Читать книгу Vollbremsung - Heike Heth - Страница 3

1.

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Der runde, leere Raum erstrahlte in einem makellosen Weiß, wie eine großflächig geschlossene Schneedecke, auf welche die Sonne schien. Ohne die bunten Türen, die von den Wänden abstachen wie farbige Kleckse auf einer hellen Leinwand, hätte Michael eine Sonnenbrille gebraucht, um nicht geblendet zu werden. Die Türen reihten sich im gleichen Abstand voneinander an der Wand entlang, jede mit einem anderen Farbton versehen und halb geöffnet. Michael fühlte sich verwirrt und unsicher, die offenen Türen lösten bei ihm, trotz der freundlichen Farben, Angst aus. Ein heftiger Impuls, sie zu schließen, ergriff ihn, so dass er zielstrebig auf die erste zuging, die Klinke in die Hand nahm und sie hastig zuschlug. PENG! Es hallte dröhnend durch den hohen Raum. Erschrocken zuckte er zusammen, der Knall echote in seinen Ohren und hinterließ ein Gefühl von Endgültigkeit. Mit klopfendem Herzen fing er an, die restlichen Türen der Reihe nach zuzuschlagen. Wie bei rasch aufeinanderfolgendem Donnergrollen jagte ein Schlag den nächsten, sie peitschten ihn voran, verfolgten ihn. Atemlos und erschöpft verharrte er am Ende in der Mitte des Zimmers. Er fühlte sich unwohl und spürte einen Druck auf dem Brustkorb.

Sein Blick schweifte über den Boden, wobei er bemerkte, dass er innerhalb einer schwarzen, viereckigen Umrandung stand. In diesem Moment klappte das Viereck einer Falltür gleich nach unten weg. Vor Schreck stockte ihm der Atem, kurz schien er in der Luft zu schweben, bevor er scheinbar endlos in die Tiefe fiel, bis er heftig aufschlug. Während die Dunkelheit ihn bereits einhüllte, wunderte er sich noch, warum er keinerlei Schmerzen verspürte.

Michael träumte - er, der nie träumte. Er bewegte sich im Bereich des Unbewussten, einer Region, deren Existenz er verleugnete. Sein Verstand kontrollierte normalerweise seine Wahrnehmung. Er sorgte zuverlässig dafür, dass etwaige Traumerlebnisse nicht in das Bewusstsein vordrangen oder Spuren im Gedächtnis hinterließen.

Ein lautes Krachen ertönte und schreckte Michael aus seinem Dämmerzustand. Kurz blitzte eine Erinnerung auf. Er sah einen Mann in einem maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug. Dazu trug er ein in dezenten Blauschattierungen gehaltenes Hemd sowie eine Krawatte aus hellblauer Seide. Mit einem Mantel über dem Arm und einem Laptop in der Hand ging dieser auf einen schwarzen BMW zu und stieg ein. Die Autotür wurde heftig zugeworfen, und das Auto brauste so rasant davon, dass eine Staubwolke aufwirbelte.

Dann verblassten die Bilder. Er fühlte sich wie in Watte gepackt und versuchte vergeblich, sich daraus zu befreien. Im nächsten Moment versank er in einen weiteren merkwürdigen Traum.

Ein Mann mit fest aufeinandergepressten Lippen und gerunzelter Stirn starrte angestrengt mit vorgeneigtem Oberkörper auf den Bildschirm eines Computers. Er befand sich in einem Zimmer, das neben dem vom Bildschirm abgegebenen Licht von einer modernen Halogenschreibtischlampe erhellt wurde. Es war weder gemütlich noch einladend eingerichtet. Mit Ausnahme eines imposanten Schreibtischs ordnete sich die Ausstattung einer reinen Zweckmäßigkeit unter. Schlichte Aktenschränke für Unterlagen und Bücherregale, in denen sich ausschließlich Fachliteratur befand, standen an der Wand. Ein bequemer Sessel, Grünpflanzen, Bilder oder sonstiges schmückendes Beiwerk fehlten.

Michael kam dieser Raum vertraut vor, aber bevor ihm einfiel, woher er ihn kannte, veränderte sich die Traumszene.

Eine Frau betrat mit sachten Schritten das Arbeitszimmer.

»Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will«, raunzte der Mann sie unwirsch an, ohne den Kopf vom Bildschirm abzuwenden.

»Bist du noch nicht mit deiner Rede fertig?«, entgegnete sie nervös. »Es ist spät, und du musst morgen früh raus«.

Sie wusste, dass ihm das Aufstehen nicht mehr so leicht fiel, und das ärgerte ihn. Er legte viel Wert darauf, in der Öffentlichkeit den Eindruck eines dynamischen Mittfünfzigers zu erwecken. »Das braucht dich nicht zu kümmern«, erwiderte er gereizt. Er schaute sie an. »Außerdem kann es dir egal sein, du kommst ja eh nicht mit«.

»Von wegen nicht beleidigt! Warum willst du nicht zugeben, dass es dir was ausmacht«, konterte sie gereizt.

»Und was nützt mir das? Wenn du glaubst, mich so zum Reden zu zwingen, hast du dich getäuscht. Jetzt halt mich nicht länger von meiner Arbeit ab.«

Der Mann drehte den Kopf energisch zurück zum Bildschirm und signalisierte damit, dass die Unterhaltung für ihn beendet war. Sie ging mit Tränen in den Augen zur Tür und schloss diese mit einem scharfen Knall.

Die Szene mit den klar gesprochenen Dialogen wirkte so realistisch, dass Michael daran zweifelte, dass er träumte. Sie hinterließ eine eigenartige Empfindung, da ihm die beiden Protagonisten bekannt vorkamen. Was war nur mit ihm los, dass er diese absurden Träume hatte?

Gewöhnlich erwachte er vom Klingeln des Weckers, das ihn stets unmittelbar aus einem traumlosen Schlaf riss, kurz darauf saß er hellwach im Bett, bereit, den Tag zu beginnen. Und wieso waren ihm solche Fakten geläufig, während er gleichzeitig keine Ahnung hatte, wo er sich befand? Dann fiel ihm ein, dass er geschäftlich häufig in Länder mit anderen Zeitzonen reiste. Der Jetlag führte manchmal dazu, dass er beim Aufwachen desorientiert war und nicht immer gleich wusste, an welchem Ort er sich aufhielt.

Bestimmt erwachte er gerade in einem fremden Land. Er musste nur die Augen öffnen, um das übliche Hotelzimmer gehobener Ausstattung zu sehen.

Michael stutzte. Hatte er nicht bereits versucht, die Augen aufzuklappen? Weshalb war es ihm nicht gelungen? Er probierte es erneut. Vergeblich! Was hinderte ihn daran!? Warum funktionierte etwas so Selbstverständliches plötzlich nicht mehr? Ruhig bleiben! Er war jetzt sozusagen hellwach und konzentrierte sich auf das, was er in der Lage war, wahrzunehmen. Dabei stellte er fest, dass ein kräftiger gelb-roter Lichtschimmer durch seine Lider drang. Genauso leuchtete es, wenn einem die Sonne oder eine grelle Lampe direkt auf die geschlossenen Augen schien. Allerdings müsste er die Wärme dann ebenfalls spüren, was nicht der Fall war. Oder träumte er das auch? Aber er träumte doch nie!

»Nie«, hallte es in diesem Moment sanft aus dem Hintergrund.

Er hörte es, ganz deutlich. Wer sprach da? Spielten ihm seine Sinne einen Streich? Verwundert wollte er den Kopf schütteln und bemerkte, dass er wie bei den Augenlidern keine Bewegung feststellte. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Da stimmte etwas nicht, das war einfach nicht normal.

»Normal?«

Da, schon wieder! Es war definitiv nicht normal, Stimmen zu hören! Sein Schädel brummte, ihm schwindelte, er fühlte sich angeschlagen und müde. Er musste krank sein und hohes Fieber haben. Das wäre eine Erklärung für die wirren Träume und Eindrücke. Vielleicht war er deshalb auch zu schwach, um die Augen zu öffnen und seinen Kopf zu bewegen. Erleichtert gab er der Müdigkeit nach und schlief ein.

Erneut zogen Traumszenen auf, ließen ihn kurz aufschrecken, jedoch ohne ihn in den Wachzustand zurückzukatapultieren.

Er sieht einen Mann, der in eine Küche tritt. Dort nimmt er sich eine Tasse, füllt sie zur Hälfte mit Kaffee und gießt den Rest mit der auf dem Herd bereitgestellten warmen Milch auf. Eine Frau, vielleicht die Ehefrau des Mannes, begrüßt ihn beiläufig. Er erwidert den Gruß, sagt aber nichts anderes. Sie, bekleidet mit einem Morgenmantel, was dem Mann, dem Blick nach zu urteilen, offensichtlich nicht gefällt, sitzt am Esszimmertisch und trinkt ihren Morgenkaffee. Er setzt sich auf einen Hocker an der Küchentheke, die an das Esszimmer angrenzt.

Abrupt wechselte die Szene.

Der Mann befindet sich in einem festlich geschmückten, aber dennoch nüchternen Saal. Er sitzt in der ersten Reihe einer langen Folge von Stühlen, auf denen vornehmlich Herren in dunklen Anzügen und wenige Frauen, in nicht nur ausschließlich dunkelfarbigen Kostümen und Anzügen, sitzen. Jemand am Pult auf dem Podium hält eine Urkunde und bittet den Mann nach vorne. Das Publikum applaudiert.

Dieser steht ohne Hast vom Stuhl auf und knöpft sich dabei mit der linken, frisch manikürten Hand das Jackett zu. Dann geht er mit forschen, gleichwohl langsamen Schritten, merklich darauf achtend, nicht den Oberkörper nach vorne zu neigen, zu dem Podium. Das gesamte Auftreten und die Gesten wirken akribisch einstudiert.

Erneut veränderte sich schlagartig das Szenario. In rascher Folge sah er die Frau und den Mann in Situationen, in denen sie jedes Mal heftig stritten. Dabei hatte er den Eindruck, über ihnen zu schweben, abgeschirmt von einer unsichtbaren Hülle, während zornig klingende Gesprächsfetzen zu ihm hochdrangen:

»... Immer steht deine Karriere an erster Stelle! Nie bist du zufrieden mit dem, was du erreicht hast. Ständig gibt es eine nächste Stufe, die es zu erklimmen gilt! Wann nimmst du dir endlich Zeit für die Menschen in deinem Leben? Man müsste dich festbinden, damit du einem zuhörst! ...«

»...Wieso kannst du mir nicht kurz und bündig sagen, was Sache ist? Reden, reden, bla, bla, bla, jeder will heute permanent reden! Diese Besprechungsmanie geht mir gehörig auf die Nerven! ...«

»... Ich möchte, dass du deine Pflicht erfüllst und morgen mit mir zu dieser Veranstaltung gehst! Was glaubst du, wie das wirkt, wenn ich da ohne meine Ehefrau erscheine? ...«

Nach und nach tauchte Michael aus diesem unruhigen Schlaf auf. Er hatte das Gefühl, seinen Kopf aus einer zähen Masse herauszuziehen. Die Benommenheit wollte nicht weichen, und ständig drohte er, erneut in diesen Dämmerzustand hinabzugleiten. Die geträumten Szenen verfolgten ihn, blieben an ihm haften, und es erstaunte ihn, dass ein Traum solch klare Dialoge wiedergab. So seltsam vertraut kam ihm das Ganze vor, dass er fast glaubte, es selbst erlebt zu haben.

Er wollte raus aus dieser nebulösen, nicht greifbaren Traumwelt. Er fühlte sich, als hätte man ihn mit verbundenen Augen gefesselt und geknebelt in unbekanntes Terrain ausgesetzt. Verzweifelt versuchte er, wie ein Ertrinkender, an der Oberfläche zu bleiben. Mit schierem Willen zwang er sich, die Benommenheit abzuschütteln. Er musste herausfinden, was mit ihm los war.

»Ja, unbedingt!«

Oh nein, jetzt hörte er wieder diese Stimme! Die Lage war auch so schwierig genug. Sicher war es nur ein Nachhall von den Träumen, beschwichtigte er sich.

Sein Kopf fühlte sich zum Glück zunehmend klarer an, und er meinte, Geräusche um sich herum zu hören. Er konzentrierte sich darauf, und plötzlich nahm die Lautstärke zu, so als hätte jemand Watte aus seinen Ohren entfernt. Deutlich drang von der rechten Seite her ein rhythmisches Rauschen an sein Ohr. Bei genauerem Hinhören glich es eher einem gedämpften, unter einer Decke hervorkommenden Röcheln. Was verursachte dieses Geräusch? Er hatte keine Ahnung, in der Regel achtete er auf solche Dinge im Alltag nicht. Wie die meisten Menschen nahm er die Welt fast ausschließlich mit den Augen wahr. Absurderweise erinnerte es ihn an Darth Vader, den Bösewicht aus »Krieg der Sterne«, der beim Atmen durch eine Maske ein ähnlich klingendes Rauschen erzeugte. Es ärgerte ihn, dass ihm so etwas Banales einfiel.

Mehr im Hintergrund, aber wesentlich nerviger hörte er einen gleichmäßig wiederkehrenden Piepston, wie ihn Müllautos von sich gaben, wenn sie rückwärtsfuhren. Lag er vielleicht zu Hause im Bett, war einer gerade grassierenden Grippe erlegen und wachte aus davon ausgelösten fiebrigen Träumen auf? Obwohl er sich nicht erinnern konnte, in den letzten vierzig Jahren je eine Erkältung gehabt oder geträumt zu haben. Zu diesen beiden Geräuschen gesellte sich ein Zischen und Stampfen, welches in ihm das Bild einer Maschine heraufbeschwor, die einen Mechanismus in Gang hielt.

Inzwischen fühlte er sich hellwach, und die anfängliche Konfusion und Verwirrung waren verschwunden. Er war überzeugt davon, aus seiner Traumwelt aufgewacht zu sein, umso mehr irritierte es ihn, sie nicht einordnen zu können.

»Außerdem träumst du ja nie!«

Er erschrak! Kein Zweifel, die Stimme hallte deutlich hörbar durch seinen Kopf. Sie könnte genauso gut von einer Person sein, die neben ihm stand. Er glaubte sogar, einen höhnischen Unterton wahrzunehmen. Das konnte nur ein Fieberwahn sein!

Michael überlegte, wann er ins Bett gegangen war und ob er sich zu dem Zeitpunkt krank gefühlt hatte. Nichts! Da existierte keine Erinnerung. Im Kurzzeitgedächtnis herrschte gähnende Leere. Wohingegen er genau wusste, dass er Michael Hallstatt hieß, dreiundfünfzig Jahre alt und verheiratet war sowie drei Kinder hatte. Letztendlich spulte er mühelos sein komplettes vergangenes Leben ab, bis auf die letzten Tage, die sich hartnäckig seinem Erinnerungsvermögen entzogen.

Michael fielen Berichte von Menschen ein, die über Nacht einen Hirnschlag oder Schlaganfall im Bett erlitten. Hatte er sich mit seinen sechzig bis siebzig Arbeitsstunden pro Woche zu viel zugemutet, und die Vernachlässigung seines Körpers forderte nun ihren Tribut? Das würde erklären, weshalb es ihm nicht gelang, seine Gliedmaße zu bewegen. Er hatte immer wieder probiert, die Augen zu öffnen, den Kopf zu drehen und die Arme oder Beine anzuheben. Ohne Erfolg. Was war mit ihm passiert? Wie sollte er das herausfinden, wenn er noch nicht einmal unterscheiden konnte, ob er träumte oder wach war. Am Ende bildete er sich diese Geräusche genauso ein wie die Stimme, die er ab und an zu hören glaubte.

In diesem Moment regte sich am Rande seines Bewusstseins ein Erinnerungsfetzen, narrte ihn wie eine winzige Mücke, die einem dicht vor dem Gesicht herumschwirrt und blitzschnell wegfliegt, so dass man vergeblich versucht, sie zu greifen. Frustriert gab er auf, ihm hinterherzujagen; er musste stärker auf seine Umgebung achten, wenn er mehr erfahren wollte. Dazu sollte er alle ihm zur Verfügung stehenden Sinnesorgane aktivieren. Mit einem Mal registrierte seine Nase eine Vielzahl an Gerüchen. Zuverlässig begann sie nun mit der Arbeit, gliederte die unterschiedlichen Duftnoten auf und transportierte sie ins Gehirn zur Analyse. Er vermutete, eine Art Putzmittel zu riechen; was sonst roch nach Essig, vermischt mit Zitrone? Daneben bemerkte er, wenn er sich nicht täuschte, einen Hauch Urin, überdeckt mit einem Geruch, den er kannte, der ihm aber nicht einfiel.

Sein Geruchsgedächtnis ließ ihn kläglich im Stich, was ihn nicht wunderte, da er normalerweise nicht auf Gerüche achtete.

»Normalerweise ... tja, normalerweise ...«.

Einem Singsang gleich wiederholten sich die Worte mehrmals. Zum Teufel mit diesem Phänomen! Was rief es hervor? Er analysierte viel zu präzise, um im Delirium zu liegen. Wieso aber hörte er Stimmen?

»Eine Stimme, du hörst nur eine Stimme!«

Er beschloss, den Vorfall zu ignorieren und konzentrierte sich erneut auf die realen Wahrnehmungen in der Außenwelt.

Zurück zu den Gerüchen. Irgendwo hatte er diese Mischung schon mal gerochen? Aber wo? Seine ausgeprägten analytischen Fähigkeiten versagten, und ihm gelang nicht, die Geruchsmelange zu identifizieren.

Dafür meldete ihm sein Gehör, dass es ein sachtes Rascheln vernahm. Sein Gehirn brachte es sofort mit Stoff in Verbindung, woraufhin es die Schlussfolgerung zog, dass es sich hier um Kleidung handelte, die durch Fortbewegung aneinander rieb. Ein gleichzeitig zu hörendes dumpfes, von knappen Pausen unterbrochenes Tapp, Tapp wurde blitzschnell als Schritte erkannt. Das zarte Klimpern von aneinanderstoßenden dünnen Metallteilen fand keinen Abgleich, dennoch ließen alle Geräusche zusammen nur ein Fazit zu: Jemand hielt sich bei ihm im Zimmer auf!

Diese Erkenntnis stellte unerwartet die Verbindung zu seinem Erinnerungsvermögen her, wie ein loser Draht, der zufällig wieder mit der Schaltfläche in Kontakt kam.

Bilder von Überwachungsgeräten, Kranke, die in Betten lagen, Urinbeutel, die daran hingen, Medizinschälchen, die auf den Nachttischen danebenstanden, rasten in Sekundenschnelle durch seinen Kopf. Er sah Putzfrauen, die hektisch, getrieben von Zeitnot, die Fußböden schrubbten, Schwestern, die gestresst im Zimmer hin- und herliefen, um die Visite vorzubereiten, Menschen, die hilflos neben dem Krankenlager von Angehörigen saßen, nicht wissend, was sie sagen sollten. Eindrücke, die unbewusst hängen geblieben waren, aus der Zeit, in der er seine Mutter in der Klinik besuchte, bevor sie ihrem Krebsleiden erlag.

Nun fiel ihm ein, woher er den Geruch kannte, was die Geräusche verursachte und warum jemand im Zimmer herumhantierte. Wenn Michael alle Faktoren kombinierte, blieb eine logische Erklärung: Er lag in einem Krankenhaus! Ohne dass sein Körper die Bewegung tatsächlich ausführte, zuckte er bei diesem Gedanken zusammen.

Er hasste diesen Ort, an dem Krankheit, Schwäche, Alter, Leid und Tod regierten! Mit Stolz, obwohl es nicht ausschließlich sein Verdienst, sondern eher eine glückliche Veranlagung war, prahlte er vor anderen gerne mit seiner unverwüstlichen Gesundheit. Er dachte mit Schrecken an das überfüllte Mehrbettzimmer, in dem seine Mutter monatelang ohne jegliche Privatsphäre lag und langsam dahinsiechte. Zum Glück verfügte er aufgrund seiner ausgezeichneten finanziellen Lage über eine private Krankenversicherung. Sie ermöglichte ihm ein Einzelzimmer, eine exzellente medizinische Versorgung inklusive Chefarztbehandlung.

Endlich war er einen Schritt weiter! Jetzt galt es herauszufinden, warum er in einer Klinik lag. Mal angenommen, er hätte einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitten, dann wäre er durchaus eine Weile nicht bei Bewusstsein gewesen. Da er die Fähigkeit, Fakten präzise zusammenzutragen und auszuwerten, wiedererlangt hatte, schloss er eine Gehirnschädigung definitiv aus. Blieb die Bewegungslosigkeit, die vielleicht lediglich eine kurzfristige Ausfallerscheinung darstellte.

Mitten in diese Gedanken hinein blitzte unerwartet, für den Bruchteil einer Sekunde, eine Szene in seinen Kopf auf. Pfeilschnell wie eine Sternschnuppe, die vom Himmel fiel, flog sie vorbei. Sie hinterließ bei Michael die Überzeugung, dass er heute Morgen aufgestanden und weder einen Gehirn- noch einen Herzinfarkt erlitten hatte.

Die gleiche Erregung, die ihn überkam, wenn er in Begriff war, einen lukrativen Auftrag an Land zu ziehen, ergriff ihn. Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben, um das, was am Rande seines Bewusstseins lauerte, nicht zu verscheuchen. Solange er vorsichtig vorging, gelang es ihm möglicherweise, an die verschütteten Informationen in seinem Gehirn heranzukommen. Er wartete auf eine weitere Erinnerungsschnuppe, und es wurmte ihn gewaltig, dass nichts geschah. Also grübelte er über andere mögliche Einlieferungsgründe nach. Könnte ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf ein Schädeltrauma sowie Halluzinationen bis hin zu unerklärlichen akustischen Phänomenen ausgelöst haben?

»Aber es bietet keine Erklärung dafür, warum du die Augen nicht öffnen, dich nicht bewegen und nicht selbstständig atmen kannst?«

Verdammt, das waren nicht mehr nur zusammenhanglose Wörter. Wollte diese Stimme etwa ernsthaft mit ihm diskutieren? Es war aussichtslos, diesen Satz als Täuschung abzutun, geschweige denn einfach zu ignorieren.

»Geh weg, du bist lediglich eine vorübergehende Einbildung«, rief er ihr in seiner Verstörtheit spontan und völlig irrational zu.

»Warum redest du dann mit mir, du Schlaumeier?«

Michael, kurz davor, erneut eine Gegenbemerkung abzugeben, stoppte schlagartig. Er wollte sich doch wohl nicht auf ein Gespräch mit einer imaginären Stimme einlassen? Selbstgespräche zu führen war bereits befremdlich, aber jemandem Nichtexistentem zu antworten, zeugte eindeutig von geistiger Verwirrtheit.

Ok, tief Luft holen und ausatmen. Moment, was hatte die Stimme da gerade gesagt? - Er atme nicht selbständig - Tatsächlich, er spürte weder, dass er ein- , noch dass er ausatmete. Ihm fiel das Rauschen ein, welches er nicht zuordnen konnte und das in ihm ein Bild von Darth Vader heraufbeschwor. Erzeugte eine Beatmungsmaschine ein solches Geräusch? Er versuchte, den Mund zu öffnen und einzuatmen, was nicht gelang. Nervös fing er daraufhin an zu schlucken, zumindest nahm er an, das zu tun, da er keine Schluckbewegungen im Hals fühlte. Panisch wollte er sich dorthin greifen, um herausfinden, ob sich dort Schläuche befanden. Er erinnerte sich, dass frühere Versuche, sich zu rühren, gescheitert waren. Vielleicht war er auch nur nicht in der Lage zu spüren, ob die Hand dem Befehl folgte. In seiner Vorstellung probierte er es immer wieder, befahl nach und nach jedem seiner Gliedmaßen, gehetzt, wie jemand, der einen Knopf nach dem anderen drückt, um verzweifelt ein Gerät in Gang zu setzten, sich zu bewegen. Zuletzt konzentrierte er sich auf das Gesicht, bemühte sich erfolglos, die Augen zu öffnen und spürte dabei nicht den Hauch einer Veränderung in der Mimik, die man doch normalerweise fühlte, wenn sich die Gesichtszüge vor Anstrengung verzogen.

»Genau das ist der springende Punkt: - nor - ma - ler - weise«, stichelte es aus dem Hintergrund.

Verflucht, was soll das!, dachte Michael wütend. Warum plagte ihn diese Begleiterscheinung ständig? Wo kam diese blöde Stimme her? Er wünschte, sie würde verschwinden. Er hatte bereits genug Probleme und wollte sich nicht mit solchem Unsinn abgeben. Ich werde sie einfach ignorieren.

Er bemühte sich erneut, eine Bewegung zustande zu bringen. Vergeblich, kein einziger Muskel in seinem Körper rührte sich! Erschöpft, frustriert und zutiefst besorgt hielt er inne. Noch einmal listete er die vorhandenen Fakten der Reihe nach auf. Es half ihm, die aufkommende Beklemmung, die ihn ihm aufstieg, zu unterdrücken und die Kontrolle über seine Emotionen zu behalten. Ein Schlag auf den Kopf führte in der Regel nicht zu einem Versagen der Atmung, es sei denn, er hätte ein schweres Schädeltrauma erlitten, wogegen wiederum sein klares Bewusstsein sprach. Was aber hinderte ihn daran, sich zu bewegen? Ob er sich bei einem Autounfall alle Knochen gebrochen hatte und er von oben bis unten eingegipst war? Dann müsste er sein Gesicht verziehen können, was nicht der Fall war. Vielleicht doch ein Gehirnschlag, danach hatte man häufig Lähmungserscheinungen, auch im Gesicht. War am Ende sein Körper komplett gelähmt? Ihm wurde flau im Magen, so, als hätte er einen Tritt in die Magengrube erhalten, Übelkeit kroch in ihm auf, und er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, was natürlich unmöglich war, falls er beatmet wurde.

Er war kurz davor, in Panik auszubrechen. Seit wer weiß wie lange lag er da und versuchte herauszufinden, was passiert war. Er wusste bisher nur, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit in einem Krankenhaus lag. Wie sollte er auch herausfinden, was los war, wenn er die Augen nicht öffnen und endlich aufstehen konnte. Erneut stieg Panik auf. Vermutungen, er hatte nichts als Vermutungen, die er aufgrund seiner funktionierenden Sinne anstellte. Aber das war alles, was ihm zur Verfügung stand und das Einzige, womit er sich beschäftigen konnte.

Komm, ermutigte er sich, es ist nicht deine Art aufzugeben, konzentrier dich auf das, was möglich ist.

Er lenkte seine Aufmerksamkeit bewusst auf seine Umgebung. Da waren die inzwischen gewohnten Geräusche und Gerüche. Was gab es sonst noch? In Gedanken glitt er nach und nach seinen Körper herab, diesmal, ohne zu versuchen, die Gliedmaße zu bewegen. Dabei bemerkte er, dass er das Bettlaken und die Bettdecke an seiner Haut fühlte. Komisch. Nahm man bei einer Lähmung den Kontakt mit Gegenständen wahr? Soweit er wusste, war man in einem solchen Fall völlig gefühllos, sogar Nadelstiche spürte man dann nicht.

»Ganz und gar der analytisch strukturiert vorgehende Unternehmensberater«.

Die schon wieder! Wie konnte eine Einbildung nur so zynisch klingen.

»Glaubst du das immer noch?«

Sein Kopf fing plötzlich an zu schmerzen, so dass ihm das Denken schwerfiel. Bilder begannen darin herumzuwirbeln und verschmolzen zu einem einzigen formlosen Farbenbrei. Verzweifelt versuchte er, etwas zu erkennen. Ein Gebilde trat daraus schemenhaft hervor, so wie sich ein Gegenstand aus dem Nebel schält, wenn man sich ihm näherte. Doch bevor er sah, was es war, zerfloss die Erscheinung und entzog sich so seinem gierigen Blick. Gequält und frustriert, gab er die Jagd danach auf. In diesem Moment tauchten unerwartet neue Bruchstücke auf!

Blitzartig schossen unzählige, zunächst verschommene Bilder durch seinen Kopf. Nach und nach entwickelten einige, wie bei einer Polaroid-Fotografie, zunehmend klarere Konturen, bis er die Szenen deutlich erkannte: --- Ein Mann verlässt das Haus - er sitzt vor einem Computer und schreibt - er steht an der Küchentheke mit einer Kaffeetasse in der Hand - er sitzt im Auto und prescht über die Autobahn - eine Frau im Morgenmantel - rote Rücklichter, die aus dem Nichts auftauchen - eine Tür, die lautstark zuschlägt ---. Auf einmal wusste er, dass er dieser Mann war. Ihm fiel ein, dass er sich auf dem Weg nach Berlin befand, um die Auszeichnung zum »Unternehmer des Jahres« entgegen zu nehmen!

Aufregung und Freude durchfluteten ihn. Endlich, seine Erinnerung kam zurück! Weitere Bilder stürzten auf ihn ein, fügten sich, einem unbewussten Drehbuch folgenden, in eine Chronologie und liefen einem Film gleich, in Zeitlupe, vor ihm ab:

Er steigt ins Auto, startet den Motor durch und rast los, kurz danach steht er genervt im Stau. Nach einer gefühlten Ewigkeit löst er sich langsam auf. Er gibt Gas, will die verlorene Zeit wettmachen. Ungeduldig wechselt er zwischen den Spuren hin und her. Er nimmt Geschwindigkeit auf, nachdem der linke Fahrbahnstreifen endlich frei ist. Das Display seines Handys blinkt, und er wirft einen kurzen Blick darauf. Zu spät sieht er die Bremslichter vor ihm aufleuchten. Der gesamte Verkehr kommt innerhalb weniger Sekunden abrupt zum Halten. Mit versteinerter Miene kracht er, ohne die geringste Chance auszuweichen, trotz sofortiger Vollbremsung auf das Auto vor ihm. Verzweifelt schaut er auf den Tachometer, dessen Nadel 120 Stundenkilometer anzeigt, wo sie im Moment des Aufpralls stehen bleibt.

Vollbremsung

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