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Emotion Caching

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Ein Klopfen ihres Handys lenkte Kim ab. Benni schickte einen YouTube-Link in die Cliquen-Gruppe. Schneller als erwartet. Sie folgte dem Link und Sekunden später lachte sie auf der Matratze liegend laut auf. Die beiden Rechten machten eine ziemlich miese Figur auf dem Film. Herrlich, ihre erschöpften und ratlosen Gesichter, als sie auf dem Asphalt der Straße saßen und dann Mehmets Ausklopfen seiner Hände und sein ironisch freundliches »Gülle, gülle«. Sie saßen da wie Idioten. Verdient hatten sie es! Kim teilte das Video in dreizehn weiteren Gruppen, in die man sie gegen ihren Willen eingeladen hatte. Zu irgendetwas mussten sie ja gut sein. Ihre Laune hob sich mit jedem Drücken der OK-Taste und sie fühlte sich fast schon wie eine Menschenrechtskämpferin. Rechts fand sie schon immer verächtlich. Unfairness gegenüber Robert und politische Korrektheit waren allerdings etwas völlig Unterschiedliches. Die Sache mit Robert war privat. Und wer war hier überhaupt unfair? Niemand zwang ihn, sich in ihr Leben zu drängen. Da musste er schon mit Widerstand rechnen.

Das Handy klopfte erneut. Benni schickte einen weiteren Link: Ihr Wortgefecht mit Haifisch auf der Kreuzung. Was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Kurz darauf hatte sie Benni am Ohr. »Hey, was soll das? Wir hatten doch gesagt, unsere eigenen Gesichter niemals in Nahaufnahme und schon gar nicht auf YouTube.«

»Kim, mach dir keinen Kopf. Hast du den eingeschränkten Zugriff auf das Video nicht gesehen? Nur die Clique!«

Kim lehnte sich wenig beruhigt zurück. »Trotzdem, verschieb es augenblicklich in unsere private Gruppen-Cloud. Ich will das nicht auf YouTube sehen! Jeder weiß, es braucht nur einen Klick von dir, um das mit dem Empfängerkreis zu ändern.«

Sie biss sich auf die Lippen, denn sie wusste, solche Äußerungen brachten Benni nur auf dumme Gedanken.

»Wir haben eine ganz schöne Sammlung bisher, findest du nicht? Wenn wir das alles öffentlich machen würden, könnten wir einen lustigen Kurzfilm draus basteln«, schwärmte er.

Kim klickte sich durch die Titel in der privaten Cloud. Die Liste solcher Filmchen war tatsächlich lang. Szenen mit wildfremden Menschen, deren zufällige Missgeschicke sie aufgezeichnet hatten, um sich anschließend bei Chips und Bier darüber zu amüsieren. Es war so eine Art Wettbewerb unter ihnen entstanden, wer die witzigsten Videos erstellt und ihre eigenen waren oft die besten. Am Anfang hatte Benni alle Aufnahmen veröffentlicht. Tausende Hits hatten sie angestachelt, bei ihren Ausflügen stets nach dummen Pechvögeln auf der Straße zu suchen, an deren Schicksal man sich laben konnte. Doch das hatte bald zu Ärger mit angesäuerten Mitmenschen geführt, deshalb belustigten sie sich seitdem lieber privat daran. Dieses Video mit den rechten Schlägern in Mehmets Laden allerdings war nun für jeden zugänglich. Hoffentlich wusste Benni, was er da tat. Schon jetzt verteilte es sich über alle möglichen Netzwerke im Internet und es zeigte 448 Hits. Benni vertrieb es als Anti-Rechts-Kampagne – wie edelmütig von einem, der sich einen Kehricht um soziale Gerechtigkeit scherte. Zwei Nutzer hatten das Video jedoch abgewertet und monierten entschieden, weil der eine der zu Opfern gewordenen Täter an der Stirn blutete. Kim schnaubte. Vermutlich waren das so weltverbessernde Sozialarbeiter oder Pädagogen. Sie kannte solche Typen, die jedem gerecht werden wollten, nur nicht denen, mit denen sie gerade sprachen. Genau so einer war Robert. Immer musste er alles hinterfragen und kritisieren, konnte niemals eine Bauchentscheidung gelten lassen. Wenig überrascht stellte sie fest, dass die beiden Kritiker ihrerseits von dreiundzwanzig anderen Usern mit blöden Kommentaren bombardiert wurden.

»Kim? Bist du noch dran?«

Sie hatte Benni am Telefon ganz vergessen. »Mal was anderes, ich hab dir von Robert erzählt …«

»… den Lover deiner Mutter … kommt der immer noch zu euch? Ist ja hartnäckig, der Kerl.«

»Er nervt gewaltig. Er muss hier weg.«

»Weg? Wie denn?«

»Ich weiß nicht … man sollte ihm einen Denkzettel verpassen. Aber mir fällt nichts Passendes ein. Vielleicht sollte ich ihm ganz einfach meine Mutter schlecht machen.«

Benni lachte auf. »Na, das sollte sich wohl machen lassen. Sag mal, als Haifisch dir drohte, dass er dich wie einen Katzenkadaver von der Straße kratzen will, war das da, wo er im Film diese blöde Fresse zeigte?«

Kim lachte. »Ja, aber das ist nichts gegen sein Gesicht vorher hinter dem Lenkrad. Das hast du nicht gesehen von deiner Position aus. Es war nicht blöd – das war animalisch!«

Als sie daran zurückdachte, an seine unkontrollierte Miene, die unbewusste Hervorkehrung tief im Inneren angestauten Hasses, an seine trommelnde Faust auf der Hupe – auf einmal empfand sie ein kurzes Frösteln, das über ihre Haut huschte wie ein scheues Tier. Es lief über ihre Arme und bewegte die feinsten Haare darauf. Ein ungewohntes Gefühl … Kim genoss diesen seltsamen kleinen Schauder. Er war prickelnd, berührend … »Ich wünschte, ich hätte das gefilmt. Echt, er sah aus wie ein Biest. Das hatte wirklich was! Ich würde es mir wieder und wieder ansehen.«

Die Härchen auf ihren Armen legten sich langsam wieder an die Haut. »So was sollten wir filmen und nicht diese kleinen bedauernswerten Kasperfiguren, die zufällig über ihre eigenen Beine stolpern.«

»Warum machen wir nicht so einen Wettbewerb, wer die krassesten Gesichtsausdrücke in der Kamera speichert?«, schlug Benni vor.

Kim ging das nicht weit genug. »Es geht nicht einfach um Gesichtsausdrücke, so was haben wir doch schon zur Genüge; blöde Gesichter zu blöden Situationen in ebenso blöden Filmen oder Fotos. Es geht um Gefühle! Wir sammeln Gefühle.«

»Gefühle sammeln?«

»Ja, die Gesichtsausdrücke reichen nicht. Die Gesamtkomposition muss stimmen. Die Menschen müssen ganz in ihren Gefühlen aufgehen, sie müssen ihre Empfindungen herausschreien. Dann ist das mehr, als nur ein blödes Gesicht. Wir brauchen explodierende Emotionen voller Leidenschaft: Freude, Trauer, Hass, Entsetzen, Verzweiflung … Angst …«

»Angst? … das wär was für mich. Ich glaube, ich sammle Angst.«

Schnaubend stieß Kim Luft aus ihrer Nase. »Du wieder! Also, ich dann auch … nein, besser Hass oder Entsetzen. Verzweiflung wäre auch nicht schlecht. Auf jeden Fall starke Gefühle, die mir die Haut strubbelig machen. Im Ernst, warum machen wir es nicht wie beim Geocaching? Nur anstatt idiotischer Pseudo-Schätze wie Plastikdosen, Münzen und sonstigen Quatsch, sammeln wir echte Gefühle. Nennen wir es … Emotion Caching!«

Benni überlegte kurz. »Emotion Caching? Klingt gut. Wir könnten sogar Koordinaten dazu austauschen. Das kann man ja fast eins zu eins umsetzen.«

»Die Aufenthaltskoordinaten unserer auserwählten Personen …«

»Ja, wer von einem Typen weiß, der einem Gefühlsausbruch nahe ist, gibt die Koordinaten durch.«

Kim schwelgte in Szenarien einer vielversprechenden, greifbaren Zukunft. »Und wer von uns in der Nähe ist, versucht das Ganze auf Video oder Foto zu bannen. Nur dann müsste man diese Menschen vorher auch sehr gut und lange beobachten. Reine Zufallstreffer wirklich aufregender Emotionsentladungen dürften ausgesprochen selten sein.«

»Machen wir es doch so wie mit Haifisch und helfen ein bisschen nach«, legte Benni mit hässlich verschlagener Stimme nahe. »Pflanzen wir den Leuten die gewünschten Gefühle doch einfach ein, anstatt auf einen Zufall zu hoffen.«

Kim stutzte. Gefühle einpflanzen. Bennis ungewöhnliche Wortfindung übertraf ihre eigene Vorstellung von Emotion Caching um einen tückischen weiteren Schritt. Er hatte recht, sie hatte Haifisch sehr lange provozieren müssen, bis er seinen Hass so deutlich zeigte. »Wahrscheinlich muss Einiges zusammenkommen, bevor jemand so enthemmt reagiert, wie wir es gerne hätten«, überlegte sie laut. »Wenn jemand Hass empfinden soll zum Beispiel, dann reicht wohl kaum ein einziger Vorfall aus, ihn derart wütend zu machen, wie wir es bei Haifisch erlebt haben.«

»Ich sagte ja einpflanzen. Das bedeutet, dass man es sät, um es dann langsam wachsen zu lassen. Und dann ernten wir es.«

»Benni, wenn ich darüber nachdenke, klingt das irgendwie krank … und auch ganz furchtbar spannend. Wir sollten mit den anderen darüber reden. Aber zuerst mache ich mir Gedanken, was ich mit Robert anstelle.«

»Lass das mal meine Sorge sein.«

»Nee, lass mal – Robert gehört mir, genauso wie Haifisch. Aber wenn du eine Idee dazu hast, klär mich auf. Umsetzen kann ich es dann schon selbst. Er soll auch besser nicht merken, dass da was von mir initiiert wurde. Auf den Stress mit meiner Mutter hätte ich keinen Bock, so abgehärtet ich auch bin. Meine Mutter ist ein wirklich harter Brocken … Ach ja, und Benni …«, sie verdüsterte ihre Stimme, »… wehe, ich finde das Video mit meinem Gesicht in der Öffentlichkeit! So wahr ich hier sitze – dann bringe ich dich um!«

»Uaahhh, da wird mir aber mulmig! Vor so was scheinst du aber richtig Angst zu haben.«

»Angst? Nee, ich kenne keine Angst, glaub mir. Wer mir Angst machen will, muss sich schon mehr einfallen lassen. Ich glaube, das schafft keiner.«

»Glaubst du? Na ja …«

»Treffen wir uns morgen bei Mehmet und besprechen Emotion Caching mit den anderen. Es sei denn, du willst Lena nicht mit dabei haben.«

»Lena?« Benni zögerte kurz. »Ach, lass sie mal mitmachen. Sie ist niedlich und bestimmt ist sie uns nützlich.«

»Ich meine nur, sie ist schon verdächtig lange an deiner Seite. Wenn du sie übermorgen schon wieder zum Teufel jagst, sollte sie nicht morgen in unsere geheimsten Pläne eingeweiht werden. Ich habe keine Lust, von ihr verpfiffen zu werden. Die Filmerei hat uns oft genug Ärger eingebracht.«

»Mach dir darüber keine Sorgen. Lena hab ich genauso im Griff wie jeden anderen.«

Kim horchte auf. »Hey, aber mich hast du nicht im Griff. Das schminke dir mal ab. Nico vielleicht und deine dauernd wechselnden Freundinnen, aber nicht mich.«

»Schon klar …«

»Und wie klar!«

Nach dem Gespräch durchstöberte Kim ihre Filme und Fotos in der Cloud, die sich seit den letzten zwei, drei Jahren in ihrem passwortgeschützten Dateiordner anhäuften. Sie hatte noch einen weiteren sehr privaten Ordner. Darauf sammelte sie nur für sich Handyfotos ihr völlig fremder Menschen, deren Gesichter sie derart fasziniert hatten, dass sie dem Verlangen, sie für sich zu verewigen, nicht hatte widerstehen können. Es war so ziemlich alles dabei, was sie an sich selbst vermisste: Strahlendes Lachen, Ergriffenheit, eine lachende Oma mit ihrem Enkelkind, ein weinender Mann vor seinem vom Blitz zerstörten Haus aus ihrer Nachbarschaft, Bilder mit Momentaufnahmen echten Lebens, die sie jetzt nicht zum ersten Mal mit einer Mischung aus Unbehagen und Sehnsucht betrachtete. Sie war eine gute Fotografin, fand sie. Vielleicht wäre das ein Beruf für sie. Aber wer brauchte heute noch Fotografen?

Da – das Foto von dem völlig niedergeschmetterten Mädchen, deren Pferd auf der Weide an einer Kolik gestorben war. Es weinte sich die Seele aus dem Leib.

Warum konnte sie selbst nie einfach mal losheulen, wie die Menschen auf ihren Fotos? Nicht einmal auf der Beerdigung ihres Vaters soll sie geheult haben und da war sie erst vier Jahre alt gewesen.

Kim fügte ein Standbild von Haifisch aus Bennis Film zu den Fotos in den Ordner ein. Es zeigte ihn völlig außer sich vor seinem Golf stehend und vor Kims lächelnd triumphierender Miene. ›Wut‹ schrieb sie unter die Bilddatei, als sie diese abspeicherte. Oder sollte sie ›Hass‹ schreiben? Hass schien ihr angemessener. Oh ja, er hatte ihr den Tod gewünscht, einen blutigen Tod, wie den von einem Stück Vieh, um das sich niemand scherte. Er wünschte ihr quasi, ein Fall für die Tierkörperbeseitigung zu werden. Sehr aussagekräftig. Sein violettes Gesicht war nahezu der personifizierte Ausbruch ungehemmten Hasses.

Was hätte sie dafür gegeben, wenn ihre Mutter sie einmal so angeschrien und ihr alles erdenklich Teuflische an den Hals gewünscht hätte, wie dieser Mann auf dem Foto. Was Kim sich auch abrang, ihre Mutter Sofie blieb ein Eisberg, an dem Kims aufkeimende Gefühle langsam, aber unaufhaltsam aufrissen und schließlich untergingen. Kim war das auslaufende Schiff und aus Sofies Gesicht wehten ihr nüchterne, kühl berechnete Worte wie ein arktischer Wind entgegen. Wo aber hatte ihre Mutter selbst die Wärme des Lebens gelassen? Im leeren Grab ihres Mannes? Hatte Kims Vater ihre ganze Liebe mitgenommen?

Kim änderte den Dateinamen zu Haifischs Bild in ›zügelloser Hass‹.

Und sie selbst? War sie nur wütend auf Robert? Oder hasste sie ihn bereits? Wut und Hass schienen ihr die einzigen Emotionen, zu denen sie selbst eine stärkere Regung beisteuern konnte. Kim rief eine Liste emotionsgeladener Wörter auf den Bildschirm. Es waren unglaublich viele. Einige davon trieben als Dateinamen auch schon ein Dasein auf ihrem Computer. Viele aber fehlten ihr noch. ›Euphorie‹ zum Beispiel – das war mehr als nur Freude. Wie konnte man sich mehr als nur freuen? Worüber konnte man sich mehr als nur freuen? Es war unvorstellbar für Kim. Sie trug ›Euphorie‹ gemeinsam mit einer Reihe anderer Wörter in eine Liste ein, die ursprünglich zum Katalogisieren der Fotos gedacht war, nun aber zu einer Art Aufgabenzettel wurde. Sie wollte das alles einsammeln.

***

»Ihr habt das Video veröffentlicht?« Mehmet hielt die eingeatmete Luft auffallend lange an, bevor er von einer unheilvollen Ahnung getrieben etwas zittrig weitersprach. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war.«

Sie saßen zu viert in seinem Imbiss an einem der zerkratzten und bekritzelten Lacktische und stocherten mit den Holzstäbchen in ihren Pommesschalen. Die roten Kunstledersitze waren so durchgesessen, dass man wie in einem Loch versackte. Jeder von ihnen sah im Sitzen mindestens zehn Zentimeter kleiner aus, als er wirklich war. Im Hintergrund lief türkische Popmusik und an den vergilbten Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien aus Mehmets Jugend in Anatolien, inklusive des obligatorischen Eselskarrens seines Großvaters, ein paar Bilder seiner zahlreichen Kinder, daneben die der ersten Enkel. Und daneben Kims Lieblingsbild: Ein Foto von Mehmet und ihr, das einzige, das gemeinsam mit ihm existierte – aufgenommen in seinem Laden, auf den durchgesessenen roten Sitzen. Nico hatte es im Sommer geschossen, als sie ihren Schulabgang bei ihm gefeiert hatten. Mehmet hielt sie im Arm und lächelte so nachsichtig, wie sie sich immer das Lächeln ihres Vaters vorstellte. Nur war Mehmet sehr viel älter und darum glich er für sie mehr einem gutmütigen Opa. Vor ihm auf dem Foto, ihr eigenes Gesicht: So glücklich für diesen einen Moment, anders als sonst, so ganz ohne diese missmutige und kritische Dauerfalte zwischen ihren Augen.

Nico rief mit dem Mund voll türkischer Pizza: »Der Film ist der Hammer. Wir haben schon über 6.000 Hits! Krass!« Und er verteilte seine Aura in Form angekauter Krümel im Raum.

»Halt die Klappe, wenn du isst! Kennst du keine Tischmanieren?« Kopfschüttelnd wischte Kim um ihren Teller herum.

Mehmets sorgenvolles Gesicht nahm sie nur am Rande wahr. Emotion Caching beherrschte ihre Gedanken – und Robert, dessen Namen sie sich während des erneuten Eingipsens ihres Armes tags zuvor im Krankenhaus dann doch verkniffen hatte. Zu dem musste sie sich später noch Gedanken machen.

Kim wartete ab, bis Mehmet wieder in angemessener Entfernung hinter seinem Tresen stand und den Rost des Würstchengrills schrubbte.

»Es ist wie beim Geocaching«, sagte sie. »Ihr müsst euch das so vorstellen: Der Mensch beherbergt einen Schatz, nämlich das Gefühl, die Emotion.«

»Du meinst, er ist quasi die Schachtel, das Gehäuse dafür?«

»Ja, sehr scharfsinnig, Nico! Dieser Schatz muss erst geborgen werden, denn er ist tief vergraben, wie das mit Schätzen so üblich ist. Das heißt, man muss ihn aus demjenigen herauskitzeln, den wir dafür ausgewählt haben. Ich habe schon eine ganze Reihe intensiver Gefühle mit meiner Kamera festgehalten, wie ihr wisst. Das war alles so lala. Aber als ich mir gestern Bennis Aufnahmen von Haifisch angesehen habe, da überwältigte mich glatt ein kleiner Schauer, versteht ihr?«

Die drei sahen sie eine Weile amüsiert an. »Nö!«, meinte Nico dann.

Kim suchte nach einer passenden Beschreibung, ihre Vision von Emotion Caching in die Köpfe der anderen einzutrichtern. »Es macht nicht wirklich Spaß, die zufälligen kleinen Missgeschicke wildfremder Menschen auszuschlachten und ihnen dann beim Heulen zuzusehen. Man muss erst ein bisschen daran arbeiten, dann entfaltet der Gefühlsausbruch seine ganze Intensität. Denkt doch mal an die Aufnahmen mit dem Typen, der hier ein bisschen blutend vor Mehmets Laden auf dem Boden saß, und dann vergleicht das mit dem Film von Haifisch. Da ist so viel mehr hinter – jedenfalls für mich. Alleine deshalb, weil man es vorbereitet hat. Man baut gewissermaßen eine Verbindung zu seinem Cache auf, packt was in ihn hinein … und dann … dann öffnet man die Schachtel.«

»Was Kim meint, ist: Wir pflanzen ihnen diese Emotionen ein und ernten sie dann, indem wir das filmen, sammeln und genießen«, ergänzte Benni, der auch gleich seine eigene Vorstellung mit ins Spiel brachte. »Ganz nach dem Ursache- und Wirkungsprinzip. Wenn du willst, dass sie heulen, dann gib ihnen einen Grund dafür. Wir schreiben quasi vorher ein gedankliches Drehbuch, nur die Statisten wissen nichts davon.«

»Das ist ja wie bei Verstehen Sie Spaß.« Nico zeigte sich begeistert. »Genial! Man könnte sie sogar kennzeichnen – ein paar Haare mitnehmen, zum Beispiel, oder ihnen eine Narbe zufügen. Damit hat man sich auf seinem Cache verewigt.«

»Narben zufügen?« Kim lachte. Interessanterweise fiel ihr bei diesen Worten gleich wieder Robert ein. Der Gedanke, sich derart auf seinem Körper zu verewigen, barg sofort einen Anflug von geistiger Befriedigung für sie. Sie sah, ohne es zu wollen, ein scharfes Taschenmesser vor sich. Eine böse Vorstellung. Kim versuchte halbherzig, sie zu verwerfen … eine feine geritzte Linie zwischen den grauen Haaren seines speckigen Unterarmes … das ist ein ziemlich gemeiner und unsozialer Gedanke, er hat mir schließlich nicht wirklich etwas getan … ein Paar ängstlich aufgerissene Augen … ich sollte das lassen … Blut … nur ein kleines bisschen des roten Saftes … man müsste ihn ja nicht gleich aufschlitzen

Kim schüttelte stumm den Kopf, um die düstere Wolke, die sich darin auftürmte, herauszuschleudern. Sie fühlte sich durchaus in der Lage, Robert mit eleganteren Waffen zu schlagen, als mit einem Taschenmesser; elegant, gewieft und unentrinnbar.

»Ich weiß nicht … ich meine … darf man das? Wenn das rauskommt …«

Wie zu erwarten, kam der Einwand von Lena.

Lenas ständige Bedenken bei allem, was man in irgendeiner Art gewagt nennen konnte, ging Kim auch diesmal gehörig auf die Nerven und sie reagierte entsprechend patzig. »Was soll denn da rauskommen? Wir müssen das doch nicht so öffentlich machen, dass auch ja jeder gleich auf uns kommt. Das bleibt alles schön in der privaten Cloud, so wie bisher auch.«

und in meinem privaten Archiv, dachte sie.

»Ja, wir müssen geschickt vorgehen. Wie absolute Profis!« Weitere unzählige Krümel verbreiteten sich über den Tisch.

»Das sagst ausgerechnet du, Hackfresse!« Benni legte seinen Arm auf Lenas Schulter ab, als wäre sie die Lehne eines Sessels und blickte in die Runde, während Lena dasaß, wie eine zarte nach vorne gefallene Marionette.

»Ob man das darf, interessiert mich eigentlich nicht«, prahlte Benni. »Aber in einem hat Lena natürlich recht: Wenn das rauskommt, gibt es mindestens genauso viel Ärger, wie wir ihn schon wegen diverser Filmchen an der Backe hatten, bevor wir sie unter Verschluss genommen haben. Und es kann noch schlimmer kommen. Ich erinnere euch nur an meine banalen Fotos am Schulklo – damals wäre ich kurz vor dem Abschluss fast noch von der Schule geflogen.« Er zog seine Stirn kraus und sah sichtlich betroffen zu Boden, dann sprach er etwas leiser nahezu mit sich selbst. »Ich musste zehn beschissene Sozialstunden mit kreischenden Gören im Jugendhaus ableisten. Das war kein Spaß.« Nach fünf stummen Gedenksekunden kam sein Kopf wieder hoch. »Tatsache ist, wenn wir die Leute zu offensichtlich filmen, ist es schon riskant. Wenn wir sie vorher auch noch manipulieren, um ihren entgleisten Gesichtsausdruck einzufangen, geht das einen Schritt weiter. Was wir brauchen, ist die Gewissheit, dass keiner von uns – absolut keiner – das ausposaunt.«

Alle Augenpaare fielen gleich auf Lena, die sich vergeblich in ihrem Sitzloch aufzurichten versuchte. Es ging auch schlecht, denn Bennis Arm lastete auf ihrer Schulter wie ein Baumstamm.

»Warum starrt ihr mich alle an? Ich sag niemandem was!«, stammelte sie kleinlaut.

Ein für Lena unangenehmes Schweigen übermannte die kleine Runde, bis Nico das Wort ergriff.

»Und womit fangen wir an?«

»Mhm …« Benni spielte mit seiner Zunge in der Wangentasche. Dann schweifte sein Blick suchend durch Mehmets Schaufenster nach draußen. Dort fiel sein Augenmerk auf zwei jüngere Frauen, die sich nur wenige Meter entfernt rege unterhielten. Blond gefärbte Pferdeschwänze wippten an ihren Hinterköpfen und ihre Jeans saßen hauteng an etwas zu gut gepolsterten Hüften. Eine von ihnen schaukelte routiniert einen Kinderwagen hinter ihrem Rücken hin und her, während sich ein etwa Zweijähriger ein Stück weiter gelangweilt um ein Straßenschild drehte.

»Passt auf, jetzt zeige ich euch gleich mal, was echte Freude ist«, sagte Benni mit einem Tonfall, der Kim an das Zischen einer bösen Schlange erinnerte. Was schlängelte sich da gerade aus seinen mit Hinterlist gefüllten Hirnwindungen heraus?

Benni erhob sich aus seinem Sitz und quetschte sich zwischen Kims Beinen und der Tischkante hindurch. An Kims Knien blieb er hängen und grinste ihr ins Gesicht. »Hast du je etwas Männlicheres so nah bei dir gehabt?«

»Wenn du dich nicht augenblicklich verziehst, gibt es bald nichts Männliches mehr an dir.«

Eine warnende Erinnerung an Kims Kickbox-Training schien Benni einzuholen. Sein Grinsen erstarb schneller, als es aufgetaucht war, und er sah zu, dass er zügig aus der Reichweite ihrer Knie kam. Kim verzog den Mund. Sie hatte nicht die geringste Lust auf irgendetwas Männliches in der Nähe ihrer Beine, jedenfalls nicht jetzt. Ihre Mutter schon – leider – eine Tatsache, die sie hasste. Und das nicht ändern zu können, hasste sie noch mehr. Manchmal erschienen ihr die Menschen nicht anders als instinktgetriebene Tiere: Fressen, kämpfen, vermehren, Macht ausüben …

Sie beobachtete mit den anderen, wie Benni sich vor die Ladentür begab, um irgendeinen perfiden Plan Wirklichkeit werden zu lassen, der aus seinem tierischen Gehirn heraus an die Außenwelt wollte. Wozu? Um Macht auszuüben? Alles passte stets in diese vier Begriffe, die aus den Instinkten krochen. Nur das Hinterhältige an Bennis Vorgehen war ganz sicher eine besondere menschliche Eigenart. Nein, der Mensch war wohl mehr als ein gewöhnliches Tier … er war ein besonders arglistiges Tier … Sie musste zwar zugeben, dass sie sich selbst keineswegs wie ein Unschuldsengel auf dieser Erde aufführte, aber Benni hätte sie alles zugetraut.

Es ging erschreckend schnell. Kaum eine halbe Minute später betrat Benni den Laden erneut – an seiner Hand das völlig arglose Kind. Kim beäugte die beiden misstrauisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Benni irgendetwas Gutes im Schilde führte, um echte Freude aus dem Kleinen herauszukitzeln. Sie war sich sogar ganz sicher, dass ihm die Gefühlslage eines Kindes nicht einen Cent bedeutete. Das unterschied ihn ganz deutlich von ihr.

Mehmet arbeitete hinten in der Küche und so blieb Bennis Griff in das große Glas mit den bunten Lutschern, das für die kleinen Gäste des Dönerladens auf dem Verkaufstresen stand, unbemerkt von ihrem alten Freund. Verlockend hielt Benni den aus der knisternden Verpackung geschälten Lutscher nach unten und grinste augenzwinkernd in die glänzenden Augen seines kleinen Begleiters.

Kim blickte kurz durch das Schaufenster – bisher hatte die Mutter des Jungen den bedeutsamen Verlust hinter ihrem Rücken nicht mal bemerkt. Wie leichtsinnig.

Doch jetzt rührte sie sich und auf einmal ergriff beide Frauen da draußen eine auffallende Hektik. Sie drehten sich um sich selbst, suchten mit unruhigen Augen das Umfeld ab und konzentrierten sich bald auf die angrenzende Kreuzung.

Tja, dachte Kim, das hätte natürlich auch passieren können.

Wenn sie mal Kinder hätte, würde sie mit jeder Gefahr rechnen und ganz sicher besser aufpassen. Obwohl, wollte sie überhaupt welche? Musste sie dann nicht auch den Mann dazu einkalkulieren? Der Gedanke an einen Partner, auf den sie alle Nase lang Rücksicht nehmen müsste, nicht spontan das tun zu können, wonach ihr war … das wollte sie jedenfalls nicht … und warum um alles in der Welt sollte sie sich dann von einem Rotzblasen schnaufenden, gierigen Winzling auf zwei tollpatschigen Beinen im Leben einengen lassen? Wieso wollten fast alle Frauen auf der Welt Kinder?

Der Kleine mit den feinen blonden Haaren und den großen dunklen Augen am Tresen quäkte: »Haben!«, und auf Zehenspitzen griff er mit ausgestreckten Armen und wie Fächer ausgebreiteten Fingern nach dem fast unerreichbaren Lutscher über ihm … wieso waren diese kleinen Geschöpfe aber auch so süß? Kim lächelte in sich hinein. Vermehren, ging ihr durch den Kopf. Auch das passte in ihre Theorie mit den Instinkten. Sie blickte zu Lena. Deren Gesicht sah gerade aus wie schmelzende Butter.

Mit einem lauten Knall sprang die Klinke der Ladentür gegen den Rahmen und die Mutter des Kleinen stand im Raum wie ein aufkommender Sturm. Kims Augen fielen auf den Tresen, an dem Benni eben noch den Jungen mit der Süßigkeit gelockt hatte. Sie standen nicht mehr dort.

»Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen?« Die Mutter war sichtlich aufgewühlt. Ihre Augen versprühten Ungeduld und Angst.

Der ahnungslose Mehmet, der inzwischen wieder hinter dem Tresen aufgetaucht war und sich mit einem Handtuch die Hände abtrocknete, schüttelte verwundert den Kopf. »Was denn für einen Jungen?«

Allmählich überkam die Frau ganz offensichtliche Panik. Fahrig suchte sie die Bänke ab, riss den Kopf hin und her. Als sie merkte, dass ihre Suche erfolglos blieb, starrte sie hilfesuchend auf Kim, Nico und die noch blasser gewordene Lena.

»Habt ihr einen kleinen Jungen gesehen?«, wiederholte sie mit unkontrolliert hoher Stimme.

»Wieso? Haben Sie Ihr Kind denn aus den Augen gelassen?«

Kim erkannte Bennis ruhige und Unschuld höhnende Stimme hinter sich und wandte sich um. Er kam aus der Richtung des Vorratslagers, nur das Kind hatte er nicht mehr bei sich. Kim fragte sich, wo er den Kleinen gelassen hatte und vor allem, mit welcher Pointe er sie alle nun überraschen wollte. Wozu inszenierte er das alles? Man sah ihm nichts an, weder einen Anflug von Aufregung noch einen verräterischen Blick, allenfalls ein kleines bisschen Schadenfreude um die Mundwinkel. Aber dazu musste man ihn schon genau kennen. Es mochte sein, dass Fremde in ihm auf den ersten Blick als so eine Art Wunsch-Schwiegersohn sehen mochten … solange, bis sie ihn wirklich kennenlernten.

»Können wir Ihnen vielleicht helfen?«, säuselte er der verzweifelten Mutter zu, auf die er, einen Kopf größer, herabblickte. Seine Stimmlage bereitete Kim fast schon einen Würgereiz. Was für ein Heuchler! Nein, so abgebrüht war selbst sie nicht. Kim war bestimmt schroff, wahrscheinlich sogar hartherzig, aber so hätte sie niemals lügen können.

»Mein Kind ist weg! Verstehen Sie? Mein Kind ist weg!« Die Mutter wurde schrill. Anscheinend konnte sie die stoische Ruhe, die von der Clique ausging, nicht verkraften.

»Ja, haben Sie es denn nicht beaufsichtigt? Sie, als Mutter.« Benni stand jetzt noch näher vor ihrem inzwischen zitternden Körper und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Es könnte ja überfahren werden!« Sein Blick schwenkte nach draußen auf die viel befahrene Kreuzung. »Mein Gott …«Die Frau stürmte zur Tür hinaus.

Mehmet sah ihr besorgt und ratlos hinterher.

Nach einem Moment der Stille, in der Benni endlich seinen Spaß an der Sache nicht mehr verleugnen konnte und sein Grinsen dem von Hackfresse ausgesprochen ähnelte, fasste sich Lena. »Du bist so was von fies!«

Zu Kims Erstaunen erhob sie sich energisch und stellte sich Stirn an Stirn ihrem Freund gegenüber. »Wo ist er?«, fragte sie leise, aber ihr fordernder Ton drang bis in Kims Ohren.

Benni konnte sich kaum noch halten und sein zwanghaft zurückgehaltenes Lachen platzte etappenweise aus seinem Mund. »Der kleine Gierlappen sitzt schmatzend im Besenraum und lutscht Süßes. Kein Grund zur Sorge.«

Es schien ihm nicht im Geringsten zu missfallen, dass sich seine Freundin ihm offen entgegenstellte; gerade so, als wenn er es von ihr erwartet hätte.

Einen Augenblick später lief Lena mit einem total verklebten Kind an der Hand und verbissenem Gesichtsausdruck nach draußen. Vorbei an Mehmet, der fast den schweren frischen Dönerspieß fallengelassen hätte, als er den Jungen sah.

»Hallo, ich hab ihn gefunden!«, hörten sie Lena draußen vor der Tür rufen.

Kim und die Jungen stierten auf die Szene vor der Schaufensterscheibe.

»Jetzt gut aufpassen!«, mahnte Benni und hob einen Zeigefinger in die Höhe.

Wie eine Tsunamiwelle raste die Mutter auf den Kleinen zu und erdrückte ihn fast zwischen ihren ergreifenden Armen, ohne dass der Kleine eine Ahnung hatte, was überhaupt los war. Für ihn schien nur der Lutscher wichtig zu sein, den er noch in der Hand hielt und der bestimmt schon sein dritter war. Jedenfalls drohte er, das Objekt seiner Lust in der erstickenden Umarmung zu verlieren.

»Seht ihr«, sagte Benni trocken. »Das ist echte Freude.«

Kim ließ ihren Oberkörper zurück an die Lehne ihres Sitzes fallen und betrachtete eine Weile das triumphierende Gesicht ihres Gegenübers.

»Nicht schlecht«, sagte sie.

»Nicht wahr?«, flüsterte Benni, sodass Mehmet vorne nichts mitbekommen konnte. »Und wenn man das Ganze dann noch lange und gut genug vorher plant – das heißt, die Trennung von nachlässiger Rabenmama und Balg eine Weile hinzieht – dann hat man anstatt Freude sogar Euphorie. So einfach ist das. Man muss nur ein bisschen kreativ sein.«

»Außerdem bekommt man eine Anzeige wegen Kindesentführung«, bemerkte Kim.

»Der Kleine kann doch noch gar nicht großartig sprechen. Außerdem bin ich sicher, dass die liebe Lena der Frau da draußen die richtige harmlose Erklärung auftischt. Wir haben ihn doch eben erst entdeckt, nachdem wir ihn gesucht haben, oder? Und sei mal ehrlich, meine Mutter hätte besser auf mich aufgepasst. Die Alte ist doch wohl selbst schuld.«

»Du bist ein echtes Arschloch, weißt du das?«, sagte Kim und blickte noch einmal nach draußen. »Aber irgendwo hast du auch recht.«

»Ich weiß!«

***

Zu Kims Überraschung tauchte Robert in den nächsten Tagen nicht zu Hause auf. Jedenfalls nicht, wenn Kim zugegen war. Ein zarter Hoffnungsschimmer erwuchs in Kims finsterer Aura, den womöglich auch ihre Mutter zu schätzen wusste. Die Reibereien mit ihr flauten auf ein erträgliches Maß ab und Kims Aktivismus, nach einer Endlösung des Problems Robert zu suchen, schrumpfte zeitgleich auf ein Minimum.

Das so verdrängte Ärgernis schuf Platz für Gedanken über die eigene Zukunft. Die Sache mit der Fotografie ließ Kim nicht mehr los. War es möglich, von so etwas zu leben? Fotos konnte in der digitalen Kamerawelt schließlich jeder schießen. Ganz sicher gab es auch genügend begabte Menschen, die faszinierende Motive gut in Szene setzten.

Aber Kim wollte noch mehr schaffen. Sie glaubte, das Zeug zu haben, Menschen mit ihren Fotos aufzurütteln, ihnen das Antlitz des wahren Lebens zu zeigen, manche hinter ihren Masken zu entlarven. Sie träumte davon, überwältigende Fotos von den Missständen auf der Welt zu machen. Vielleicht fiele es sogar in ihre Hände, mit ihren Bildern Veränderungen anzustoßen. Bei Greenpeace brauchte man bestimmt mutige Fotografen, die weder das Risiko scheuten, eine körperliche Gefahr einzugehen, noch Angst vor Drohungen einflussreicher Macher hatten. Mutig war sie! Ein Duckmäuser war sie nie gewesen. Die Fotografie beherbergte ein unerschöpfliches Potenzial für sie.

Sie hatte jetzt schon Tage darüber nachgedacht und verschmolz immer mehr mit ihrem neuen Ideal.

»Ich könnte mir vorstellen, Fotografin zu werden«, sagte Kim unvermittelt, als sie morgens mit ihrer Mutter gemeinsam beim Frühstück saß.

Sofie stellte das Kauen ein und blickte von ihrem etwas zu dunkel gerösteten Toast, auf das sie gerade Frischkäse schmieren wollte, zu Kim auf. Offenbar war sie irritiert von dieser für sie spontanen Idee.

»Wo werden denn heute noch Fotografen eingestellt?«, fragte sie, indem sie nach einem kurzen Zögern weiter schmierte.

»Erst mal müsste ich sehen, wo ich das richtig lernen kann. Ich meine die komplette Technik, das Know-how … das ist ein anerkannter Ausbildungsberuf.«

»Endest du da nicht in einem Fotogeschäft, wo du den ganzen Tag Passbilder ausdruckst und Bilderrahmen verkaufst? Du könntest sicher viel mehr aus dir machen.«

»Ich könnte Foto-Künstlerin werden, Reisefotografin, oder bei Greenpeace …«

»Ach, Kind …«

Das reichte Kim. Mehr brauchte Sofie gar nicht zu sagen. Natürlich war auch dieser Wunsch nicht das, was sie hören wollte. Nichts war solide genug. Alles, wovon Kim zu träumen wagte, schien Mist in den Augen ihrer Mutter zu sein.

Kim zerdrückte mit der Faust ihr geöffnetes Frühstücksei, sodass die weiße Schale in kleinen Splittern in ihre Haut stieß, und das halbweich gekochte Innere nach oben auslief. Sie erhob sich und schmiss es auf den Tisch vor den Teller ihrer Mutter.

»Kim, nun hör mal …« Sofie zwinkerte auffallend, wahrscheinlich ein bisschen schuldbewusst, aber Kim sah in solchen Momenten immer nur die Berufspädagogin in ihr, die sie behandelte wie eine ihrer Sechstklässlerinnen.

»… so habe ich das nicht gemeint«, fügte Sofie hinzu.

»Vergiss es!« Schon drehte sich Kim zur Seite, auf dem Weg, diesen Ort der Nichtachtung zu verlassen.

»Nein, bleib doch mal hier.«

Kim wusste nicht warum, aber sie blieb stehen. Womöglich musste sie einfach hören, was ihre Mutter zu sagen hatte, um sich hinterher nicht den Kopf zu zermartern, was sie denn nun hatte sagen wollen.

»Ich finde es toll, dass du wieder einen neuen Berufswunsch hast. Wirklich, das musst du mir glauben; auch wenn es dein Hundertster ist. Von mir aus kannst du gerne versuchen, dich als Künstlerin durchs Leben zu schlagen. Hauptsache, du machst etwas Sinnvolles. Ich habe in letzter Zeit das Gefühl, dass du sehr destruktiv durchs Leben gehst.«

»Kriegsberichterstatter!«

»Wie bitte?«

»Ich gehe in den Nahen Osten und fotografiere im Gazastreifen oder ich gehe nach Afghanistan. Hab mich schon erkundigt, wie man dahin kommt. Wer weiß, vielleicht kämpfe ich gegen Terroristen oder vielleicht auch gegen die anderen. Ist doch scheiß egal!«

»Was? Also Kim …«

Absolut nicht mehr hungrig schritt Kim zur Garderobe, nahm ihre Jacke und verließ das Haus. Sie nahm in Kauf, dass sie den halben Tag alleine durch die Stadt laufen musste. Am Nachmittag wollte sie sich mit den anderen treffen. Nico hatte angeblich das ultimative Euphorie-Gefühl eingefangen. Na, so schnell realisiert, konnte das ja nichts Besonderes sein.

EMOTION CACHING

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