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2.

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Michael fiel danach in eine Art Schockzustand. Sein Geist gab erschöpft auf und glitt in eine erlösende Dunkelheit hinab. Neben Phasen tiefer Bewusstlosigkeit dämmerte er halbwach vor sich hin. In diesem Zustand nahm er eine Vielzahl von Sinneseindrücken auf. Er hörte Gesprächsfetzen, den Klang einer vertrauten Stimme, die seinen Namen rief, Personen, die im Zimmer hin- und herliefen. Er meinte zu spüren, dass jemand am Bett herumhantierte und seine Hand streichelte. Hin und wieder roch er einen süßlichen Duft, den er von irgendwoher kannte. Dazu kam ein unablässiges Piepen, Fiepen und Brummen, störend wie Baustellengeräusche, die von der Straße hereindrangen, während man versuchte, noch ein paar Minuten länger zu schlafen. Er irrte durch eine Dämmerwelt, die ihn auf unbestimmte Zeit gefangen hielt.

Die Berührung kam völlig unerwartet. Er spürte ohne Zweifel eine kühle Hand auf seiner Stirn. Mühsam kroch er aus der Dunkelheit heraus. Es fühlte sich an, als gäbe es zwei Welten, getrennt von einer unsichtbaren Glaswand, die es zu durchbrechen galt.

»Herr Hallstatt. Hallo, hören Sie mich? Ich bin Schwester Renee. Bitte geben Sie mir ein Zeichen, falls Sie dazu in der Lage sind.«

Die direkte Ansprache brachte die Glaswand zum Zersplittern und katapultierte ihn schlagartig in die Gegenwart. Das war definitiv eine reale Person und keine ominöse Stimme in seinem Kopf, die da sprach! Die angenehme, leicht rauchige, jung klingende Stimme gefiel ihm, doch das Gesagte verstimmte ihn.

Zu gerne hätte er erwidert: »Selbstverständlich höre ich Sie, aber ich rühre mich nicht, weil es mir einfach Spaß bereitet, reglos hier rumzuliegen.«

Natürlich gäbe er ein Zeichen, wenn er könnte! Für wie blöd hielt die ihn.

»Na, so ungehalten wie eh und je. Deine Mitarbeiter können ein Lied davon singen.«

Oh nein, das darf doch nicht wahr sein. Jetzt tauchte die wieder auf. Wie als wolle sie ihm beweisen, dass es einen eindeutigen Unterschied zwischen ihr und der Stimme da draußen gab.

»Verschwinde, verschwinde, verschwinde!«, schrie er sie lautlos an. »Du existierst nicht, es gibt dich nicht. Lass mich in Ruhe!«

»Na ja, Freundlichkeit ist auch nicht eine deiner Stärken«.

Woher wusste sie das alles über ihn? Sie war eine Halluzination, oder? Aber es war definitiv mehr als ein Rauschen im Hintergrund, das war schon eher ein gut eingestellter Radiosender. Am besten fand er sich vorerst einfach damit ab, dass sie vorhanden war, ohne groß darüber nachzugrübeln.

Es behagte Michael überhaupt nicht, einen Tatbestand zu akzeptieren, für den es keine vernünftige Erklärung gab. Er fand jegliche Art von Kontrollverlust unerträglich. Hirngespinste existierten in seinem Leben genauso wenig wie ungeplante Ereignisse, Spontaneität oder sonstige unüberlegte Handlungen. Er war ein Perfektionist, der nichts dem Zufall überließ und kein Verständnis für vernunftwidrigen Firlefanz besaß.

Er wartete darauf, dass die Schwester erneut zu ihm sprach. Immerhin war sie die Bestätigung, dass er in einem Krankenhaus lag. Nun hoffte er, etwas über seinen Zustand zu erfahren. Doch warum sollte sie mit ihm reden, wenn er nicht reagierte und sie annehmen musste, dass er nichts hörte?

Er drehte sich im Kreis. All seine Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen und bisherigen Erinnerungen lieferten keine konkrete Erklärung für seine Bewegungslosigkeit. Es blieb ihm nur übrig, sich zu gedulden und abzuwarten, dass jemand mit ihm sprach.

»Auch nicht unbedingt dein Ding, dich in Geduld zu üben!«

Er beachtete die Bemerkung nicht. Entgegen dem zuvor gefassten Vorsatz zermarterte er sich weiterhin das Gehirn. Am Ende überlegte er noch, ob er im Koma liegen könnte, was er jedoch aufgrund seines klaren Bewusstseinszustandes gleich wieder ausschloss. Danach gab er sich ausgelaugt der aufkommenden Müdigkeit hin und sank in einen unruhigen Schlaf.

»Na, wenn du dich da mal nicht täuschst.«

Dann begannen die Träume.

Ein junger Mann steht vor dem Spiegel und studiert verschieden Mimiken, Gesten und Körperhaltungen ein. Erschrocken zuckt er zusammen, als eine ältere Frau das Zimmer betritt.

»Versuchst du schon wieder, dieses affektierte Gehabe deiner Mitschüler nachzuäffen?«

»Du hast doch keinen blassen Schimmer«, schreit der Junge sofort los. »Du wirst nicht jeden Tag gehänselt, nur weil jedes Wort, jede Geste von dir verrät, dass du nicht dazu gehörst, egal, wie schlau und geistig überlegen du bist!«

Der gleiche junge Mann schreitet durch eine Tür, wandelt einen langen dunklen Gang entlang und betritt an dessen Ende eine Aula. Kleine Gruppen von Studenten stehen, ausgestattet in Robe und Magisterhut, beisammen, ein Sektglas in der Hand und unterhalten sich ausgelassen. Er, in derselben Aufmachung, schlendert zu einer hinüber und lauscht dem Gespräch, beteiligt sich jedoch nicht. Man redet über aussichtsreiche Positionen und Karrierechancen, die sich durch die glänzenden Kontakte der Väter ergeben und eine erfolgreiche Zukunft verheißen. Sich von der Gruppe abwendend, hört er einen den anderen verächtlich zuraunen: »Na, schau dir das Beamtensöhnchen an, mit Charlotta hat er sich endgültig in unsere Kreise hineinlaviert.«

Die Szene verschwimmt, im nächsten Moment sitzt der Mann, etliche Jahre älter, in einem Sessel und liest einen Brief. Er hat freien Blick darauf und darin steht, dass er zum Unternehmer des Jahres gewählt worden ist. Ein Ausdruck absoluter Genugtuung legt sich auf sein Gesicht. Doch bereits wenige Minuten später geht er grübelnd im Raum umher, Worte vor sich hinmurmelnd, bis eine zuknallende Tür ihn aufschrecken lässt.

Der Knall hallte in Michael nach, sein Bewusstsein stieg an die Oberfläche, bis die Eindrücke der vorangegangenen Träume es erneut einfingen und in die Tiefe zogen. Es dauerte eine Weile, bis er sich daraus befreite und verwirrt registrierte, dass er aufgewacht war. Wo war er, was war geschehen, wieso lag er im Bett, hatte er lange geschlafen?

Der regelmäßige Piepston, der an seine Ohren drang, das rhythmische Röcheln, das sich anhörte, als schlürfe jemand Luft, trugen ihn in die Gegenwart und brachten ihm seinen Aufenthaltsort und die bisherigen Ereignisse erneut ins Bewusstsein. Wie ein Wolkenbruch brach die Erinnerung über ihn herein.

Er versuchte festzustellen, ob eine Schwester im Zimmer war. Es gab keine entsprechenden Anhaltspunkte, dabei fiel ihm auf, dass bisher kaum jemand da gewesen war.

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Es war ihm so wenig vertraut, dass er lange brauchte, bis er es erkannte und noch länger zu akzeptieren, dass es tatsächlich so war. Er fühlte sich hilflos und verlassen!

Im Alltag ignorierte er bestimmte Regungen und verdrängte sie schnell, damit sie ihm nicht in die Quere kamen. Ärger, Ungeduld, Genugtuung über Erfolge und ein paar andere hingegen gestand er sich zu. Sich einsam und ohnmächtig zu fühlen, gehörten normalerweise nicht dazu.

»Was ist schon noch normal in der Welt, in der du dich momentan befindest?«

Ja, und du bist der Beweis dafür, dachte er resigniert und inzwischen ohne Überraschung, sie wieder zu hören. Anscheinend musste er sich damit abfinden, dass diese Stimme sich in seine Gedanken einmischte. Oder war sie Teil davon? Sprach sie aus, was er sich nicht zu denken traute? Diese Vorstellung gefiel ihm nicht. Sie hinterließ zu sehr den Eindruck einer gespaltenen Persönlichkeit. Immerhin lag sie richtig mit ihrer Aussage, er fühlte sich, als wäre er aus seinem gewohnten aktiven Leben herausgefallen. Er lag da, zur Untätigkeit verdammt, und besaß keinerlei Handlungsspielraum.

»Na, ganz so schlimm ist es nicht. Du hast noch einige deiner Sinne, und soweit ich es beurteilen kann, ist deine Denkfähigkeit vollkommen intakt.«

Es passte ihm nicht, ihr erneut Recht zu geben. Michael begab sich unverzüglich ans Werk, um herauszufinden, ob es irgendwelche Veränderungen gab. Das gab ihm die Illusion, die Kontrolle wenigstens teilweise wieder zu erlangen und sein Handeln selbst zu bestimmen.

Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die Augenlider und befahl ihnen aufzuklappen. Alles blieb dunkel, und er spürte keine Bewegung. Wieso funktionierte dieser simple Befehl, der sonst, ohne dass man es überhaupt registrierte, problemlos ausgeführt wurde, nicht? Obwohl im Klaren darüber, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit einschloss, dass der Rest seines Körpers genauso reglos verharrte, erteilte er nach und nach jedem seiner Gliedmaße vergebens die Anweisung, sich anzuheben.

Frustriert lag er da und starrte in die Dunkelheit hinein. Hinter den Augenlidern schimmerte es dunkler als beim letzten Mal. Hatte man die Lampe ausgeknipst oder war davor Tag gewesen und jetzt Nacht? Es war unmöglich, zwischen künstlichem und natürlichem Licht zu unterscheiden. Er erkannte, dass die ihm verbliebenen Sinne nichts nutzten, ohne Zugriff auf einschlägige Erfahrungen. Er wusste weder, wie lange er insgesamt hier lag, noch, wie viel Zeit verging, während er schlief oder wach war. Im Alltag brauchte er eine Uhr, die ihm verlässlich anzeigte, dass er seinen festgelegten Zeitrahmen einhielt. Ein geregelter Tagesablauf gab ihm seit der Schulzeit Sicherheit. Nur durch eine straffe Organisation und eiserne Disziplin gelang es einem Mann in seiner Position, das tägliche Arbeitspensum zu bewältigen. Für Spontaneität oder Leerlaufzeiten gab es keinen Platz, und auch sein Privatleben musste sich dem unterordnen. Am wenigsten mochte er, wenn andere seine wertvolle Zeit verschwendeten. Es galt stets die Kontrolle zu behalten, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen und den Konkurrenten einen Schritt voraus zu sein.

Die Tür ging schwungvoll auf, und mit quietschenden Schuhen eilte jemand in das Zimmer. Sicher eine Schwester, dachte er. Dann stieg ihm der Gestank von kaltem Zigarettenrauch in die Nase, was darauf hindeutete, dass sie unmittelbar neben dem Bett stand. Er verabscheute es, wenn Leute in seiner Nähe nach Aschenbecher rochen. Er selbst frönte diesem Laster seit Jahren nicht mehr, und es missfiel ihm aufs Äußerste, dass er diese Person nicht wegschicken und nach einer anderen Schwester verlangen konnte. Schließlich war er Privatpatient.

»Ganz schön anspruchsvoll, der Herr.«

Der Stimme schien es Spaß zu machen, unerwartet und jederzeit einfach so in seine Gedanken hineinzuplatzen.

Michael gab vor, nichts zu hören und verkniff sich eine Antwort. Der Impuls, mit ihr ein Gespräch zu führen, besorgte, ihn, und er fürchtete, dass sein Geisteszustand vielleicht doch gelitten hatte.

»Tja, wer weiß. Du magst unerklärliche Dinge so ganz und gar nicht, nicht wahr?«

Das Hantieren der Schwester am Bett lenkte ihn von diesem hämischen Kommentar ab. Er spürte tatsächlich ihre Hände mehrmals über die Bettdecke streichen, wobei sie einen Wischlaut erzeugten.

»Guten Morgen, Herr Hallstatt? Na, ob wir wohl wach sind? Haben Sie ein kleines Blinzeln für mich übrig? Nein? Macht nichts, gleich kommt die Visite, und dann erfahren wir, was mit uns los ist.«

Michael kochte vor Empörung. Er hasste es, wenn Ärzte und Schwestern mit Kranken sprachen, als wären sie unmündige Kleinkinder. Wieso glaubten sie, sich mit diesem blödsinnigen »wir« mit ihnen gleichzusetzen? Blöde Kuh! Zu dumm, dass er ihr keine passende Rückmeldung an den Kopf werfen konnte. Immerhin kam demnächst jemand, und er hoffte, dass man ihn über seinen Zustand aufklärte. Das Warten fiel ihm schwer, er lauschte und vermutete, dass die Schwester mit den Geräten herumhantierte. Er fragte sich, wie sie aussah? War sie jung oder alt, gutaussehend, dick oder dünn?

»Was, wenn du wüsstest, dass sie nicht deinem Geschmack entspricht? Wäre das auch ein Grund, eine andere zu verlangen?»

»He, was soll das! Glaubst du, hier den Moralapostel spielen zu müssen? Ich stelle doch nur ein paar Vermutungen an, weil ich nichts sehe!«

Verflixt, jetzt rechtfertigte er sich einer imaginären Stimme gegenüber. Es gelang ihm einfach nicht, sie zu überhören.

Da wurde die Zimmertür aufgerissen, und mehrere Personen näherten sich schnellen Schrittes seinem Bett.

»So, dann wollen wir mal«, sprach eine gutturale Männerstimme. »Gibt es bei dem Patienten irgendwelche Veränderungen, Schwester Brigitte?«

»Nein, Dr. Friedrich, keinerlei Anzeichen von Bewegung, kein Blinzeln oder anderweitige Reaktionen. Alle Körperfunktionen sind stabil, das Herz schlägt regelmäßig, die Beatmung ebenso wie die künstliche Ernährung, alles funktioniert einwandfrei.«

Die Erläuterungen der Schwester, die nun anfing, gelangweilt Messwerte und sonstige Angaben herunterzurasseln, bestätigten seine Wahrnehmungen und Annahmen.

»Gut, danke«, entgegnete der Arzt. Dann richtete er sich in einem geschäftsmäßigen, emotionslosen Ton an Michael »Herr Hallstatt, es ist möglich, dass Sie uns hören, deshalb spreche ich direkt mit Ihnen. Sie hatte vor sieben Tagen einen schweren Autounfall. Dabei erlitten beide Lungenflügel Quetschungen, die Milz einen Riss und die Speiseröhre einen Knacks. Des Weiteren haben Sie sich multiple Knochenbrüche zugezogen. Gravierender jedoch sind die extremen Schädelverletzungen, die dazu führten, dass Sie kurz nach der Einlieferung in dieses Koma fielen. Momentan liegen uns noch keine konkreten Erkenntnisse hinsichtlich der Art des komatösen Befundes vor. Es gibt Anzeichen, dass ...

Koma!? Na klar, wieso war er nicht selbst darauf gekommen. Aber war man da nicht völlig bewusstlos?

»... deshalb könnte eine Form des sogenannten Locked-In-Syndroms vorliegen, ... schwierig zu diagnostizieren ... führen wir eine Messung der Pupillenerweiterung durch ... oft funktioniert die vertikale Augenbewegung ...«

Michael war unfähig, den Ausführungen kontinuierlich zu folgen, sein Kopf schmerzte, mit aller Kraft wehrte er sich gegen den aufkommenden Schwindel.

»Wann wird es möglich sein festzustellen, ob Hirnschäden ...«

»Bitte, Dr. Mauritz, nicht jetzt«, unterbrach unwirsch Dr. Friedrich.

»Also, Herr Hallstatt, erst müssen die körperlichen Verletzungen heilen. Sollte sich unsere Diagnose bestätigen, gibt es Möglichkeiten, eine Kommunikation herzustellen. Bis dahin raten wir Ihren Angehörigen, Sie zu besuchen und mit Ihnen zu sprechen, damit die Isolation nicht zu groß wird. Bei der nächsten Visite wissen wir mehr.

Michael wollte sich bemerkbar machen. Die vertikale Augenbeweglichkeit hatte Dr. Friedrich gesagt. Er musste die Lider bewegen können. Vergeblich! Die Erbitterung, die Enttäuschung und die Verzweiflung darüber, jemanden nicht zu erreichen, obwohl dieser direkt neben ihm stand, lösten eine nie zuvor erlebte Ohnmacht in ihm aus.

»Schwester Brigitte, sorgen Sie dafür, dass Herr Hallstatt ausreichend Schmerzmittel erhält, und melden Sie sofort, wenn eine Veränderung eintritt.«

Er hörte das Scharren und Knarzen von Schuhen, die sich fortbewegten. Jemandem rutschte beim Verlassen des Zimmers die Tür aus der Hand, und sie schlug mit einem dumpfen Laut zu. Er versank in eine Reglosigkeit, die über die seines Körpers hinausging.

Vollbremsung

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