Читать книгу Endungen - Heidi Rühlmann - Страница 10

Оглавление

Kapitel 6

Eberhard September

Auf der Fahrt nach Berlin gingen Eberhard viele verwirrende Gedanken durch den Kopf. Was war mit Gloria los? Sie kam ihm verändert vor, ohne dass er hätte benennen können warum. Dann die Sache mit dem Baumhaus. Machte ihr der bevorstehende Geburtstag zu schaffen? Schließlich würde sie von da an auf die Achtzig zugehen. Willkommen im Club, dachte er und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. Er hatte die halbe Strecke dorthin schon geschafft. Anfang des Jahres hatte er seinen 75. gefeiert. An das mulmige Gefühl, mit dem er vor seinem 70. Geburtstag herumgelaufen war, konnte er sich noch gut erinnern. Und an die Fragen, die er sich damals gestellt hatte:

Wie viel Zeit bleibt mir noch?

Was habe ich noch zu erledigen?

Die geschäftlichen Dinge sind geregelt, das Erbe zu aller Zufriedenheit verteilt, aber wie soll mein restliches Da-Sein konkret aussehen?

Werde ich noch fünf, zehn oder fünfzehn Jahre da sein?

Wenn er die durchschnittliche Lebenserwartung deutscher Männer in Betracht zog, waren ihm damals noch knapp neun Jahre geblieben. Inzwischen waren es nur noch sechs. Jedes weitere Jahr war ein Bonusjahr.

Damals hatte er tatsächlich Torschlusspanik bekommen und sich Hals über Kopf in Arbeit gestürzt. Ging es Gloria jetzt ähnlich? War ihr angesichts des bevorstehenden Geburtstags ihre dahinschmelzende Lebenszeit bewusst geworden und sie suchte nach Ablenkung? Dafür gab aus seiner Sicht noch keinen Grund. Frauen durften mit 83 Lebensjahren rechnen. Sie hatte also noch 13 Jahre und würde ihn vermutlich überleben.

Eine andere wichtige Frage war, was er ihr zum Geburtstag schenken sollte? Worüber würde sie sich wirklich freuen? Er nahm sich vor, Merle um Rat zu fragen. Sie kannte ihre Mutter am besten. Er schaltete das Radio ein, suchte einen Sender mit klassischer Musik und richtete seine Gedanken auf den bevorstehenden Beratungstermin in Brandenburg.

Veganer Anbau. Biologische Landwirtschaft ohne tierischen Dünger, funktionierte das überhaupt? Zumindest war es ein spannendes Experiment. Er wusste, dass einige Bio-Bauern, denen die Großabnehmer zunehmend schlechtere Preise für ihre Produkte diktierten, auf den veganen Zug aufspringen wollten, um ihr Einkommen zu verbessern.

Im Grunde war der ganze dezentrale Bio-Landbau ein verzweifelter Versuch der Rückkehr zu den archaischen Arbeitsweisen vor Erfindung des Kunstdüngers, der Herbizide und Pestizide. Die Wiederentdeckung der Dreifelderwirtschaft. Die Düngung mit Leguminosen, Kompost, Algen, Kalk, Schwefel und pflanzlicher Jauche. Und nicht zuletzt der Einsatz der Mulchtechnik, wie sie seit Jahrtausenden in Permakulturen angewandt wurde. Im Unterschied zu früher hatten die bäuerlichen Produkte jedoch nicht mehr der Selbstversorgung eines Hofes oder einer dörflichen Gemeinschaft zu genügen, sondern Gewinn abzuwerfen. Gewinn, der meistens nicht dem Erzeuger, sondern dem Handel zugutekam. Das alte Spiel.

In der Beratungsagentur „ÖkoLa“, für die Eberhard als „Senior-Berater“ arbeitete, gab es ganz neue Berufsfelder wie „Leader Data Scientist“, „Brand Manager“, „Backend Developer“, „Sales Retailer“ und er hegte den Verdacht, dass sie alle nichts mit der „Bewahrung der Schöpfung“ am Hut hatten, sondern sich ganz und gar der Gewinnoptimierung verschrieben hatten. Vor allem ihrer eigenen. Grundsätzlich war dagegen nichts zu sagen. Und der Markt war riesig. Er wuchs in einer Geschwindigkeit, von der andere Branchen nur träumen konnten. Jeder junge Mensch, der heute etwas auf sich hielt, wollte grüne, rote oder weiße Bio-Technologie studieren. Wer blickte da noch durch? Er jedenfalls schon lange nicht mehr. Er verlor zunehmend den Überblick.

Als ehemaligem Einzelhändler im Biosegment war ihm bei „ÖkoLa“ die Aufgabe zugefallen, vor allem ältere Bauern, die um das Überleben ihrer konventionell geführten Höfe kämpften, zur Umstellung auf „Bio“ und die Bindung an ein bestimmtes Label zu bewegen, sie zu beraten und ihnen Mut zu machen. Sein seriöses Auftreten wirkte vertrauensbildend, was ein wichtiger Marketingpunkt war. Vor zwanzig Jahren war er voller Enthusiasmus in die Beratertätigkeit eingestiegen, hatte sich wieder als Pionier gefühlt und seine ehrliche Überzeugung vielen Landwirten vermitteln können. Mit seiner Fachkenntnis und seinem positiven Auftreten hatte er auch argwöhnische und bedächtige Landwirte für die „gute Sache“ einnehmen können.

Wie rasant sich der Bio-Markt verändert hat, staunte Eberhard während er beschleunigte, um einen Tiertransporter, der wahrscheinlich auf dem Weg zum Schlachthof war, zu überholen. Schon seit längerer Zeit beobachtete er diese beunruhigende Entwicklung. Hohe Auflagen der Ökoverbände und sinkende Erzeugerpreise machten den Bauern das Leben schwer. Viele gaben auf, obwohl der Bedarf an Bio-Lebensmitteln wuchs und nur noch durch Importe gedeckt werden konne. Inzwischen wurden sogar aus China Nahrungsmittel mit zweifelhaftem Biosiegel importiert. Darunter auch Tomaten. Der Ab Hof-Verkauf, mit dem sich hiesige Bio-Bauern über Wasser halten, war ein sentimentales Auslaufmodell.

Aber wozu soll ich ihnen raten? Hatte Gloria recht mit ihrer Vermutung, dass die Bio-Zukunft einigen wenigen, börsennotierten Agrarmultis gehörte, die in Billiglohnländern produzierten. Eberhard spürte, dass er Kopfschmerzen bekam. Seit geraumer Zeit war er hinter dem Steuer immer tiefer zusammengesunken, hatte nur noch flach geatmet, die Zähne zusammengebissen und die Stirn in Falten gelegt. Er richtete sich in seinem Sitz auf, löste die Spannung im Kiefergelenk, indem er einige Male den Mund öffnete und schloss, atmete tief durch und nahm sich vor, demnächst eine Pause einzulegen. Außerdem hatte er Hunger. Ein Blick auf das Navi verriet, dass sich der nächste Rasthof in 15 Kilometern befand.

Seine Gedanken kehrten zu den bescheidenen Anfängen der biologischen Landwirtschaft zurück. Seit den 1920er Jahren existierten einige wenige anthroposophisch geführte „Demeter-Betriebe“, die sich an Rudolf Steiners Werk „Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft“ orientierten. Steiner hatte schon 1924 prophezeit, dass in einigen Jahrzehnten die meisten landwirtschaftlichen Produkte so degeneriert sein würden, dass sie nicht mehr als Nahrung des Menschen dienen könnten, und ein Umdenken gefordert.

Dann kam der große Krieg. Die Menschen hatten andere Sorgen und waren froh, wenn sie überhaupt etwas zu essen hatten. Erst in den frühen Siebzigern entstand die „Öko-Bewegung“. Einzelne, eher anarchistisch geprägte Landkommunen begannen auf verlassenen Gehöften in abgelegenen Landschaften der Schwäbischen Alb, des Hessischen Berglands oder an der Zonengrenze zur DDR mit alternativen Lebensweisen zu experimentieren. Ziel dieser „Freaks“, wie sich die jungen Leute gern selbst nannten, war die Eigenversorgung mit gesunden Lebensmitteln.

Gloria und er hatten auch zu diesen Idealisten gehört. Er lächelte gerührt, als er an ihren kleinen Bauernhof auf Kreta dachte. Dort hatten sie vor einem halben Jahrhundert praktisch und theoretisch bei Null angefangen und waren überzeugt gewesen, der einzige Weg zu Rettung der Welt sei die Permakultur. Wäre es nicht zu dem schrecklichen Unfall mit dem Kind gekommen und sein Vater nicht überraschend gestorben, hätten sie es dort weit bringen können. Wohin auch immer. Wahrscheinlich hätte er sich irgendwann ein Fischerboot zugelegt und Gloria ihren Traum von einer kleinen Taverne wahr gemacht.

Hätte, hätte, dachte er, das Schicksal hatte andere Pläne mit uns. Anstatt glühender Hitze, Trockenheit und Schädlingen zu trotzen, hatten sie das Lebensmittelgeschäft seiner Eltern in Kassel übernommen, schrittweise auf „Bio“ umgestellt, obwohl es diesen Begriff damals noch gar nicht gab, und schließlich den ersten Bio-Supermarkt in Kassel eröffnet: „Ebio“. Der Name war Glorias Idee gewesen: E- berhard plus bio gleich „Ebio“. Ein selbstironischer Bezug zur Lebensmittelkette Edeka, die 1972 fast 7 Milliarden DM erwirtschaftete, war durchaus gewollt.

Überraschenderweise entwickelte sich auch Ebio zu einer Erfolgsgeschichte. Filialen in den Universitätsstädten Gießen und Marburg kamen dazu und die Firma expandierte weiter. Aber nach 25 Jahren war Eberhard die Arbeit zunehmend über den Kopf gewachsen. Als er mit einem Schwächeanfall, den die Ärzte zuerst für einen Herzinfarkt gehalten hatten, zusammengebrochen war, beschloss die Familie, das gut eingeführte Unternehmen an einen bekannten Bio-Discounter zu verkaufen. Eine Entscheidung, die sie nie bereut hatten. Nach einer kurzen Auszeit hatte Eberhard „ÖkoLa“ mitgegründet und war in die Beratertätigkeit eingestiegen. Inzwischen hatte er seinen Anteil am Unternehmen an einen jüngeren Mitarbeiter verkauft und arbeitete nur noch als freier Berater.

Es hatte wieder zu regnen begonnen. Die Gischt, die ein vorausfahrender Reisebus vom Asphalt aufwirbelte, verschlechterte zunehmend seine Sicht. Auf die äußerste Überholspur zu wechseln hatte keinen Sinn, da er die nächste Ausfahrt nehmen wollte. Er stieß einen Seufzer aus, ließ die Wischer einen Takt schneller über die Windschutzscheibe fahren und schaltete das Radio aus. Er sollte damit aufhören, die Welt retten zu wollen und es anderen, jüngeren überlassen. Wieder dachte er an Kreta, an das unvergleichliche Licht dort und das libysche Meer. Er könnte sich immer noch ein Boot zulegen. Nicht zum Fischen, nur zum Herumfahren. In diesem Moment schoss ihm blitzartig eine Idee durch den Kopf. Das war es! Endlich wusste er, was er Gloria zum Geburtstag schenken konnte. Die Raststätte kam in Sicht. Erleichtert setzte er den Blinker, nahm die Ausfahrt und fragte sich beklommen, was er dort zu essen bekommen würde.

Endungen

Подняться наверх