Читать книгу Auf dem Gipfel gibt's keinen Cappuccino - Heidi Sand - Страница 5

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Willkommen auf meiner Reise

Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe und drei Kindern war ich der Meinung, ich wüsste, was Geduld ist. Ich musste auf 5 300 Meter steigen, um eines Besseren belehrt zu werden.

Da sitze ich nun mit Hunderten anderen Bergsteigern in dieser Zeltstadt auf Geröll, das ultimative Ziel buchstäblich direkt vor Augen, und doch ist alles, was ich gerade machen kann, rumsitzen und Tee trinken. Immerhin ist er warm. Aber da kribbelt es schon im Hintern. Ich bin schließlich nicht hier, um mich auszuruhen. Ich will auf den höchsten Punkt der Welt, auf das Dach der Welt, nach ganz oben. Es ist ein ambitioniertes Ziel. Eines, das nur wenige Menschen bisher erreicht haben. Nicht jeder schafft es. Einige bleiben für immer oben. Ich möchte zu keiner dieser beiden Gruppen gehören.

Hier im Basislager stehe ich am Anfang der Everest-Reise, stecke aber mittendrin in einer ganz anderen. Meiner persönlichen Reise. Ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier. Jeder ist das. Einige wollen hoch, weil er der höchste Berg der Welt ist. Einige, um es sich zu beweisen. Einige, um es abzuhaken, weil sie eben schon am Nordpol oder auf einigen anderen Gipfeln waren und der Everest noch fehlt. Angeblich soll George Mallory, einer der Wegbereiter des Bergsteigens, auf die Frage, warum er auf den Gipfel des Everest will, geantwortet haben: «Weil er da ist.» Auch das ist sicher ein guter

Grund.

Ich bin hier, weil mir der Gedanke, dass ich eines Tages den Everest besteigen könnte, vor achtzehn Monaten neuen Lebensmut gegeben hat. Damals steckte ich mitten in einer langwierigen Chemotherapie und brauchte dringend ein Ziel, auf das ich hinarbeiten konnte. Eine Belohnung. Irgendetwas, was mir den Alltag und die Behandlung erträglicher machen konnte. Ich erinnere mich sehr genau an den Moment im Oktober 2010, nach der sechsten von insgesamt zehn Behandlungen. Bis dahin hatte ich die Chemo gut weggesteckt, aber nun saß ich vollkommen erschöpft und niedergeschlagen auf dem Balkon unserer Hütte in Grindelwald mit einer Tasse Tee in der einen und dem Buch Die weiße Spinne in der anderen Hand. Der österreichische Alpinist Heinrich Harrer schreibt darin über den Reiz und die Gefahren der Eiger-Nordwand, jener Gebirgsflanke, auf die ich gerade einen wunderschönen Blick hatte. Und in diesem Moment formte sich tief in meinem Unterbewusstsein dieser Gedanke. Der Gedanke, dass ich auf etwas hinarbeiten musste, der Krankheit Darmkrebs zeigen musste, dass sie mich nicht kleinkriegen würde. Ich musste mich wehren und dieses passive Gefühl der Kraftlosigkeit und Wehrlosigkeit loswerden. Ich musste aufstehen und aktiv werden. Im wahrsten Sinne weitergehen.

Zu sagen, die Krebsdiagnose sei damals überraschend

gekommen, wäre untertrieben. Meine erste Reaktion war, den Arzt zu bitten, die richtige Krankenakte zu konsultieren. Ich war 43 Jahre alt, meiner Meinung nach topfit und kerngesund. Also informierte ich den Arzt, dass ich in drei Wochen an einem Ultramarathon teilnehmen werde. Er gab mir den freundlichen Rat, den Lauf vielleicht abzusagen und stattdessen gesund zu werden. Daran habe ich mich gehalten. Was ich jetzt gerade in fünf Wörtern zusammengefasst habe, war aber nicht einfach. Eine Chemo ist das nie. Keine Krise ist das. Sie ist eine Reise mit vielen Hindernissen. Eine, die viele Parallelen zum Bergsteigen hat. Man sieht in der Ferne den Gipfel, das Ziel, und man rennt los. Aber der Weg geht nicht immer aufwärts, manchmal muss man durch ein Tal oder über eine Gletscherspalte, manchmal rutscht man ab und kann sich gerade noch halten. Ich stürzte nach der sechsten Chemo ab. Ich brauchte ein neues Ziel. Auf dem Balkon in Grindelwald fasste ich es in Worte: Um meinen persönlichen Everest zu bezwingen, setzte ich mir das Ziel, den wirklichen Everest zu besteigen.

Als ich ein paar Tage später aus Grindelwald nach Hause zurückgekehrt war, nahm ich ein Buch der österreichischen Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner in die Hände, der dritten Frau, die alle Achttausender bestiegen hatte, und las über ihre Everest-Besteigung. Bedingt durch die Behandlung, schlief ich beim Lesen mehrmals ein, aber zu diesem Zeitpunkt war der Gedanke in meinem Kopf und das große Ziel längst formuliert. Nun musste ich es nur noch meiner Familie sagen.

Ein derart konkretes Ziel, einen innigen Wunsch vor Augen zu haben, veränderte alles für mich. Zum Positiven. Es ging nicht mehr um die Chemo und die Krankheit, sondern um etwas Größeres. Ich lebte nicht mehr von Behandlung zu Behandlung, sondern für ein Datum in der Zukunft, in der alles gut wäre. Ich lebte für den Moment, in dem ich geheilt wäre und das machen würde, was mir Energie gibt. Diese Einstellung hat mir zusätzliche Kraft gegeben und die dringend benötigte Ablenkung. Die Therapien sind zeitaufwendig, man hat sehr viel Zeit zum Nachdenken. Das ist nicht immer gut.

In den ersten Wochen und Monaten nach der Diagnose habe ich diese Zeit damit verbracht, mein Leben neu zu formulieren, ihm eine neue Wende zu geben. Ich fragte mich, was ich noch erreichen wollte. Und im selben Moment wog ich den schlimmsten anzunehmenden Fall ab. Für meine Kinder und meinen Mann wäre eine Welt zusammengebrochen, wenn wir für immer hätten Abschied nehmen müssen. Aus meiner Sicht war ich mehr als eine Mutter, zwischen meinen Kindern und mir herrschte – und das ist immer noch so – ein ganz enges Vertrauensverhältnis. Und ich hörte die Stimme in meinem Kopf, die sagte, das kann es doch nicht gewesen sein. Ich muss mir noch Zeit erkämpfen. Mit einem Ziel vor Augen änderten sich auch meine Gedanken. Ich nutzte die Chemotherapie, um mich mental auf dieses Ziel vorzubereiten. Statt über die Krankheit nachzudenken, fokussierte ich mich auf das, was danach kommen sollte. Ich las und las und las. Alles, was ich über den Everest erfahren konnte, sog ich auf. Und schöpfte daraus unendlich viel Kraft.

Warum ausgerechnet der Everest, fragen Sie? Hätte es nicht auch eine Nummer kleiner sein können? Sicher, wenn es darum geht, ein Ziel zu wählen, das einen aus einer Krise befreit, hat jeder eine andere Idee. Manche gehen auf Weltreise oder laufen einen Marathon. Meine war eben der Everest. Das klingt vielleicht nicht mehr ganz so verrückt, wenn man weiß, dass ich aus einer Bergsteigerfamilie komme. Meine Eltern haben meine Geschwister und mich schon früh mit in die Berge genommen. Mein Vater verbrachte viel Zeit in den Bergen und kam in meiner Erinnerung immer glücklich und in sich ruhend zurück. Diese Beziehung zu den Bergen, dieses Gen, habe ich geerbt. Wenn ich auf einen Berg steige, gibt er mir Energie

zurück.

Obwohl die Krebsdiagnose im Sommer 2010 vermutlich der Auslöser war, so war doch ein Marathon in Barcelona 2003 der Moment, an dem die Reise im Grunde begann. Meine drei Kinder waren damals schon sehr selbstständig und brauchten mich nicht mehr 24 Stunden am Tag um sich herum, und somit konnte ich mich vermehrt auf andere Dinge konzentrieren. Ich konnte öfter in und auf die Berge, und durch das Training für den Marathon wurde ich so fit, dass ich diese Bergtrips noch mehr genießen konnte. Danach ging es Schlag auf Schlag. Ich stieg auf den Mont Blanc und fuhr in Kirgistan mit dem Ex­tremskifahrer Flory Kern und seiner Truppe Ski, und von jeder Tour kam ich mit drei bis fünf neuen Ideen zurück. Kurz vor meiner Diagnose war ich auf dem Mount Denali (früher: Mount McKinley) in Alaska, einem 6 190 Meter hohen Berg, der mich geradezu verzauberte. Hier steigt man ohne Träger auf und zieht sein gesamtes Material auf einem Schlitten hinterher. Es war ein besonderes Erlebnis. Schon wegen des wirklich einzigartigen Klos im Camp 3. Aber es war nicht der Moment, an dem ich beschloss, dass ich den nächsten Schritt wagen müsste. Der Everest stand nie wirklich zur Debatte. Nach der erfolgreichen Besteigung des Mount Denali flog ich nach Hause zurück und wurde von meinem jüngsten Sohn Henrik gleich wieder in den Alltag zurückgeholt, als er mich mit den Worten begrüßte: «Ich freu mich so sehr, dass du wieder da bist, ich habe dich echt vermisst.» – und im nächsten Atemzug: «Übrigens Mama, ich habe überhaupt keine frische Wäsche mehr im Schrank.» Ich musste schmunzeln.

Das war auch der Moment, in dem ich meine Bauchschmerzen nicht mehr ignorieren konnte. Sie hatten auf dem Mount Denali angefangen, aber ich hatte sie als Muskelzerrung abgetan. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland stand der Abiball meines ältesten Sohnes Paul vor der Tür, außerdem hatte ich mich für den schon erwähnten Ultramarathon in Davos angemeldet. Zeit, zum Arzt zu gehen, hatte ich eigentlich nicht. Ich bin auch niemand, der wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt rennt. Und zu diesem Zeitpunkt war ich ziemlich überzeugt davon, dass es sich um eine Kleinigkeit handeln würde. Ich nahm ein paar Schmerztabletten, trank Kamillentee und machte mit meinem Training weiter. Aber mit dem Krebs ist es dann wohl doch wie mit dem Wetter am Berg: So sehr du auch alles planst und vorbereitest, am Ende hast du nur zu einem sehr begrenzten Grad die Zügel in der Hand. Am Montag nach dem Abiball meines Sohnes ging ich schließlich heimlich zum Arzt. Was dabei herauskam, konnte ich meiner Familie nicht mehr verschweigen. Noch am selben Tag machte man eine Darmspiegelung. Die Diagnose: Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Ich unterzog mich einer Notoperation, um den Tumor entfernen zu lassen. Ich willigte ein, eine Chemotherapie zu absolvieren. Den Ultramarathon, der drei Wochen später stattfand, sagte ich ab, aber teilgenommen habe ich irgendwie doch – zumindest symbolisch. Bei Kilometer 33 stieg ich ein und lief einen Kilometer lang neben meiner Freundin und Trainingspartnerin Sylvie her. Zwei Tage später begann die Chemo. Da wusste ich noch nicht, welcher Brocken am Ende der Reise stehen würde. Und auch nicht, dass er 8 848 Meter hoch sein würde.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon viele Berge bestiegen, aber an den Everest hatte ich nie ernsthaft gedacht. Ich sehe mich nicht als Trophäensammlerin, die auf jeden hohen Berg steigen muss, damit ich ihn von einer Liste streichen kann. Ich glaube nicht, dass ich alle Seven Summits, die jeweils höchsten Berge der sieben Kontinente, oder alle 14 Achttausender besteigen werde. Es gibt Berge, die sicher sehr prestigeträchtig wären, aber leider reizen sie mich nicht – und das muss ein Berg in meinen Augen eben tun. Ich mag diesen Gedanken, dass man eine Verbindung spüren sollte. Am Ende des Tages hat nicht der Bergsteiger das letzte Wort, sondern der Berg. Er entscheidet, wer ihn wann besteigt und wer nicht. Ich mag diese leicht spirituell anmutende Idee, und ich lebe danach. Ich erfreue mich am Bergsteigen, es gibt mir Kraft und Energie, aber das Schicksal muss ich deswegen nicht herausfordern. Dafür habe ich zu viel Respekt vor der Natur.

Der Reiz des Everests ist übrigens nicht der Anspruch. Bergsteigerisch ist der höchste Berg der Welt keineswegs der schwerste. Was den Everest für so viele so anziehend macht, ist nicht die Schwierigkeit, nach oben zu kommen, sondern seine Höhe. Höher geht es nun mal nicht. Niemand sagt, dass er seinen persönlichen K2 bezwungen hat, wenn er eine Krise überwunden hat. Wir reden in Superlativen, nicht vom Zweitbesten. Es sind die Rekorde und die Auszeichnungen, die Größten und die Schnellsten, die uns begeistern und anziehen. Und darum ist der Everest der ultimative Berg. Darum, das gebe ich gerne zu, habe auch ich ihn als Ziel ausgewählt. Als Belohnung.

Und deswegen bin ich jetzt hier im Basislager. Auf 5 300 Metern Höhe. In einer Zeltstadt auf Geröll, die meine Geduld auf eine harte Probe stellt.

Die gelben Zelte, die man von vielen Fotos kennt, heben sich farblich von der grauen Landschaft ab. Was hübsch und abwechslungsreich aussieht, hat einen einfachen Grund: Die Farbe ist bei Unglücken, Schneestürmen und anderen Vorfällen, die es in die Nachrichten schaffen, einfach am besten zu sehen. Bequem sind sie nicht. Das Basislager ist kein schöner Ort. Es stimmt einen aber sehr gut ein auf das, was kommt. Darauf vorbereiten kann es einen nicht ganz. Die Wahrheit ist, dass Menschen nicht auf den Everest gehören. Wäre es so, würde es hier anders aussehen, aber auf 8 848 Metern lebt nichts mehr. Helikopter kommen hier nicht mehr her. In diesen Höhen fliegen nur noch sehr große Flugzeuge. Eine Rettung ist schwierig, nein, aussichtslos. Wer sich hinsetzt, ausruht oder seine Kräfte falsch einschätzt, hat verloren. Der bleibt für immer oben. Stehen zu bleiben ist keine Option. Zumindest nicht, wenn man seine Geschichte hinterher persönlich erzählen will. Vielleicht ist das auch Teil des Reizes dieses Berges. Er ist Weg und Ziel zugleich.

Ich erzählte meiner Familie erst kurz vor Weihnachten 2010 von diesem Ziel. Es war der zweite Advent, und ich saß mit meinem Mann Arne, meinen Söhnen Paul und Henrik und meiner Tochter Harriet an unserem Frühstückstisch in unserem Haus in Stuttgart. Meine letzte Chemo sollte in der nächsten Woche stattfinden, danach hatten wir uns einen Urlaub im Grindelwald vorgenommen. Wir redeten über dies und das, als ich plötzlich sagte: «Ich würde gerne auf einen Achttausender.» Das Wort Everest vermied ich in diesem Moment. Ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Die unmittelbare Reaktion war kein entsetztes Schweigen. Dass ich auf Berge steige, war keine Überraschung. Vermutlich hätten sich alle mehr gewundert, wenn ich eine Wüstendurchquerung vorgeschlagen hätte. Aber zu sagen, dass alle in Freudentränen ausbrachen, wäre auch übertrieben. Mein Sohn Paul sagte prompt: «Gut, Mama, aber dann bitte auf den Everest.» Wenn schon, denn schon, nehme ich an. Vielleicht war diese Reaktion auch seine Art, mit der Situation umzugehen. Ich erklärte ihnen mein Ziel, die Wichtigkeit, die Dringlichkeit des Ganzen, und am Ende war ich ihnen sehr dankbar, dass sie es verstanden und akzeptierten – und vor allem dass sie mich unterstützten.

Ich habe mich akribisch auf den Everest vorbereitet. Ich war viel im Gebirge, wo ich Marathondistanzen absolvierte, um genug Höhenmeter in die Beine zu bekommen. Dazu kamen das notwendige Krafttraining und sehr lange Skitouren – und viel Literatur. Allerdings fiel mir der Anfang der Vorbereitung sehr schwer. Ich war durch die Chemo geschwächt, hatte keine Lust, die Couch zu verlassen, fühlte mich nicht in der Lage, allzu lange Strecken zu bezwingen. Aber ich hatte ein Ziel und ich wusste, dass dieser Weg mit einem Schritt beginnt. Und darauf folgte ein Schritt nach dem anderen. Erst sehr langsam, bis ich selber merkte, dass ich schneller wurde, und dann ging es mit jedem Schritt ein bisschen besser. Ans Aufgeben dachte ich tatsächlich nie. Ich bot dem Schicksal die Stirn und ging weiter. Irgendwann hatte ich mein Ziel endlich vor Augen und arbeitete unermüdlich darauf hin. So sehr sogar, dass unser Hund Ronia, ein Mischling zwischen Hovawart und Neufundländer, sich schlafend stellte, sobald ich meine Laufschuhe herausholte. Die Arme hatte irgendwann keine Lust mehr auf dreistündige Ausdauerläufe. Verdenken kann ich es ihr nicht. Meine Freundin Sylvie, mein Freund Uwe und mein Bruder Max, meine eigene kleine Trainingsgruppe sozusagen, sind mir eine große Stütze in dieser Zeit gewesen, und hier zeigte sich auch, wie wichtig Teamwork ist, wenn man ein Ziel erreichen möchte. Alleine ist es leichter aufzugeben, eine Ausrede zu finden, um nicht weitermachen zu müssen. Während der Chemo waren es der Halt und die Unterstützung meiner Familie, die mich trugen, und während der Trainingsphase schöpfte ich unerlässliche Kraft aus meiner Gruppe. Teamwork würde auch am Everest wichtig werden.

Die entscheidenden Faktoren sind jedoch die, die man schwer zu Hause trainieren kann: Wie reagiert dein Körper auf 6 000 oder 7 000 oder 8 000 Meter Höhe? Wirst du dein Ego im Griff haben? Wenn es 100 Meter vor dem Gipfel hart auf hart kommt, hast du dann wirklich den Mut umzudrehen, oder wirst du stur weitergehen, weil der Gipfel so nah ist, und dich damit vermutlich umbringen? Nicht stehen bleiben zu dürfen, ein Gedanke, den ich sehr schätze und in bestimmten Momenten rigoros verfolge, kann am Everest trotz aller Notwendigkeit auch gefährlich werden. Wer nicht erkennt, wann er umdrehen muss, und weitergeht, stirbt genauso wie der, der stehen bleibt. Das sind Gedanken, die mich beschäftigten, die ich aber im Hinterkopf abspeicherte. Ich konnte sie nicht beeinflussen, aber ich konnte mich, so gut es geht, vorbereiten. Sehr zur Freude meiner Nachbarn. Ich werde später noch über den Khumbu-Eisfall schreiben, eine der ersten und größten Herausforderungen nach dem Basislager. Hier klettert man mit vorinstallierten Leitern über die Schluchten der sich in Bewegung befindenden Eislandschaft. Der Khumbu-Eisfall ist wie Russisches Roulette und entsprechend berüchtigt, und ich wollte mich zumindest möglichst gut vorbereiten. Also stellte ich zwei Stühle in unseren Garten, legte unsere Gartenleiter darauf und übte. In voller Montur. Stellen Sie sich vor, Sie gucken aus dem Fenster und sehen Ihre Nachbarin in voller Bergsteigermontur im Garten auf einer Leiter herumklettern. Aber es hat geholfen. Dass meine Reise am Khumbu-Eisfall trotzdem fast zu Ende gewesen wäre, ist eine Geschichte für ein späteres Kapitel.

Vor dem Everest unterzog ich mich einem weiteren Test, sozusagen einer Generalprobe. Im Sommer 2011, ein halbes Jahr nach dem Abschluss meiner Chemotherapie, wollte ich mit drei anderen Bergsteigern auf den Cho Oyu steigen, den sechst­höchsten Berg der Welt, einen Achttausender im Himalaya-­Gebirge, nur 20 Kilometer westlich vom Everest. Ich wollte dem Giganten schon einmal zuwinken. Doch den Aufstieg zum Cho Oyu schafften wir nicht. In Lager 2 auf 6 400 Meter passierte das, woran man nie denken möchte, worauf man aber vorbereitet sein muss. Ich befand mich gerade in meinem Zelt, als ich das Donnern das erste Mal hörte. Im ersten Moment ordnete mein Gehirn das Geräusch einem ICE zu. Was wenig Sinn ergab, da auf 6 400 Metern eher keine Züge fahren. Für einen weiteren Gedanken fehlte mir die Zeit. Der Boden wackelte und ächzte, und dann ging krachend eine Lawine ab. Ich rannte aus dem Zelt und starrte ungläubig mit den anderen auf das Schauspiel um uns herum. Während weitere Lawinen abgingen und eine gespenstige Dunkelheit aufzog, schafften wir es, Kontakt mit dem Basislager aufzunehmen, und erfuhren, dass wir es mit den Auswirkungen eines Erdbebens zu tun hatten. Wir mussten die Nacht im Lager verbringen, ständig in Sorge, dass sich weitere Lawinen auf uns stürzen oder dass unser Rückweg ins Basislager unpassierbar sein könnte.

Natürlich war ich heilfroh, als wir am nächsten Tag gesund unten ankamen, und speicherte die wertvolle Erfahrung sofort ab. Es ist keine Schande umzudrehen, sagte ich mir. Nein, ich war sicher, dass es sogar mutiger ist, diese Entscheidung zu treffen als weiterzugehen. In diesem Moment versprach ich mir, den Everest zu überleben. Ich versprach, die richtige Entscheidung zu fällen, wenn es darauf ankommen sollte. Wir machen uns ja so häufig Gedanken darüber, was andere denken könnten. Wir wollen erfolgreich sein und keine Fehler eingestehen. Wir wollen das Projekt um jeden Preis zu Ende bringen. Wir versuchen auf Teufel komm raus eine Beziehung zu retten, die nicht mehr zu retten ist. Was sagen sonst die Nachbarn? Nun ja, ich gebe zu, dass auch ich darüber nachgedacht habe, was ich sagen würde, wenn ich «gipfellos» vom Everest zurückkäme. Aber bedeutet Aufgeben denn immer etwas Schlechtes? Ist es immer negativ, wenn man sein Verhalten

ändert oder ein Ziel anpasst? Geht es nicht vor allem darum, selber damit leben zu können? Muss man am Ende nicht sich selber Rechenschaft ablegen?

Ich schreibe dieses Buch nicht, weil ich glaube, auf alles eine Antwort zu haben. Die habe ich leider nicht. Aber ich habe aufgrund meiner schweren persönlichen Krise Erfahrungen gemacht, die ich nie für möglich gehalten hätte und die ich nie hatte kommen gesehen – und ich möchte sie weitergeben. Jeder kann von einer Krise aus der Bahn geworfen werden, aber jeder von uns kann sich dem auch entgegenstellen. Mit diesem Buch möchte ich Ihnen nicht einfach nur meine Geschichte erzählen, sondern Sie inspirieren, Ihren eigenen Everest in Angriff zu nehmen. Ich nehme Sie mit auf meine Reise, um auch Sie zu ermutigen, einen Schritt vor den anderen zu machen und durchzuhalten. Und diese Reise begann für mich im März 2012 in dem zauberhaften Chaos von Kathmandu.

Auf dem Gipfel gibt's keinen Cappuccino

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