Читать книгу Plötzlich ist alles anders - Heidi Oehlmann - Страница 8
6. Kapitel
ОглавлениеAls ich eines Morgens aufwachte, dachte ich, es würde mit mir zu Ende gehen. Dieses Flimmern vor meinen Augen war plötzlich so stark, wie noch nie zuvor. Ich hatte Angst, es könnte von Tag zu Tag schlimmer werden, bis es irgendwann ganz mit mir vorbei wäre.
Max bemerkte natürlich, wie mies es mir ging und fragte: »Wann willst du endlich einen Termin bei einem Arzt machen? Das kann doch so nicht weiter gehen!«
»Bald. Sobald ich mich etwas besser fühle, werde ich mir einen Arzt suchen. Ich muss nur schauen, bei welchem ich einen Termin machen kann.«
Wir wussten beide, mein Gesundheitszustand würde sich so schnell nicht ändern. Vielmehr war der Aufschub für mich eine Ausrede, weil die Angst vor einer Diagnose immer drastischer wurde. Umso schlechter es mir ging, desto größer wurde meine Sorge, was am Ende herauskam. Max schien es zu ahnen und lief zum Wohnzimmerschrank. Er holte den Versicherungsordner raus und blätterte darin. Wenig später griff er zum Telefon und wählte eine Nummer. Noch begriff ich nicht, wen er anrief. Erst, nachdem er nach einem guten Internisten in unserem Umkreis fragte, verstand ich, wen er am anderen Ende der Leitung hatte. Max telefonierte mit meiner Krankenversicherung.
Er notierte sich die Daten von drei Ärzten und gab mir den Zettel mit den Worten: »So, hier hast du die Nummern von drei Internisten in der Umgebung. Jetzt musst du dir nur einen davon aussuchen!«
Ich nahm das Stück Papier und sah mir an, wo die Ärzte ihre Praxen hatten. Bevor ich es wieder verdrängen konnte, griff ich nach dem Telefon und wählte die erste Nummer. Es sprang nur ein Anrufbeantworter an. Auf dem Band lief eine Ansage, dass die Praxis wegen Urlaub geschlossen war. Ich hätte mich noch eine Woche gedulden müssen, bevor ich jemanden erreichen konnte. So lange wollte ich keinesfalls warten. Ich wusste, wenn ich nicht sofort anrief, würde ich es nie tun. Also wählte ich die zweite Nummer. Dieses Mal hatte ich mehr Glück. Eine nette Frauenstimme meldete sich. Ich erzählte ihr von meinen Beschwerden und bat um einen Termin. Die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung fragte mich, ob ich gleich in die Praxis kommen könnte, da an diesem Tag nicht so viel los sei.
»Natürlich. Ich mache mich sofort auf den Weg«, sagte ich erleichtert.
Ich war hin- und hergerissen. Einerseits freute ich mich, so schnell einen Termin zu bekommen. Andererseits hatte ich erneut meine Zweifel, ob der Arzt etwas taugen würde. Eine Praxis, in der nichts los war, hinterließ bei mir immer einen schlechten Eindruck. Wieder glaubte ich, der Arzt könnte inkompetent sein, wenn er keine Patienten hatte. Und dann war da noch die Angst vor der Diagnose im Hinterkopf, die mich nervös werden ließ. Bei dem Gedanken, in der nächsten Stunde zu erfahren, was ich hatte, zitterte ich am ganzen Körper.
In meiner Verzweiflung wollte ich es dennoch auf einen Versuch ankommen lassen. Viel schlechter als jetzt konnte es mir nach dem Arztbesuch nicht gehen. Ich hatte die Hoffnung, in Kürze beschwerdefrei zu sein. Das gab mir die Kraft, den Arzttermin wahrzunehmen. Die Angst vor der Diagnose saß dennoch tief in meinem Kopf verborgen. Ich musste mich zusammenreißen, positiv zu denken und mir einzureden, es würde alles gut werden.
Max erklärte sich sofort bereit, mich hinzufahren. Ich war glücklich über seine Unterstützung. Wer weiß, ob ich es allein geschafft hätte. Schon bei dem Gedanken selbst Auto fahren zu müssen, wurde mir mulmig. Meine Furcht vor dem, was passieren könnte, wenn die Dunkelheit zurückkehrte, war einfach zu groß.
In Max seinen Augen erkannte ich Erleichterung. Auch wenn er nichts sagte, wusste ich, er war froh über den schnellen Termin. In den Wochen, in denen es mir so schlecht ging, sah ich ihm des Öfteren an, wie sehr ihn die Situation belastete. Da er mich besser kannte, als jeder andere Mensch auf der Welt, sagte Max nichts. Er wusste, ich würde gereizt reagieren, sobald er mich auf das Thema angesprochen hätte. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass er mich an diesem Tag förmlich zu einem Arztbesuch drängte. Normalerweise hasste ich es, wenn sich jemand einmischt und über mich bestimmen wollte. Aber jetzt war ich froh über Max seinen Einsatz. Ich alleine hätte noch einige Tage gebraucht, bevor ich mich selbst um einen geeigneten Arzt gekümmert hätte. Wenn ich es überhaupt geschafft hätte.
Ich hatte das Gefühl, als konnte Max meine Gedanken lesen. Er musste die Hilflosigkeit gespürt haben, der ich ausgesetzt war. Wir verstanden uns zwar schon von Anfang an fast blind. Manchmal sprachen wir zur selben Zeit das Gleiche aus. Aber bisher ging es nicht um mich, sondern um allgemeine Sachen.
Der Internist hatte seine Praxis im Nachbarort. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten und dann standen wir schon vor dem Praxisgebäude. Die Arzträume lagen in einem Mehrfamilienhaus im ersten Stock. Die Sprechstundenhilfe begrüßte uns freundlich und fragte, was sie für uns tun könne.
»Guten Tag! Wir haben gerade miteinander telefoniert. Sie sagten, ich könnte gleich vorbei kommen. Und hier bin ich«, antwortete ich und versuchte, mein Befinden zu überspielen.
Sie lächelte und fragte: »Haben Sie Ihre Versicherungskarte dabei?«
Ich gab ihr die Karte und bekam sie nach wenigen Minuten zurück.
»Nehmen Sie bitte noch einen Augenblick Platz«, sagte sie und zeigte auf das von der Anmeldung gegenüberliegende Wartezimmer.
Wir gingen hinein und sahen zwei weitere Patienten darin sitzen. Einerseits entkräftete es meine Befürchtung, der Arzt könnte nichts taugen. Aber es bedeutete auch, wir müssten mindestens noch eine halbe Stunde warten. Bei der Vorstellung wurde mir ein bisschen mulmig. Ich betete, dass mir während der Wartezeit die Schwärze vor meinen Augen erspart blieb. Denn ich wollte nicht vor völlig fremden Menschen umkippen. Wenn ich schon leide, will ich dabei wenigstens unbeobachtet sein.
Glücklicherweise wurde der erste Patient nach einigen Minuten aufgerufen. Wenig später rief die Sprechstundenhilfe den zweiten Patienten zu sich. Ich hörte heraus, dass er nicht zu dem Arzt in das Sprechzimmer, sondern nur ein Rezept haben wollte. Das bedeutete, ich wäre die Nächste. Ich war erleichtert über diese Neuigkeiten.
Nach einer Viertelstunde war es so weit. Ich wurde aufgerufen, in eines der drei Sprechzimmer geführt und gebeten Platz zu nehmen. Von dem Arzt gab es noch keine Spur. Es konnte aber nicht mehr allzu lange dauern, zumindest hatte mir das die Sprechstundenhilfe versichert.
Kaum hatte ich den Gedanken beendet, ging schon die Tür auf und ein kleiner, etwas korpulenter Herr im weißen Kittel betrat mit einem Lächeln den Raum.
»Meine Name ist Doktor Walther. Wie kann ich Ihnen weiter helfen?«, fragte er und reichte mir die Hand.
»Hallo. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Mir wurde mehrfach schlecht und schwarz vor Augen«, sagte ich und beschrieb ihm alle Einzelheiten. Ich erzählte auch von dem Erlebnis mit der Heilpraktikerin und ihrer Diagnose. Anschließend holte ich die homöopathischen Mittelchen aus meiner Tasche, die ich extra eingesteckt hatte, um mir die Meinung des Arztes zu den Präparaten einzuholen.
Er sah sie sich kurz an und sagte grinsend: »Ich glaube kaum, dass Ihnen die helfen werden. Da können Sie sich genauso gut eine Flasche Schnaps kaufen. Die wäre billiger gewesen.«
Mir klappte die Kinnlade herunter. Für einen Augenblick war ich sprachlos, aber Doktor Walther war noch lange nicht fertig, mir seine Meinung über die Ansicht der Heilpraktikerin mitzuteilen. Er meinte, wenn ich eine richtige Geldrollenbildung hätte, würde ich jetzt kaum vor ihm sitzen können. Dann läge ich längst im Krankenhaus.
Ich war geschockt, als ich das hörte. Nun wusste ich, es gab diese Geldrollenbildung im Blut und wurde nicht von der Heilpraktikerin erfunden, aber ich zweifelte, ob die Diagnose auf mich zutraf. Nach der Aussage des Mediziners konnte ich keine Geldrollen im Blut haben. Ich war mir nicht sicher, ob es auch eine schwache Geldrollenbildung gab. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, den Arzt danach zu fragen, aber ich verkniff es mir. Ich wollte mir kein zweites Mal seine schlechte Meinung über Heilpraktiker anhören. Am Ende war es sowieso egal. Das Gespräch mit Doktor Walther bestätigte meinen Verdacht. Ich war mir sicher, die Idee mit der Heilpraktikerin war eine teure Zeitverschwendung. Jetzt kam mir erneut die Rechnung in den Sinn, die mich noch erwartete. Ich hatte furchtbare Angst vor der Höhe der Rechnungssumme. Schnell verdrängte ich den Gedanken und konzentrierte mich auf die Untersuchung.
Zunächst sah sich der Arzt meinen Rücken an und konnte eine starke Verspannung erkennen. Mich wunderte es nicht. Seit ich bei der Heilpraktikerin war, hatte ich diese schmerzhaften Rückenprobleme.
Doktor Walther stellte mir ein Rezept für sechs Mal Physiotherapie aus. Dann ging es weiter. Unter einer richtigen Untersuchung hatte ich mir sonst was vorgestellt, aber das, was geschah, war ziemlich mager. Der Arzt hatte mir einfach nur den Blutdruck gemessen und anschließend meine Reflexe getestet.
Als er damit fertig war, sagte er, ich solle mir einen neuen Termin für eine Blutabnahme geben lassen. Das wäre jetzt nicht mehr möglich, weil ich heute bestimmt schon gefrühstückt hätte. Sicher hatte ich das. Immerhin war es inzwischen kurz nach elf Uhr.
Ich sollte mit nüchternem Magen zu der Blutabnahme kommen und eine Urinprobe mitbringen. Zusätzlich würde er mit mir dann ein EKG machen und meine Schilddrüse untersuchen.
Bevor ich den Raum verließ, reichte er mir die Hand und verabschiedete sich mit den Worten: »Das kriegen wir schon wieder hin!«
Der letzte Satz machte mir zwar Mut, aber gleichzeitig war ich enttäuscht über den Ablauf der Untersuchung. Ich erhoffte mir, endlich einen Anhaltspunkt für meinen schlechten körperlichen Zustand zu erhalten. Doch ich bekam einfach nichts außer ein paar Mut machenden Worten.
Ich vereinbarte gleich einen neuen Termin. Der sollte erst in zwei Wochen stattfinden. Auf dem Heimweg erzählte ich Max, wie das Gespräch verlief. Er sagte kaum etwas dazu und war erst einmal zufrieden, weil ich endlich bei einem Arzt gewesen bin. Seine Gelassenheit, die er nach den Neuigkeiten ausstrahlte, beruhigte mich noch ein bisschen mehr. Zum ersten Mal, seit meinem Zusammenbruch im Badezimmer, hatte ich Hoffnung, mir würde es bald wieder gut gehen. Ich glaubte, nach den Tests und Untersuchungen wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ich die Beschwerden los wurde.
Die Tage bis zu dem Untersuchungstermin vergingen im Schneckentempo. Alle Ablenkungsversuche scheiterten. Körperlich fühlte ich mich unwohl. Manchmal dachte ich, es würde sich bessern, bis plötzlich diese Schwärze zurück kehrte. Es machte mich vollkommen fertig. Dazu kam die Ungewissheit. Ich wollte endlich wissen, was mit mir los war und welche Krankheit in meinem Körper steckte. Ich hoffte, es wäre nur eine Kleinigkeit. Gleichzeitig hatte ich Angst, es könnte etwas Ernstes sein. So wie ich mich fühlte, glaubte ich fast nicht mehr daran, die Beschwerden würden durch irgendwelche Medikamente verschwinden.
Max arrangierte sich mit der Situation und akzeptierte meine Entscheidung, das Haus nur noch zu verlassen, wenn es unbedingt sein musste. Er erledigte den Wocheneinkauf und alles, was sonst anfiel allein. Ich wollte nicht mal kleinere Spaziergänge machen. Die Angst, mir könnte unterwegs schwarz vor Augen werden, war viel zu groß. Es war eine neue und ungewohnte Situation für uns beide. Bevor mein Körper machte, was er wollte, unternahmen Max und ich so einiges miteinander. Wir gingen hin und wieder angeln, regelmäßig spazieren und ab und zu zusammen shoppen. Max gehörte nämlich zu den Männern, die gerne einkaufen gingen. Manchmal brauchte er für den Kauf eines neuen Outfits mehr Zeit als ich.
Die einzigen Ausflüge, die ich unternahm, waren die Gänge zur Physiotherapie. Ich ging zwei Mal die Woche zu einer Physiotherapeutin in unserem Ort. Jeder Termin war eine kleine Herausforderung für mich. Denn ich ging allein zu Fuß dorthin. Bevor ich losging, war mir stets flau in der Magengegend. Das ließ nach, sobald ich ein Stück des Weges zurücklegte, ohne dass mir schwarz vor Augen wurde. Dann wurde ich ruhiger und sicherer.