände gefahren und manchmal auch gegen andere Fahrer, aber niemand war verletzt worden. Das war das Beste gewesen.
Wir zitierten weiter und Jeremey lachte und schon bald wurden dies die besten zwei Stunden meines Lebens. Als wir zur Szene im Ballsaal des Palace Hotels kamen und das Lied der Blues Brothers zu spielen begann, standen Dad und ich auf und tanzten. Er tat so, als würde er ein Paar Handschellen an meinen Handgelenken aufschließen und ich gab das silberne Ding (ich hatte den Film über hundert Mal gesehen, aber ich wusste noch immer nicht, was es war) an den vorgetäuschten Schlagzeuger hinter mir weiter.
Dad reichte mir den Besenstiel mit einem Mikrofon aus Pappe, den wir neben dem Fernseher stehen hatten, und ich gab Elwoods Rede vor der großen Nummer zum Besten.
Ich liebe den Song Everybody Needs Somebody To Love, aber Elwoods Rede davor gehört zu meinen Lieblingszitaten des ganzen Films. Er sagt, dass wir alle jemand und gleich sind.
Ich glaube, dass Elwood Blues auch im Spektrum liegt. Er kommt besser zurecht, aber er hat die Anzeichen. Er isst nur Weißbrot – das ist etwas, was ein autistischer Mensch tun würde. Hinzu kommen das schlechte Fahren und einige seiner Macken. Außerdem kann ich eine Menge Filmcharaktere nachsprechen, aber keiner gelingt mir besser als Elwood.
Ich weiß nicht, ob er auch schwul ist oder nicht, aber Mädchen scheinen ihn nicht sonderlich zu interessieren, also vielleicht.
Zusammen mit Elwood sang ich in mein gebasteltes Mikrofon und mein Dad stand auf und sang in seins. Dad mag es sehr, Jake zu spielen. Er sagt, Jon Belushi war ein Genie, das vor seiner Zeit gehen musste. Wir waren toll als Blues Brothers und Dad meinte, dass nur Belushi und Aykroyd den Tanz besser konnten als wir.
Ich wusste nicht, ob Jeremey dem zustimmte, aber er lachte, klatschte und pfiff und als der Film vorbei war, hatte er einen komischen Ausdruck auf dem Gesicht. Ich wusste nicht, was er bedeutete, aber Dad konnte gut Gesichter lesen.
Er beugte sich in seinem Sessel vor und grinste Jeremey an. »Du willst die Tanzszene noch einmal sehen, nicht wahr?«
Jeremey errötete, nickte aber.
Wir wiederholten die Tanzszene noch drei Mal. Und wenn wir den Film jetzt zusammen sehen, spreche ich alles mit. Jeremey ist gar nicht so schlecht darin, sich Dinge zu merken, wie er behauptet hat, weil er den Film jetzt auch mitspricht.
Er ist ein toller Curtis.
Ich sah Jeremey jeden Tag, aber an einigen Nachmittagen konnte ich nicht lange mit ihm auf der Veranda sitzen, weil ich zum Unterricht musste.
Ich musste keine Sommerkurse belegen, aber Mom und Dad waren der Meinung, dass es gut war, um die Beständigkeit in meinem Leben zu halten. Das Seminar, das ich besuchte, hieß Calculus III. Es war also nicht schwer für mich und war eine gute Wahl für das Sommerprogramm. Das Seminar fand in Carver Hall statt, einem hübschen Raum mit viel Licht. Meistens fuhr ich mit dem Fahrrad und schloss es bei der Studentenvereinigung an, aber wenn es regnete oder zu heiß war, nahm ich den CyRide Bus. Ich kann nicht fahren, aber ich bin ein exzellenter Busmitfahrer. Es gefällt mir, dass ich unabhängig genug bin, um mit dem Bus zur Schule zu fahren, aber ich verbringe keine zusätzliche Zeit auf dem Campus.
Allerdings ging ich mit Jeremey auf dem Campus spazieren. Von meinem Haus bis zum Rand des Campus war es nicht einmal ein Kilometer und ihn zu durchqueren, war der beste Weg zum West Street Deli, in dem wir zu Mittag aßen, wenn Althea Dienst hatte. Während unserer Spaziergänge redeten wir nicht viel, da Jeremey wusste, dass es mir nicht gefiel, gleichzeitig zu laufen und zu reden. Wenn er etwas sagen wollte, fragte er, ob es mir etwas ausmachen würde, eine kleine Pause einzulegen, und wir setzten uns auf eine Bank oder den Bordstein und unterhielten uns ein paar Minuten. Das bedeutete zwar, dass er reden und sich nicht ausruhen wollte, aber er sagte nie: »Ich will mit dir reden, lass uns anhalten.«
So ist Jeremey nun einmal, also macht es mir nichts aus.
Ein paar Tage nach dem vierten Juli liefen wir über den Campus und Jeremey bat um eine Pause. Wir waren vor der Beardshear Hall, dem Administrationsgebäude, und setzten uns auf die Stufen, sodass wir über die Grasanlagen blicken konnten. Ich wartete darauf, dass Jeremey etwas sagte, aber dieses Mal brauchte er wirklich lange, um das Gespräch zu beginnen.
»Meine Eltern versuchen immer noch, mich dazu zu bringen, mich fürs College zu bewerben. Sie haben endlich aufgehört, mich nach Iowa City zu drängen und sagen, dass ich mich auch hier einschreiben könnte. Das wäre in Ordnung, glaube ich, weil du ja auch hier bist.«
Er spielte mit seinen Fingern, wie es nicht autistische Menschen taten, wenn sie nervös waren. Es war mir immer aufgefallen, weil ich keinen Unterschied zum Wedeln mit den Händen sehen konnte, und ich mochte es, wenn Menschen das mit dem Fummeln machten. Es bedeutete, dass sie starke Gefühle hatten. Ich war mir ziemlich sicher, dass Jeremey ängstliche Gefühle hatte. »Ja, ich würde immer noch hier sein. Möchtest du naturwissenschaftliche oder Mathe- oder Computerkurse belegen?«
»Ich weiß nicht, welche Kurse ich belegen würde. Ich will überhaupt nicht aufs College.«
»Was möchtest du dann?«
»Ich weiß es nicht. Mich ausruhen. Ich wünschte, alles würde sich beruhigen.«
Jeremey sagte oft, dass er sich ausruhen wollte. Aber er ging jeden Tag zur selben Zeit ins Bett wie ich und schlief oft bis zum Mittag. An manchen Tagen kam er gar nicht aus dem Bett und musste unsere gemeinsame Zeit absagen. Aber er hatte nie viel in seinem Terminplan. Ich verstand nicht, was sich beruhigen sollte, aber ehe ich entscheiden konnte, ob eine Frage in Ordnung war, sprach er weiter. Dieses Mal zitterte seine Stimme, er war so nervös.
»Das ist… wahrscheinlich… ich meine…« Er schloss die Augen und atmete tief durch, bevor er weitersprach. »Ich weiß nicht, ob du Interesse hättest, aber ich dachte, vielleicht könnten wir im Studentenwohnheim Mitbewohner sein.«
Viele Gedanken und Gefühle strömten gleichzeitig auf mich ein. Als ich mich zum ersten Mal fürs College beworben hatte, hatte ich gefragt, ob ich im Studentenwohnheim bleiben könnte, aber Mom hatte mir die Räumlichkeiten gezeigt und ich wusste von Anfang an, dass es niemals etwas für mich werden konnte. Zu laut, zu viele Menschen, zu viele Gemeinschaftsräume. Ich glaube, dass sie es deshalb getan hatte, weil ich genauso sein wollte wie alle anderen, aber ich hatte vorher nicht gewusst, wie das Leben im Wohnheim aussehen würde. Aber wenn ich daran dachte, mit Jeremey zusammenzuwohnen, konnte ich nur daran denken, die ganze Zeit mit ihm in einem Raum zu sein.
Wenn ich mit ihm zusammenziehen würde, könnte ich mit Sicherheit den Mut finden, ihn zu küssen und ihn zu fragen, ob er mein fester Freund sein wollte.
»Es tut mir leid.« Jeremey zog die Schultern nach oben und richtete seinen Blick fest auf den Boden. »Das war eine dumme Frage.«
Ich hasste es, dass Jeremey so oft sagte, dass er dumm war. »Es ist eine gute Frage. Ich hab versucht, darüber nachzudenken, ob es funktionieren würde. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir Mitbewohner sein würden.« Ich dachte an die brüllenden, jungen Männer und die öffentlichen, dreckigen Duschen und fing an zu wippen. »Aber ein Wohnheim ist nicht gut für meinen Autismus. Aber die ISU hat Wohnungen, die so ähnlich sind wie ein Wohnheim.«
»Aber wahrscheinlich teuer.«
Das wusste ich nicht. Ich zog mein Handy aus der Tasche und machte einen Vermerk auf meinem Notizzettel, damit ich mich später nach den Wohnungen erkundigen konnte. »Ich müsste mit meinen Eltern reden. Das Problem ist, dass ich nicht gut darin bin, mir all die Dinge zu merken, die man in einem Haus machen muss. Und Mom sagt, dass es schwierig wird, die ganze Zeit zu kochen. Aber ich glaube, der Frederiksen Court hat einen Speiseraum auf dem Gelände.« Ich summte ein wenig, während ich versuchte, mir alles vorzustellen. Eine nette, ruhige Wohnung mit Jeremey.
Ich könnte ihn auf der Couch küssen. Wenn sich herausstellen sollte, dass er auch schwul ist. Und wenn er mit mir ausgehen und nicht nur beste Freunde sein wollte.
»Ich frage mich, ob in diesen Wohnungen viele Partys gefeiert werden. Das wäre sicher nicht gut für deinen Autismus. Oder für mich.«
Nein. Partys wären schrecklich. Ich summte und wippte stärker. Das war ein kniffliges Problem. Ich würde darüber nachdenken und ein wenig recherchieren müssen – aber ich wollte, dass es funktionierte.
Während ich so dasaß, summte und wippte, ging eine Gruppe junger Männer vorbei und ich hörte einen von ihnen murmeln: »Verdammte Freaks.«
Ich schloss die Augen, damit ich mich darauf konzentrieren konnte, meine Wut zu kontrollieren.
Ich verstand, dass ich nicht um mich schlagen konnte, wenn mich jemand beschimpfte. Hin und wieder passierte es, wenn ich mit Jeremey unterwegs war, und es ärgerte mich. Ich hasste es, mich nicht vor meinem besten Freund verteidigen zu können, von dem ich wollte, dass er mein fester Freund wurde. Es frustrierte mich, machte mich wütend und verlegen.
»Was für Arschlöcher«, sagte Jeremey.
Durch das Wissen, dass er sie ebenso hasste, fühlte ich mich besser. »Ich hätte nicht wippen und summen sollen. Deswegen haben sie was gesagt.«
»Warum solltest du nicht wippen und summen? Du hast nachgedacht. Das hilft dir. Die Menschen haben die ganze Zeit lustige, kleine Macken. Was ist so schlimm an deinen?«
All meine Gefühle wallten auf. Es waren gute Gefühle, aber manchmal machten sie es mir noch schwerer, zu reden. Wäre ich mit meiner Familie zusammen gewesen, hätte ich eines meiner Zeichen gegeben, aber ich hatte sie Jeremey noch nicht gezeigt. Also holte ich mein Handy hervor. Es schien ihn nie zu stören, wenn ich ihm eine Nachricht schickte, anstatt laut mit ihm zu sprechen.
Jeremey, hier ist Emmet. Du bist ein wundervoller Freund. Danke.
Jeremey lächelte, als er die Nachricht las und er beugte sich zu mir, als würde er seinen Kopf an meine Schulter legen wollen. Ich erstarrte, weil ich nicht wusste, ob ich das wollte. Ehe ich mich entscheiden konnte, setzte er sich jedoch ruckartig wieder auf. Er schrieb zurück.
Hier ist Jeremey. Du bist auch ein wundervoller Freund. Ich rede mit meinen Eltern über die Wohnung. Das wäre großartig, wenn es klappen würde. Aber mach es nicht, wenn du der Meinung bist, dass es schlecht für deinen Autismus ist.
Normalerweise hatte ich kein Problem mit meinem Autismus, aber in diesem Moment hasste ich ihn. Ich konnte nur daran denken, dass ich zusammen mit Jeremey im Wohnheim sein könnte, wenn ich nicht autistisch wäre. Das war verkehrte Logik, denn wenn ich keinen Autismus hätte, wäre meine Familie nicht in eine andere Stadt gezogen, um bei mir zu sein, während ich aufs College ging, und damit hätte ich auch Jeremey niemals kennengelernt. Ich würde auch nicht ich sein.
Aber es war nicht fair, dass Autismus es so schwer machte, mit Jeremey zusammenzuwohnen.
Als ich meine Mom nach der Wohnung fragte, trug ich mein Stitch-T-Shirt. Das war mein Code dafür, dass mir die Frage sehr wichtig war.
Ich habe Zeichen und Codes, die ich mit meiner Familie benutze. Feinheiten in der Sprache kann ich nicht immer verstehen und Gesichtsausdrücke sind für mich unmöglich zu lesen und Mom sagt, dass Unterhaltungen an dieser Stelle für gewöhnlich stecken bleiben. Sie sagt, dass das Internet deshalb so voller Missverständnisse ist. Ich komme im Internet eigentlich gut klar, aber das liegt vielleicht daran, dass ich mich nicht auf verbale oder sichtbare Zeichen verlasse, wenn es um das Verstehen geht.
Wenn ich im richtigen Leben mit Menschen spreche, erwarten sie von mir, dass ich mich wie eine Person ohne Autismus verhalte, und Mom sagt, dass sogar sie manchmal vergisst, es nicht vorauszusetzen. Deshalb haben wir den Code ausgearbeitet. Ich habe T-Shirts, die unterschiedliche Dinge bedeuten, und wenn ich sie trage, wissen alle, dass ich etwas sehr intensiv empfinde. Wir haben Handzeichen, damit Mom mir in der Öffentlichkeit signalisieren kann, dass ich mich unhöflich verhalte und sie hält mich auf, damit ich nicht jeden aus Versehen wütend mache. Wenn ich überfordert bin, fällt mir das Sprechen manchmal schwer, also haben wir alle vor langer Zeit die amerikanische Zeichensprache gelernt, die wirklich sehr praktisch ist. Jeder sollte sie als Zweitsprache lernen, wirklich.
Auf meinem Stitch-T-Shirt steht Ohana heißt Familie, Familie heißt, dass alle zusammenhalten und füreinander da sind. Ich trage dieses T-Shirt, wenn ich über etwas sprechen möchte, das mir wichtig ist. Als ich sie in unsere Rede-Sessel im Wohnzimmer setzte und sie das T-Shirt sah, sagte sie nicht, dass sie es für keine gute Idee hielt, eine eigene Wohnung zu haben. Sie erinnerte mich auch nicht daran, wie das Wohnheim gewesen war. Stattdessen sagte sie: »Erzähl mir, warum das für dich wichtig ist, Emmet.«
Ich hatte meine Gründe auf Karteikarten geschrieben und in meinem Zimmer geübt und ich hatte sogar ein Essay geschrieben, das ich ihr vorlesen oder überreichen konnte, aber ich wollte ihr zeigen, wie sehr ich mich bemühte, und wählte stattdessen den Redeweg.
»Jeremey ist mein bester Freund. Er hat Angst davor, aufs College zu gehen, aber seine Eltern zwingen ihn. Ich glaube, seine Depression ist genauso nervös darüber, in einem Wohnheim zu sein, wie mein Autismus. Außerdem glaube ich, dass er einen Angstgehirnoktopus hat, von dem er nichts weiß. Und ich möchte mit ihm in einer Wohnung leben, wie ein ganz normaler Collegestudent. Auf dem Frederiksen Court gibt es eine Kantine und einen eigenen Supermarkt. Es ist der perfekte Ort für uns, um in unsere Selbstständigkeit zu starten.«
»Liebling, haben sie spät im Jahr noch freie Plätze?«
Ich wusste es nicht und machte mir deswegen Sorgen. Wir würden eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern für zwei Personen brauchen und auf der Website hieß es, dass diese Wohnungen sehr begrenzt waren. Sie hatten das Wort sehr in Großbuchstaben und kursiv geschrieben, also war es ihnen ernst. »Mom, ich muss das tun.«
»Das verstehe ich. Unglücklicherweise richtet sich die Welt nicht immer nach dem, was wir wollen.« Sie rieb über ihren Oberschenkel, als sie sich zurücklehnte. »Das ist eine schwierige Situation, Schatz. Ich bin nicht sicher, ob du für eine normale Wohnung bereit bist, selbst auf dem Campus. Du arbeitest hart und bemühst dich, aber wenn du von etwas frustriert bist, brauchst du schnell Hilfe. Wir würden unser Bestes geben, dich zu unterstützen, aber es ist nicht so einfach, wenn du nicht mehr mit uns unter einem Dach wohnst. Vielleicht können wir mit deinem Dad reden, endlich den Keller in eine Wohnung umzubauen.«
»Ich mag den Keller nicht. Da riecht es komisch.«
»Deine Wahl könnte der Keller oder nirgends sein, Liebling.«
»Dann will ich ins Wohnheim. Wir können ein ruhiges suchen.«
Mom seufzte. »Ich weiß zu schätzen, wie sehr du das willst. Bitte denk daran, dass ich es auch für dich möchte. Ich kann versprechen, dass ich mir die Möglichkeiten ansehe, sobald unser Gespräch beendet ist. Aber du musst auch verstehen, dass es eine Weile dauern kann, und meine Lösung ist vielleicht nicht genau die Antwort, die du haben möchtest.«
Ich verstand die Logik ihrer Worte, aber sie machte mich traurig und wütend. Ich erinnerte mich an die Jungs, die mich Freak genannt hatten, wie so etwas immer passierte, wenn ich allein in der Öffentlichkeit unterwegs war. Ich erinnerte mich daran, wie nervös Jeremey gewesen war, als er mich gefragt hatte, ob wir zusammen wohnen wollen, weil er es genauso wollte wie ich und er Hilfe brauchte.
Ich mochte es nicht, mich selbst zu hassen, und meinen Autismus zu hassen hieß, mich selbst zu hassen, aber im Moment war ich so wütend, dass ich eine andere Person sein wollte.
Ich machte mir Sorgen, dass Jeremeys Eltern ihn nach Iowa City schicken und wir nicht mehr beste Freunde sein würden. Ich hatte Angst, dass er jemanden ohne Autismus kennenlernen und ihn mehr mögen würde als mich. Zwar hatte ich nicht gesehen, dass sein Freund Bart ihn auf Instagram verlinkt hatte oder zu seinem Haus gekommen war und Jeremey sprach auch nie über ihn, aber ich hatte immer Angst, dass Bart mir Jeremey wegnehmen würde. Ich dachte an all die nicht-autistischen Barts auf dem College, die mutig genug waren, Jeremey von ihrer Homosexualität zu erzählen und ihn vielleicht sogar küssen würden.
»Emmet.« Moms Stimme war sanft und sie legte ihre Hand neben mein Bein. Es war ihre Art, mich zu berühren, ohne dabei eine weitere Empfindung auszulösen. »Ich weiß, was du für Jeremey empfindest. Ich weiß, wie wichtig er für dich ist und deswegen tut es so weh, ihm nicht geben zu können, worum er dich gebeten hat.« Sie streckte ihre flache Hand aus und das war ihr Zeichen für Bei diesem Teil musst du gut aufpassen. »Ich bin dein Beistand. Ich passe auf dich auf und kämpfe für dich, selbst wenn du es nicht bemerkst. Ich weiß, dass du aufgebracht bist und ich glaube, dass du ein bisschen Zeit mit dem Schaumstoffhammer brauchst, wenn wir hier fertig sind. Aber lass nicht zu, dass diese bösen Stimmen dir einreden, ich würde dir nicht helfen.«
Ich weiß, dass sie meine Fürsprecherin ist und bin froh darüber. Aber ich war so wütend. Vielleicht war es auf meinem Gesicht nicht zu erkennen, aber innerlich fühlte ich nur Feuer und Traurigkeit. »Ich bin zu anders, Mom. Ich will nicht so anders sein.«
»Jeder ist anders. Manchen Menschen gelingt es besser, ihre Unterschiede in die Dunkelheit zu schieben, sich anzupassen und einfach Schafe zu sein, aber das ist nicht immer gut.«
»Ich wäre lieber ein Schaf als allein.«
»Aber das ist das große Geheimnis. Die Schafe sind einsamer als alle anderen.«
Sie hatte recht. Aber ich war noch immer aufgebracht und wollte, dass mir die Welt nicht mehr im Weg stand. »Du hast recht. Ich muss meinen Hammer benutzen.«
»Und ich muss ein paar Telefonate führen. Bekomme ich eine Umarmung, Jujube?«
Ich bin keine Frucht aus China, denn das ist eine Jujube, und ich war zu wütend für eine Umarmung. Aber Bekomme ich eine Umarmung, Jujube ist Moms Code dafür, dass sie eine Umarmung braucht. Sie ist eine Mom mit vielen Superkräften, aber sie sagt, dass die von Umarmungen angetrieben werden.
Im Moment mussten ihre Superkräfte wirklich aufgefüllt werden. Also umarmte ich sie und ließ zu, dass sie meine Haare küsste, in die sie auch hineinweinte.
Ich weinte nicht. Ich ging nach oben, holte meinen Schaumstoffhammer aus dem Schrank, schlug auf das Bett ein und schrie für fünfzehn Minuten. Ich sagte viele böse Wörter.
Als ich fertig war, widmete ich mich meinen Algebra-Aufgaben. Es beruhigte mich immer. Ich kann nicht im Wohnheim leben und ich kann die Leute nicht davon abhalten, mich Freak zu nennen, aber ich kann eine Gleichung immer nach x auflösen.