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Kapitel 4

Gloria September

Als sie aufwachte, war es stockdunkel. Eingewickelt in die dünne Decke lag sie in Embryonalhaltung auf der Seite. Der Arm, den sie unter den Kopf geschoben hatte, war vollkommen taub und als sie sich aufrichtete, fuhr ihr ein stechender Schmerz in den Nacken. Zuerst wusste sie nicht, wo sie sich befand, doch langsam dämmerte es ihr. Sie lag im Baumhaus auf der verschimmelten Matratze und musste eingeschlafen sein. Verwundert kämpfte sie sich in eine Vierfüßler-Position hoch und kroch auf die Veranda hinaus. Dort streckte sie ihre steifen Glieder bis sie sich wieder lebendig anfühlten. Als sie den Blick nach oben richtete, stockte ihr fast der Atem. Über der Baumkrone schimmerten unzählige Sterne und die schmale Mondsichel am Nachthimmel. Sie drehte sich auf den Rücken und bestaunte die Wunder des Weltalls, das sich über ihr wölbte, als eine Stimme die Stille zerriss.

„Gloria!“

Wie albern sich dieser Name anhörte, wenn er durch die Nacht tönte. Was hatten sich ihre Eltern nur dabei gedacht, ihr wehrloses Baby so zu nennen? Anscheinend sollten „Glanz und Gloria“ - „Ruhm und Ehre“ ihre Lebensbegleiter sein. Dabei hatte Ruhm sie nie interessiert und die Ehre war ihr schon in jungen Jahren abhanden gekommen. Den Namen hatte sie jedoch behalten. Vor allem, seit sie ihn 1964 im Radio gehört hatte. Auf AFN, dem amerikanischen Armee-Sender, den damals fast alle jungen Leute hörten.

„G – L – O - R – I – A“, dabei jeden Buchstaben betonend, hatte Van Morrison, Leadsänger der Beat-Band „Them“ ihren Namen gebrüllt. Gloria hatte im Wohnzimmer ihrer abwesenden Eltern vor der Musiktruhe die Glieder verrenkt, rhythmisch den Kopf geschüttelt, bis ihr schwindelig geworden war, und sich eingebildet, mit dem Song meinte Van Morrison sie.

„Glooo – riaaa!“

Jetzt war es Eberhard, der ihren Namen rief. Er klang besorgt. Eberhard, auch so ein seltsamer Name, dachte sie, während sie sich aufsetzte. Er bedeutet „starker Eber“ oder „starkes Schwein“. Aber ihr Mann war weder besonders stark noch ein Schwein.

„Glooo – riaaa!“

„Ich bin hier oben“, schrie sie so laut sie konnte.

Ihre Stimme hörte sich an wie das Krächzen der Krähen, die davongeflogen waren, aber Eberhard hatte sie gehört.

„Wo oben?“

„Im Baumhaus!“

Für einen kurzen Moment war es still. Bestimmt holt er jetzt eine Taschenlampe, dachte sie. Sie kannte ihren Mann besser, als er sich selbst. Und richtig, kurze Zeit später folgte er einem zitternden Lichtkegel über die Wiese und leuchtete zu ihr hinauf.

„Was machst du da oben? Ich habe mindestens zehn Mal versucht, dich auf dem Handy zu erreichen.“

Vom grellen Schein der Lampe geblendet, legte sie schützend einen Unterarm vor die Augen.

„Das Handy liegt in der Küche.“

Eberhard brummte etwas, was Gloria nicht verstand.

„Ich komme runter. Leuchte mir mal“, bat sie. Dann kletterte sie mit steifen Beinen rückwärts die Leiter hinunter.

Besorgt wachte er über jede ihrer Bewegungen und nahm sie unten in Empfang.

„Was um Himmels Willen hast du mitten in der Nacht im Baumhaus zu suchen? Ist das überhaupt noch stabil?“

Er war fassungslos.

„Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen und muss dann eingedöst sein.“

Es klang wie eine Entschuldigung und sie wunderte sich, warum sie sich schuldig fühlte weil sie geschlafen hatte.

Eberhard schüttelte den Kopf. Er war zu müde, um sich noch mehr aufzuregen. Ein Glas Wein und dann ins Bett, das war alles, was er wollte.

„Komm rein. Du bist ja völlig durchgefroren“, sagte er sanft, aber bestimmt und griff nach ihrem Ellbogen.

Sie zog den Arm zurück und strich sich über die Haare, die sich klebrig anfühlten. Anscheinend hatten sich doch Spinnweben darin verfangen.

„Wie spät ist es?“

Er richtete den Strahl der Taschenlampe zum Boden und fischte sein Handy aus der Jackentasche.

„Eins!“

Gloria staunte. Sie hatte fünf Stunden geschlafen.

Eberhard ging wortlos voraus. Was sollte er von dieser Aktion seiner Frau halten? Wie war sie nur auf die Idee gekommen, in das alte, morsche Baumhaus zu klettern? Sie war fast 70. Wie leicht hätte sie abstürzen und sich etwas brechen können. Und dann war sie da oben auch noch eingeschlafen. Konnte es sein, dass sie das Baumhaus mit ihrem Bett verwechselt hatte? Hatte es bei Glorias Mutter auch so angefangen?

Aber die Schwiegermutter war von Beginn ihrer Krankheit an aggressiv gewesen, beruhigte er sich. „Forderndes Verhalten“ war wohl der Fachbegriff dafür. Sie hatte ihre Kleider zerschnitten, Kuchen in den Abfluss des Waschbeckens gestopft, das Bad mit Kot beschmiert und behauptet, das Pflegepersonal bestehle sie. Nachdem sie zwei Mal versucht hatte, ihr Bett in Brand zu setzen, musste sie dauerhaft mit Medikamenten ruhiggestellt werden. Am Ende hatte sie niemanden mehr erkannt, nicht einmal ihr einziges Kind. Im Moment wirkte Gloria wieder völlig normal. Trotzdem nahm er sich vor, sie im Auge zu behalten. Er drehte sich um und wartete, bis sie bei ihm war. Dann gingen sie Seite an Seite ins Haus.

Gloria nahm sofort eine heiße Dusche. Sie war halb erfroren und ihre Haut juckte. Wahrscheinlich gab es in dem Baumhaus jede Menge Ungeziefer. Noch während sie sich abtrocknete, die Haare föhnte und das Nachthemd überstreifte, vernahm sie Eberhards vertrautes Schnarchen aus dem Schlafzimmer. Sie flocht ihre langen, grauen Haare zu einem losen Zopf und schlüpfte neben ihm ins Bett. Im Halbschlaf griff er nach ihrer Hand und murmelte etwas. Dann schlief sie ein.

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