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Prolog
ОглавлениеAlle Jahre wieder
Von: Sekretariat Geschäftsleitung
An: Großer Verteiler (alle Mitarbeiter)
Betreff: Weihnachtsfeier – SEHR WICHTIG!
Datum: Montag, 04. November 2013 08:53 Uhr
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Die Geschäftsleitung möchte Sie hiermit ganz herzlich zu unserer diesjährigen Weihnachtsfeier einladen.
Anlässlich unseres zwanzigjährigen Firmenjubiläums haben wir uns in diesem Jahr etwas ganz Besonderes für Sie ausgedacht: Wir fahren nach Helgoland und werden dort zwei unvergessliche Tage miteinander verbringen!
Traditionsgemäß findet unsere Weihnachtsfeier immer in der letzten Woche vor Heiligabend statt, und so wollen wir es auch in diesem Jahr halten. Wir starten am Montag, dem 16. Dezember, aufs Mehr hinaus mit der Fähre Richtung Helgoland.
Der Dienstag steht ganz im Zeichen der Unterhaltung. Als Belohnung für Ihre großartigen Leistungen im abgelaufenen Geschäftsjahr und zur Vorbereitung auf neue Herausforderungen haben wir uns ein interessantes Programm einfallen lassen. Der Spaß steht dabei natürlich im Vordergrund!
Am Dienstagabend treffen wir uns zur Weihnachtsfeier und lassen den Tag fröhlich ausklingen, bevor es am Mittwochmorgen zurück aufs Festland geht.
Weitere Informationen folgen in Kürze.
Wir freuen uns jetzt schon auf Ihr Kommen und verbleiben
mit herzlichen Grüßen
im Namen der Geschäftsführung
Andreas Sonnenberg
Ulrike Gössner-Riechel überflog den Text der E-Mail noch einmal, korrigierte den Tippfehler in »Meer« und drückte auf »Senden«. Dann lehnte sie sich in ihren schwarz gepolsterten Bürostuhl zurück und legte die Akte »Weihnachtsfeier« zur Seite. Zufrieden beobachtete sie, wie in Sekundenschnelle die ersten elektronischen Lese-Bestätigungen in ihrem Postfach eingingen und den Bildschirm Zeile für Zeile ausfüllten. Ihre sorgfältig geschminkten Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. Sie malte sich aus, wie ihre Nachricht in diesem Moment in den Büros der unteren Stockwerke für Aufregung sorgte. Wann hatte es so etwas schon einmal gegeben – eine Weihnachtsfeier auf einer Insel?
Noch nie, beantwortete sie sich ihre Frage im Stillen selbst. Sie musste es wissen, denn schließlich war sie von Anfang an dabei gewesen. Damals, vor zwanzig Jahren, hatte sie sich mit einem weiteren Angestellten ein kleines, fensterloses Büro gleich neben dem Labor geteilt, in dem ihr Chef Andreas Sonnenberg, ein ehrgeiziger Apotheker, mit Hochdruck an der Entwicklung einer Waschlotion aus rein natürlichen Inhaltsstoffen arbeitete.
Seine Anstrengungen sollten sich auszahlen: Kaum ein Jahr später begann die exklusive Kosmetik-Serie Sonne & Seife ihren Siegeszug durch die Badezimmer der Reichen und Schönen. Heute gehörten die Artikel von Sonne & Seife aus Hamburg zu den beliebtesten Pflegeprodukten in Deutschland.
Ulrike hatte diese rasante Entwicklung miterlebt. Aus dem fensterlosen Hinterzimmer war es für sie nach mehreren Umzügen und Beförderungen schließlich bis ins modern eingerichtete, lichtdurchflutete Vorzimmer des Firmengründers Andreas Sonnenberg gegangen. Hier, im obersten Stockwerk eines stilvoll restaurierten Geschäftshauses an der Hamburger Binnenalster, organisierte sie nun schon seit elf Jahren mit Begeisterung und Hingabe den Arbeitsalltag ihres Chefs. Sie war die Herrin über seine Termine, Konferenzen und Besprechungen. Niemand, der zu Andreas Sonnenberg wollte, kam unbemerkt an ihr vorbei. Sie wusste, dass sie deshalb in der Belegschaft gleichermaßen geschätzt und gefürchtet war – und das schmeichelte ihr.
Beim Stichwort Besprechung unterbrach Ulrike ihre Überlegungen und schielte auf die Armbanduhr. Schon acht Uhr und sechsundfünfzig Minuten. Höchste Zeit, ihren Chef an seinen nächsten Termin zu erinnern! Doch bevor sie sich erhob, strich sie ihre kinnlangen blonden Haare hinter die Ohren und kramte einen Lippenstift aus der Seitentasche ihres Blazers. Hastig schraubte sie den Verschluss ab und zog sich die Lippen nach.
Keine Minute zu früh, denn in diesem Moment wurde die Verbindungstür zum Nachbarbüro mit Schwung geöffnet, und einen Augenblick später stand Andreas Sonnenberg vor ihrem Schreibtisch.
Sein plötzlicher Anblick, so nah vor ihr, brachte sie für einen winzigen Moment aus der Fassung. Er war groß, schlank und in einen perfekt passenden italienischen Maßanzug gekleidet. Dass er bereits knapp über fünfzig Jahre alt war, sah man ihm nicht sofort an. Die grauen Schläfen und die kleinen Falten im braungebrannten Gesicht bemerkte man erst auf den zweiten Blick.
Doch trotz seiner eleganten, jugendlichen Erscheinung wirkte er immer etwas zerstreut und verloren. Ulrike schob das auf seine persönlichen Lebensumstände, denn er war seit zwei Jahren verwitwet und lebte eigentlich nur noch für seine Firma.
Was sehr bedauerlich war, wie sie fand.
»In welchem Raum ist eigentlich das Meeting für die neue Werbekampagne?«, fragte er jetzt und stellte seine Kaffeetasse auf dem Terminkalender ab.
Unauffällig ließ Ulrike ihren Lippenstift zurück in die Jackentasche gleiten und fuhr sich bei geschlossenem Mund mit der Zunge über die Vorderzähne, um rote Flecken zu entfernen. Gleichzeitig schlug sie die Akte mit der Aufschrift »Marketing« auf und tat so, als müsse sie nach den erforderlichen Angaben suchen.
»Im zweiten Stock, im Eckzimmer neben der Buchhaltung«, informierte sie ihn dann. »Es tut mir leid, ein anderer Raum war heute nicht frei. Das Besprechungszimmer in der Marketing-Abteilung ist ja leider derzeit nicht verfügbar, weil Frau Dr. Flemming dort an den Sonderregalen und Aufstellern für das Frühjahrsgeschäft herumbastelt.« Ulrikes Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was sie von den Aktivitäten ihrer Kollegin hielt – nämlich gar nichts.
Doch Andreas Sonnenberg ging nicht auf ihre letzte Bemerkung ein. »Das Meeting beginnt um neun Uhr, nicht wahr? Ich glaube, ich bin spät dran.«
»Na ja, die anderen werden bestimmt nicht ohne Sie anfangen …«
Für einen winzigen Augenblick blitzten seine Augen belustigt auf. Sofort machte Ulrikes Herz einen freudigen Satz, wie immer, wenn es ihr gelang, ihn ein wenig aufzuheitern.
»Ich muss los.« Er marschierte Richtung Tür und drehte sich dort noch einmal um.
»Ach, Ulrike, haben Sie eigentlich die Mail mit der Einladung zur Weihnachtsfeier schon verschickt?«
»Ja, vor fünf Minuten.«
»Danke! Und, äh … machen Sie bitte einen Termin mit der Rechtsabteilung, möglichst noch in dieser Woche, sagen wir mal … am Donnerstag?«
»Wird erledigt.«
»Und noch etwas wollte ich … Was war das nur? Ach ja, können Sie mir für mittags ein Käsebrötchen aus der Kantine besorgen?«
»Natürlich.«
»Gut.« Mit diesen Worten verließ er das Vorzimmer und eilte Richtung Aufzug. Ulrike starrte ihm noch eine Weile hinterher und schüttelte dabei kaum merklich den Kopf.
Dieser Wortwechsel war so typisch für ihr Verhältnis! Professionell und effektiv tauschten sie Informationen aus, waren freundlich zueinander und blieben doch jeder für sich. Tag für Tag lebten sie nebeneinander – aber leider nicht miteinander …
Sie seufzte resigniert.
Sicher, er bedankte sich oft bei ihr und sagte ihr immer wieder, wie wichtig sie für ihn war. Trotzdem sah er in ihr vermutlich nicht mehr als eine tüchtige Assistentin, die stets zu einhundert Prozent funktionierte.
Sie jedoch fühlte mehr für ihn, viel mehr – und das schon seit zwanzig Jahren. Daran hatte auch Andreas’ offensichtlich sehr glückliche Ehe nichts ändern können. Im Gegenteil: Ulrike hatte seine freundliche, sich stets im Hintergrund haltende Frau gemocht und war dankbar dafür gewesen, dass er in ruhigen und geordneten Verhältnissen lebte. Damit war er zwar unerreichbar für sie – aber auch für jede andere Frau in seiner Nähe.
Schnell hatte sie sich mit der Situation arrangiert und dennoch heimlich die Stunden genossen, in denen sie ihn im Büro für sich allein hatte. Hier, in der Firma, war sie die Frau an seiner Seite, die sich um alles kümmerte.
Dann war seine Ehefrau plötzlich gestorben, und natürlich war Ulrike zur Stelle gewesen. Sie erledigte alle Formalitäten, sorgte dafür, dass er Urlaub nehmen konnte, und führte ihn anschließend Stück für Stück in den Arbeitsalltag zurück. Doch leider hatte sie es danach verpasst, ihrem Verhältnis eine andere Richtung zu geben. So blieben sie, was sie vorher schon gewesen waren: ein eingespieltes, erfolgreiches Team ohne private Berührungspunkte.
Ob sich das jemals ändern würde?
»Schluss jetzt mit diesen Grübeleien!«, ermahnte sie sich selbst. »Kümmere dich lieber um den Termin mit der Rechtsabteilung!«
Sie wollte zum Kalender greifen, hielt dann aber inne. Denn dort, auf dem dicken Ledereinband des Terminplaners, stand Andreas’ Tasse, aus der es nach Kaffee duftete.
»Herr Sonnenberg?«, rief Ulrike und sprang auf. »Sie haben Ihren Kaffee vergessen!«
Jana Flemming zog spöttisch eine Augenbraue hoch, als sie die Einladung für die Weihnachtsfeier las. Sie zählte sechs verschiedene Textstellen, die Frau Gössner-Riechel fett markiert hatte. Kein Wunder, dass die Chefsekretärin für ihre Neigung zur Wichtigtuerei im ganzen Haus bekannt und verschrien war.
»Weihnachtsfeier! Helgoland! Spaß! Unterhaltung!«, wiederholte Jana leise.
Für Frau Gössner-Riechel bedeutete dieser Ausflug anscheinend das größte Abenteuer ihres Lebens. Hoffentlich hatte sie ein interessantes Rahmenprogramm organisiert, möglichst an der frischen Luft. Die kleine Hochseeinsel eignete sich perfekt für Outdoor-Aktivitäten, denn das Klima war dort auch im Winter meistens angenehm mild.
Ob sie, Jana, einen entsprechenden Vorschlag machen sollte? Der Bruder einer ehemaligen Studienkollegin betrieb seit ein paar Jahren eine Eventagentur und würde sich bestimmt über einen so großen Auftrag freuen. Sechs Wochen Vorbereitungszeit müssten eigentlich reichen, um ein nettes Programm auf die Beine zu stellen.
»Sechs Wochen lang werden wir noch wach«, trällerte Jana ohne jedes Gefühl für Text und Töne. »Heißa, dann ist Inseltag!«
Sie verstummte ebenso schnell, wie sie begonnen hatte, und betrachtete nachdenklich den Kalender, der zwischen ihren Diplomen und Auszeichnungen an der Wand hing. Waren es wirklich nur noch so wenige Wochen bis Weihnachten? Sie hatte bislang jeden Gedanken daran verdrängt. Aber langsam würde sie sich um die Planung der Feiertage kümmern müssen, die so ganz anders werden sollten als die früheren Feste im Kreis ihrer Familie.
Statt mit der Verwandtschaft würde sie mit ein paar Freundinnen in den angesagtesten Clubs von Hamburg feiern. Sie hatte keine Lust mehr auf Verwandtschaft, Geschenke und große Gefühle. Nicht nach dem, was letztes Jahr vorgefallen war.
Einen Abend voller Streit und Tränen vergaß man nicht so schnell – besonders dann nicht, wenn es eigentlich das schönste Fest des Jahres hätte werden sollen.
Angesichts der Bilder, die ihr durch den Kopf gingen, verkrampfte sich Janas Magen. Unwillkürlich berührte sie die schmale weiße Stelle an ihrem Ringfinger, an der bis zum letzten Fest noch ein schmaler Goldreif gesteckt hatte: das Symbol einer Beziehung, die nach langen Jahren plötzlich zerbrochen war.
Glücklicherweise erinnerte sie ihr Smartphone genau in diesem Moment mit einem melodischen Weckton an den nächsten Termin: Vorstellung der neuen Herrenpflege-Kampagne. Lieber Himmel, das hätte sie beinahe vergessen! Jana atmete ein paarmal tief durch und versuchte, sich auf das bevorstehende Meeting zu konzentrieren.
Sie war erst seit sechs Monaten Werbeleiterin bei Sonne & Seife und wollte keinen schwachen Auftritt riskieren. Alles musste perfekt sein, schließlich hatte sie einen Ruf zu verlieren. Nicht, dass sie ernst zu nehmende Konkurrenz unter den Kollegen gehabt hätte – aber sie stellte hohe Ansprüche an sich selbst und ihre Arbeit. Die Anerkennung und der Erfolg im Beruf machten sie glücklich.
Na ja, fast jedenfalls.
Vorerst musste das reichen …
Entschlossen klappte sie ihren Laptop zu, suchte in dem Durcheinander auf ihrem Schreibtisch nach den Farbmustern und zog die entsprechende Akte schließlich unter einem Stapel mit Werbeprospekten hervor. Dann bändigte sie ihre langen, roten Locken mit einem Haarband, schob sich die Lesebrille auf die Nase und zupfte ihr braunes Strickkleid zurecht. Beim Hinausgehen warf sie einen Blick auf die Glastür, in der sich ihre Gestalt widerspiegelte, und nickte zufrieden. Das eng anliegende Kleid unterstrich ihre schlanke Figur, und Brille und Haarband waren farblich darauf abgestimmt. Genau die richtigen Accessoires, um gleichzeitig attraktiv und dennoch seriös und kompetent zu wirken.
Im Aufzug traf sie auf Ulrike Gössner-Riechel. Die Chefsekretärin schien nicht besonders erfreut über den zusätzlichen Stopp im vierten Obergeschoss zu sein und brachte nur ein knappes »Guten Morgen« zustande. Ungeduldig starrte sie auf die rot blinkende Stockwerksanzeige.
»Haben Sie es eilig? Angst, dass der Kaffee kalt wird?«, scherzte Jana und deutete auf die blaue Tasse, die Ulrike fest umklammert hielt.
»Nein.« Die Türen schlossen sich, und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
Jana wartete, ob Ulrike noch etwas hinzufügen würde, doch die Sekretärin blieb still.
Achselzuckend wandte Jana sich ab. Sie wusste, dass Ulrike nur dann mit ihr redete, wenn es unbedingt nötig war. Den Grund für dieses merkwürdige Verhalten kannte sie nicht, doch die fehlende Beachtung ärgerte sie. Um sich die Verstimmung nicht anmerken zu lassen, klemmte sie geschäftig Laptop und Akten unter den linken Arm und begann mit der rechten Hand, auf ihrem Smartphone herumzutippen.
Im dritten Stock hielt der Aufzug erneut an, was Frau Gössner-Riechel mit einem gereizten Stöhnen kommentierte.
»Guten Morgen, meine Damen!«, schmetterte Cordula Hartwig fröhlich in die Runde und schob ihren Postwagen zwischen Ulrike und Jana.
Sie war eine nicht mehr ganz junge, pummelige Blondine mit einer Vorliebe für grelles Make-up und farbenfrohe Kleidung. Auch heute wirkte sie mit ihrer knallroten Seidenbluse und den etwas zu engen Zebra-Leggins wie ein bunter Farbtupfer zwischen der eleganten Jana und der konservativ gekleideten Ulrike, die ein schlichtes schwarzes Kostüm und eine weißen Spitzenbluse trug.
»Was riecht denn hier so gut?«, erkundigte sich Cordula und zog gut hörbar Luft durch die Nase ein.
Auch Jana schnupperte. Tatsächlich, es roch nach Kaffee und Chanel No. 5. Eine ungewöhnliche Mischung, aber durchaus angenehm. Sie wollte eine passende Bemerkung machen, aber Cordula plapperte schon weiter. »Da kriegt man ja richtig Kaffeedurst. Wie gut, dass ich gleich Frühstückspause habe! Ich werde mir einen großen Cappuccino holen. Der Coffeeshop an der Ecke hat seit dieser Woche wieder die Winter-Specials. Ich glaube, heute probiere ich mal den Cappuccino mit Lebkuchengeschmack –«
»Und ich glaube, dass Sie in der Lichtschranke stehen«, unterbrach Ulrike sie unfreundlich. »Die Tür geht nicht zu, und es gibt Leute in diesem Aufzug, die es eilig haben.«
Cordula warf ihr einen erstaunten Blick zu, trat jedoch hastig näher an ihren Postwagen. Während sich die Tür schloss, deutete sie auf einen dicken Stapel mit Umschlägen und Prospekten.
»Möchten Sie die Post für Herrn Sonnenberg gleich mitnehmen?«, fragte sie Ulrike.
Diese schüttelte den Kopf. »Sieht es so aus, als ob ich noch eine Hand frei habe?«
»Sie könnten die Tasse in die eine und die Post in die andere Hand nehmen.«
»Das müssen Sie schon mir überlassen.«
»Wo wollen Sie überhaupt mit dem Kaffee hin?«
»In den zweiten Stock.« Ulrike stöhnte. »Aber langsam wünschte ich mir, ich hätte die Treppe genommen!«
Cordula verdrehte die Augen, verbiss sich aber einen weiteren Kommentar. Stattdessen zwinkerte sie Jana zu. Diese lächelte freundlich zurück und konzentrierte sich wieder auf ihr Handy.
Als sich die Tür im zweiten Stock öffnete, drückte sich Jana am Postwagen vorbei und trat als Erste in den langen Gang, von dem rechts und links Türen in die Büros der Buchhaltung abgingen. Ulrike Gössner-Riechel hatte weniger Glück. Sie war nicht schnell genug und musste warten, bis Cordula den schweren Wagen aus dem Aufzug geschoben hatte.
»Wieso dauert das so lange?«
»Wegen der Lücke im Boden.« Cordula versetzte dem Postwagen einen Stoß. »Aber keine Angst, gleich haben wir es.«
»Hoffentlich.«
Jana achtete nicht weiter auf den Wortwechsel ihrer Kolleginnen. Sie hatte ganz am Ende des Gangs, kurz vor dem Besprechungsraum, die hochgewachsene Gestalt ihres Chefs entdeckt.
»Andreas!«, rief sie.
Er drehte sich um und lächelte ihr entgegen. »Jana, wie schön, dich zu sehen. Soll ich dir die Akten abnehmen?«
»Nein, danke, es geht schon.«
»Herr Sonnenberg?« Kurz bevor Jana Andreas erreicht hatte, wurde sie von Ulrike Gössner-Riechel überholt. Die Sekretärin lief so schnell, wie es der lange, schmal geschnittene Rock und die Tasse in ihrer Hand zuließen. »Sie haben Ihren Kaffee stehen lassen.«
»Ach ja! Danke fürs Bringen!« Er sah seine Sekretärin bittend an. »Würden Sie die Tasse bitte ins Besprechungszimmer stellen? Dann kann ich Frau Dr. Flemming beim Tragen helfen.«
»Es geht schon«, wiederholte Jana, doch Andreas Sonnenberg hatte ihr bereits die Unterlagen abgenommen.
»Worauf warten wir noch?«, fragte er und öffnete die Tür zum Besprechungsraum.
Die beiden Frauen hinter ihm setzten sich gleichzeitig in Bewegung. Ulrike Gössner-Riechel tat dies mit einem vernichtenden Seitenblick auf Jana. Hocherhobenen Hauptes rauschte sie an ihr vorbei und knallte den Kaffeebecher auf den Glastisch in der Mitte des Raums.
»Guten Morgen!«, bellte sie in die Runde.
Die Besprechungsteilnehmer, die sich bereits eingefunden hatten, grüßten eingeschüchtert zurück.
»Hallo zusammen, ich freue mich, dass Sie hier sind.« Andreas Sonnenberg nickte grüßend und schob dann einen Stuhl für Jana zurecht.
Diese war in der Tür stehen geblieben und hatte ihr strahlendstes Lächeln aufgesetzt.
»Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen guten Morgen«, begann sie und ging langsam auf ihre Kollegen zu. »Heute werde ich Ihnen unsere neue Kampagne vorstellen. Wir beginnen …« Sie trat an den Tisch und warf Ulrike einen auffordernden Blick zu. »Wir beginnen, sobald wir unter uns sind.«
Die Sekretärin presste ihre Lippen aufeinander. Ohne ein Wort des Abschieds eilte sie aus dem Zimmer und schloss die Tür ein wenig geräuschvoller als nötig.
Miriam Müller zuckte zusammen, als sie das Türknallen hörte, und hob alarmiert den Kopf. Ihr Büro lag gleich neben dem Besprechungsraum, und durch die geöffnete Tür hatte sie einen guten Blick auf den Gang. Dort stand Frau Gössner-Riechel und kämpfte augenscheinlich mit schlechter Laune.
Mit sehr schlechter Laune!
»Warum gucken Sie denn so?«, zischte sie jetzt in Miriams Richtung.
»Äh …«, stammelte Miriam und wurde sofort rot. So gut es ging, versuchte sie sich hinter dem großen Christstern zu verstecken, der seit ein paar Tagen auf ihrem Schreibtisch blühte. Verlegen zog sie die Ärmel ihres Norwegerpullis über ihre Hände und schob den Kragen bis ans Kinn. Am liebsten wäre sie ganz in ihrem Kleidungsstück verschwunden.
»Es gibt nichts zu gucken.« Frau Gössner-Riechel rieb sich die Stirn. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
»Gleichfalls«, murmelte Miriam hinter ihrem Christstern hervor, doch sie bezweifelte, dass die Sekretärin ihre Bemerkung noch gehört hatte, bevor sie mit eiligen Schritten Richtung Aufzug davongestürmt war.
Gleich darauf vernahm Miriam das vertraute Rumpeln des Postwagens, gefolgt von Frau Gössner-Riechels Ausruf: »Müssen Sie eigentlich heute überall im Weg herumstehen?«
»Entschuldigung!«, kam es ebenso laut, aber eine Spur freundlicher zurück. »Ich mache hier nur meine Arbeit.«
»Schon gut.«
Das Klackern von Frau Gössner-Riechels Stöckelschuhen entfernte sich rasch, dafür kam das Rumpeln näher, und einen Augenblick später steckte Cordula Hartwig ihren Kopf ins Zimmer.
»Klopf, klopf! Darf ich reinkommen?«
»Natürlich.« Miriam freute sich immer, ihre Kollegin zu sehen. Sie war erst seit drei Monaten bei Sonne & Seife beschäftigt und hatte noch nicht viele private Bekanntschaften im Büro schließen können. Vermutlich lag es daran, dass sie ein sehr schüchterner Mensch war, der sich lieber hinter Zahlen und Bilanzen verkroch, als lange Gespräche zu führen. Doch die aufgeschlossene, mütterliche Cordula hatte sich von Anfang an um sie gekümmert und sie unter ihre Fittiche genommen.
»Hast du das gehört?« Cordula warf einen verärgerten Blick zurück in den Gang und versicherte sich, dass niemand mehr da war. »Die Gössner-Riechel ist heute extrem schlecht gelaunt.«
»Vielleicht hat sie Kopfweh?« Miriam äußerte sich stets nur sehr vorsichtig über andere Kollegen und hielt sich, wenn möglich, aus dem Büroklatsch heraus.
»Kopfweh?« Cordula lachte. »Tja, so könnte man das auch nennen, wenn man sich über zu viele Dinge den Kopf zerbrechen muss.« Sie setzte sich an den leeren Schreibtisch gegenüber von Miriams Arbeitsplatz, beugte sich so weit wie möglich vor und senkte ihre Stimme. »Wenn du mich fragst: Die Gute ist eifersüchtig auf Frau Dr. Flemming!«
Miriam verbiss sich die Bemerkung, dass sie Cordula eigentlich gar nicht um ihre Meinung gefragt hatte. Stattdessen schüttelte sie nur den Kopf und hoffte, dass ihre Kollegin dies nicht als Ermutigung für weitere Ausführungen nehmen würde.
Doch leider hoffte sie vergeblich. »Willst du wissen, warum?«, fragte Cordula.
»Äh …« Eigentlich nicht, aber sie würde es bestimmt gleich zu hören bekommen.
Und richtig, ihre Kollegin war jetzt nicht mehr zu bremsen. »Ulrike ist schon seit Jahren scharf auf unseren Chef, aber sie traut sich nicht so richtig an ihn heran. Weiß der Teufel, warum nicht!«
Miriam gab auf. Um ein paar Minuten Büroklatsch würde sie heute wohl nicht herumkommen. »Vielleicht zögert sie, weil er ihr Boss ist und sie nicht den ersten Schritt machen will?«, mutmaßte sie.
»Wie bitte? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert.«
»Oder vielleicht, weil er Witwer ist?«
»Seine Frau ist seit zwei Jahren tot. Die Trauerzeit ist längst vorbei.«
»Eventuell hat sie das noch nicht bemerkt.«
»Spätestens heute muss ihr das klargeworden sein. Du hättest vorhin ihr Gesicht sehen sollen, als sie gehört hat, wie freundlich er die Flemming begrüßt hat! Und dann sagt er auch noch du zu ihr und spielt den Gentleman.«
Miriam dachte eine Weile über Cordulas Behauptungen nach. »Aber ist Frau Dr. Flemming nicht ein wenig zu jung für ihn?«, fragte sie dann.
»Nein, warum? Wie alt mag sie sein? Ein paar Jahre älter als du, um die dreißig?«
»Ich bin achtundzwanzig.«
»Ja, dann kommt das hin. Und diese Kombination ist gar nicht so selten: Älterer Witwer trifft junge Frau, Amors Pfeil trifft beide, und die eifersüchtige Sekretärin trifft daraufhin fast der Schlag.«
»Ich weiß nicht recht … ich könnte mir nie vorstellen, einen so viel älteren Mann zu lieben.«
»Ach, Blödsinn! Wo die Liebe hinfällt, sage ich immer … und ich sage dir noch etwas.« Cordulas Augen begannen erwartungsvoll zu strahlen. »Langweilig wird es in der nächsten Zeit bestimmt nicht. Auf die Weihnachtsfeier können wir uns dieses Jahr richtig freuen!«
»Erinnere mich bloß nicht daran!« Miriam deutete auf ihren Bildschirm. »Hast du gelesen, dass wir nach Helgoland fahren? Ausgerechnet in der letzten Woche vor Weihnachten.«
»Wir feiern immer um diese Zeit, weil dann das Geschäft für die Firma gelaufen ist und alle mal durchatmen können. Die Wochen vorher sind hart genug.«
»Trotzdem passt mir das nicht. Als ob ich nichts anderes zu tun hätte, als auf der Nordsee herumzuschippern!«
»Was musst du denn so Dringendes erledigen?«
»Geschenke kaufen.«
»Das kannst du doch vorher machen.«
»Das versuche ich jedes Jahr aufs Neue, aber es klappt nicht. Ich bin eine Last-Minute-Shopperin.«
»Bestell doch einfach was im Internet.«
»Nein, das mag ich nicht. Außerdem wollen mein Bruder und meine Schwägerin, dass ich die Geschenke für ihre Kinder bei einem ganz bestimmten Stand auf dem Weihnachtsmarkt kaufe. Sobald der Markt öffnet, geht meine Schwägerin hin und trifft eine Auswahl, und danach komme ich und hole die reservierten Sachen ab.«
Miriam erinnerte sich mit Schaudern an den Heiligabend im letzten Jahr. Ihre Nichte hatte sich mehr für das glitzernde, rosarote Geschenkband als für das hölzerne Lernspielzeug interessiert, und ihr kleiner Neffe war mit dem neuen Laufrad geradewegs in den Weihnachtsbaum gefahren und hatte diesen zum Einsturz gebracht. Seitdem hatte er das Laufrad nie mehr wieder benutzt.
Als sie Cordula jetzt davon erzählte, lachte diese. »Klingt nach einem schönen Fest.«
»Ich fand es einfach nur schrecklich.«
Aber da war sie leider die Einzige gewesen. Ihr Bruder war sofort mit dem Smartphone zur Stelle, um den Moment auf ewig festzuhalten. Ihr Vater hatte den Kleinen aus dem Baum gezogen und vom Lametta befreit, und ihre Mutter hatte gelacht und abgewinkt, als Miriam mit dem Aufräumen beginnen wollte. Das mache sie später in Ruhe, hatte sie gesagt. Und ihre Schwägerin? Die hatte einfach nur dagesessen und glücklich gelächelt, als ob es auf der Welt nichts Schöneres gäbe als einen umgekippten Weihnachtsbaum, zwei brüllende Kinder und Tannennadeln im Essen.
»Richtig schrecklich«, wiederholte Miriam leise, aber mit Nachdruck.
Sie sehnte sich nach den Festen ihrer Kindheit zurück. Damals hatte es noch selbst geschriebene Wunschzettel gegeben, echte Kerzen, jede Menge Süßigkeiten und das Christkind, an das Miriam jahrelang geglaubt hatte. All das war abgeschafft worden, als ihr Neffe und ihre Nichte geboren wurden. Jetzt bestimmte ihre Schwägerin den Ablauf an Heiligabend und hatte sogar das Christkind durch den Weihnachtsmann ersetzt. Miriams Protest hatte sie im Keim erstickt. »Bei mir kam schon immer der Weihnachtsmann und hat die Geschenke gebracht. Und solange du noch keine eigenen Kinder hast, kannst du gar nicht mitreden!«
»Bei euch ist wenigstens etwas los«, unterbrach Cordula Miriams Überlegungen. »Bei uns läuft Weihnachten seit ein paar Jahren immer gleich ab: Zuerst essen wir, und dann verteilen wir die Umschläge mit den Geldgeschenken an unsere Jungs. Ich spüle ab, und danach lege ich mich zu den anderen aufs Sofa und gucke Fernsehen.« Cordula und ihr Mann Bernd hatten drei Söhne, die alle noch zur Schule gingen.
»Für mich hört sich das nach einem schönen Abend an.«
»Für meine Männer auch, aber nicht für mich. Manchmal wünschte ich, ich hätte eine Tochter, mit der ich beim Abwasch in der Küche heimlich Sekt trinken und über unpassende Geschenke lästern könnte.« Cordula lächelte wehmütig. »So jemanden wie dich. Wahrscheinlich kann ich dich deswegen so gut leiden.«
»Weil ich theoretisch deine Tochter sein könnte?«
»Wie bitte? So alt bin ich nun auch wieder nicht! Außerdem siehst du mir kein bisschen ähnlich.«
»Stimmt.« Miriam schob sich ihre langen, braunen Haare aus dem Gesicht und rückte ihre Brille gerade. »Ich bin weder so groß noch so blond wie du.«
»Na ja, naturblond bin ich eigentlich auch nicht.« Cordula grinste. »Aber das bleibt unter uns, ja?«
»Klar!«
»Aber eigentlich meinte ich auch eher –«
Miriam erfuhr nicht mehr, was Cordula sagen wollte, denn in diesem Moment wurde die Tür des Besprechungsraums geöffnet, und Andreas Sonnenberg trat heraus. Er hielt sein Handy ans Ohr und achtete nicht auf die beiden Frauen, die ihn vom Nebenzimmer aus aufmerksam beobachteten.
»Ulrike?«, sprach er ins Telefon. »Ich bin noch mitten in der Besprechung, deshalb muss ich mich kurz fassen. Können Sie mir einen Gefallen tun? Sagen Sie bitte die Telefonkonferenz mit dem Eventveranstalter aus Helgoland heute Mittag ab.«
Pause.
»Warum? Weil Jana gerade einen tollen Vorschlag für das Programm gemacht hat, der mir viel besser gefällt als das, was die Leute aus Helgoland bis jetzt geliefert haben … Ja, ich weiß, dass wir uns schon festgelegt hatten, aber Gott sei Dank ist noch nichts unterschrieben … Wie? Ja, ich weiß auch, dass Sie sich eigentlich um die Organisation kümmern sollten. Aber auf diese Weise kann ich Sie etwas entlasten … Ja, Frau Dr. Flemming hat glücklicherweise sogar die entsprechenden Kontakte. Die wird sie Ihnen weiterleiten. Alles andere besprechen wir später, ich muss zurück ins Meeting.«
Er beendete das Gespräch und kehrte leise in den Besprechungsraum zurück.
Cordula und Miriam blickten sich an.
»O Mann!«, wisperte Cordula gut gelaunt. Von ihrer nachdenklichen Stimmung war nichts mehr zu spüren, stattdessen grinste sie über das ganze Gesicht. »Das verzeiht die Gössner-Riechel so schnell nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Miriam, die Cordulas Aufregung nicht nachvollziehen konnte.
»Ganz einfach: Sie hat bis jetzt jede Weihnachtsfeier organisiert, viele Jahre lang. Und ausgerechnet jetzt funkt ihr die Frau Doktor dazwischen.«
»Sie meint es doch nur gut.«
»Sie vielleicht … aber Frau Chefsekretärin sieht nur, dass ihr etwas weggenommen wurde. Die Weihnachtsfeier wird in diesem Jahr alles andere als besinnlich werden, das kannst du mir glauben!«