Читать книгу Donnerschlag und Rattenschiss! - Heike Rau - Страница 7
4. Wo wohnt Anton?
ОглавлениеDas Landleben war anstrengend. Jeden Tag musste man sehr früh aufstehen. Aber nicht etwa wegen der Hühner oder dem Ziegenbock. Die konnte man auch später füttern. Der Ziegenbock hatte sogar die Angewohnheit, auf die Veranda zu kommen und mit seinen Hörnern an die Tür zu wummern, wenn er etwas anderes als Heu fressen wollte. Das tat er meist um die Mittagszeit. Wenn er dann fraß, war das der einzige Moment, wo er sich lieb verhielt und keine Anstalten machte, auf jemanden loszugehen. Sonst war er ein richtiges Biest. Reagierte keiner auf sein Klopfen, trabte er zum Briefkasten, angelte nach der Zeitung und fraß sie. Auch ließ er Mama nicht das Auto in die Scheune fahren, die sie eigentlich als Ersatz für eine Garage nutzen wollte. Der Bock postierte sich am Tor und kratzte mit den Hufen wie ein wütender Stier. Nur das Schnauben fehlte. Da wir uns aber kein neues Auto leisten konnten, musste Mama wieder einmal nachgeben.
Aber ich wollte euch ja eigentlich erzählen, wieso ich schon beim ersten Sonnenstrahl aus den Federn musste. Das Bäckerauto machte, wie ihr ja schon wisst, am Montag Punkt sieben den Anfang. Dienstag kam der Fleischer, Mittwoch und Freitag kam der fahrende Supermarkt und am Donnerstag der Fischhändler. Echt erschreckend, denn jeder hoffte, dass wir was kaufen würden. Sie hörten nicht auf zu hupen, bis sich jemand blicken ließ und sie ihre Waren anpreisen konnten. Ach, eins habe ich ja noch vergessen. Zweimal im Monat, aber nachmittags, kam die fahrende Bücherei. Auch das kostete Geld, war aber nicht übel.
Ansonsten brauchten wir dann doch dies oder das und eine Geldausgabe folgte auf die nächste. Mama musste mir deshalb einen Teil der versprochenen gemeinsamen Freizeit schuldig bleiben und gleich wieder mit ihrer Arbeit anfangen, um Geld zu verdienen. Und das, wo doch Schulferien waren. Aber Hauptsache sie war immer in meiner Nähe. Außerdem hatte ich den ganzen Tag genug zu tun. Anton zeigte mir die Gegend. Wir fingen Schmetterlinge, um sie wieder freizulassen. Wir trieben uns am See herum oder suchten Steine im Bach. Ich kannte mich bald überall gut aus, nur bei Anton zuhause war ich noch nie gewesen. Nicht mal in den Garten konnte man einen Blick werfen. Da waren überall dicke Holunderbüsche. Vielleicht wegen der Hexen. Ha, ha!
Anton hatte immer andere Ausreden: Der Garten wäre voller Unkraut, das Haus nicht aufgeräumt, die Kuh krank und außerdem mochte der Großvater keine Fremden.
Ich spielte einen Tag lang die beleidigte Leberwurst und ließ mich nicht vor dem Haus sehen. Anton ließ sich damit erpressen und wir verabredeten uns für den nächsten Nachmittag. Da wollte Herr Schrotkorn in den Wald. Bestimmt auf Hexenjagd, ich lach mich kaputt.
Vergnügt hüpfte ich die Treppe hinunter. „Mama, ich gehe zu Anton!“ Aber der Satz war umsonst. Mama saß am Tisch und arbeitete. Und sie ließ sich wie immer von nichts ablenken. Ich stellte mich vor den Tisch und rief: „Huhu!“ Aber nichts. Sie war voll konzentriert auf ihren Text. Dieser Zustand würde sich die nächsten zwei Stunden garantiert nicht ändern. Das kannte ich schon. Ich konnte beruhigt gehen. Anton wartete schon. Er half mir wie ein Kavalier über den Zaun und dann durch die Büsche.
„Du meine Güte, ihr habt ja eine komische Art, Holz zu stapeln?“ Die Holzscheite lagen fein säuberlich im Kreis zum riesigen Haufen aufgestapelt. „Äh, wie sammeln es für den Winter, der ist hier wirklich ziemlich kalt“, war die Antwort.
„Den Kamin möchte ich sehen, der muss ja riesig sein.“
„Sei nicht so neugierig“, fauchte Anton mich an.
„Na, gut“, sagte ich, „aber zeig mir endlich das Haus“
Das Haus war steinalt und ziemlich armselig. Eine uralte Bauernhütte eben. Noch 100 Jahre älter als unser Haus und sehr viel kleiner. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken. „Hm, schöne Möbel“, brummte ich vor mich hin, während ich drei Schritte auf und ab lief.
„Die habe ich alle selber zusammengeklopft“, erklärte Anton. Aber als ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, fügte er noch hinzu: „Na ja, mein Großvater hat mir ein bisschen geholfen. Überhaupt musst du die Unordnung entschuldigen. Ich mache hier fast alles alleine, einer muss sich ja um den alten Mann kümmern.“
Wahrscheinlich ist der alte Mann im Rollstuhl in den Wald gefahren, dachte ich bei mir.
Anton wischte sorgfältig den Staub von einem Hocker und bot mir einen Platz an.
Das Haus bestand eigentlich nur aus einem Raum. Die rechte Seite war mit einem Vorhang abgeteilt. Ich vermutete dahinter ein Bett. Gleich neben dem Vorhang saß ich dann mit Blick auf das spärliche Mobiliar. Aber die Schnitzereien an den Schränken und Regalen gefielen mir. Dann gab es noch einen großen alten Küchenherd, der mit Holz zu beheizen war. Davor stand ein Tisch mit Stühlen. Überall von der Decke baumelten getrocknete Sträuße von einst blühenden Holunderzweigen. Es roch wie im Teeladen.
„Hier oben ist mein Reich.“ Anton deutete mit dem Finger nach oben. „Willst du es sehen?“
Ich wollte. Eine Treppe gab es nicht, aber die Leiter genügte vollkommen. Hier oben war es gemütlicher. Anton hatte sogar für Blumen gesorgt. An den schrägen Wänden hingen bunte Landschaftsbilder, Postkarten und kleinere Poster. Man musste sich etwas nach hinten beugen, wenn man sie betrachten wollte. Auf dem kleinen Tisch vorm Fenster lagen Schulsachen und Hexenbücher.
„Das sind eigentlich alles dumme Geschichten, aber ich kann dir auch ein richtiges Hexenbuch zeigen.“
Ich wusste zwar nicht, was ein richtiges Hexenbuch sein sollte, aber ich wollte Anton nicht in Verlegenheit bringen, also stimmte ich zu. Jetzt war das Staunen auf meiner Seite. Anton hatte ein uraltes in Leder eingebundenes Buch vor mir auf den Tisch gelegt. „Das ist das „Hexenbuch“, das einzig wahre. Jede Hexe hat eine riesengroße Angst vor diesem Wälzer.“
Jetzt ging der Quatsch wieder los. Aber was soll’s, mal blättern konnte ich ja. Das Pergament war vergilbt und altersschwach. Hier stand ein haarsträubendes Zeug drin. Sogar Zeichnungen gab es. Jetzt wusste ich auch, was das Holz im Hof sollte: Das waren Scheiterhaufen.
„Was soll das?“, fragte ich. Ich spürte einen großen Frosch in meinem Hals und musste schlucken. “Du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass dein Großvater glaubt, dass es tatsächlich noch Hexen gibt und er sie jagt?“
„Es gibt sicher noch Hexen, aber es wird immer schwieriger sie aufzuspüren!“, antwortete Anton.
„Alles schön und gut“, stellte ich genervt fest. „Du bist nur im falschen Film, das ist Hunderte von Jahren her. Keiner glaubt mehr an Hexen. Heute jedenfalls nicht mehr.“
„Nicht mehr!“, schrie Anton. „Du gibst also zu, dass es mal anders war?“
„Was weiß ich! Du drehst mir ja das Wort im Munde herum. Du kannst mir keine Hexe zeigen, also gibt es keine!“
„Na, dann nimm doch ein paar von den Märchenbüchern mit!“ Anton machte Schielaugen und stöhnte. „Die passen zu dir.“
Hier gab es wohl nichts mehr zu sagen. Ich nahm demonstrativ zwei von den Büchern und kletterte die Leiter hinunter.
Ich wollte gerade die Türklinke herunterdrücken, da machte die Tür sich selbstständig und flog mit einem lauten Knall auf. Ich sah direkt auf eine breite Brust. Vorsichtig hob ich meinen Kopf und erkannte ein von grauem Bart halb verborgenes Gesicht. Der Großvater! Ich bekam einen mächtigen Schrecken und wurde rot bis zu den Haarwurzeln.
„Was machst du hier?“ Herr Schrotkorn packte mich mit seiner Pranke am Genick und zog mich nach draußen. Ich fühlte mich wie im Schraubstock. Zu Anton gewandt schrie er jetzt: „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst niemanden ins Haus lassen?“
Anton lief ebenfalls rot an. Herr Schrotkorn zog mich noch ein Stück höher und ich musste mich ganz schön strecken, um wenigstens mit den Fußspitzen den Boden berühren zu können.
„Zum letzten Mal, mein Bursche: Ich bin Jäger, ich hab Gewehre da drin. Das ist gefährlich!“
„Aber sie ist unsere neue Nachbarin, lass sie doch los!“ Mehr konnte Anton vor Angst nicht sagen. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, als erwartete er selbst aus dieser Entfernung noch Schläge. Das war ein Zeichen für mich. Ich holte aus und trat Herrn Schrotkorn vors Schienbein. Der hatte nicht damit gerechnet, lockerte vor Überraschung seinen Griff für einen Moment und ich ließ mich zu Boden fallen, rappelte mich wieder auf, stürzte durchs Gebüsch und sprang wie ein geübter Hürdenläufer über den Zaun. Das Tollste war, ich hatte die Bücher noch unterm Arm. Ich rannte ins Haus und achtete diesmal nicht auf Mamas Arbeitswut. Ich hechtete auf ihren Schoß. Da ich total aus der Puste war, bekam ich keinen Ton heraus. Ich wusste auch gar nicht, was ich hätte sagen sollen, da half mir Mama selber aus der Patsche. „Aber, aber, beruhige dich mal! Du bist ja ganz verschwitzt. Was ist denn passiert?“
Ich hechelte immer noch. Mama strich mir die durcheinandergeratenen Haare aus dem Gesicht. „Hat der dämliche Bock dich etwa erschreckt?“
Ich atmete auf. „Der Bock war’s, genau.“
Mama schaute mich ratlos an. „Wenn der so weiter macht, müssen wir ihm Baldrian ins Futter rühren.“ Der Gedanke war so komisch, dass wir beide lachen mussten.
„So, mein Schatz, ich werde noch etwas arbeiten und du solltest dich waschen gehen“, sprach sie, mit einem Auge schon wieder auf ihre Unterlagen blinzelnd.
Immer waschen! Warum erwarten Mütter immer von ihren Kindern, dass sie vor Sauberkeit blitzen? Ich kletterte von Mamas Schoß herunter und steuerte die linke Tür an. „Wah!“ Taumelnd hing ich am Treppengeländer der Kellertreppe.
„Hast du die wieder die falsche Tür erwischt?“, fragte Mama besorgt und machte sich auf den Weg zu mir. Ich schwang mich hoch und knallte die Tür zu. Mein Mund war ganz trocken. „Mama, du wirst es nicht glauben, aber der Keller ist jetzt links.“
Mama überzeugte sich, dass ich unverletzt war. „Na, der Bock hat dir ganz schön zugesetzt“, stellte sie fest und öffnete die Tür. „Siehst du, das ist das Badezimmer. Also, wasch dich jetzt! Ich koche dir einen Kamillentee.“
Vorsichtig setzte ich einen Fuß ins Bad. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn die Fliesen unter mir sich in die Kellertreppe verwandelt hätten, aber nichts passierte. Es war das Bad. Wie war das alles nur möglich? Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass Mama mir statt einer Tasse Kamillentee lieber eine ganze Kanne kochen würde. Die hatte ich bitter nötig.